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Evangelische Kirche und politische Öffentlichkeit | APuZ 29-30/1977 | bpb.de

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APuZ 29-30/1977 Evangelische Kirche und politische Öffentlichkeit Präsenz und Wirken der Katholischen Kirche in der Öffentlichkeit

Evangelische Kirche und politische Öffentlichkeit

Wolfgang Huber

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die öffentliche Stellung und die politisch-gesellschaftlichen Einflußmöglichkeiten der deutschen Kirchen sind in vergleichbaren Ländern ohne Parallele. Sie verdanken diese Stellung den Besonderheiten der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland; für den Bereich der evangelischen Kirchen ist das landesherrliche Kirchenregiment eines der grundlegenden Merkmale dieses Prozesses. Besondere Bedeutung kommt der Ausnahmesituation nach 1945 zu, in der die Kirchen in hervorgehobenem Sinn als Instanzen zur Legitimation und Festigung der neu aufzubauenden staatlichen Ordnung galten. Die Wandlung dieser Position seit den sechziger Jahren ist nicht so sehr als ein Prozeß der Säkularisierung und Entkirchlichung, sondern vielmehr als Übergang von der Sondersituation der Nachkriegsära in die Normalsituation einer modernen Gesellschaft zu betrachten. Dieser Übergang bietet den Anlaß und die Möglichkeit zu neuen Erwägungen über die öffentliche Stellung der evangelischen Kirche. Für diese Erwägungen ist eine Klärung des Begriffs der Öffentlichkeit unerläßlich. In bezug auf diesen Offentlichkeitsbegriff muß der theologische Grundsatz ausgelegt werden, daß die Botschaft des Evangeliums, die die Kirche zu verkündigen und zu vertreten hat, selbst einen Anspruch auf Öffentlichkeit erhebt. Würde die Kirche sich aus der Öffentlichkeit in umfassendem Sinn in eine „Sonderöffentlichkeit" zurückziehen, so würde sie das Evangelium aus einer universalen Heilsbotschaft zu einer partikularen Sonderlehre machen. Auf der anderen Seite muß die Kirche sich kritisch gegen all diejenigen Strukturen der Öffentlichkeit wenden, in denen partikulare Interessen und Gesichtspunkte umstandslos mit dem öffentlichen Interesse gleichgesetzt werden. Als Folge aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit, daß die Kirche sich als verfaßte Institution an der Auseinandersetzung um Grundfragen des politischen Zusammenlebens beteiligt. Inhaltliche Kriterien für diese Beteiligung ergeben sich aus dem grundlegenden Geschehen der Kirche selbst: Sie verweist in ihrer Verkündigung und ihrem Handeln auf das versöhnende und befreiende Handeln Gottes, und sie tritt in ihrem Handeln für diejenigen ein, die der Versöhnung und Befreiung bedürfen. Unter diesem Gesichtspunkt sind in den letzten Jahren die Menschenrechte als Orientierungsrahmen für das politisch-gesellschaftliche Handeln der Kirche in stärkerem Maße betont worden, als dies in früheren Zeiten der Fall war.

I. Geschichtliche Erinnerungen

Im April 1977 charakterisierte Bundeskanzler Helmut Schmidt das gegenwärtige Verhältnis der Kirchen zum Staat und die gegenwärtige gesellschaftliche Stellung der Kirchen mit folgenden Worten: „Wir haben alle zusammen ein hohes Maß an Zusammenarbeit erreicht, ein Maß gegenseitigen Verstehens in Freiheit, wie es dies zwischen Staat und Kirchen in Deutschland niemals, niemals in der ganzen deutschen Geschichte, niemals so vorher gegeben hat." Und er fügte hinzu, „daß noch niemals in der ganzen deutschen Geschichte der Freiraum der Kirchen für Verkündigung, für Seelsorge und Diakonie so groß gewesen ist, so unbegrenzt gewesen ist .... wie das gegenwärtig der Fall ist" Dieses Urteil wird auch von ausländischen Beobachtern geteilt. So erklärt etwa der amerikanische Diplomat Frederic Spotts, dessen Buch über „Kirchen und Politik in Deutschland" unlängst in Deutsch veröffentlicht wurde daß die öffentliche Stellung und die politisch-gesellschaftlichen Einflußmöglichkeiten der deutschen Kirchen in vergleichbaren Ländern ohne Parallele seien.

Die historischen Entwicklungen, die zu diesem für manchen Beobachter erstaunlichen Ergebnis geführt haben, können hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Eine knappe Erinnerung muß genügen; sie orientiert sich an der Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und evangelischer Kirche.

Die politischen Bedingungen, unter denen sich die Reformation des 16. Jahrhunderts vollzog, hatten zum Ergebnis, daß sich die neu entstehenden evangelischen Kirchen unter den Schutz ihrer Landesherren begeben mußten, diese Landesherren also „Bischöfe aus Notwendigkeit“ wurden. Dies geschah, obwohl die Reformation in ihren Anfängen durchaus die Entwicklung einer selbständigen protestantischen Kirchenverfassung intendierte. Hinter den Vorstellungen zur Kirchenverfassung nicht nur bei Zwingli und Calvin, sondern auch bei Luther stand dabei das Mo-dell der mittelalterlichen Stadt, das — verglichen mit den Territorialstaaten — sich durch ein größeres Maß an Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger auszeichnete. Das protestantische Kirchenverfassungsdenken hatte so in seinen Anfängen eine Tendenz zur aktiven Teilnahme der Gemeinde, zugleich damit eine Tendenz zur Distanz von staatlicher Herrschaft. Diese Tendenzen allerdings konnten sich nicht durchsetzen. Vielmehr führten die gegebenen geschichtlichen Bedingungen zur Eingliederung der neu entstandenen evangelischen Kirchen in das staatliche Herrschaftssystem. Ausdruck dafür war der „landesherrliche Summepiskopat", der Tatbestand also, daß der jeweilige Landesherr zugleich oberster Bischof der evangelischen Kirche seines Territoriums war. „Schon acht Jahre nachdem Luther in Wittenberg gegen jegliche menschliche Autorität aufbegehrt hatte, war die Kirche dem Staat somit völlig untergeordnet" (Spotts). Nun war der Landesherr für die äußere Organisation und Leitung der Kirche, der Stand der Geistlichen für die geistliche Versorgung der Gemeinden zuständig. Die Entwicklung zum Staat des Absolutismus schlug sich auch in der kirchlichen Wirklichkeit nieder. Daß die evangelische Kirche sich nicht zu einer Gemeindekirche, sondern zu einer Pastorenkirche entwickelte, hängt also mit der Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche unmittelbar zusammen. Erste tiefgreifende Änderungen des geschilderten Systems erfolgten im 19. Jahrhundert. Auf der einen Seite vollzog sich zu Beginn dieses Jahrhunderts die Ausbildung der „Landeskirchen" in ihren noch heute zum großen Teil gültigen Grenzen — in Grenzen nämlich, die denen der damaligen deutschen Einzelstaaten entsprachen. Auf der anderen Seite waren die nach den napoleonischen Kriegen neu gebildeten deutschen Einzelstaaten konfessionell nicht mehr homogen, sondern zählten Protestanten wie Katholiken zu ihren Bürgern. Dies nötigte dazu, daß die Grundsätze der religiösen Toleranz und der konfessionellen Parität sich Schritt für Schritt in Deutschland durchsetzen mußten. Wirkungsvollen Niederschlag fand diese Entwicklung in der bürgerlichen Revolution von 1848 und in der daraus hervorgegangenen Frankfurter Reichsverfassung von 1849

Diese Verfassung erlangte zwar keine rechtliche Geltung, hatte aber gerade für die weitere Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche erhebliche Bedeutung. Sie ging aus von der Glaubensund Gewissensfreiheit sowie der Freiheit der Religionsausübung. Daraus ergab sich für sie einerseits die Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten vom religiösen Bekenntnis, andererseits die Selbständigkeit der Religionsgemeinschaften in der Verwaltung ihrer Angelegenheiten im Rahmen der allgemeinen Staatsgesetze. Aus der Religionsfreiheit folgte also die Kirchenfreiheit. Damit waren die Grundsätze formuliert, die noch heute das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland bestimmen.

Einen wichtigen Einschnitt in der Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche bildete der Erste Weltkrieg. Der Krieg selbst hatte das „Bündnis von Thron und Altar'— genauer gesagt: das Bündnis von Nation und Religion — mit besonderem Nachdruck hervortreten lassen. Die religiöse Prägung, durch die gerade der deutsche Nationalismus seit seinen Anfängen im frühen 19. Jahrhundert gekennzeichnet war, kam in der Rede vom „deutschen Gott'zu besonders krassem Ausdruck. Darin zeigte sich eine Symbiose von staatlichem und religiösem Leben, die noch weit wichtiger war als die organisatorische Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Demgemäß stellte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine doppelte Frage: Einerseits ging es darum, ob die enge Verbindung von nationalem und religiösem Denken gelöst werden könne; die Herausforderung hierzu ging insbesondere von der beginnenden ökumenischen Bewegung aus. Andererseits ging es darum, ob nach dem Ende des landesherrlichen Summepiskopats neue Formen einer eigenständigen protestantischen Kirchenverfassung gefunden werden konnten. In beiderlei Hinsicht wird man die Zeit der Weimarer Republik kritisch beurteilen müssen. Die kirchliche Führungsschicht war weiterhin von der Tradition des national-protestantischen Denkens geprägt; die protestantischen Kirchenverfassungen bestanden ohne allzu tiefgreifende Veränderungen fort — wobei die Funktionen der Landesherren von Kirchenpräsidenten oder Bischöfen übernommen wurden. Von staatlicher Seite aus wurde das Ende des Staatskirchentums proklamiert. Die staatskirchenrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die in das Bonner Grundgesetz von 1949 aufgenommen wurden und deshalb in der Bundesrepublik noch heute gelten, beginnen mit dem Satz: „Es besteht keine Staatskirche". Damit war nicht nur das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments proklamiert, sondern es waren zugleich diejenigen Formen der institutioneilen Verklammerung von Kirche und Staat untersagt, durch die staatliche Aufgaben an kirchliche Funktionen gebunden oder staatsbürgerliche Rechte an eine kirchliche Zugehörigkeit geknüpft wurden (z. B. die staatsbürgerliche Wirkung der kirchlichen Eheschließung, die geistliche Schulaufsicht, die Konfessionsschule als Regelschule usw.). Im übrigen stellte die Weimarer Reichsverfassung den Zusammenhang von Religionsfreiheit und Kirchenfreiheit in genauer Entsprechung zur Frankfurter Reichsverfassung von 1849 fest. Schließlich verlieh sie den großen Kirchen — und auf Antrag auch den kleineren Religionsgesellschaften — den Status von „Körperschaften des öffentlichen Rechts". Dies ist eine der hervorstechendsten Eigentümlichkeiten der deutschen staatskirchenrechtlichen Tradition.

Die Voraussetzungen, von denen aus die deutsche evangelische Kirche der Herausforderung durch den Nationalsozialismus gegenüberstand, waren nach alledem keineswegs besonders günstig; zu stark waren die überlieferte Staatstreue und die nationalprotestantische Tradition'; zu schwach waren die Ansätze eines eigenständigen protestantischen Kirchenverständnisses und einer ihm entsprechenden Kirchenverfassung. Deshalt war der Kampf der Bekennenden Kirche in erheblichem Umfang ein aufgezwungenei Kampf, der nur von einer Minderheit des deutschen Protestantismus mitgetragen wur de. Die politisch-gesellschaftliche Dimensior dieses Kampfes wurde nur von einzelnen -in besonderem Maß von Dietrich Bonhoeffe — erkannt Die Konsequenzen aus diesen Kampf für das Kirchenverständnis und für di Verfassungsgestalt der Kirche wurden wede während des Dritten Reichs noch in der an schließenden Zeit in vollem Umfang gezoger Dies gilt, obwohl gleich zu Beginn des Kii chenkampfs in der 3. These der Barmer Thee logischen Erklärung von 1934 die Konsequer zen der Auseinandersetzung für das Kircher Verständnis mit großer Klarheit formuliert wurden:

»Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte."

II. Die Situation nach 1945

Die Entwicklung nach 1945 war in erster Linie nicht durch die Ansätze der Bekennenden Kirche, sondern durch die exzeptionelle Situation der deutschen Nachkriegsgesellschaft bestimmt. Die Grundentscheidungen, die in dieser ungewöhnlichen Situation fielen, prägen noch heute in nicht unerheblichem Umfang die Stellung der Kirchen in Staat und Gesellschaft. Zusammengefaßt läßt sich diese Nachkriegssituation folgendermaßen kennzeichnen: a) Die Kirchen galten als die einzigen gesellschaftlichen Institutionen, die das Dritte Reich relativ unzerstört überstanden hatten;

die Anknüpfung an die Zeit vor dem Nazi-Regime vollzog sich in ihnen schneller und reibungsloser als in anderen gesellschaftlichen Bereichen.

b) Deshalb galten die Kirchen in besonderem Maß als die Instanzen zur Legitimation und Festigung der neu aufzubauenden staatlichen Ordnung; es entwickelte sich alsbald ein System der Doppelherrschaft, der „Dyarchie"

von Staat und Kirche. Sie galten als die beiden öffentlichen Hoheitsmächte, die für das allgemeine Wohl einzutreten hätten und die in dieser Funktion der Gesellschaft als dem Inbegriff der privaten Bedürfnisse und der partikularen Interessen gegenüberstünden.

c) Die Kirchen entwickelten sehr schnell ein ausgebautes System sozialer Diakonie, bei dem ihnen ihre internationalen bzw. ökumenischen Kontakte zustatten kamen. Im Raum der Evangelischen Kirche waren Träger der Diakonie vor allem das Hilfswerk und die Innere Mission, die später zum Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland zusammengeschlossen wurden. Dadurch konnten die Kirchen wenigstens in begrenz-Umfang der Not im Nachkriegsdeutschland entgegentreten.

d) Seelsorge und Verkündigung der Kirchen waren ein besonders gewichtiger Weg, um die Erschütterung und die seelische Not der Menschen am Ende des Krieges und in den Nadikriegsjahren zu verarbeiten. Die Kir-dien erwiesen sich als ein Ort, an dem man nach der Verführung durch den Nationalsozialismus und nach dessen Zusammenbruch eine neue innere Orientierung finden konnte. Denkt man an diese orientierende Bedeutung der Kirchen, dann versteht man auch einen Teil der besonderen Rolle, die die Evangelischen Akademien in den Nachkriegsjahren spielten. Dieser hervorgehobenen Position der Kirchen in der Nachkriegszeit entsprach eine Reihe von Deutungsmustern, mit denen man die politische und gesellschaftliche Stellung der Kirchen interpretierte. Hervorzuheben sind vor allem zwei derartige Deutungsmuster: Das Verhältnis von Staat und Kirche deutete man im Sinne der „Partnerschaft" beider Größen; die staatskirchenrechtlichen Verfassungsartikel, die das Bonner Grundgesetz aus der Weimarer Reichsverfassung übernahm, traten dadurch in einen veränderten Gesamtzusammenhang. Als Grundlage für das gesellschaftliche und politische Handeln der evangelischen Kirche behauptete man einen Offentlichkeitsanspruch der Kirche, der vom Anspruch anderer gesellschaftlicher Verbände auf öffentliche Wirksamkeit charakteristisch unterschieden sei. Beachtenswert ist hierbei vor allem, daß der Begriff des Offent-lichkeitsanspruchs den kirchlich wesentlich angemesseneren Begriff des Offentlichkeits-auftrags weithin verdrängte

Die Interpretation der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen verschob sich auf dem Hintergrund dieser veränderten Gesamtlage. Das Verbot der Staatskirche, das den Ausgangspunkt dieser Bestimmungen bildete, trat in den Hintergrund. Statt dessen wurde der Status der Kirchen als „Körperschaften des öffentlichen Rechts" für lange Zeit zum Angelpunkt vieler staatskirchenrechtlicher Argumentationen. Als dieser Begriff in die Wei-marer Reichsverfassung aufgenommen wurde, sollte er vor allem als rechtliches Hilfsmittel dazu dienen, den Kirchen das Recht des Kirchensteuereinzugs mit Hilfe der staatlichen Steuerlisten und der staatlichen Finanzämter zu sichern. Nun aber galt die Stellung als „Körperschaften des öffentlichen Rechts" als angemessener Ausdruck für den öffentlichen Gesamtstatus der Kirchen. Ferner betrachtete man es nun als richtige, ja als notwendige Konsequenz aus der „Partnerschaft" zwischen Staat und Kirche, daß die anstehenden Rechtsfragen im Verhältnis zwischen beiden nicht durch einseitige Staatsgesetzgebung, sondern durch umfassende Regelungen in de Form von Staatskirchenverträgen gelöst wur den. Im Bereich der Sozialgesetzgebung zeigte sich die Tendenz, dem katholischen Subsidia ritätsprinzip folgend einen Vorrang der freien Träger der Sozialhilfe — d. h. insbesondere der Kirchen — vor staatlichem Handeln einzuräumen. Schließlich traten Bestrebungen auf, nicht die Religionsfreiheit als Quelle und Norm der Kirchenfreiheit, sondern umgekehrt die Kirchenfreiheit als Ausgangspunkt und Grenze der Religionsfreiheit zu betrachten, also die Religionsfreiheit im kirchenamtlichen Sinn zu funktionalisieren.

III. Ende der Nachkriegsära

Daß eine derart hervorgehobene Position der Kirchen und eine ihr entsprechende Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche nicht auf die Dauer fortbestehen konnte, ist nicht verwunderlich. Sie mußte sich verändern, wenn die außergewöhnlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen der Nachkriegsära einer anderen gesellschaftlichen Situation Platz machten. Die Wandlungen, die sich daraus für die gesellschaftliche Position der Kirchen ergaben, traten im Laufe der sechziger Jahre deutlicher hervor. Folgenden Faktoren kommt dabei besonderes Gewicht zu:

a) Die Sonderstellung der Kirchen als einer der wenigen gesellschaftlichen Verbände, die die Zeit des Dritten Reichs relativ unzerstört überstanden hatten, wich der Konkurrenz einer Vielzahl von gesellschaftlichen Verbänden. b) Damit einher ging ein Rückgang der umfassenden Orientierungsbedeutung kirchlicher Verkündigung, kirchlicher Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen (dafür charakteristisch ist der Übergang von autoritativen „Worten" zu argumentierenden „Denkschriften" am Anfang der sechziger Jahre) und des kirchlichen Brauchtums.

c) Durch diese Entwicklung wurde die legitimierende Bedeutung der Kirchen für staatliche und gesellschaftliche Herrschaft in Frage gestellt. Der nach wie vor bestehende Legitimationsbedarf des Staates wird heute von anderen Instanzen — wie es scheint, wirkungsvoller — wahrgenommen.

Durch diese hier paradigmatisch genannten Entwicklungen wurde von Seiten der gesellschaftlichen Position der Kirche das Modell der Doppelherrschaft, der „Dyarchie", und damit aber auch der Partnerschaft zwischen Staat und Kirche zweifelhaft. Die theologi-sehen und kirchlichen Konsequenzen aus dieser Veränderung der Situation scheinen bisher allerdings noch nicht in vollem Umfang gezogen worden zu sein. Die zureichende Deutung dieser Vorgänge ist dafür ein unerläßlicher erster Schritt. Man charakterisiert sie oft als einen Prozeß der Entkirchlichung, der Säkularisierung; man bezeichnet sie auch häufig als den allmählichen Zerfall, das Ende der Volkskirche.

Bei derartigen Interpretationen wird allerdings häufig übersehen, daß während der letzten beiden Jahrhunderte sich Kirchlichkeit und öffentliche Resonanz der Kirchen keineswegs in einem geradlinigen Prozeß der Entkirchlichung und Säkularisierung, sondern in sehr eigentümlichen Wellenbewegungen entwickelt haben. Charakteristische Um-Schlagspunkte für diese Wellenbewegungen seien zumindest genannt: Auf die Religionskritik der Aufklärungszeit folgte die neue Religiosität der Befreiungskriege und der Erwek-kungsbewegung; auf die massive Entkirchlichung während der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts folgte die — zum Teil ebenso massive — Religiosität zu Beginn und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs; auf die Pa ganisierung während des Dritten Reichs folgte die ungewöhnliche Hochschätzung der Kir chen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die gegenwärtige Unsicherheit über die öl fentliche Stellung und gesellschaftliche Be deutung der Kirchen rührt daher, daß diese an die Nachkriegssituation gebundene beson dere Form der Hochschätzung der Kirchei spätestens in den sechziger Jahren zu End« gegangen ist. Sehr fraglich muß es aber er scheinen, ob man diese Entwicklung mit Hilf des Deutungsmusters der Säkularisierung in terpretieren kann und den Prozeß der Ent kirchlichung von daher als ein mit der. neu zeitlichen Geschichte selbst gegebenes Schicksal verstehen muß. In einer gewissen Überspitzung könnte man statt dessen eher sagen, die gegenwärtige Lage sei nicht etwa das Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses, sondern vielmehr das des Übergangs von der Ausnahmesituation der Nachkriegszeit in die Normalsituation einer modernen Gesellschaft. Aus den in einer solchen Lage unausweichlichen Funktionsverschiebungen der Kirche auf ein „Ende der Religion" zu schließen, scheint infolgedessen genauso verfehlt zu sein, wie aus offensichtlichen Funktionsverschiebungen des Staates während der letzten Jahrzehnte ein „Ende des Staates" zu folgern. Unbezweifelbar scheint allerdings zu sein, daß die legitimierende Funktion der institutionalsierten Religion — der Kirche — zurückgegangen ist. Doch man braucht dies nicht als einen Funktionsverlust zu beklagen, sondern kann die darin liegende Chance wahrnehmen, die Aufgaben der Kirche von ihrem Auftrag her, und das heißt auf dem Weg einer theologischen Besinnung, neu zu bestimmen.

IV. Der Begriff der Öffentlichkeit

Auch und gerade eine theologische Reflexion über das Handeln der Kirche in der Öffentlichkeit kann auf eine Verständigung über den Begriff von „Öffentlichkeit”, der hierbei vorausgesetzt ist, nicht verzichten. Dieser Begriff bezeichnet seiner geschichtlichen Wurzel nach alles, was auf das Volk als ein Gemeinwesen bezogen ist. Von diesem Ausgangspunkt aus hat er sich zu einem der tragenden Begriffe der neuzeitlichen Staats-und Gesellschaftsauffassung entwickelt. Versucht man, die Verwendung des Worts zu systematisieren, dann lassen sich verschiedene Schichten unterscheiden:

Fundamental ist, daß sich der Begriff der Öffentlichkeit auf die gemeinsamen Bedürfnisse und Aufgaben der Menschen bezieht, die in einer Gesellschaft zusammenleben. Durch das Interesse am Gemeinwohl wird Öffentlichkeit konstituiert.

öffentlich sind dann zweitens die Institutionen, die zur Wahrnehmung solcher gesellschaftlicher Aufgaben und zur Befriedigung von gesellschaftlichen Bedürfnissen eingerichtet sind. Da der Staat in besonderem Maße zur Wahrnehmung „öffentlicher" Aufgaben verpflichtet ist, ist es verständlich, daß ihm das Prädikat der Öffentlichkeit auch in besonderem Maße zuerkannt worden ist. Doch der Staat ist nicht der Inbegriff der Öffentlichkeit, wie manche in der Nachfolge von Hegels Staatsphilosophie bis heute meinen. Vielmehr haben alle gesellschaftlichen Institutionen an der Öffentlichkeit teil.

Öffentliche Interessen bedürfen der öffentlichen Artikulation; öffentliches Handeln bedarf der öffentlichen Kritik. Deshalb ist die Notwendigkeit öffentlicher Information und Diskussion die dritte Schicht im Begriff der ffentlichkeit, wie er sich in der neuzeitlichen Entwicklung herausgebildet hat. Dabei erkennen wir heute deutlicher als frühere Ge-nerationen, daß öffentliche Diskussion ihre Grundlage haben muß in den Partizipationschancen aller an den für sie wichtigen Entscheidungen. Nur auf der Basis von Partizipation ergibt sich die öffentliche Kritik und Kontrolle, auf die das öffentliche Interesse angewiesen ist.

Gerade im Blick auf die Partizipationschancen — und damit erreichen wir ein viertes Element im Begriff der Öffentlichkeit — treten heute die großen gesellschaftlichen Verbände in eine zentrale Funktion für die Konstituierung von Öffentlichkeit ein. Als Verbände betrachte ich dabei diejenigen organisierten gesellschaftlichen Gruppierungen, die einen Anspruch auf Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und auf politischen Einfluß erheben. Sie erhöhen allerdings nur dann die Partizipationschancen ihrer Mitglieder, wenn sie selbst dem Gebot innerverbandlieher Demokratie unterworfen sind. Öffentlichkeit ist schließlich — das ist das fünfte Element in der systematischen Entfaltung dieses Begriffs — angewiesen auf die Aktivität von Initiativgruppen, von qualifizierten Minderheiten, die sich zu Sprechern von Interessen machen, die noch nicht ausreichend artikuliert sind und die alternative Lösungswege für gesellschaftliche Aufgaben erkunden. Der Handlungsspielraum für solche qualifizierten Minderheiten ist eine wichtige Bedingung für eine funktionierende Öffentlichkeit. An der Rolle, die verschiedene Bürgerinitiativen in den letzten Jahren für die Diskussion kommunalpolitischer, umweltpolitischer und energiepolitischer Fragen gespielt haben, kann man sich die Bedeutung von Initiativgruppen für die Herstellung einer wirksamen Öffentlichkeit leicht verdeutlichen.

Wir haben — in aller Kürze — einen Blick in die Struktur von Öffentlichkeit versucht. Welche Bedeutung hat das für die Kirche? Hat sie nicht ihre eigene Öffentlichkeit, die durch die Verkündigung des Evangeliums konstituiert wird? Ist sie nicht ihrem Wesen nach von dieser neuzeitlichen oder — wie man gerne einschränkend formuliert — von dieser säkularen Öffentlichkeit unabhängig? Dies wird man aus theologischen Gründen bestreiten müssen. Die Botschaft des Evangeliums, die die Kirche zu verkündigen und zu vertreten hat, erhebt selbst einen Anspruch auf Öffentlichkeit. Sie zielt darauf, daß „allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Timotheus 2, 4). Der Offentlichkeitsanspruch des Evangeliums ist, wie dieser für unseren Zusammenhang zentrale Satz des Neuen Testaments zeigt, in der Universalität des Heilswillens Gottes begründet. Dieser Offentlichkeits-anspruch des Evangeliums muß im Rahmen einer jeweils bestehenden Öffentlichkeit artikuliert werden. Anders gesagt: Das Evangelium schafft sich seine Öffentlichkeit, indem es in der Öffentlichkeit der Welt zur Geltung kommt. Würde die Kirche sich aus dieser Öffentlichkeit im umfassenden Sinn in eine „Sonderöffentlichkeit" zurückziehen, so würde sie das Evangelium selbst aus einer universalen Heilsbotschaft zu einer partikularen Sonderlehre machen. Vor dieser Gefahr hat sie immer wieder gestanden; diejenigen Elemente in unserer heutigen Situation, die man in unzureichender Weise mit dem Schlagwort der „Säkularisierung" zu bezeichnen pflegt, enthalten für viele die Versuchung zur Ausbildung einer solchen Sonderlehre und zur Etablierung einer solchen Sonderöffentlichkeit in sich. Doch der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums steht solchen Tendenzen entgegen.

Daß die Kirche an den Formen gesellschaftlicher Öffentlichkeit partizipiert, bedeutet nicht notwendigerweise, daß sie deren Strukturen legitimiert und bestätigt. Vielmehr bildet die Öffentlichkeit des Evangeliums, die in der Universalität des Heilswillens Gottes gründet, eine kritische Instanz gegenüber den Strukturen gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Diese kritische Bedeutung muß insbesondere dann zur Geltung gebracht werden, wenn partikulare Interessen und Gesichtspunkte mit dem öffentlichen Interesse gleichgesetzt werden. So steht die universale Tendenz der christlichen Tradition immer kritisch zu nationalen Verengungen und zu einer Verabsolutierung schichtenspezifischer oder klassenbezogener Interessen.

Aus dieser kritischen Bedeutung der christlichen Tradition kann man jedoch nicht eine Trennung zwischen der Öffentlichkeit des Evangeliums und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ableiten. Das geschieht heute vielfach so, daß man behauptet, Öffentlichkeit im theologischen Sinn werde durch das Geschehen der Verkündigung als solches hergestellt — auch wenn dieses sich in einer Kata-kombenzusammenkunft oder im verschwiegenen Seelsorgegespräch vollzieht. Gegenüber solchen theologischen Versuchen muß man mit Nachdruck feststellen: Gerade die Grundfunktionen von Kirche — Verkündigung, Seelsorge, Diakonie, Unterricht, Mission — sind auf Öffentlichkeit angewiesen. Sie leiden, wenn diese Öffentlichkeit nicht funktioniert. Die Krise krichlicher Grundfunktionen, die wir in unserer Gegenwart beobachten können, ist also nicht zuletzt auch als Krise der Öffentlichkeit zu beschreiben; der Zerfall kirchlicher Kommunikation beruht in erheblichem Maße auf einem Zerfall von Öffentlichkeit Um ihres eigenen Auftrags willen muß die Kirche also an der Herstellung von Öffentlichkeit interessiert sein.

V. Politische Neutralität der Kirche?

Mit diesen Überlegungen zum Begriff der Öffentlichkeit und zum theologischen Verständnis von Öffentlichkeit ist auch eine weitere Frage im Grundsätzlichen beantwortet — die Frage nämlich, ob die Kirche sich an der Auseinandersetzung über politische Fragen beteiligen oder ob sie politisch neutral sein solle. Wenn der Heilswille Gottes den Menschen in allen Dimensionen ihres Lebens gilt, so kann daraus weder der Bereich des politischen Zusammenlebens noch der Bereich der ökonomischen Ordnung ausgenommen sein. Die Kammer der EKD für soziale Ordnung hat deshalb in ihrer Denkschrift aus dem Jahr 1970 über die „Aufgaben und Grenzen krichlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen" formuliert: „Aufgrund der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung der Welt mit Gott ergeht die Weisung an die Christen, ihr Leben als versöhnte Menschen in Mitmenschlichkeit zu gestalten. Das schließt auch die Aufgabe ein, gemeinsam nach Bedingungen für eine rechte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens in der jeweiligen Gegenwart zu suchen." Helmut Hild hat die nachstehende Fol-gerung aus diesen Sätzen gezogen: „Nächstenliebe hat es mit der Potlitik zu tun. Das Politische ist im Leben und Handeln der Kirche immer dabei, weil sie mit der Botschaft von Jesus Christus den Menschen dienen soll. Die Kirche kann den Stellenwert des Politischen nicht willkürlich festlegen. Er ist ihr in ihrer zentralen Aufgabe vorgegeben. Damit ist auch die Frage nach einer politischen Neutralität der Kirche im allgemeinen Sinne beantwortet. Wer politische Verantwortung hat, kann nicht im Grundsatz neutral sein. Eine politische Neutralität der Kirche gibt es nicht."

Die Notwendigkeit, daß die Kirche sich als verfaßte Institution an der Auseinandersetzung um Grundfragen des politischen Zusammenlebens beteiligt, wird in der Denkschrift über „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen" damit begründet, daß sich die Aufgabe stelle, „gemeinsam nach Bedingungen für eine rechte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens" zu suchen. In Äußerungen der Kirche zu politischen Fragen kommt also, versteht man sie recht, zum Ausdruck, daß die Gemeinschaft der Glaubenden sich um diese Fragen bemüht; sie wären falsch gedeutet — obwohl dieses Mißverständnis noch immer nahe-liegt —, wenn man sie als kirchenamtliche oder gar verbindliche Lehrmeinung zu bestimmten politischen Fragen auffassen würde.

Daß die Evangelische Kirche in Deutschland seit dem Anfang der sechziger Jahre Stellungnahmen zu politischen Fragen häufig in der Gestalt von Denkschriften, Studien oder Thesenreihen veröffentlicht, zeigt dies deutlich:

Diese Dokumente sind ihrer Intention nach Zwischenergebnisse eines kooperativen Prozesses, die neue gemeinschaftliche Bemühungen um die angeschnittenen Fragen anregen sollen. Man kann dem freilich hinzufügen, daß diese Intention in einer Reihe von Fällen deutlicher hätte zum Ausdruck kommen können. Der Ausgangspunkt für die politische Mitverantwortung der evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit war die schmerzhafte Erfahrung, daß man auch durch scheinbare politische Neutralität, durch eine Nichtbeteiligung an den Grundfragen des politischen Zusammenlebens oder durch zu spätes Eingreifen schuldig werden kann. Diese Erfahrung war der evangelischen Kirche durch die Zeit des Dritten Reiches aufgenötigt worden. Deshalb bekannten ihre Vertreter in der Stuttgarter Schulderklärung vom Oktober 1945: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden."

Häufig und mit großer Leidenschaft wurde gegen diese Erklärung eingewandt, sie sei zu weit gegangen, indem sie ein gemeinsames Bekenntnis der Schuld im Namen der Kirche abgegeben habe. Andere haben — im zeitlichen Abstand zu der Erklärung vielleicht noch mit größerem Nachdruck — an dieser Erklärung als ungenügend empfunden, daß sie das Versagen in der Zeit des Dritten Reichs nicht genau genug bezeichne und deshalb auch nicht eindeutig genug darüber Auskunft gebe, in welcher Richtung sich die Kirche für eine bessere Ordnung des politischen Zusammenlebens einsetzen wolle. Die Ambivalenz, die der politischen Stellung der evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit eignet, die weitgehende Eingliederung der evangelischen Kirche in den Prozeß der Restauration nach 1945 kann in gewissem Umfang auf den Mangel an Eindeutigkeit zurückgeführt werden, der schon die grundlegenden Entscheidungen des Jahres 1945 und so auch der Stuttgarter Schulderklärung kennzeichnet.

Wie ein konkretes Schuldbekenntnis hätte aussehen können, das zeigen Sätze, die Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1940 formuliert hat: „Die Kirche... war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie .. . Sie hat mit angesehen, daß unter dem Deckmantel des Namens Christi Gewalttat und Unrecht geschah . .. Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß und Mord gesehen zu haben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi (sc.der Juden, W. H.) ... Die Kirche bekennt, die Beraubung und Ausbeutung der Armen, Bereicherung und Korruption der Starken stumm mit angesehen zu haben. Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu sein an den Unzähligen, deren Leben durch Verleumdung, Denunziation, Ehrabschneidung vernichtet worden ist. Sie hat den Verleumder nicht seines Unrechtes überführt und hat so den Verleumdeten seinem Geschick überlassen."

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland schien es 1945 nicht als möglich anzusehen, die Schuld in ähnlicher Weise differenziert zu benennen. Auch der Versuch des Reichsbruderrats, eines aus der Bekennenden Kirche hervorgegangenen Gremiums, in seinem Darmstädter Wort von 1947 die politischen Irrwege des deutschen Volks wie auch der evangelischen Kirche im einzelnen zur Sprache zu bringen, wurde nicht in breiterem Umfang aufgenommen Diesem Mangel an differenzierter und kritischer Bestandsaufnahme entsprach bis zu einem gewissen Grade der Mangel an eindeutigen Zielvorstellungen für die politische Mitverantwortung der Kirche. So nachdrücklich der „Offentlichkeitsan-spruch" der Kirche als solcher auch zur Geltung gebracht wurde, so unklar waren doch oft die Kriterien, nach denen von ihm Gebrauch gemacht werden sollte. Die vehementen Auseinandersetzungen, die um die Fragen der Wiederaufrüstung, der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr und des Verhältnisses Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn in der Folgezeit stattfanden, spiegeln diese Unsicherheit. Darin, daß sich solche Auseinandersetzungen mit besonderer Heftigkeit am Problem des Friedens entzündeten, verschaffte sich allerdings zugleich die Einsicht Bahn, daß die Verantwortung für den Frieden ein grundlegendes Kriterium für die politische Verantwortung der Kirche darstellt. Mit wachsender Eindeutigkeit wurde das Problem des Friedens zum Horizont für die Wahrnehmung des Verhältnisses von Kirche und Öffentlichkeit

VI. Die Frage nach Kriterien für das öffentliche Handeln der Kirche

Auch hiermit ist freilich erst die Richtung angedeutet, in welcher nach Kriterien für das öffentliche Handeln der Kirche gesucht werden müßte. Wenn wir abschließend in dieser Richtung noch einige Schritte unternehmen wollen, so ist allerdings zunächst ein mögliches Mißverständnis abzuwehren. Die besonderen Kriterien, von denen aus Christen und Kirchen zu Fragen des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens Stellung neh-men, zeichnen sich keineswegs notwendigerweise dadurch aus, daß sie von keinem anderen als von Christen vertreten werden bzw. vertreten werden können. Vielmehr ist das christliche „Proprium" gerade durch seine Kommunikabilität ausgezeichnet; diese Kommunikabilität ist die Ausdrucksform für die Universalität des christlichen Glaubens. Die inhaltlichen Kriterien des christlichen Glaubens sind deshalb gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie in einer für die Zusammenarbeit zwischen Christen und Nichtchristen offenen Weise formuliert sind, ohne daß ihr besonderer Begründungszusammenhang damit verschwiegen oder verleugnet würde. Aus der offenen Formulierung dieser Kriterien* kann man also nicht schließen, der christliche Glaube vermittle lediglich eine — inhaltlich unbestimmte — Motivation für das Handeln in der Welt, während die inhaltlichen Kriterien für dieses Handeln nur aus „rationaler Argumentation" zu gewinnen seien. Dem christlichen Denken ist diese Trennung zwischen motivierendem Glauben und einer davon unberührten Rationalität fremd. Größere Klarheit über die Kriterien für das öffentliche Handeln der Kirche läßt sich auf dem Weg gewinnen, daß man danach fragt, was die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden selbst konstituiert und bestimmt. Die Kirche selbst aber läßt sich grundlegend verstehen als dasjenige Geschehen, in dem das versöhnende und befreiende Handeln Gottes in Jesus Christus zu Wort kommt und Gestalt gewinnt. Die Kirche ist also zunächst nicht als ein vorfindlicher Sozialkörper, sondern als ein sich immer wieder erneuerndes Geschehen zu betrachten. Kern dieses Geschehens ist die Verkündigung. Doch diese Verkündigung gewinnt Gestalt im Handeln derer, die sie hören, und sie führt zu einer organisatorischen Verbindung, in der sich diese Hörenden dauerhaft zusammenschließen. Ausgangsund Zielpunkt für die Verkündigung wie für das Handeln wie für die organisatorische Verbindung ist das versöhnende und befreiende Handeln Gottes, das den Menschen in Jesus Christus begegnet. Aus diesem grundlegenden Zusammenhang ergeben sich inhaltliche Kriterien für alles Handeln der Kirche, auch für ihre Beteiligung an politisch-gesellschaftlicher Verantwortung. Die Kirche verweist in ihrem Handeln auf das versöhnende und befreiende Handeln Gottes, und sie tritt in ihrem Handeln für diejenigen ein, die der Versöhnung und Befreiung bedürfen. Deshalb ist Stellvertretung die Grundform der Existenz von Kirche. Die Kirche steht, indem sie Gottes veränderndes und erneuerndes Wort hört, an der Stelle, an der die Welt stehen sollte. Indem sie Jesu Ruf in der Nachfolge annimmt, ist sie ganz für die Welt da und tritt für sie ein. Das öffentliche Handeln der Kirche ist diakonisches Handeln; es ist der Versuch, im Dasein für andere dem Dasein Jesu für andere zu entsprechen.

Unter dem Gesichtspunkt, daß die Kirche in besonderem Maß stellvertretend für diejenigen einzutreten habe, die der Versöhnung und Befreiung bedürfen, sind in den letzten Jahren mit guten Gründen die Menschenrechte als Orientierungsrahmen für das politisch-gesellschaftliche Handeln der Kirche in stärkerem Maß betont worden, als dies in früheren Zeiten der Fall war Allerdings wird es dabei nicht ausreichen, sich auf einen positiv-rechtlich fixierten Bestand der Menschenrechte — etwa die Grundrechte des Bonner Grundgesetzes — zu berufen. Das ergibt sich schon aus der Einsicht, daß christliche Verantwortung im Horizont der Weltgesellschaft wahrgenommen werden muß. Innerhalb der Weltgesellschaft aber ist das Verständnis der Menschenrechte strittig. Aufgabe der Christen und der Kirchen wird es sein, zu gegenseitigem Verständnis der unterschiedlichen Men-schenrechtskonzeptionen und zu einer produktiven Weiterentwicklung in der Auffassung von den Menschenrechten beizutragen. Grundlage eines solchen christlichen Beitrags ist die Einsicht in die Entsprechung und die Differenz zwischen grundlegenden Impulsen des christlichen Glaubens und dem Menschenrechtsgedanken. Die Einsicht in die von Gott verliehene, vom sündigen Menschen zerstörte und durch Gottes rechtfertigendes Handeln wiederhergestellte Würde des Menschen kann deshalb zu der Überzeugung von elementaren und unantastbaren Rechten des Menschen in ein klärendes und produktives Verhältnis gebracht werden.

Dabei wird deutlich, daß die Rechte, von denen die Menschenrechtstradition spricht, dem Menschen nicht als isoliertem Individuum zukommen, sondern ihn in seinen sozialen Bezügen wie auch in seinen Beziehungen zur außermenschlichen Natur betreffen. Der Versuch eines christlichen Umgangs mit den Menschenrechten kann also dazu beitragen, daß die Antithese zwischen individuellen und sozialen Menschenrechten, die die gegenwärtige Menschenrechtsdiskussion weithin bestimmt, überwunden wird. Das öffentliche Handeln der Kirche kann sich nicht an dieser Alternative orientieren. Denn sie muß von der Einsicht ausgehen, daß individuelle Rechte des einzelnen Menschen nur im Rahmen des sozialen Zusammenlebens verwirklicht werden können. Da sie in besonderem Maße für diejenigen einzutreten hat, denen elementare Lebensrechte vorenthalten werden und die sich nicht selbst Recht verschaffen können, müßte sich ihr Blick dafür schärfen, daß die Möglichkeit, von Menschenrechten wirksamen Gebrauch zu machen, an das Vorhandensein bestimmter politischer und sozialer Voraussetzungen gebunden ist. Um der Menschenrechte willen muß die Kirche deshalb für die Gewährleistung elementarer Lebens-möglichkeiten für alle Menschen eintreten. Die wachsende Disparität zwischen Nord und Süd wie die Gefährdung der Lebenschancen künftiger Generationen durch die Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt werden deshalb heute zu vorrangigen Themen kirchlicher Mit-verantwortung in politischen Fragen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ansprache des Bundeskanzlers beim Abshiedsempfang für Bischof D. Dr. Kunst am 25. April 1977 (Bulletin der Bundesregierung 1977, Nr. 45, S. 406 f.).

  2. Stuttgart 1976.

  3. Vgl. E. R. Huber/W. Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1, Berlin 1973; Bd. 2, Berlin 1976.

  4. Vgl. E. Bethge, Dietrich — Christ — Zeitgenosse, München 1967. Bonhoeffer, Theoloc

  5. K. Kupisch, Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871— 1945, München/Hambürg 1965, S. 276.

  6. Hierzu und zur Gesamtthematik dieses Aufsatzes vgl. W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973.

  7. Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen, Gütersloh 1970, These 12.

  8. H. Hild, Parteilichkeit und Neutralität im politi-sehen Amt der Kirche, in: W. Erk/Y. Spiegel (Hrsg.), Theologie und Kirchenleitung, Festschrift u M. Fischer, München 1976, S. 73— 84 (74).

  9. K. Kupisch, Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus von 1945 bis zur Gegenwart, Teil 1, Hamburg 1971, S. 56.

  10. D. Bonhoeffer, Ethik, 6. AufL München 1963, S. 120 ff.; vgl. E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer und die theologische Begründung seines politischen Widerstandes, in: Theologie und Kirchenleitung, a. a. O., S. 58— 72 (62).

  11. Kupisch, Quellen, a. a. O., S. 57 ff.

  12. Vgl. z. B. die Thesenreihe der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung: „Der Friedensdienst der Christen“, Gütersloh 1970.

  13. Vgl. aus jüngster Zeit: Die Kirche und die Menschenrechte. Ein Arbeitspapier der Päpstlidien Kommission Justitia et Pax, Mainz/München 1976; J. M. Lochmann/J. Moltmann (Hrsg.), Gottes Recht und Menschenrechte, Neukirchen 1976; W.

Weitere Inhalte

Wolfgang Huber, Dr. theol., geb. 1942; stellvertr. Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (F. E. ST.), Heidelberg; Privatdozent für systematische Theologie an der Universität Heidelberg. Buchveröffentlichungen u. a.: Passa und Ostern. Untersuchungen zur Osterfeier der alten Kirche, Berlin 1969; Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973; (zus. mit G. Picht) Was heißt Friedensforschung?, Stuttgart/München 1971; (zus. mit E. R. Huber) Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1, Berlin 1973; Bd. 2, Berlin 1976; (zus. mit G. Liedke) Christentum und Militarismus, Stuttgart/München 1974; (zus. mit J. Schwerdtfeger) Kirche zwischen Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, Stuttgart 1976; Frieden — Gewalt — Sozialismus. Studien zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1976; (zus. mit H. E. Tödt) Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart 1977.