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Aktuelle Fragen der Machtverteilung zwischen Volk, Parlament und Regierung | APuZ 28/1977 | bpb.de

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APuZ 28/1977 Artikel 1 Fragen der bundesstaatlichen Ordnung Bund -Länder -Europa Aktuelle Fragen der Machtverteilung zwischen Volk, Parlament und Regierung Verfassungsfragen des Bundesrates und der kommunalen Ebene Rechtsetzung und Vollzug innerstaatlicher und völkerrechtlicher Normen im Bundesstaat Planung und Finanzverfassung im kooperativen Föderalismus

Aktuelle Fragen der Machtverteilung zwischen Volk, Parlament und Regierung

Carl Otto Lenz

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Carl Otto Lenz: Aktuelle Fragen der Machtverteilung zwischen Volk, Parlament und Regierung

I. Einleitung

Das Verhältnis von Parlament und Regierung war bereits in den Jahren vor der ersten Einsetzung der Enquete-Kommission Verfassungsreform am 8. Oktober 1970 verfassungspolitisch aktuell geworden. Die Parlamentarismusdiskussion jener Jahre befaßte sich sowohl mit Reformen, die den repräsentativen Parlamentarismus fortentwickeln — beispielsweise durch verstärkten Einbau plebiszitärer Elemente —, als auch mit solchen, die system-überwindend — beispielsweise durch Einführung der Rätedemokratie — wirken sollten. Noch heute werden Vorschläge zur Neugestaltung der politischen Vertretung des Volkes vorgelegt. So empfiehlt Friedrich Au-gust von Hayek eine . Versammlung von reifen Menschen“, die neben dem heutigen Parlament und der Regierung eingerichtet und dem jetzigen Parlament zur Festlegung von Inhalt und Richtung des politischen Zusammenlebens die Gesetzgebung abnehmen soll Erich Fromm regt an, einen „Obersten Kulturrat“ ins Leben zu rufen, der die Aufgabe hat, die Regierung, die Politiker und die Bürger in allen Angelegenheiten, die Wissen und Kenntnis erfordern, zu beraten Beides sind unrealistische Modelle, die allein auf die Kraft geistiger Eliten abstellen, deren persönliche und politische Moral ohne weitere Bedenken unterstellt wird.

ll. Repräsentative Demokratie und parlamentarisches Regierungssystem

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform bekennt sich zur repräsentativen Demokratie und zum parlamentarischen Regierungssystem Diese Vorentscheidung für diese beiden Aufbaugrundsätze unseres Staates gab ihr die Richtschnur für ihre Empfehlungen zur Machtverteilung zwischen Parlament und Regierung. Sie verfällt damit nicht unkritischer Selbstüberschätzung und Interessenbehauptung des Parlaments, sondern folgt der Erkenntnis, daß bei aller Unvollkommenheit jedes Staatswesens doch die repräsentative parlamentarische Demokratie die beste aller denkbaren und bisher erörterten Staatsformen und ihrer Ausgestaltungen darstellt.

Das Unbehagen an der Effektivität parlamentarischer Arbeit, die manchmal dem parlamentarischen System überhaupt angelastet wird, konnte und wollte die Enquete-Kommission Verfassungsreform nicht unerörtert lassen. Bereits ihr Auftrag umfaßte die Überprüfung des gegenwärtigen Verhältnisses von Parlament und Regierung. Sowohl in der 6. als auch in der 7. Wahlperiode richtete sie je eine Unterkommission zu diesem Themenbereich ein. In ihren Empfehlungen legt sie Vorschläge zur Weiterentwicklung des parlamentarischen Systems vor und rät von der Verwirklichung anderer ab. Ihre Empfehlungen betreffen nicht nur das Parlament selbst — insbesondere den Bundestag, aber auch die Volksvertretungen der Länder —, sondern auch ihr Verhältnis einerseits zu den Bürgern und andererseits zur Regierung.

Empfehlungen zum Verhältnis von Bürger und Bundestag Die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene über den Fall der Länderneu-gliederung (Artikel 29 GG) hinaus wird immer wieder gefordert. Dies geschah beispielswei11 se, als die Neufassung der Strafvorschriften über die Abtreibung anstand. Auch Volksbefragungen werden immer wieder empfohlen. Neulich wurde dieses plebiszitäre Entscheidungshilfsmittel im Zusammenhang mit dem Bau von Atomkraftwerken ins Spiel gebracht

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform lehnt — vom Fall der Länderneugliederung abgesehen — jede Form des Plebiszits auf Bundesebene ab. Sie will das freie Mandat der Abgeordneten nicht beeinträchtigt sehen. Sie will das Recht der Parteien, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, nicht praktisch der Auflösung anheim-geben. Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheide stellen nach ihrer Ansicht nicht einen geeigneten Weg dar, das demokratisch-repräsentative System auf der Bundesebene zu festigen und in seiner Legitimationskraft zu stärken.

Es ist im Gegenteil zu befürchten, daß auf diesem Wege die Handlungsfähigkeit des einzelnen Abgeordneten wie des ganzen Parlaments in einer Weise beeinträchtigt und gemindert wird, die es nicht mehr erlaubt, rechtzeitig und tatkräftig Grundsatzentscheidungen zur Bewältigung der anstehenden politischen Probleme zu treffen. Die Machtverteilung zwischen Bundestag, Bundespräsident und Bundesregierung soll auch nicht durch eine Volkswahl des Bundespräsidenten geschmälert werden. Es soll grundsätzlich dabei bleiben, daß der Bundespräsident keine eigentlich politischen Kompetenzen besitzt.

Ist zwar die Einführung plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz abzulehnen, bleibt doch dafür zu sorgen, daß die im Repräsentationssystem notwendige Rückbindung der parlamentarischen Entscheidungen an den Wählerwillen zu einem stetigen Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Abgeordneten ausgebaut wird. Im gegenwärtigen Wahlverfahren zum Bundestag besitzt der einzelne Bürger kaum Einfluß auf die Auswahl der Kandidaten. Er kann nur die von den Parteien vorgeschlagenen Wahlkreiskandidaten und in der von den Parteien festgelegten Reihenfolge die Listenkandidaten mit seiner Stimme unterstützen. Mehr Einfluß besitzt das Parteimitglied, das innerhalb seiner Partei direkten oder mittelbaren Einfluß auf die Kandidatenauswahl nehmen kann. Selbst diese Rechte werden als zu wenig effektiv angesehen. Zur Abhilfe werden für alle Bürger offene oder zugunsten der Parteimitglieder geschlossene Vorwahlen nach amerikanischem Muster empfohlen, teilweise sogar — innerhalb der CDU von Rheinland-Pfalz wurden solche Versuche unternommen — praktiziert

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform empfiehlt nicht, Vorwahlen nach amerikanischem Muster in das deutsche Bundestags-wahlrecht einzuführen. Offene Vorwahlen würden der Parteienstruktur in Deutschland widersprechen. Selbst geschlossene Vorwahlen innerhalb der bestehenden Parteien würden die Integrationsleistungen der großen Parteien schwächen und damit die Wirksamkeit des parlamentarischen Systems herabsetzen. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform will aber die parteiinterne Auswahl der Kandidaten größerer Mitsprache der einzelnen Parteimitglieder öffnen. Sie empfiehlt deshalb, § 21 des Bundeswahlgesetzes um den Fall zu erweitern, daß die Kandidatenauswahl außer durch eine Mitglieder-oder durch eine Vertreterversammlung auch durch eine Brief-wahl der Parteimitglieder erfolgen kann, wenn die Satzung der Partei dieses zusätzliche Verfahren einführt.

Darüber hinaus will die Enquete-Kommission Verfassungsreform jedem wahlberechtigten Bürger die Möglichkeit einräumen, die Kandidatenauswahl durch die Parteien nachträglich zu kontrollieren und teilweise zu korrigieren. Sie empfiehlt deshalb, für die Zweitstimmen zur Bundestagswahl das Vorbild des bayerischen Landtagswahlrechts zu übernehmen. Dann könnte der Wähler seine Zweitstimme entweder einer bestimmten Partei oder einem bestimmten Kandidaten auf der Liste einer Partei geben. Dadurch könnte — wie bayeri-gehe Beispiele beweisen — die Reihenfolge der Kandidaten auf einer Liste nachhaltig verändert werden. Es wäre übrigens im Sinne dieser Empfehlung der Enquete-Kommission Verfassungsreform konsequent, würde das bayerische Landtagswahlrecht auch das Vorbild für das deutsche Wahlgesetz zum Europäischen Parlament abgeben.

Der mündige Bürger will das politische Leben nicht nur durch Personal-, sondern auch durch Sachentscheidungen mitgestalten. Ausdruck dessen sind nicht zületzt die Bürgerinitiativen. Ihr Einfluß auf die gegenwärtige Politik ist nicht zu unterschätzen, derzeit vor allem auf die Energiepolitik und auf den Straßenbau. Bezeichnend dafür ist nicht zuletzt, daß er schon Gegenstand des politischen Witzes geworden ist. Ein Beispiel dafür bietet das den Radio-Eriwan-Witzen nachgebildete Frage-und Antwortspiel zur Energiepolitik:

„Trifft es zu, daß der Vorsitzende der Bundes-Vereinigung Bürgerinitiativen Umweltschutz'die Richtlinien der Kernenergiepolitik bestimmt?". Antwort: „Im Prinzip nein. In der Praxis jedoch ... “ .

Bürgerinitiativen sind wie alle Verbände dazu berechtigt, Interessen der Bürger gegenüber Parlament und Regierung wahrzunehmen. Die Demokratie ist gerade die Staatsform, die die Initiative — auch kleiner Gruppen — fördert und belohnt. Wie alle Verbände sind aber die Bürgerinitiativen von ihren Mitgliedern nur für deren jeweilige Einzelinteressen legitimiert, nicht für das übergreifende Gemeinwohl. Bürgerinitiativen sind in aller Regel Interessengemeinschaften. Sie dürfen ihren Verbandswillen nicht als Gesamtwillen begreifen oder dazu erklären. Sie vermögen ihre Mitglieder nur in dem jeweiligen Einzelinteresse zu integrieren. Nur die Parteien, insbesondere die großen Volksparteien/sind Veranstaltungen zur Integration aller politischen Einzelinteressen zu einem Gesamtwollen. Aber auch bei ihnen selbst liegt nicht die Entscheidung über das Gemeinwohl, sondern bei den aus ihnen hervorgegangenen Mitgliedern der Parlamente. Auch ein noch so berechtigtes Einzelinteresse, dargestellt durch eine noch so mächtige Bürgerinitiative, muß wohlerwogene Entscheidungen der Parlamente gegen sich gelten lassen. Die Staatsorganisation muß es ermöglichen, daß das Parlament auch Entscheidungen gegen mächtige Einzelinteressen fällen und durchsetzen kann, wenn übergeordnete Interessen oder der Schutz anderer es erfordern. Um nicht institutionell den Bundestag dem an sich berechtigten, im Konfliktfalle aber die Integration des Gesamtvolkes hemmenden Druck wirtschaftlicher und sozialer Interessen auszuliefern, hat die Enquete-Kommission Verfassungsreform — ebenso wie die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel — auch davon abgesehen, die Errichtung eines Bundeswirtschaftsund Sozialrates zu empfehlen. Im übrigen kommt es auf die Integrationsleistung der Parteien und Fraktionen an. Diese zu stärken ist Ziel der Empfehlungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform insbesondere zum Wahlrecht, zur Stellung der Abgeordneten und zu den Rechten von Bundestag und Landtagen.

Empfehlungen zur Stellung und Arbeitsweise des Bundestages Die spektakulären Austritte von Abgeordneten aus ihrer Fraktion und ihr Wechsel in eine andere während der 6. Wahlperiode haben vielfältige Überlegungen zu den Rechten und Pilichten der Abgeordneten ausgelöst. Einige wollten die Einführung eines imperativen Mandats, andere wollten bei grundsätzlicher Beibehaltung des freien Mandats den Abgeordneten stärker an seine Partei binden und von ihr abhängig machen.

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform sah keine Veranlassung, am Grundsatz des ireien Mandats zu rütteln oder Folgen an ein Ausscheiden aus einer Fraktion oder an einen Fraktionswechsel zu knüpfen. Auf dem uneingeschränkten, freien Mandat beruht nämlich die Handlungsfähigkeit des einzelnen Abgeordneten. Die vorzeitige Auflösung des 6. Deutschen Bundestages hat die Probleme offenbar werden lassen, die nach dem damals geltenden Recht zwischen zwei Wahlperioden auftreten. Gleichzeitig wurde deutlich, daß die Wege zur vorzeitigen Beendigung einer Wahlperiode nicht ausreichen.

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform empfiehlt auf Grund dieser Erfahrung, die Wahlperioden der Bundestage nahtlos aneinander anschließen zu lassen. In der 33. Änderung des Grundgesetzes vom 23. August 1976 ist dieser Vorschlag bereits geltendes Recht geworden. Seither endet eine Wahlperiode vorzeitig nicht mehr mit dem Tag der Auflösung, sondern mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages (Artikel 39 Abs. 1 Satz 2 GG). Darüber hinaus empfiehlt die Enquete-Kommission Verfassungsreform ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages. Auf Antrag von einem Viertel der Mitglieder soll der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit die vorzeitige Beendigung seiner Wahlperiode beschließen können. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform schlägt nicht vor, die Wahlperiode des Bundestages von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Die Einflußmöglichkeiten des Bürgers auf die Zusammensetzung des Bundestages und damit auf die Gestaltung der Politik sollen nicht geschmälert werden. Schließlich vermochte sie sich nicht der Anregung anzuschließen, die Wahlen zu den Volksvertretungen der Länder an einem Tag in der Mitte der Wahlperiode des Bundestages zusammenzulegen. Dadurch würde die Souveränität der Länder unzulässig verkürzt. Den häufigsten Anlaß für Beschwerden über die Arbeit des Bundestages bieten die leeren Bänke im Plenum des Bundestages während vieler Sitzungen. Jedem Abgeordneten obliegen zu viele Aufgaben, als daß er sie bewältigen könnte, würde er an jeder Plenarsitzung von Anfang bis Ende teilnehmen. Die Arbeit des Bundestages ist auch zu spezialisiert und zu detailliert, als daß jeder Abgeordnete sich mit jedem politischen Thema gründlich beschäftigen könnte. Die Klage über den Bundestag schwankt von dem Vorwurf, als fleißiges Arbeitsparlament zu viel Detailarbeit zu leisten, bis hin zu dem, sich den eigentlichen Lebensfragen der Nation kaum zu widmen. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform empfiehlt nicht zuletzt gerade um der Entlastung des Parlaments von Detailarbeit und der Freistellung für politische Grundfragen willen, das Verfahren der Bundestagsarbeit zu straffen und neu zu ordnen. Sie will die Gesetzes-beratung grundsätzlich auf zwei Lesungen beschränken. Dieses Verfahren wird jetzt schon bei völkerrechtlichen Verträgen geübt. Auch die Landtage von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein begnügen sich grundsätzlich mit zwei Beratungen. Drei Lesungen sollen künftig im Bundestag die Ausnahme sein, zum Beispiel bei Grundgesetzänderungen und beim Haushaltsplan. Gleichzeitig soll die Ausschußberatung neu gestaltet werden. Bisher gibt nur der federführende Ausschuß den Bericht über die Ausschußberatungen an das Plenum des Bundestages. Künftig sollen gemeinsame Sitzungen von federführendem und beratenden Ausschüssen stattfinden können. In diesen erweiterten Ausschußsitzungen könnten auch die mitberatenden Ausschüsse auf die Gestaltung des Berichts größeren Einfluß ausüben. Die erweiterten Ausschußsitzungen sollen grundsätzlich öffentlich sein. Der Vorschlag zur Neugestaltung des Gesetzgebungsverfahrens will dem einzelnen Abgeordneten das Recht zu Abänderungsanträgen in der zweiten Beratung nicht nehmen.

Im übrigen könnte sich der Bundestag von dem Vorwurf zu vieler Detailarbeiten dadurch entlasten, daß er in mehr Fällen als bisher von der Möglichkeit Gebrauch macht, sich beim Erlaß von Rechtsverordnungen ein Zustimmungsrecht vorzubehalten. In diese Richtung zielte ein Anlauf in der 7. Wahlperiode, das Straßenverkehrsgesetz zu novellieren. Erfolg war dieser Gesetzesinitiative allerdings am Ende nicht beschieden Ein solches Verfahren wäre zumindest ebenso erfolgversprechend wie die Empfehlung der Kommission, die Ermächtigung von Rechtsverordnungen nur noch an die Angabe ihres Zweckes zu binden. Allerdings wäre es zu weitgehend, wollte man in Artikel 80 GG allgemein bei Rechtsverordnungen einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundestages einführen. Die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen soll vielmehr in der Regel bis zum Widerruf der Ermächtigung in vollem Umfang den Bundestag entlasten. Nur in politisch bedeutsamen Fällen soll der Bundestag auch auf die Gestaltung von Rechtsverordnungen Zugriff nehmen.

Empfehlungen zum Verhältnis von Bundestag und Bundesregierung Der Bundestag wie die Landtage haben in den letzten Jahren häufiger Untersuchungsausschüsse einsetzeh müssen. Für das Verfahren hat sich die sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung, wie es Artikel 44 GG vorschreibt, als unzweckmäßig erwiesen. Die sogenannten IPA-Regeln bieten eine wertvolle Hilfe, sind aber noch nicht ausgereift genug, um die Wirksamkeit der Untersuchungsausschüsse sicherzustellen. Beteiligte nutzen die lückenhafte Verfahrensregelung, um sieb selbst ins beste Licht zu setzen und die Gegenseite an der Beweisführung zu hindern. So versucht beispielsweise einer der Haupt-betroffenen des Hessischen Untersuchungsausschusses über die Flughafenaffäre, der Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt, für sich ein Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch zu nehmen, wodurch das Untersuchungsverfahren nur lückenhaft abgeschlossen werden könnte. Die Öffentlichkeit beurteilt aus solchen und ähnlichen Erfahrungen heraus die Untersuchungsausschüsse sehr skeptisch und bezweifelt bereits bei ihrer Einsetzung, daß ein befriedigendes Ergebnis herauskommen werde.

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hat sich ausgiebig mit Reformvorschlägen des Untersuchungsverfahrens befaßt. Ob das Untersuchungsverfahren eher einem gerichtlichen Prozeß gleicht oder besonderer Ausdruck der parlamentarischen Auseinandersetzung ist, konnte sie nicht mit letzter Sicherheit klären. Dennoch neigt sie dazu, das Schwergewicht der Funktionen des Untersuchungsausschusses in dem Aspekt der politischen Auseinandersetzung zu sehen, ohne dadurch die notwendige Sachaufklärung bei der Untersuchung von Mißständen vernachlässigen zu wollen.

Der Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform stellt drei verschiedene Modelle für die Reform der Untersuchungsausschüsse vor, zwei davon in Sondervoten. Das Sondervotum von Dr. Hirsch zum Abschnitt „Untersuchungsausschüsse" schlägt in Anlehnung an die Empfehlung der Kommission vor, der Untersuchungsausschuß solle aus sieben stimmberechtigten Mitgliedern und einem nicht stimmberechtigten Vorsitzenden bestehen, die die Befähigung zum Richteramt besitzen und vier Jahre Mitglieder des Bundestages gewesen sind. Das Sondervotum von Prof. Dr. Schäfer tritt für ein Untersuchungsgremium ein, das nicht mit Parlamentariern besetzt ist und dem Bundestag zu berichten hat, der auf Grund des Untersuchungsberichtes werten und beschließen kann; die Untersuchungskommission soll danach aus fünf Richtern bestehen, die durch Los aus einer zu Beginn der Wahlperiode vom Bundestag berufenen Gruppe von 30 ehemaligen Richtern bestimmt werden, wobei das zuerst ausgewählte Mitglied den Vorsitz übernimmt. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform selbst empfiehlt, den Untersuchungsausschuß mit bis zu neun stimmberechtigten Mitgliedern, die nach der Stärke der Fraktionen bestimmt werden, unter einem nicht stimmberechtigten Vorsitzenden zu besetzen, die alle Mitglieder des Bundestages sind, aber die Befähigung zum Richteramt nicht zu besitzen brauchen. Dieses Untersuchungsverfahren geht vom Grundsatz der Waffen-gleichheitder beteiligten Seiten aus. Es überträgt den stimmberechtigten Mitgliedern, wovon jedes zusammen mit einem anderen das Recht zum Stellen von Beweisanträgen besitzt und allein zur Abgabe von Sondervoten zum Schlußberichtigt berechtigt ist, die inhaltliche Aufklärung des Untersuchungsgegenstandes. Es weist dem nicht stimmberechtigten Vorsitzenden die Verhandlungsleitung zu, um ein geordnetes Verfahren zu garantieren.

In der sogenannten Kleinen Parlamentsreform von 1969 führte der Bundestag die Institution der Enquete-Kommissionen ein, deren Mitglieder außer Parlamentariern auch Sachverständige ohne Abgeordneteneigenschaft sind (§ 74 a GO-BT). Diese Enquete-Kommissionen sollen Entscheidungen des Bundestages über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe gesetzgeberischer oder planerischer Natur vorbereiten. Bisher gab es in der 6. und 7. Wahlperiode neben der Enquete-Kommission Verfassungsreform noch die Enquete-Kommission Auswärtige Kulturpolitik und in der 7. Wahlperiode die Enquete-Kommission Frau in der Gesellschaft. Zu anderen Enquete-Kommissionen kam es nicht, u. a. weil bisher eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Untersuchungstätigkeit der Enquete-Kommissionen nicht besteht. So scheiterte beispielsweise eine Enquete-Kommission zum Energieproblem. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform tritt für das Institut der Enquete-Kommissionen zur Vorbereitung von umfangreichen und bedeutsamen Gesetzen oder Planungen staatlicher Aufgaben ein. Sie empfiehlt, die Befugnisse der Enquete-Kommissionen über die bestehenden Auskunftsrechte gegenüber Bundes-und Landesbehörden hinaus um Informationsrechte auch gegenüber natürlichen und juristischen Personen und Personengesellschaften auszustatten, soweit dies zur Erreichung des Untersuchungszwecks erforderlich ist. Zur Begründung dieser Befugnisse hält sie eine verfassungsrechtliche Verankerung der Enquete-Kommissionen und eine gesetzliche Begründung ihrer Befugnisse für nötig. Nicht erst die sogenannte Lausch-Affäre, die Ende Februar 1977 bekannt wurde, hat die Tätigkeit der Nachrichtendienste in das Blickfeld gerückt. Bereits in der 5. Wahlperiode setzte der Deutsche Bundestag einen Untersuchungsausschuß zu diesem Themenbereich ein. Er empfahl die grundsätzliche Verankerung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste. Eingerichtet wurde das Parlamentarische Vertrauensmännergremium. In ihm führt auf Grund einer Empfehlung der Enquete-Kommission Verfassungsreform in ihrem Zwischenbericht seit der Wahlperiode nicht mehr ein Mitglied der Bundesregierung, sondern jeweils ein Mitglied des Deutschen Bundestages den Vorsitz.

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hält die bestehende parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste für ausreichend, unter anderem wegen der Befürchtung, daß eine formale Kontrollinstitution weniger effektiv wirken könnte, zumal die bisherigen Erfahrungen mit dem Parlamentarischen Vertrauensmännergremium unter Vorsitz eines

Abgeordneten zufriedenstellend verlaufen sind. In einem Sondervotum wird demgegenüber vorgeschlagen, der Bundestag solle einen unabhängigen Ausschuß für die Angelegenheiten der Nachrichtendienste wählen, der aus fünf Abgeordneten bestehen und für die Dauer einer Wahlperiode bestellt werden soll. Dieser Ausschuß soll die parlamentarische Kontrolle über die Nachrichtendienste ausüben und auf diesem Gebiet die Rechte eines Untersuchungsausschusses wahrnehmen. Diesem Sondervotum habe ich mich angeschlossen: Ich bin der Auffassung, daß die politische Kontrolle der Nachrichtendienste erneut Gegenstand der Beratungen des Bundestages werden muß.

III. Empfehlungen zur Machtverteilung zwischen Landtag und Landesregierung

Den ersten Anstoß für die Einrichtung einer Enquete-Kommission Verfassungsreform gab nicht das Unbehagen an dem Verhältnis von Parlament und Regierung, sondern die Frage, ob das Grundgesetz nach der Verabschiedung der Finanzreform von 1968 den Anforderungen eines Bundesstaates in einem sich politisch zusammenschließenden Kontinent genüge oder weiterentwickelt werden müsse 7). Insbesondere war deutlich geworden, daß unter anderem wegen der häufigen Verlagerungen der Gesetzgebungszuständigkeiten von den Ländern auf den Bund den Volksvertretungen der Länder stetig . politischer Entscheidungsspielraum genommen wurde.

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hat stets — nicht nur bei ihren Beratungen zu Themen des Bund-Länder-Verhältnisses — auf die Stärkung der Eigenstaatlichkeit der Länder geachtet. Ihre Überlegungen wurden mitbestimmt durch ihr Interesse an einer Verbesserung der Funktionsfähigkeit des bundesstaatlichen Systems und insbesondere durch die Sorge um die Erhaltung und Sicherung der Kompetenzen der Volksvertretungen der Länder. Sie hat deshalb unbeschadet der Zuständigkeit der Länder für die Bestimmung von Stellung und Aufgaben ihrer Verfassungsorgane Empfehlungen verabschiedet, die auf eine Stärkung der Landtage abzielen.

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform geht davon aus, daß nach der gegenwärtigen Rechtslage die Landtage befugt sind, sich mit Bundesratsangelegenheiten zu befassen und ihren Landesregierungen dazu Ratschläge zu erteilen. Sie empfiehlt aber, um den Landtagen genügend Zeit zur Beratung anstehender Verfassungsänderungen zu geben, bei Vorlagen zur Änderung des Grundgesetzes die Frist nach Artikel 76 Abs. 2 GG für die Beratungen des Bundesrates im ersten Durchgang auf drei Monate zu erhöhen. Nicht aufgegriffen hat sie den Vorschlag, Grundgesetzänderungen nach dem Beispiel des Artikels 144 Abs. 1 GG an die Zustimmung von zwei Dritteln der Landtage anstelle der Zustimmung durch den Bundesrat zu binden

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform empfiehlt darüber hinaus, den Landtagen die Befugnis zur Gesetzgebung einzuräumen, soweit durch Bundesgesetze Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dieses Recht der Landtage würde keineswegs wegen der vom Bundesgesetzgeber in seiner Verordnungsermächtigung ge-setzten Bedingungen zur Rechtsetzung eine Herabminderung des selbständigen Entscheidungsrechts der Landtage bedeuten, wie die Bayerische Staatsregierung meint Schon heute füllen Landtage durch eigene Gesetze bei der Rahmengesetzgebung innerhalb der vom Bundesgesetzgeber abgesteckten Freiräume Bundesrecht aus. Die Landtage erhielten vielmehr Gelegenheit, eigenen Gestaltungswillen durchzusetzen. Ihre Kontrolle über die Regierung würde wirksamer. Dem Bundesgesetzgeber fiele es leichter, seine Entscheidungsbefugnis auf die Landesebene zu delegieren. Die Landesregierungen müßten bei der Erarbeitung von Rechtsverordnungen zu Bundesgesetzen berücksichtigen, daß ihr Landtag selbst entweder sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt die administrative Regelung durch ein politisch verantwortetes Gesetz ersetzen kann.

IV. Anstoß zur Parlamentsreform

Die Parlamentsreform ist eine ständige Aufgabe des dem dauernden politischen und gesellschaftlichen Wandel ebenfalls unterworfenen Bundestages. Die Empfehlungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform geben dem Bundestag einen neuen Anstoß, sein Verhältnis zum Bürger und zur Regierung wie seine Arbeitsweise entsprechend den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen des repräsentativen und parlamentarischen Regierungssystems zu verbessern. Sie können zusammen mit anderen An-regungen — beispielsweise von Vorschlägen des Ausschusses für Immunität, Wahlprüfung und Geschäftsordnung sowie anderen Anträgen, die zu Ende der 7. Wahlperiode im Bundestag eingebracht wurden — die Grundlage für eine noch wirksamere Arbeit und Aufgabenerfüllung des Deutschen Bundestages bilden.

Die Opposition sieht sich damit vor die Aufgabe gestellt, sich energisch für die Reformvorschläge der Enquete-Kommission Verfassungsreform einzusetzen, während sich die Regierungsmehrheit wird fragen lassen müssen, wie ernst sie es meint mit jenem Satz aus der Regierungserklärung von 1969: „Wir wollen mehr Demokratie wagen".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Friedrich August von Hayek, Wohin steuert die Demokratie?, in: FAZ, 8. 1. 1977.

  2. Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976, S. 190.

  3. BT-Drs. 7/5924, S. 11; um die Darstellung nicht mit zu vielen Anmerkungen zu überlasten, wird im weiteren Verlauf nicht mehr ausdrücklich auf Einzelfundstellen im Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform (BT-Drs. 7/5924) verwiesen, zumal sie anhand des genannten Be-richts — insbesonderer seiner Kapitel 1 bis 6 — leicht zu überprüfen und zu belegen sind.

  4. So der nordrhein-westfälische Minister Friedhelm Farthmann in Neue Ruhr-Zeitung, 9. 11. 1976.

  5. S. dazu u. a.: Peter Haungs, Mitgliederbefragung zur Landtags-Kandidatenaufstellung. Das Experiment des CDU-Bezirksverbandes Rhein-Hessen-Pfalz, in: ZParl 1970, S. 403- 417; ders., Das bei den rheinland-pfälzischen Landtagswahlen praktizierte Vorwahlverfahren und seine Übertragbarkeit auf die Wahlen zum Bundestag, in: Protokoll der Seminartagung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen e. V. vom 2. 12. 1974 zum Thema „Kandidatenaufstellung durch Vorwahlen? Überlegungen zur Reform der Wahlen zum Deutschen Bundestag"; vgl. auch Hans-Joachim Veen, Vorwahlen und Parteienverantwortlichkeit im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik, in: Beiträge zum Problem politischer Arbeit in der modernen Gesellschaft, Bonn 1973, S. 93- 103, der in Vorwahlen keine entscheidende Verbesserung der freiheitlich-repräsentativen Demokratie sieht.

  6. Zum Schicksal des Gesetzentwurfes BT-Drs 7/3055 vgl.den Bericht dazu in: ZParl 1971, S. 20— 27, unter der Überschrift „Ein exemplar. scher Versuch, Verordnungen von der Zustimmung des Bundestages abhängig zu machen: Die Initiative im Bereich des Straßenverkehrsrechts".

  7. S. die damals von mir initiierte Große Anfrage betr. Weiterentwicklung des föderativen Systems, BT-Drs. V/3099 (neu) vom 27. 6. 1968, die die Bundesregierung am 20. 3. 1969 in der BT-Drs. V/4002 beantwortete.

  8. Ein solches Modell habe ich 1970 in die Diskussion eingeführt; vgl. meinen Aufsatz: Modelle zur Weiterentwicklung des föderativen Systems, in: Zeitschrift für Politik 1970, S. 138 ff., ebenfalls abgedruckt in: Dietrich Rollmann (Hrsg.), Die CDU in der Opposition. Eine Selbstdarstellung, Hamburg 1970, S. 87 ff.

  9. Stellungnahme der Bayerischen Staatsregierung zum Schlußbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages für Fragen der Verfassungsreform, zu Kapitel 6, Abschnitt 3, S. 6.

Weitere Inhalte

Carl Otto Lenz, Dr. jur., geb. 1930; seit 1965 Mitglied des Deutschen Bundestages; Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestages seit 1969.