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Ein Wachstumskonzept und seine Grenzen. Zum Bericht der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel | APuZ 32/1977 | bpb.de

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APuZ 32/1977 Artikel 1 Neue Medien -alte Probleme? Politische Weichenstellungen für die Zukunft der Kommunikation Ein Wachstumskonzept und seine Grenzen. Zum Bericht der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel

Ein Wachstumskonzept und seine Grenzen. Zum Bericht der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel

Harald Stumpf

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag nimmt zu dem im Bericht der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel entwickelten Konzept für eine „gestaltete Expansion bei Vollbeschäftigung“ Stellung. (Eine zusammenfassende Darstellung dieses Berichtes erschien in dieser Zeitschrift als Folge 18/77). Der Autor stimmt der Situationsanalyse der Kommission weitgehend zu, hält sie aber nicht für ausreichend, da zentrale zivilisationsökologische Probleme, ohne deren Einbeziehung eine langfristig orientierte Politik nur Stückwerk bleiben müsse, nicht voll aufgenommen und aufgearbeitet worden seien. Zu nennen sind hier zunächst negative psychosoziale Faktoren, die auf den Bundesbürger — zumal in den Ballungsräumen — einwirken, ferner die unmittelbaren Schädigungen durch die Industriewelt. Diese Defizite schlagen sich in extrem steigenden sozialen Kosten nieder, mit der Folge, daß der gesamtwirtschaftlichen Anstrengung zur Steigerung des Bruttosozialprodukts ein ständig sinkender Nettonutzen gegenübersteht, der die Wachstums-bemühungen zunehmend durchkreuzt. Bewirkt demnach Wachstum bisheriger Art schon erhebliche sekundäre Ubelstände, so vermag es überdies angesichts der komplexen Strukturkrise selbst manche ökonomischen Probleme, die bislang auf diese Weise angehbar waren, nicht mehr zu lösen (z. B. rechnet man bei einem Wachstum von 4, 5 % mittelfristig mit einer Arbeitslosigkeit von rd. einer Million). Das Expansionsmodell durch weitere kräftige Exportsteigerungen retten zu wollen, erweist sich nach Ansicht des Autors auf längere Sicht ebenfalls als abwegig, weil — abgesehen von der zunehmenden, auch politischen Auslandsabhängigkeit der Bundesrepublik und der damit verbundenen Abstumpfung der wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrumente — der Kollaps dieses Modells nur verzögert, später aber um so größere Gebiete treffen würde: ökonomisch und ökologisch. Aus ähnlichen Gründen kommt der Autor auch zu einem negativen Urteil über die forcierte Expansion des Energieangebots (Nuklearkonzept). All dem gegenüber stellt der Autor die Forderung auf, daß die Industrienationen zur Wahrung ihrer Existenz, aber auch zu deren Absicherung im globalen Zusammenhang lernen müssen, in der ökologischen Sanierung beispielhaft vorauszugehen. Dabei sollten indessen keine Extrempositionen eingenommen, sondern eine maßvolle Politik angestrebt werden, die das Prinzip des Nettonutzens des Wachstums in den Mittelpunkt der Bemühungen um wirtschaftliche Belebung, Stabilität und recht verstandenen Wohlstand rückt. Um diesen Zielen entsprechende wirtschafts-und gesellschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten zu schaffen, ist u. a. eine umfassende Weiterentwicklung und Anwendung kybernetischer Systemanalysen unerläßlich.

Einleitung

INHALT Einleitung I. Gestaltete Expansion II. Psychologische Belastungen III. Umweltbelastungen IV. Strukturkrise V. Exportabhängigkeit VI. Globalentwicklung VII. Bevölkerungsentwicklung VIII. Politische Folgerungen

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein hochindustrialisiertes Land. Infolgedessen kann die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation ihrer Bürger durch eine steigende Abhängigkeit aller von allen und durch eine steigende Künstlichkeit der Lebenswelt charakterisiert werden. Hinzu kommt die Abhängigkeit von der Einfuhr zahlreicher industriell lebensnotwendiget Rohstoffe, deren Menge ebenfalls laufend zunimmt. Im Gegensatz zu einem Agrarstaat ist ein Industriestaat dieser Art ein außenpolitisch, wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch sowie ökologisch hochempfindliches System.

Die zivilisatorische Entwicklung zu diesem komplizierten System basierte auf der unreflektierten Annahme, daß alle durch Wissenschaft und Technik sowie durch das Wirtschaftswachstum verursachten Strukturveränderungen in diesem System Fortschritte für die zivilisatorische Lebensform darstellen müßten. Inzwischen hat sich jedoch zunehmend gezeigt, daß ein derartiger unkritischer Technik-und Wachstumsoptimismus nicht haltbar ist. Die direkten und indirekten Wirkungen der Zivilisationsentwicklung können nicht nur lebensfördernd, sondern ebenso lebensbedrohend sein, und zwar nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für den internationalen Verbund, in den die Bundesrepublik eingebettet ist.

In zunehmendem Maße treten auf nationaler und internationaler Ebene Konflikte zutage, die sich nicht mehr allein mit den Mitteln der klassischen Machtpolitik lösen oder aus ihr erklären lassen. Denn hier gerät nicht eine spezielle Machtpolitik an ihre Grenzen, sondern die Weiterentwicklung der industriellen Lebens-und Wirtschaftsform insgesamt. Andererseits hat die industrielle Welt bereits eine zivilisatorische Eigendynamik des raschen Wandels entwickelt, die sich nicht ohne schwerste gesellschaftliche Folgen abbremsen läßt. Eine akzeptable Lösung dieser Problematik kann daher nur in einer verbesserten Steuerung der zivilisatoriechen Vorgänge gesucht werden.

Eine Politik, die diesen Versuch unternimmt, ist ungleich schwieriger als die klassische Machtpolitik, da neben Machtausübung und Machtausgleich auch die wissenschaftlich fundierte Steuerung der Zivilisation gefordert wird. Daß es sich wegen der Komplexität der zivilisatorischen Entwicklung hierbei um einen Lernprozeß sowohl von Politik als auch von mit ihr koordinierter Wissenschaft handeln muß, ist klar. Daher kann auch nicht erwartet werden, daß wissenschaftlich-politische Kooperation perfekte Lösungen für die anstehenden Probleme anbietet. Es wird sich vielmehr im allgemeinen um einen dialektischen Prozeß von Thesen und konstruktiven Antithesen zur Erarbeitung von tragbaren Synthesen handeln.

Die Erweiterung der Politik von der Machtausübung zur Zivilisationssteuerung ist nicht neu. In den modernen Industriegesellschaften verlangt die Abhängigkeit aller von allen nach einem Regulativ, das durch den Staat und die ihm angeschlossenen Institutionen gebildet wird. Neben den klassischen Staats-aufgaben der Rechtsprechung und Verteidigung übernimmt der Staat in diesen Gesellschaften zusätzlich die wirtschaftliche Steuerung (soweit möglich), die notwendige Umverteilung, die Zukunftsvorsorge, und zwar nicht nur sozial, sondern auch wissenschaftlich-technisch, sowie eine große Anzahl von Dienstleistungen, die nur kollektiv gemeistert werden können. Durch den zur Bewältigung dieser Aufgaben notwendigen Apparat besitzt der Staat bzw.seine politische Führung bereits eine außerordentlich große politische und wirtschaftliche Macht, die viel universaler als in früheren Zeiten eingesetzt werden kann. Worauf es bei der Durchiührung moderner Politik daher ankommt, ist nicht die Schaffung neuer Machtinstrumente, sondern die intellektuelle Durchdringung der sich stellenden Aufgaben und die langfristig konzipierten Lösungsansätze dafür.

Im Sinne dieser Aufgabenstellung hat die Bundesregierung eine Kommission mit der Untersuchung beauftragt, im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung wirtschafts-und gesellschaftspolitische Möglichkeiten aufzuzeigen, um den technischen und sozialen Wandel zu fördern und im Interesse der Bevölkerung zu gestalten. Diese Kommission hat im Januar 1977 ein umfangreiches Gutachten als Ergebnis ihrer fast sechsjährigen Tätigkeit vorgelegt Die Thematik dieses Gutachtens kann sachlich in den Bereich der Zivilisationsökologie eingeordnet werden. Die Ökologie ist die Wissenschaft von den Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Organismen und ihrer Umwelt, von dem gegenseitigen Zusammenwirken von Lebensgemeinschaften und von deren innerer Struktur.

Setzt man Zivilisation davor, so werden diese Fragen speziell für die menschliche Gesellschaft wissenschaftlich behandelt, unter Einbeziehung aller Faktoren, die die Zivilisation bewirkt.

Vom Autor dieses Aufsatzes wurde eine Zivilisationsökologie unter spezieller Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland verfaßt deren Themen sich teilweise mit den Themen des Gutachtens der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel überschneiden. Vorweg sei festgestellt, daß sich die Aussagen des Verfassers und jene der Kommission in vielen wesentlichen Punkten decken. Andererseits ergibt sich aus dem Vergleich der genannten Arbeiten aber auch, daß der zivilisationsökologische Ansatz auf gravierende Probleme hinweist, die von der Kommission nicht voll aufgenommen und in ihren Konsequenzen nicht aufgearbeitet worden sind. In dieser Arbeit soll dies im einzelnen dargestellt und damit im Sinne der dialektischen Aufarbeitung eine konstruktive Kritik am Kommissionsbericht gegeben werden. Zur Durchführung dieser Kritik werden in einem ersten Abschnitt die wesentlichen Ergebnisse der Kommissionsarbeit wiedergegeben, um in den nachfolgenden Abschnitten die kritische Diskussion darauf beziehen zu können.

I. Gestaltete Expansion

Es wurde bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, daß im vergangenen Jahrzehnt Konflikte aufgebrochen sind, die sich nicht mit den Mitteln der traditionellen Machtpolitik lösen lassen. Beim Versuch, Lösungen für diese Konflikte zu finden, stellt sich die Frage: Welche Konflikte sind existenziell und welche sind nur Randerscheinungen? Wäre wissenschaftlich man in der Lage, das System „Welt“ ganzheitlich in seiner Problematik zu durchleuchten, so müßte sich eine einheitliche, universal gültige Rangfolge der zu lösenden Probleme ergeben. Davon ist man gegenwärtig noch weit entfernt. Die Folge davon ist, daß je nach dem eingenommenen Standpunkt eine verschiedenartige Rangfolge entsteht. In diesem Abschnitt soll diejenige Problemliste behandelt werden, die sich aus der Sicht der Bundesregierung ergibt. Eine erste grobe Einteilung führt auf drei Problemkreise, nämlich — die außenpolitische Absicherung der Bundesrepublik, — die wirtschaftliche Existenzsicherung der Bundesrepublik, die — gesellschaftliche Stabilisierung der Bundesrepublik.

Die Kommission beschäftigt sich nur mit den eng verknüpften Problemkreisen zwei und drei. Die den Staat seit einiger Zeit am meisten bedrängenden Probleme sind darin — die Arbeitslosigkeit, — die steigenden Staatsausgaben und Sozial-kosten, — die Inflation.

Ausgangspunkt ist demgemäß die wirtschaftliche Problematik. Die Kommission stellt fest, daß der starke wirtschaftliche Aufschwung und die hohen Wachstumsraten der fünfziger und frühen sechziger Jahre das Vertrauen der Öffentlichkeit und der verantwortlichen Politiker in die Mechanismen der marktwirtschaftlichen Ordnung begründeten und weitergehende gezielte wachstumspolitische Aktivitäten als überflüssig erscheinen ließen, d. h., man vertraute auf die -Selbstregulie rungsfähigkeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems. Unter dem Eindruck der wachsenden Schwierigkeiten setzte sich jedoch allmählich die Einsicht durch, daß von diesen Ordnungsprinzipien nicht nur positive Wirkungen ausgehen. Der nach diesen Prinzipien sich vollziehende politische Prozeß tendiert zu einer Orientierung der Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik an der Erfüllung von kurzfristigen Funktionszielen bei gleichzeitiger Vernachlässigung langfristiger Gestaltungsziele und zur Zurückstellung konfliktreicher und strukturgestaltender Aufgaben. Um eine aktiv gestaltende, längerfristig orientierte Politik auszubauen, empfiehlt die Kommission, die Forschung systematisch zu fördern, damit langfristige Prognosen und Konzeptionen für alternative Entwicklungen in gesellschaftlichen Teilbereichen erarbeitet werden können. Darauf aufbauend, sollten Regierung und Parteien in verstärktem Maße längerfristige Entwicklungsziele und Gestaltungsalternativen diskutieren und daraus Vorschläge erarbeiten. Da eine funktionierende Wirtschaft eine notwendige Voraussetzung dafür ist, daß Staat und Gesellschaft überhaupt in die Lage versetzt werden, eine Entwicklung in eine gewünschte Richtung einzuleiten, legt die Kommission das Hauptgewicht auf die wirtschaftliche Entwicklung. Sie fordert als wirtschaftliche und gesellschaftliche Strategie „eine gestaltete Expansion bei Vollbeschäftigung". Dies macht ein abgestimmtes Vorgehen in mehreren politischen Bereichen notwendig: — Förderung der privaten Investitionstätigkeit; — Erhöhung der nominalen Staatsausgaben-quote; — Langfristorientierung des staatlichen Ausgabenverhaltens; — Erleichterung des Strukturwandels mit Hilfe der sektoralen und regionalen Struktur-politik, der Raumordnungspolitik, der Umweltpolitik und der Forschungs-und Technologiepolitik; — Absicherung der gestalteten Expansion über die Stabilisierungs-, Verteilungs-und Wettbewerbspolitik.

Es ist nicht notwendig, im Rahmen dieser Diskussion auf weitere Einzelheiten einzugehen. Es soll nur nochmals darauf hingewiesen werden, daß zwischen den Aussagen der Kommission und denen des Autors über die zivilisationsökologische Situation der Bundesrepublik weitgehende Übereinstimmung besteht, was in den beiden Arbeiten nachgelesen und verglichen werden kann. Aber die zivilisationsökologische Analyse geht in dem von ihr gesetzten Rahmen weit über das Gutachten der Kommission hinaus. Die Frage, die sich damit stellt, lautet: Sind die von der Kommission aufgegriltenen Probleme wirklich die zentralen Probleme, so daß sich die politische Tätigkeit und Entscheidung auf diese Probleme konzentrieren sollte, oder gibt es daneben (oder dahinter) noch mächtigere und fundamentalere Probleme, ohne deren zusätzliche Einbeziehung eine längerfristig orientierte Politik nur Stückwerk bleiben muß? Diese, wie sich herausstellen wird, zentrale Frage soll hier behandelt werden. Dazu werden in den nachfolgenden Abschnitten zunächst die einzelnen Problembereiche dargestellt und in einem Schlußabschnitt darauf aufbauend konstruktive kritische Alternativen aufgezeigt.

II. Psychologische Belastungen

Auf die Bundesbürger insbesondere in den Ballungsräumen wirkt ein ganzes Bündel negativer sozialpsychologischer Faktoren, die entsprechende sozialpsychologische Belastungen zur Folge haben. Man kann dabei aufgliedern in Belastungen, die verursacht werden durch — fehlgeleitete Lebensweisen der Industriegesellschaft; — Einflüsse von Ballungsräumen und Arbeitsbedingungen; — Erziehungs-und Betreuungsdefekte;

— Informations-und Reizüberflutung im Kommunikationsbereich.

Zur Begründung dieser Feststellungen mögen folgende Hinweise dienen: Die Demokratie bietet nur einen gewissen Grundbestand von Verhaltensregeln, der durch weitere Verhaltensmaßstäbe ergänzt und aufgefüllt werden muß. In den vergangenen Jahrzehnten wurde sozial und ideell, unter Einfluß von Massenmedien und Reklame, von Konsum-und Produk26 tionszwang der Wohlstandsbürger erzeugt und dabei die Ausbildung von ökologisch und sozial negativ wirkenden Verhaltensweisen begünstigt. Dazu zählen u. a. das Streben nach eigenem Vorteil ohne Rücksicht auf das Gemeinwesen; die Unfähigkeit, sich selbst einzuschränken; das Streben nach maximaler Bequemlichkeit; das Streben nach dem Gewinn momentaner Lust im Genuß ohne Rücksicht auf gesundheitliche Schäden oder ökologische Folgen; die Unfähigkeit zur Kindererziehung durch gelebtes Vorbild; die Neigung zum Konsum von Gewaltdarstellungen und Sensationen. Verstärkt wird dieser Trend zum hedonistischen Materialismus durch den Umstand, daß durch die jüngste Geschichte für die Bundesbürger die Möglichkeiten zur nationalen Identifikation in einem Gemeinsinn erfordernden Vaterland brüchig geworden sind. In den Ballungsräumen können große Menschenmengen nur bei äußerster Disziplin auf engem Raum zusammenleben. Der Zwang zum einwandfreien Funktionieren im zivilisatorischen Apparat ohne Ausbruchsmöglichkeiten bewirkt einen Dauerstreß. Hinzu kommen die Streßbelastungen durch Lärm, den Individualverkehr mit allen Folgen, die Durchbrechung der natürlichen Tagesrhythmen sowie die Belastungen durch monotone und psychologisch wie physiologisch einseitige Arbeitsbeanspruchung und die auf ein Vielfaches gegenüber früheren Zeiten gesteigerten menschlichen Interaktionen. In der Kindererziehung und -betreuung wirkt sich das Zivilisationsleben in doppelter Weise negativ aus: Einerseits ist der Zivilisationsmensch aufgrund der geschilderten Belastungen oft unfähig, dieser Aufgabe voll gerecht zu werden, andererseits wird durch die mangelhafte Erziehung und Betreuung die Unfähigkeit, dieses Problem zu bewältigen, für die nachwachsende Generation geradezu vorprogranuniert, da geschädigte Kinder als spätere Erwachsene mit solchen Aufgaben erst recht überfordert sind. Hinzu kommt, daß die Kinder in den Ballungsräumen in verstärktem Maße den genannten Belastungen unterworfen sind. Von den Informationsmedien wird der Bürger mit mangelhaft verarbeiteter Information überschüttet. Das Fernsehen übt eine suggestive Gewalt auf die meisten Menschen aus und führt zusammen mit allen anderen Einflüssen zu einer Reizüberflutung. Die soge-nannten Unterhaltungskünste haben eine des-integrierende Wirkung, da in ihnen ständig Konflikte dargestellt werden. Nach amerikanischen Untersuchungen hat ein 17jähriger im Durchschnitt am Fernsehen bereits rund 18 000 Morde miterlebt. Auch wenn in der Bundesrepublik nicht so extreme Verhältnisse vorliegen, so sind sie doch damit vergleichbar. Auf einer höheren Ebene, im wissenschaftlichen, technischen und administrativen Bereich, ertrinken die Fachleute nahezu in der angebotenen Literatur, wobei auch diese Darstellungen oft nur mangelhaft verarbeitet sind. Die Folgen dieser Belastungen machen sich bemerkbar in — psychosomatischen Erkrankungen, — Neurosen und Psychosen, — Kriminalität, — Suchterscheinungen, — radikalen und terroristischen Bestrebungen. Die Tendenz dieser Belastungsfolgen ist steigend. Insgesamt bewirken sie wachsende Aggressivität und zunehmende Degeneration. Dies sei an einigen Beispielen verdeutlicht.

In der Bundesrepublik gibt es nach verschiedenen Schätzungen rund 6 bis 9 Millionen psychisch erkrankte Bundesbürger, das sind etwa 10 bis 15 °/o der Gesamtbevölkerung oder jeder sechste Mensch, der einem begegnet. Diese neurotischen Erkrankungen sind nicht nur eine Privatangelegenheit der Betroffenen, sondern sie verursachen psychische und soziale Fehlleistungen, die sich auch auf die Allgemeinheit auswirken, u. a. in der Kriminalität. Von 1965 bis 1973 haben sich Mord und Totschlag, Raub, Brandstiftung und Körperverletzung nahezu verdoppelt. In indirekter Weise wirkt sich die neurotische Belastung der Bevölkerung auch auf die Kindererziehung aus. Die Zahl der gerichtlich aufgeklärten Kindesmißhandlungen beträgt gegenwärtig pro Jahr über 2 000, die Dunkelziffer schwankt je nach Schätzung zwischen 6 000 und 400 000. Statistisch werden Quälereien mit Todesfolge, vermutlich zwischen 200 und 700 pro Jahr, nur ungenügend erfaßt. Täglich sind in Westdeutschland rund eine Million Kinder im Alter von 3 Monaten bis zu 6 Jahren nicht in der'Obhut ihrer Mütter, weil diese den ganzen Tag arbeiten. Viele dieser Kinder haben keine Verwandten und keinen Platz im Kinderhort; sie sind sich selbst überlassen. Fast 17 000 Kleinkinder wachsen in der Bundesrepublik mutterlos in Heimen heran, 61 000 Kinder leben in Kinderheimen, 50 000 in Heimen für freiwillige Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung. Sozialpsychologische Untersuchungen zeigen den Zusammenhang dieser defekten Erwachsenenwelt mit der Verwahrlosung der Jugend auf. Die von ihren Eltern und der Erwachsenenwelt seelisch im Stich gelassenen und vielfach sogar mißhandelten Jugendlichen reagieren darauf anarchisch und psychopathologisch. Die Jugendkriminalität steigt auffällig und noch stärker als die allgemeine Kriminalität; dabei ist wiederum der überproportionale Anteil der Ballungszentren statistisch nachweisbar.

Die Suchtneigung soll ebenfalls an Zahlen verdeutlicht werden. Es wurden 1973 ausgegeben: — 15, 2 Milliarden DM für Tabakkonsum, — 30, 0 Milliarden DM für Alkoholkonsum, — 15, 0 Milliarden DM für Zucker-und Weißmehlprodukte (vor allem Feinbackwaren).

Bei vielen Menschen hat der Umgang mit Auto oder Motorrad Suchtcharakter. Die Verkehrsunfälle forderten rund 18 800 Tote und 165 700 Schwerverletzte im Jahr 1972. Insgesamt werden die sozialen und ökologischen Folgekosten des Autoverkehrs auf mindestens 35 Milliarden DM im Jahr 1972 geschätzt. Läßt man den Mißbrauch anderer Zivilisationsgüter (z. B. Medikamentenmißbrauch, Energieverschwendung, Fehlleitung von Rüstungsausgaben) gänzlich außer acht, da dieser statistisch nur schwer erfaßbar ist, so macht allein der Tabak-, Alkohol-und Süßwarenverbrauch sowie der Verkehrsschaden etwa 95 Milliarden DM, d. h. ungefähr vier Fünftel des gesamten Bundeshaushalts von 1974 aus. Alle Zahlen haben steigende Tendenz.

Die Suchtneigung ist demnach nicht nur ein individuelles Problem. Im folgenden daher noch einige Hinweise zu den Auswirkungen der Sucht.

Am bekanntesten sind die Folgen des Rauchens. Die Mortalitätsrate von Rauchern liegt erheblich höher als die der Nichtraucher. Raucher sind im Durchschnitt um 28 °/o mehr krank als Nichtraucher. Der Zusammenhang zwischen Rauchen und Herzkrankheiten ist statistisch einwandfrei gesichert. Weniger bekannt ist, daß die Auswirkungen von Alkohol, Zucker und Weißmehl zu praktisch den gleichen Degenerationskrankheiten führen, die mit dem Sammelbegriff Saccharidose bezeichnet werden. Dazu gehören u. a. Gebiß-verfall, Diabetes, Herzinfarkt, Fettsucht, Magen-und Zwölffingerdarmgeschwür, Krampfadern, Arteriosklerose, Begünstigung von Krebs und für Alkohol insbesondere Leberzirrhose. Von den etwa 60 Millionen Westdeutschen sind eine Million Diabetiker. Nach Reihenuntersuchungen kann man sogar annehmen, daß eine zweite Million Menschen schon Diabetiker sind, ohne es zu wissen. Es herrscht weiterhin Übereinstimmung darüber, daß in der zivilisierten westlichen Welt insgesamt bei schon 20 % der Bevölkerung, also bei jedem Fünften, eine diabetische Stoffwechselstörung vorliegt.

In der Bundesrepublik gibt es etwa 7 °/o aktuelle und potentielle (latente) Alkoholiker, wobei die Alkoholiker ein ungewöhnliches, vom Durchschnitt abweichendes Trinkverhalten aufweisen, das für die betreffende Person mit objektiven äußeren oder/und mit subjektiven inneren Problemen verbunden ist. Diese 7° sind etwa 4, 2 Millionen Menschen! Neben Nikotin und Alkohol werden auch noch härtere Drogen konsumiert. In den vergangenen Jahren hat Sich die Toxikomanie, die suchtmäßige Einnahme immer größer werdender Dosen von Gift, in erschreckender Weise ausgebreitet. In diesem Zusammenhang ist auch das Über-angebot einer nahezu völlig denaturierten Nahrung zu nennen, das zum Ansteigen der sogenannten Zivilisationskrankheiten wesentlich beiträgt. Auch die Überernährung ist ein Suchtproblem, das verstärkt wird durch die gleichzeitige Fehlernährung. Das Ergebnis ist die Fettsucht, die auf dem zunehmenden Mißverhältnis zwischen Kalorienbedarf und Kalorienangebot beruht. Aus der experimentellen Krebsforschung ist bekannt, daß hohe Kalorienzufuhr die Häufigkeit induzierter Tumore steigert. Nach Erhebungen der Landesversicherungsanstalt Württemberg waren bei 10 000 Versicherten in der Gruppe der Heil-maßnahmen 42 °/o Männer und 56 0/0 Frauen übergewichtig und 20 °/o der Männer sowie 38 °/o der Frauen fettsüchtig. Dieser Status wirkt sich deutlich auf die Lebenserwartung aus.

III. Umweltbelastungen

Neben die psychosozialen Belastungen treten ehe direkten Schädigungen durch die Umwelt. In der Industriewelt ist der Mensch von einer großen Anzahl toxischer Stoffe bedroht, die über Luft, Wasser und Nahrungsmittel auf ihn einwirken. Daneben bewirkt die Technisierung der Arbeitswelt und Umwelt auch eine hohe Zahl von Unfällen. Die aus der toxischen Belastung entstehenden Zivilisationskrankheiten und die Unfälle sind ein Maß für die Fehlentwicklung der Zivilisation. Das Wachstums-modell der Wirtschaft verlangt eine expansive Warenproduktion und wird daher zu einer steigenden Belastung der Umwelt führen, wenn alles so weiterläuft wie bisher. Es sollen hier nicht die Schadstoffkonzentrationen u. ä. diskutiert werden, weil die Zahlenangaben hierüber schlecht zugänglich und wenig aussagekräftig sind. Vielmehr sollen sogleich die statistisch faßbaren Wirkungen unserer Industrialisierung aufgeführt werden.

Die Zivilisationskrankheiten nehmen ständig zu. Insbesondere Krebs muß als Reaktion auf toxische Belastungen angesehen werden. Gegenwärtig stirbt jeder fünfte an Krebs, 1980 wird es bereits jeder dritte sein. Es findet eine Verlagerung der Krebserkrankungen ins Jugendalter statt. Der Herzinfarkt hat sich zwischen 1966 und 1973 um 14’/» erhöht. Leberentzündungen, chronische Bronchitis, Gicht, Sklerosen, Arthrosen, Krampfadern sowie Ge-bißzerfall nehmen zu und sind bereits im jugendlichen Alter zu beobachten. Auch die Unfälle nehmen zu. Es gibt gegenwärtig pro Jahr etwa 300 000 Giftunfälle, 400 000 Verkehrsunfälle bei steigender Tendenz, während die Zahl der Arbeitsunfälle mit rund 2, 5 Millionen einigermaßen konstant bleibt. Nach einer Bundesstatistik hatte 1972 innerhalb von 4 Wochen 1, 6’/o der Bevölkerung einen Unfall, das sind 960 000 Unfälle in 4 Wochen oder rund 10 Millionen Unfälle im Jahr. 10 bis 15°/o der Bevölkerung sind chronisch krank. Nur die Kunst der modernen Medizin hält diese Kranken am Leben. Dies ist aber eine Selbsttäuschung, denn die Medizin vermag die Siechen zwar am Leben zu erhalten, nicht aber gesund zu machen. Trotz dieser medizinischen Kunst sinkt die Lebenserwartung bei Männern bereits wieder ab. Auch die Unfruchtbarkeit ist eine Folge des Zivilisationslebens, und am Geburtenschwund sind nicht nur die Pille und wirtschaftliche Erwartungen schuld. Daneben gibt es erhöhte Raten von Mißbildungen bei Geburten.

Die Belastungen der Bundesbürger bewirken über die im Abschnitt II und hier geschilderten Mechanismen steigendes Siechtum eines steigenden Anteils der Bevölkerung. Daraus kann bereits ein erster Schluß gezogen werden: Wegen der sozialen Haftung schlagen sich diese Defekte in extrem steigenden sozialen Kosten nieder. Diese betrugen allein für Krankheit, Alter, Unfall im Jahr 1975 bereits 150 0/0 des Bundeshaushalts oder 9 200 DM pro Erwerbstätigem im Jahr. Von 12, 6 °/o des Bruttosozialprodukts im Jahr 1960 stieg der genannte Sozialanteil auf 23, 1 ’/o im Jahr 1975. Die gesamten Sozialkosten liegen noch erheblich höher. Daß hier ein nicht zu gewinnender Wettlauf zwischen Mittelbereitstellung und Mittelverbrauch vorliegt, zeigen die Steigerungsraten. In sämtlichen Jahren liegen die Steigerungsraten der Sozialkosten erheblich über jenen des Bruttosozialprodukts. Dies bedeutet: Der gesamtwirtschaftlichen Anstrengung zur Steigerung des Bruttosozialprodukts steht ein ständig sinkender Nettonutzen gegenüber. Da die wirtschaftliche Expansion in keiner Weise mit der ökologischen Sanierung gekoppelt ist, die ökologischen Belastungen im Gegenteil noch steigen, führt der sinkende Nettonutzen diese Anstrengung ad absurdum.

Übersteigt die Zahl der physisch oder/und psychisch Umwelt-und Sozialgeschädigten einen gewissen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung, so sind die Gesunden nicht mehr in der Lage, die Soziallasten für die Kranken zu tragen; das Sozial-und Wirtschaftsgefüge des Staates bricht dann zusammen. In diesem ersten Stadium einer Umweltkrise kommt die Okokatastrophe nicht spektakulär, sondern schleichend auf den Staat zu.

Man ersieht aus all dem, daß es aussichtslos ist, die Folgewirkungen unserer Lebens-und Produktionsweise durch weiteres Wirtschaftswachstum zu kompensieren.

IV. Strukturkrise

In den vorangehenden Abschnitten wurde ge- zeigt, daß infolge unserer Lebens-und Produktionsweise dem steigenden Bruttosozialprodukt ein sinkender Nettonutzen gegenübersteht. Allein dieser Umstand sollte und ®uß bereits zu einem Umdenken in unseren bisherigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfahrensweisen Anlaß geben. Ein Zwang zum Umdenken ergibt sich aber auch aus den zahlreichen und tiefgreifen-den Schwierigkeiten auf der rein wirtschaftlichen Ebene. Hierzu eine Reihe von Hinweisen: Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung stellt z. B. fest: Bei 4, 5 ’/o Wachstum der Wirtschaft sind mittelfristig 1 Million Arbeitslose zu erwarten, da infolge nicht ausgelasteter Kapazitäten das Nachfragewachstum mit dem heute bestehenden Potential zu befriedigen ist. Wachstum bisheriger Art bedeutet also in unserer Situation keine Lösung des Arbeitslosen-Problems mehr. Für den Export hingegen gilt es, daß ohne Exportprämie die Auslandspreise für deutsche Waren zu hoch sind, d. h.der Export funktioniert nur mit Subventionen. Hinzu kommt, daß wegen der hohen Lohnkosten eine Reihe von Branchen im Inland nicht mehr preisgünstig produzieren kann. Textil-und Bekleidungsfabriken, Photo-, Phono-und Fernsehfabriken wandern aus, da diese Produktion mit einem Drittel der deutschen Produktionskosten im Ausland, z. B. Fernost oder Ostblock, ausgeführt werden kann. Bleiben diese Branchen dagegen im Inland, so müssen sie kräftig rationalisieren. Die anhaltende Investitionsschwäche, verstärkte Rationalisierungsanstrengungen, Abwanderung ins Ausland und ein tiefgreifender Strukturwandel kosteten die deutsche Industrie binnen sechs Jahren ungefähr 1, 6 Millionen Arbeitsplätze. Im Saldo schätzt das Kieler Weltwirtschaftsinstitut den Verlust an Arbeitsplätzen zwischen 1975 und 1985 auf 500 000, die Prognos AG Basel auf 1 Million und der Deutsche Gewerkschaftsbund auf 2 Millionen. Dies bedeutet: Bei einem derart tiefen Strukturwandel kann man kurzfristig und langfristig sich nicht auf die Selbstheilungstendenzen der Wirtschaft verlassen. Es muß damit gerechnet werden, daß sich das Wirtschaftswachstum weiter abschwächt, die Konjunkturzyklen an Schärfe zunehmen, die Geldentwertung sich beschleunigt, die Arbeitslosigkeit sich vergrößert, die soziale Sicherheit dahinschwindet. Um Arbeitsplätze mit entsprechendem Reallohnniveau zu beschaffen, ist eine gewaltige volkswirtschaftliche Anstrengung erforderlich. Eine Rationierung der Arbeit genügt nicht. Der Aufschwung von 1950 bis 1965 läßt sich nicht wiederholen. Mit konventionellen Erzeugnissen kann man im Export nicht mehr konkurrieren. Dies wird deutlich am Preisanstieg. Dieser betrug bei deutschen Preisen zwischen 1970 und 1975 113%, bei japanischen Preisen 51 % und bei den amerikanischen Preisen 40 %. Es werden 2, 5 bis 3 Millionen neue Arbeitsplätze benötigt. Bei 150 000 DM Investitionen pro Arbeitsplatz führt dies zu 450 Milliarden Gesamtinvestitionen. Eine Umfrage des Instituts der Deutschen Wirtschaft für 1977 zeigt eine nicht allzu günstige Einschätzung der Lage. Es werden konjunkturelle Labilität, unbefriedigende Ertragserwartung und gebremste Investitionslust hervorgehoben. Die Chase Econometrics stellt in einer Weltprognosestudie fest, daß eine Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums und ein Rückgang des deutschen Exports zu erwarten ist.

Ein besonders schwer zu überschauender Bereich ist die Rationalisierung durch Automaten. Entscheidend ist das Tempo, in dem sich die zweite industrielle Revolution vollzieht. Es ist so hoch, daß die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen nicht folgen können. Abstoppen läßt sich diese Entwicklung nicht. Die Frage ist nur, ob das gesellschaftliche System diesem Prozeß standhalten kann. Aus der für Baden-Württemberg erstellten Studie der Prognos AG folgt: Beim Aufschwung werden zuerst vorhandene Kapazitäten benutzt, nicht neue geschaffen. Rationalisierungsinvestitionen machen die Hälfte des Investitionsvolumens von 1975 aus; es besteht am Binnenmarkt eine Sättigung; es besteht Mangel an verwertbaren Innovationen; es herrscht starke Konkurrenz aus Niedriglohnländern, und der größte Güterbedarf besteht bei Ländern ohne Kaufkraft. Der Bundesverband der Deutschen Industrie weist auf die sinkende Investitionsneigung hin. Im Vergleich mit den Investitionen von 1973 wurden 1976 in Amerika nur 90 % dieses Wertes getätigt, in Japan nur 75 % und in Europa nur 88 %.

Eine weitere äußerst bedenkliche Tatsache ist, daß zugleich immer mehr Klein-und Mittelbetriebe zur Geschäftsaufgabe gezwungen werden. Einerseits können diese Betriebe unter den herrschenden Bedingungen nicht mehr mit Großbetrieben konkurrieren, andererseits wird dadurch eine immer stärkere Abhängigkeit der Gesellschaft von Großbetrieben bewirkt, so daß sich Konjunkturschwankungen in viel stärkerem Maße auf das Beschäftigungsniveau auswirken. Bedenklich ist diese Entwicklung, weil damit bei Rationalisierung, wirtschaftlichem Fehlverhalten oder Abwanderung von Großbetrieben große Beschäftigungslücken entstehen, die ab einem gewissen Umfang vom Staat aufgefüllt werden müssen, über das Verschwinden der Klein-und Mittelbetriebe wird daher stillschweigend einer Sozialisierung der Wirtschaft der Weg. geebnet. Zusammenfassend muß man feststellen: Die Bundesrepublik steht wirtschaftlich und gesellschaftlich vor folgenden Problemen:

— steigende Rationalisierung und Automaten-einsatz, — Abwanderung von Industrien in Niedriglohnländer, — steigende Sozialbelastung, — nichtausgelastete Kapazitäten, — mangelnde Innovationsideen, — Investitionsstagnation, — Exporterschwerung, — Dahinschwinden des Mittelstandes durch Konzentration, — zunehmende ükosystembelastung.

V. Exportabhängigkeit

Die Bevölkerung der Bundesrepublik nimmt voraussichtlich von gegenwärtig 61 Millionen Einwohnern auf 56 Millionen Einwohner im Jahre 2000 ab, wenn nicht ganz einschneidende Ergebnisse den gegenwärtigen Trend der Geburtenraten beeinflussen. Eine Kompensation dieses Bevölkerungsrückgangs wäre nur durch Einwanderung aus Südeuropa zu erreichen, was viele Probleme aufwirft und zumindest für diesen Zeitraum noch nicht in Betracht gezogen werden soll, da die Bundesrepublik sowieso eine gefährlich hohe Bevölkerungsdichte aufweist. Der Rückgang der Einwohnerzahl zusammen mit einer nahezu vollständigen Ausstattung der Bevölkerung mit sogenannten Wohlstandsprodukten bewirkt eine Stagnation und Sättigung des Binnenmarkes. Wegen der Binnenmarktsättigung müßten die ausgebauten industriellen Kapazitäten vor allem durch Export ausgelastet werden. Im Jahr 1955 betrug das Exportvolumen 25, 7 Milliarden DM, im Jahre 1976 rund 250 Milliarden DM, wobei sich in den vergangenen 20 Jahren der Exportüberschuß nahezu verdreißigfacht hat. Damit verknüpft ist eine rapide Zunahme der Rohstoffimporte.

Bei einer Fortführung dieser Tendenz würden daher künftig in der Bundesrepublik bei steigender Energieproduktion immer größere Rohstoffmengen importiert werden müssen, um sie als verarbeitete Fertigwaren in steigenden Exportmengen wieder abzugeben, wobei in der Bundesrepublik ein Verarbeitungsgewinn verbleibt. Dies ist wirtschaftliches ein Vorgehen mit sehr gefährlichen innen-und außenpolitischen Konsequenzen. 1. Innenpolitisch: Die angegebenen Export-steigerungen sind nicht inflationsbereinigt; sie sind daher als Absolutmaß für die Export-abhängigkeit nicht besonders gut geeignet. Hingegen bilden die Energiesteigerungsraten absolute Werte. Von 1970 bis zum Jahr 2000 sollte sich nach den Plänen der Bundesregierung die Primärenergieeingabe verdreifachen. Nimmt man eine Proportionalität zwischen Energiebereitstellung und Produktion an, so müßte sich in diesem Zeitraum auch die Produktion mindestens verdreifachen. Wegen der Stagnation des Binnenmarktes müßte diese Produktionserhöhung vom Export aufgenommen werden. Gegenwärtig beträgt das Exportvolumen etwa 20 % des Bruttosozialprodukts. Bei nahezu ausschließlichem Abfluß der Zusatzproduktivität in den Export müßte dieser sich ebenfalls vervielfachen und zu einer nahezu vollständigen Abhängigkeit der Wirtschaft von der Auslandsnachfrage führen.

Dies würde zur Vereitelung jeglicher wirtschaftlicher Stabilitätspolitik der Bundesregierung führen, da die Außeneinflüsse immer größer als alle wirtschaftlichen Inneneinflüsse wären, was z. T. gegenwärtig schon der Fall ist, da die der Regierung zur Konjunktursteuerung zur Verfügung stehenden Finanzmittel nur einen Bruchteil desjenigen Finanzvolumens ausmachen, das die Außenabhängigkeit der Wirtschaft betrifft. Zur Vereitelung jeder innenpolitischen Konjunktur-steuerungsmöglichkeit kommt hinzu, daß der notwendige Ausbau der Produktionskapazitäten auf eine totale Industrialisierung der Bundesrepublik hinausläuft und die Bundesbürger damit restlos zu Lohnabhängigen gemacht werden. Dies bedeutet aber eine weitere Vergrößerung der heute schon bedrohlichen ökonomischen Abhängigkeit, so daß in einem Krisenfall die Bundesbürger zu einer wirtschaftlich total hilflosen Menge von Menschen würden mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. 2. Außenpolitisch: Zwar sind Preise und Lieferfähigkeit nach wie vor die Basis der Exporte. Aber das gesamte Exportvolumen hängt heute bei diesen Größenordnungen auch vom konjunkturellen Zustand der Einfuhrländer ab. Die Rezession 1974/75 zeigte erstmals deutlich den Zusammenhang von Export und Auslandskonjunktur. Fast überall trat eine starke Produktionsdrosselung ein. Die Rückwirkung auf den deutschen Export war kräftig. Die Abnahme des realen Bruttosozialprodukts und die Zunahme der Arbeitslosenzahlen war fast vollständig dem Exportrückgang zuzuschreiben. Diese Konjunkturabhängigkeit des Exports ist um so ausgeprägter, als etwa 77, 3% des Exports in die westlichen Industrieländer, aber nur 15, 4% in die Entwicklungsländer, 7 % in den Ostblock und 7, 5 % in die Erdöl-länder gehen. Da die Konjunkturschwankungen in den westlichen Industrieländern synchron verlaufen, schlägt jede Rezession sich ohne Verzögerung im Export nieder, d. h., der Export wirkt nicht als antizyklischer Ausgleich, sondern als Verstärker der unerwünschten Konjunkturzyklen.

Wegen der ungeklärten Finanzlage in vielen Einfuhrländern muß der Export von der Bundesregierung finanziell abgesichert werden. Bereits 1975 wurden auf 12% der Gesamtausfuhr Ausfuhrgarantien und Bürgschaften gegeben. Dieser Anteil müßte bei weiter steigendem Export mit Sicherheit vergrößert werden. Bei den meisten westlichen Industrieländern gibt es eine bedrohliche Entwicklung der Handels-und Leistungsbilanzen. Mit Einfuhrbeschränkungen ist zu rechnen, sofern nicht der EWG-Vertrag entgegensteht. Die exportstarken Länder wie die Bundesrepublik und die BeneluX-Länder können ihre Defizite noch ausgleichen. Aber es sind enorme Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung vorhanden. Die wachsende Diskrepanz zwischen starken und schwachen Ländern ist eine Zeitbombe für den gemeinsamen Markt, und die Möglichkeiten der Defizitländer, sich weiter zu verschulden, sind nahezu ausgeschöpft. Bei dem Versuch einer rigorosen Exportsteigerung wird man sich daher auf die Notwendigkeit ebenso rigoroser Geschenkpraktiken einstellen müssen. Diese wurden bis 1973 durch eine Unterbewertung der D-Mark erzwungen und verursacht. Nach Freigabe der Wechselkurse setzen Lieferantenkredite, Direktinvestitionen im Ausland sowie Staats-kredite die Exportsubvention fort. Kann ein devisenschwacher Staat seine Schulden nur durch neue Schulden tilgen, dann ist der Kredit in aller Öffentlichkeit verloren. Zwar bedeuten ausgelastete Unternehmen auch gesamtwirtschaftlich einen Vorteil, jedoch ist diese Geschenkpraxis nicht unproblematisch. Durch die Produktion dieser „Geschenke" wird die Bundesrepublik immer stärker ökologisch belastet. Die Bundesrepublik verschenkt damit nicht nur Arbeitsanstrengung, sondern sie schadet sich auch noch insofern, als sie sich zusätzliche ökologische Schäden einhandelt, statt die Arbeitskraft zur ökologischen Sanierung zu verwenden.

Wenn der europäische Markt derartige Probleme aufwirft, so liegt es nahe, zur Rettung des Expansionsmodells durch kräftige Export-steigerungen auf die Entwicklungsländer auszuweichen. Gerade rechtzeitig zur Stagnation wurde von den Rohstoffentwicklungsländern der an Rohstoffen politisch Mangel entdeckt und durch Erhöhung der Rohstoffpreise, ins-besonders der ölpreise, wirtschaftlich genutzt. Durch die Erhöhung der Rohstoffpreise wurden zwar faktisch die Produktionskosten und die Warenpreise erhöht, zugleich aber floß und fließt das Kapital in Regionen, die Interesse an der Abnahme der Uberschußpro-duktion haben. Dies bedeutet, daß durch die Erhöhung Ser Rohstoffpreise eine Vergrößerung des Marktes ermöglicht wurde, die den Stagnationstendenzen entgegenwirkt. Rohstoffentwicklungsländer und Industrieländer bilden daher nunmehr die neue Basis des Expansionsmodells. Im Prinzip wird daher die gesamte bereits als ökologisch unzulänglich und unerträglich erkannte gegenwärtige Technologie in diese Regionen exportiert.

Dies bedeutet:

— ein weiterer Teil der Erdoberfläche wird mit ökologisch untragbaren Methoden „zivilisiert"; — die Ausbeutung der Rohstoffe wird durch diese Methoden beschleunigt statt verlangsamt; — der unausweichliche Kollaps des Expansionsmodells wird nur verzögert, trifft aber später um so größere Gebiete.

An der Energieproduktion und der damit verknüpften Energiepolitik kann man ablesen, wohin die wirtschaftliche Reise führt. In der Bundesrepublik wird trotz aller Proteste das nukleare Konzept durchgepeitscht, das eine expansive Energieerzeugung auf Kernenergie-basis beinhaltet. Mit diesem Konzept wird die Bundesrepublik nicht nur gezwungen, sich auf die vielfach unrationelle Verwendung von Elektrizität umzustellen, sondern sie wird auch, in der zweiten Phase, den gefährlichen Brüterreaktoren ausgeliefert, deren Konstruktion noch keineswegs ausgereift ist. Die notwendigerweise immer weiter zunehmende Verwendung von Elektrizität aus zentralen Erzeugungsstätten schafft dann im Verein mit energieintensiven Expansionsindustrien eine immer stärker werdende künstliche Wirtschaftsstruktur, die auf ununterbrochenen Rohstoffnachschub und Abnahme von Fertigwaren von außen angewiesen ist. Nach diesem Konzept wird die Bundesrepublik unausweichlich in eine riesige Industrielandschaft verwandelt. Der Anteil der Stromerzeugung am Gesamtenergieverbrauch soll dabei von etwa 25’/o im Jahr 1970 auf etwa 50 */o im Jahr 2000 steigen, d. h., die Stromerzeugung soll sich in diesem Zeitraum um 700 °/o vergrößern, und ein Großteil der Stromerzeugung soll Kernkraftwerke gedeckt werden. durch Zwischen 1960 und 1974 stieg der Wert der Rohstoffimporte um 350 %. Selbst wenn die Zahlen inflationsbereinigt werden, verbleibt noch eine erhebliche'Steigerung. Die Ausfuhr und 1974 um stieg zwischen 1960 rund 600Q «: sie wurde zum Teil Fertigwaren durch bestritten. Der Exportüberschuß in Fertigwaren, d. h. Ausfuhr minus Einfuhr von Fertigwaren, stieg im gleichen Zeitraum um etwa 450 °/o.

Mit diesem Verfahren läßt sich Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik erzeugen, aber um den Preis, daß die ökologischen Probleme der Bundesrepublik nicht gelöst, sondern durch die zunehmende Industrialisierung im Gegenteil sogar noch verschärft werden Auch vom politischen Standpunkt aus ist ein solches Wachstum nicht unproblematisch Abgesehen von den aus dem Expansionsmodell resultierenden ökologischen Bedrohungen erliegt man einer gefährlichen Illusion, wehn man sich in derartig extremer Weise auf eine funktionierende Weltwirtschaft und einen funktionierenden Welthandel verläßt. Weltwirtschaft und Welthandel sind immer auch mit politischen Zielsetzungen verknüpft. Uber Nacht kann der Import von für die Großproduktion unentbehrlichen Rohstoffen verhindert oder der Export von Fertigwaren erschwert werden, wenn es der politischen Absicht ins Kalkül paßt. Dann steht das riesige Räderwerk der verarbeitenden Industrie still und für Millionen beginnt das Chaos, weil im Verlauf der Überindustrialisierung der Bevölkerung der letzte Rest an ökonomischer Selbsterhaltungsfähigkeit genommen wurde. Die Demontage relativ autarker ökonomischer Existenzen in Landwirtschaft, Gartenbau, Handwerk und Kleinhandel wird sowohl durch die wirtschaftliche Konzentration bewirkt als auch rein geographisch durch die ständig steigenden Raumansprüche der Industrieansiedlungen, verbunden mit dem -bauli chen, verkehrsmäßigen und wirtschaftlichen Funktionswandel der industrialisierten Gebiete. Beispiele sind der Oberrhein und die Unterelbe, wo intakte ländliche Gebiete direkt in große Industrieregionen verwandelt werden sollen. In der Bundesrepublik gehen durchschnittlich jede Minute 700 m 2 freies Land durch Bebauung usw. verloren.

Ein anderes Problem, das sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die Unwiderrufbarkeit. Der Ausbau eines Energieversorgungssystems für das Expansionsmodell sowie der Ausbau der zugehörigen Sekundärindustrien bewirken — eine Festlegung nahezu der gesamten wirtschaftlichen Ertragskraft auf dieses Ziel, und zwar für lange Zeiträume, — eine nahezu nicht mehr rückgängig zu machende Veränderung der Raumbeanspruchung, Siedlungsstruktur und Landschaftszerstörung, — eine für lange Zeiträume nahezu nicht mehr beeinflußbare Wirtschafts-und Technologiestruktur.

Dies bedeutet: Die Weiterführung des Expansionsmodells hat zur Folge, daß, je weiter die Entwicklung fortschreitet, um so mehr Optionen verloren gehen. Optionen bedeuten, daß man sich flexibel und zweckentsprechend einer Entwicklung anpassen kann, während der Verlust von Optionen die Auslieferung an das ablaufende Geschehen darstellt.

Um eine Vorstellung von den Wirkungen des Expansionsmodells zu erhalten, sei bemerkt, daß allein der forcierte Ausbau der Kernkraftwerke innerhalb der nächsten zehn Jahre mehrere hundert Milliarden DM als Investition erfordern wird. Wenn derartige Summen nur für ein Teilprojekt des Expansionsmodells aufgebracht werden müssen, so hat dies zur Folge, daß sich an diesen Aufgaben die Finanzkraft erschöpft und daneben für andere Aufgaben kein Geld mehr zur Verfügung steht, selbst wenn sie die Lebensqualität in weit höherem Maße anheben würden. Zudem beansprucht der weitere Ausbau der Industrialisierung im Expansionsmodell auch Raum, schafft Siedlungsverdichtungen und zerstört Landschaft, und es wird wohl von niemandem bestritten, daß auch dies nahezu irreversibel ist.

Ein Beispiel für die Festlegung der Wirtschaftsstruktur bietet heute schon die Automobilindustrie. Obwohl das Auto in der un-wirtschaftlichsten Weise Energie verschlingt, obwohl es in der heutigen Situation bezüglich des tolerierbaren Pro-Kopf-Energieverbrauchs einen Luxus darstellt, obwohl es die Umwelt verseucht und zu schrecklichen Unfallbilanzen führt, vermag niemand gegen diese Wachstumsindustrie vorzugehen. Es hängen 6 Millionen Arbeitsplätze davon ab. Deshalb ist das Auto wirtschaftlich lebensnotwendig, obwohl es in seiner heutigen Form uns partiell umbringt. Die ökologische Sanierung dieses Industriezweiges wird noch lange auf sich warten lassen, und deshalb beeinflußt diese Industrie in ihrer schädlichen Form wahrscheinlich insgesamt ein rundes Jahrhundert unsere Wirtschaftsentwicklung.

Die weitere Entwicklung des Expansionsmodells wird Zwänge schaffen, die uns ähnliche Zeiträume abfordern werden. Andererseits zeigen die dynamischen Systemstudien, daß so lange Zeiten für Anpassungsvorgänge in Zukunft wohl kaum noch verfügbar sein dürften. Das aus den genannten Gründen begünstigte Wirtschaitswachstum führt daher zu einer Entwicklung, deren Sekundärprobleme schlimmer sind (oder sein können) als die zur Lösung anstehenden Primärprobleme. Aber nicht nur dies: Es wird mit diesem Wachstumsmodell nicht einmal gelingen, sämtliche Primärprobleme zu lösen. Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, daß die steigenden Soziallasten und Staatsausgaben eng mit dem gegenwärtig bereits bedrohlichen ökologischen Zustand unserer Industriegesellschaft Zusammenhängen. Wenn man versucht, diese Probleme nur mit einem finanziellen Pflaster zu-zudecken und die Mittel dafür aus einer weiteren Entwicklung in die falsche Richtung zu gewinnen, so würden die sozialen Kosten, die durch eben diese Entwicklung verursacht werden, den gewonnenen Mitteln davonlaufen. Der Wettlaui zwischen Mittelbereitstellung und Strukturdefektkosten geht mit Sicherheit zuungunsten des Wachstums aus.

VI. Globalentwicklung

Dem Beispiel der Industrienationen folgend, treten die Völker der Welt an, um in einem bisher unbekannten Ausmaß Technik und Wissenschaft wirtschaftlich und militärisch für sich zu nutzen. Eine der ersten globalen Auswirkungen der Anwendung von Technik und Wissenschaft war der Anstieg der Geburtenraten, der gegenwärtig in weiten Teilen der Welt noch immer anhält. Von Bevölkerungsprognostikern wird geschätzt, daß bei etwa 12— 15 Milliarden Menschen ein Wachstumsstillstand der Weltbevölkerung eintritt. Es soll hier nicht darüber diskutiert werden, ob eine solche Größe der Weltbevölkerung auch wirklich erreicht werden kann. Jedenfalls ist eines klar: Der einmal in Gang gesetzte Prozeß schafft auch gewisse Entwicklungszwänge. Selbst bei einer geringeren Bevölkerungszahl, als der angegebene Schätzwert vorhersagt, ist eine Lebensmöglichkeit der Weltbevölkerung nur dann gewährleistet, wenn zugleich eine hinreichende Industrialisierung durchgeführt wird.

Zur Zeit beträgt die Weltbevölkerung etwa 4 Milliarden Menschen. Rund 1, 5 Milliarden leben in Regionen, die so durchindustrialisiert sind, wie man sich den industriellen Sättigungszustand für eine stationäre Weltbevölkerung vorstellt. Sollten sich die gestellten Prognosen verwirklichen, so müßte sich demnach — grob abgeschätzt — die gegenwärtig vorhandene industrielle Kapazität verzehnfachen. Es ist wohlbekannt, daß die Industrialisierung in der bisherigen Form bereits zu schweren ökologischen Defekten führt. Diese sind nicht nur lokaler Natur, sondern sie sind global, d. h., sie wirken auf den gesamten Lebensraum, der auf der Erde zur Verfügung steht, und es ist kaum daran zu zweifeln, daß bei einer Vervielfachung der Produktion und der daran geknüpften ökologischen Auswirkung eine radikale biologische Existenzbedrohung die Folge ist. Technik und Wissenschaft werden daher zu Schicksalsproblemen der Zivilisationswelt. Wenn es eine zivilisatorische Zukunft geben soll, so geht es nicht ohne Technik und Wissenschaft, andererseits ist gerade diese zivilisatorische Zukunit durch die gegenwärtige Form der Anwendung von Technik und Wissenschaft radikal bedroht.

Die Industrienationen weisen bereits stationäre oder nur schwach wachsende Bevölkerungen auf. Sie sind daher von der Wachstums-problematik der Weltbevölkerung nicht direkt betroffen. Sie können aber, ganz abgesehen von den politischen Beziehungen, nicht so tun, als ginge sie das ganze Problem nichts an. Sie müssen sich klar darüber sein, daß ihre wirtschaftlichen, technischen und sozialen Verfahren exportiert, importiert und kopiert werden und damit weltweite Verbreitung finden. Wirtschaftlich, technisch und sozial gehandelt werden muß in den Industrie-ländern daher mit dem Blick auf das Ganze. Dieser Standpunkt ist um so notwendiger, als in den Industrienationen selbst die ökologischen Folgen verfehlter Techniken und damit verknüpfter wirtschaftlicher und sozialer Verhaltensweisen bereits zu schweren lokalen ökologischen Defekten führen. Daraus folgt: Sowohl zur Bewahrung ihrer unmittelbaren Existenz als auch zur Absicherung dieser Existenz im globalen Zusammenhang müssen die Industrienationen lernen, ökologisch einwandfrei zu wirtschaften. Da die meisten Techniken, wenn sie einmal wirtschaftlich weitgehend verbreitet sind, sehr schwer modifiziert werden können, muß die ökologische Kritik bereits vor ihrer allgemeinen wirtschaftlichen Einführung erfolgen.

Die Dringlichkeit dieser Aufgabe wird klar, wenn man sich den Umfang der bereits angerichteten Schäden und ihre weitere Tendenz vergegenwärtigt. Seit der Einführung technischer Prozesse in die Kulturentwicklung erfolgt in beschleunigtem Maße eine fast vollständige Nutzung des Lebensraumes durch wirtschaftliche Inanspruchnahme. Das konnte man sich in den Industrieländern nur leisten, weil in der Welt noch genügend ökologische Ausgleichsflächen vorhanden waren, so z. B. die Regenwaldgürtel der Tropen, die Ozeane, die Lufthülle und die Gewässer. Der Bestand dieser Ökosysteme ist in höchstem Maße bedroht. Auf der Stockholmer Umweltkonferenz wurde von den Entwicklungsländern eindeutig ausgesagt, daß sie die Zerstörung ihrer Natur je nach Notwendigkeit in Kauf nehmen wollen, um sich zu entwickeln. Dieser Entwicklungs-prozeß schreitet auf der ganzen Welt mit ungeheurer Geschwindigkeit voran. So geht in jedem Jahr mehr Land durch Verwüstung verloren als Land durch Kultivierung hinzu-gewonnen wird. Auf der Welt gibt es noch 41 Mill, km 2 Wald. Doch ungefähr 100 000 km 2 gehen jährlich verloren, weil der Boden urbar gemacht wird. Mit den verwendeten Erschließungsmethoden verkarstet aber nach wenigen Ernten das Land. Von 1882 bis 1952 vergrößerten sich die Wüsten und wüsten-ähnlichen Gebiete der Erde von 11 Mill, auf 26 Mill, km 2, also um 140%, während sich das vorhandene Brachland von 18 Mill, auf 2, 7 Mill, km 2 verminderte.

Auf Verwüstung ausgerichtet ist auch die Behandlung, die die zivilisierte Welt den Ozeanen und Gewässern sowie der Lufthülle zuteil werden läßt. Durch die Produktion von Nährstoffen und von Sauerstoff stellen die Ozeane im ökologisch einwandfreien Zustand eine schier unerschöpfliche Quelle für die Nahrungsmittelversorgung und ein unentbehrliches System im Sauerstoffkreislauf der Natur dar. Aber die Ozeane werden zur Müllkippe für alle erdenklichen Abfälle gemacht.

Allein an O 1 gelangen etwa 10 Mill, t in die See. Gleiches gilt für die Lufthülle, die ersichtlich ebenso unentbehrlich für das Leben ist wie das Wasser. Im Jahre 2000 wird um 30 % mehr CO» in der Luft erwartet als irn Jahre 1860. Dies hat klimatische Auswirkungen und führt u. a. auf eine Erhöhung der mittleren Temperatur der Atmosphäre mit möglicherweise katastrophalen Auswirkungen. Auf den Kontinenten selbst verbreiten sich weltweit giftige Chemikalien aus Industrie und beim Einsatz in der Landwirtschaft. Eine ökologische Sanierung ist daher unausweichlich. Mit ihren größeren ökologischen Kenntnissen müssen die Industriestaaten in der ökologischen Sanierung beispielhaft vorausgehen, und im Export dürfen nur ökologisch einwandfreie Produkte an die Entwicklungsländer abgegeben werden. Die gegenwärtige Energie und Rohstoffe verschwendende Industrieproduktion ist daher in globaler Hinsicht sowohl ökologisch als auch kommerziell völlig falsch orientiert. In Zukunft müssen sich die Industrienationen auch aus wirtschaftlichen Gründen auf diese veränderte Situation einstellen. Dies bedeutet für die Bundesrepublik: Wenn im Export Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung und Stabilisierung gesucht werden, so ist die entscheidende Frage, was exportiert wird: Güter, die in letzter Konsequenz zum ökologischen Ruin beitragen, oder solche, die diesen Ruin vermeiden helfen.

VII. Bevölkerungsentwicklung

Die Statistiken zeigen, daß die Bundesrepublik in absehbarer Zeit ihre „soziale Grenze" erreichen wird, wo der erwerbstätige Teil der Bevölkerung die Soziallast nicht mehr tragen kann. Diese Situation wird noch dadurch verschärft, daß nicht nur die Sozialkosten exponentiell steigen, sondern daß zugleich das wirtschaftliche Expansionsmodell auf zunehmende Schwierigkeiten stößt, d. h. die Finanzierungskraft sinkt, und daß nach einer hektischen Expansion die Bevölkerungszahl wieder abnimmt. Dadurch öffnet sich die Schere zwischen Ansprüchen und deren Befriedigungs-möglichkeit immer stärker. Die wirtschaftliche Problematik wurde bereits ausführlich diskutiert. Wir untersuchen hier kurz die Problematik der Bevölkerungsentwicklung. Derzeit gibt es 57, 9 Millionen Bundesbürger', die übrigen der insgesamt 61, 6 Millionen Einwohner sind Ausländer. Wenn sich der Geburten-trend wie in den letzten zehn Jahren fortsetzt, dann sind nach Schätzungen im Jahr 2000 noch 52, 2 Millionen und im Jahre 2030 noch 39 Millionen deutsche Bundesbürger vorhanden. Es wäre kurzsichtig, diese Entwicklung etwa durch Rücknahme der Abtreibungsmöglichkeiten verhindern zu wollen. Denn es ist untragbar, Frauen zu nicht gewollter Mutterschaft zu zwingen, und zwar sowohl aus rechtlichen, humanitären wie auch aus sozialen Gründen, da unerwünschte Kinder im allgemeinen psychischen Belastungen bei der Erziehung ausgesetzt sind, die sie stark gefährden. Ebensowenig hat es Sinn, Ehen durch Scheidungsgesetze zu zementieren. Eine adäquate Deutung des Problems muß vielmehr von der gesamten zivilisationsökologischen Situation ausgehen, d. h., auch dieses Problem ist nicht monokausal zu sehen, sondern hat komplexe Ursachen. Das Problem würde eine ausführliche Diskussion benötigen. Hier seien dagegen nur einige Tatsachen angegeben, die auf diese Komplexität hinweisen sollen. Sieht man die gesamtökologische Situation als Ursache für die Größe der Geburtenrate an, so sind in dieser Hinsicht in der Bundesrepublik folgende Tatbestände wirksam, die die Geburtenrate mindern:

— Infolge der geopolitischen Lage der Bundesrepublik und infolge ihrer Grenzlage an den Machtblöcken ist die Bevölkerung einem psychologischen Zermürbungsdruck ausgesetzt. Die totale Schutzlosigkeit der Zivilbevölkerung bei militärischen Auseinandersetzungen sowie die jahrzehntelangen politischen Spannungen bewirken das unbewußte Entstehen von Zukunftsangst.

— Die Industriegesellschaft ohne ökologische Sanierung zerstört die biologischen Voraussetzungen für die Existenz gesunder Menschen. Durch die biologisch wirksam werdenden Umwelteinflüsse ist die Bevölkerung einem ständigen biologischen Verschleiß unterworfen. Der Sog in die Ballungsräume wird von weiten Bevölkerungskreisen mit Einbußen an Freiheit und Gesundheit — seelisch wie körperlich — bezahlt.

— Die Industriegesellschaft ohne ökologische Sanierung zerstört auch die psychologischen Voraussetzungen für die Existenz gesunder Menschen. Der ständig wirkende Streß in Ballungsgebieten, das Uberschüttetwerden mit psychologisch desintegrierender Information bewirken einen psychischen Verschleiß mit allen Folgen.

— Sowohl durch die biologischen und psychologischen Umwelteinflüsse als auch durch die Suchtausbreitung werden die künftigen Generationen bereits im Mutterleib genetisch und pränatal geschädigt. Rauchen, Alkohol, Streß usw. bewirken Unfruchtbarkeit und eine steigende Zahl von Mißbildungen. — Die Emanzipationsbewegung der Frauen ist dem Beruf der Mutter teilweise abträglich, weil sie die männliche Lebensweise zu imitieren sucht. Gesamtgesellschaftlich ist der Beruf der Mutter unterbewertet, da Mutter zu sein in der Industriegesellschaft gleichbedeutend mit gehindert sein ist. Gehindert sein am Erwerbsleben und am sozialen Aufstieg sowie am Ausleben. — Unter den gegenwärtigen Steuergesetzen wird die Frauenarbeit in der Industrie begünstigt, die Erziehungsarbeit der Mütter bestraft. Kinder aufzuziehen heißt, finanzielle Nachteile in Kauf nehmen. Ferner bestrafen die Steuergesetze die finanziellen Beiträge Geschiedener für den Unterhalt der Restfamilie. Damit wird nicht die Familie gefestigt, sondern es wird Ehe-und Kinderfeindlichkeit geradezu provoziert, weil die für Unterhalt und Kindererziehung ausgegebenen Beträge steuerlich zum Zwangsmittel umfunktioniert werden.

— Durch unzureichende Erziehung und Betreuung wächst eine bereits neurotisch belastete Generation nach, die es ihrerseits noch schwerer haben wird, Familien zu gründen und Kinder zu erziehen.

VIII. Politische Folgerungen

Um aus den vorangehenden Erörterungen politische Folgerungen ziehen zu können, sollen die wesentlichen Ergebnisse und die daraus resultierenden Fragestellungen zusammengefaßt dargestellt werden.

Wir beginnen mit dem Expansionsmodell der Wirtschaft. Bei der Fortführung dieses Modells hat man folgendes zu erwarten:

— Wegen Sättigung des Binnenmarktes mit konventionellen Wohlstandsprodukten muß das weitere Wachstum vornehmlich durch den Export bestritten werden. Steigende Schwierigkeiten mit dem Export sind aber absehbar. — Weiteres Wachstum erzwingt eine immer künstlichere Wirtschaftsstruktur mit steigender Abhängigkeit aller von allen und steigender Importabhängigkeit von knapp werdenden Rohstoffen. Je weiter man dieses Modell verwirklicht, um so schwerer ist es, von ihm wegzukommen, selbst wenn es sich als zwingend notwendig erweist. — Das bisherige Wachstum hat zu schweren ökologischen Schäden sowohl im biologischen als auch im sozialpsychologischen Bereich geführt. Ein weiteres Wachstum würde den Druck in diese Richtung verstärken.

— In die Bruttosozialproduktrechnung gehen auch die Leistungen für die Strukturdefekte ein und bilden darin einen immer größeren Anteil. Das Bruttosozialprodukt ist daher für die Beurteilung der durch das Wirtschaftswachstum bewirkten Wohlstandsvermehrung völlig ungeeignet, da es nur eine kritiklose Summierung heterogener Güter und Leistungen darstellt, die ökologisch, d. h. zukunftsorientiert betrachtet, gut, neutral oder schlecht sein können.

— Selbst bei 5 0/o Wirtschaftswachstum kann voraussichtlich die Arbeitslosenzahl nicht unter 1 Million gedrückt werden. Bei insgesamt sinkender Bevölkerungszahl und bei starken Verzerrungen der Bevölkerungspyramide besteht keine Klarheit, zu welchen Konsequenzen das Wachstum führt. — Das Wachstum soll durch Energiebereitstellung ermöglicht und angeregt werden, wogegen die weitere wirtschaftliche Entwicklung den Kräften des Marktes überlassen wird. Es gibt aber zahlreiche Hinweise darauf, daß in der Bundesrepublik industrielle Strukturschwächen vorliegen, die wahrscheinlich nicht durch die Kräfte des Marktes beseitigt werden können.

Diese Hinweise mögen verdeutlichen, daß es gegenwärtig nicht mehr ausreicht, die Wachstumsstrategie dadurch zu begründen, daß man Erhaltung und Mehrung des Wohlstandes anstrebt. Denn es erhebt sich bei dieser sehr komplexen Situation zwingend die Frage: Was ist Wohlstand?

Die Diskussion über die Problematik eines andauernden Wirtschaftswachstums wird bereits seit mehreren Jahren intensiv geführt. Als politische Phrase allgemein bekannt geworden ist hierbei das Nullwachstum. Der entscheidende Nutzen der Wachstumsdiskussion liegt jedoch nicht in der Präsentation einer solchen Extremposition, sondern in der viel maßvolleren und zweckmäßigeren Unterscheidung zwischen Bruttowachstum und Nettowachstumsnutzen. Diese Unterscheidung wäre geeignet, einen stetigen Übergang von der jetzigen Industriegesellschaft in eine ökologisch sanierte Industriegesellschaft zu ermöglichen. Von dieser Unterscheidung ist jedoch in die praktische Politik und in das wirtschaftliche Verhalten noch nichts eingegangen. Durch diese unzureichende Wachs-

tums-„Ideologie" wird aber die ökologische Bedrohung der Bundesrepublik zunehmend verschärft. Es kann daher für eine weitsichtige Politik letztlich überhaupt keinen Grund geben, weshalb der Nettonutzen des Wachstums nicht zum Indikator erfolgreicher Wirtschaftspolitik gemacht werden sollte.

Als Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu bewegen hat, wurde bisher das sogenannte magische Dreieck angesehen, das durch die Eckpunkte Vollbeschäftigung, Preisstabilität sowie Zahlungsbilanzausgleich gekennzeichnet wird. Im Sinne der Optimierung des Nettonutzens muß zukünftig dieses magische Dreieck mit dem Schwerpunkt „ökologische Sanierung’ versehen werden, d. h., der Nettonutzen muß das Zentrum der wirtschaftlichen Bemühungen sein, sonst wird alles sinnlos.

Die Frage ist, wie ist dies zu erreichen? Die Antwort darauf: Es geht nur, wenn der einzelne Bürger lernt, Ökologie zu konsumieren. Dies wird nur gelingen, wenn die Politik die Weichen in diese Richtung stellt, d. h., es muß eine rigorose Umweltpolitik betrieben werden. Diese Politik hat als Konsequenz u. a. eine KonsumUmorientierung und eine Wirtschaftsbelebung. Ihre hauptsächliche Tendenz ist die Neuerschließung des Binnenmarktes, die Wohlstandserhaltung, die Verminderung der ökologischen Belastung, die Verminderung der Außenabhängigkeit, die Stärkung des Mittelstandes.

Es ist zu erwarten, daß eine ökologische Sanierung der Wirtschaft und unseres gesellschaftlichen Lebens zu einer äußerst vielfältigen wirtschaftlichen Belebung sowie zur Sinn-erfüllung der Gesellschaft führen könnte und daß daraus auch verstärkte ökonomische Unabhängigkeit sowie eine geistige Unabhängigkeit durch Einsicht resultieren würde. Die ökologische Sanierung und Adaption muß daher als eines der wesentlichen Mittel demokratischer Politik betrachtet werden, mit dem die Existenz und die Freiheit der Bundesrepublik gesichert werden kann.

In meinem Buch „Leben und Überleben" wurde auf zahlreiche Verhaltens-und Zustandsformen des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens hingewiesen, die eine erfolgreiche Anpassung an die Probleme der Industriegesellschaft verhindern. Sie sollen hier nochmals kurz zusammengefaßt werden. Wenn man anstrebt, diese Schwächen zu beheben, so ergeben sich daraus auch konkrete Hinweise für die politische Arbeit, und zwar sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch.

Innenpolitisch:

— Die für die Anwendung kybernetischer Systemanalysen notwendige Ausbildung der Politiker ist nicht vorhanden.

— Der allgemeine Ausbildungszustand der Bevölkerung erlaubt es ihr nicht, naturwissenschaftlich motivierte Systemanalysen zu erfassen und damit Einsicht in drohende Gefahren sowie in die Notwendigkeit auch von einschneidenden politischen Entscheidungen zu gewinnen.

— Die Ausbildungsziele sind nicht auf die Bewältigung der Problematik der Industriestaaten ausgerichtet.

— Die notwendige intellektuelle Breiten-bildung wird verhindert durch die wirtschaftlichen Ansprüche, die mit der Ausbildung verkoppelt werden.

— Die prognostische Forschung ist unterentwickelt. — Die bisherige Form der Steuergesetzgebung ist nicht besonders für die Durchfüh-rung von Gemeinschaftsaufgaben und für ökologische Sanierungsmaßnahmen geeignet. — Die bisherige Wirtschaftsform erzwingt die Tendenz zu dauerndem Wachstum.

— Es gibt keine oder zu wenig Kontrollen, um das Auswuchern der Produktion in ökologisch gefährliche Richtungen zu verhindern. — Die Werbung hat die Tendenz, alle Hemmungen abzubauen.

— Ein Teil der Presse arbeitet aus Geschäfts-gründen mit Sensationsmeldungen und bewirkt eine steigende Hysterie.

— Die demokratischen Grundrechte werden falsch interpretiert bei der Ausnutzung von Freiheiten, die zur Zerstörung, Selbstzerstörung sowie Ausbeutung von Natur, Einzel-mensch und Gesellschaft führen.

— Die Gefälligkeitsdemokratie läßt die finanziellen Mittel in zahllose Kanäle versickern, um mit Pseudoleistungen zu beeindrucken, anstatt die Mittel auf Großprojekte zu konzentrieren. — Durch die hohe Industriedichte in der Bundesrepublik sind die Schadstoffkonzentrationen sehr hoch und bewirken akute Gefährdungen. — Durch die angestrebten Wachstumsraten werden die Schadstoffbelastungen noch erhöht, da am Wachstum vor allem umweltunfreundliche Industrien beteiligt sind.

— Theorien zur Stabilisierung der Wirtschaft ohne Wachstumsraten werden nicht entwikkelt. Die bisherigen volkswirtschaftlichen Wachstumstheorien sind sowohl ökonomisch als auch ökologisch unzureichend.

— Anstelle der Diskussion der existenzwichtigen innen-und wirtschaftspolitischen Strukturprobleme wurden jahrzehntelang unzulängliche politische Konzepte diskutiert. (ausführliche Erläuterungen finden sich im Buch Leben und überleben Kap. 7)

— Die politische Diskussion ist nicht offen, weil sofort gewisse Tabus aufgestellt werden, die nicht verletzt werden dürfen und damit eine echte Lösung des Problems verhindern.

— Die Schwerpunkte der Forschungspolitik wurden in falschen Richtungen angesetzt.

— Die Massenproduktion ist zu erfindungsarm und — Die Bundesbürger verschleudern einen großen Teil ihrer Einnahmen mit Suchtmitteln und ruinieren sich selbst sowie durch die Folgelasten die Gesellschaft — Durch die Hysterie des Konsumlebens sind die Bundesbürger hochgradig psychologisch instabil.

— Die heranwachsende Jugend ist durch das maßlose und unvernünftige Verhalten der Erwachsenen außerordentlich gefährdet.

— Die Enthemmung hat Kriminalität und Brutalisierung zur Folge.

Außenpolitisch Wegen der schrecklichen Folgen für die Zivilisation und wegen der äußerst ungünstigen strategischen und geopolitischen Lage der Bundesrepublik muß das Hauptziel der Außenpolitik Versuch in dem bestehen, einen Beitrag zur Verhinderung eines militärischen Konflikts zwischen den Großmächten zu leisten. — Eine wesentliche Voraussetzung einer erfolgreichen Außenpolitik liegt in der innenpolitischen Stabilisierung der Bundesrepublik nach ökologischen Gesichtspunkten. Ein Staat der Kranken und Siechen, wie es die Bundesrepublik zu werden droht, ist außenpolitisch eine Herausforderung zur Verschiebung des Kräftegleichgewichts und damit ein Element der Instabilität.

Um den Staat vor außenpolitischem Druck abzusichern, muß ein der militärischen Verteidigung gleichwertiges Zivilschutzprogramm durchgeführt werden. Um ferner den Staat vor unerwünschten außenpolitischen Abhängigkeiten zu bewahren, muß ein Autarkieprogramm im zivilisationsökologischen Sinne durchgeführt werden.

— Die Außenpolitik muß ferner vorrangig internationale Vereinbarungen über die zivilisationsökologisch erträgliche Benutzung und Belastung der kollektiven Güter wie Luft, Wasser, Flora und Fauna sowie Rohstoffe anstreben.

— Die Hilfe für die Entwicklungsländer darf nur mit industriellen Methoden geschehen, die zivilisationsökologisch einwandfrei sind. — Ideelle Grundlage der Außenpolitik sollte der Versuch sein, in der Bundesrepublik eine Lebensform zu entwickeln, die den zivilisationsökologischen Forderungen genügt und als Modell den Weg zur Lösung der zivilisationsökologischen Probleme aufzeigt.

Nach der Diskussion dieser Fakten kann eine kritische Würdigung des Berichts der Kommission folgendermaßen gegeben werden: Die Kommission hat in einer umfangreichen Analyse auf zahlreiche Schwachstellen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verfahrensweisen in der Bundesrepublik hingewiesen und konstruktive Schritte zur Abhilfe angegeben. In dieser Analyse liegt das außerordentliche Verdienst der Kommissionsarbeit. Weniger überzeugend hingegen ist das Konzept der gestalteten Expansion, denn die angegebene Kritik der Verfahrensweisen führt mehr zu einer Optimierung der Rahmenbedingungen als zu einer inhaltlichen Erfüllung dieses Konzepts. Nach den hier angeführten Argumenten wird es aber für die zukünftige Entwicklung der Bundesrepublik von entscheidender Bedeutung sein, daß die gestaltete Expansion auch inhaltlich schärfer definiert wird.

Vergleicht man abschließend die Bedeutung der diskutierten Probleme für die weitere Sicherung der Existenz der Bundesrepublik, so muß man feststellen, daß neben einem (selbstverständlichen und hier nicht zur Debatte stehenden) Beitrag zur Friedenssicherung die Umstrukturierung der Wirtschaft auf eine ökologisch einwandfreie Wirtschaftsform und die Verhinderung eines weiteren Anwachsens des Siechtums in körperlicher und geistiger Hinsicht die fundamentalsten Aufgaben sind, die sich uns stellen. Beiden Aufgaben ist gemeinsam, daß sie nicht von außen erzwungene schicksalhafte Gegebenheiten darstellen, sondern daß sie im Sinne der Aufklärung durch selbstverschuldete Unmündigkeit verursacht sind. Zu ihrer Lösung wird primär ein geistiger und seelischer Aufschwung der Bundesbürger benötigt, d. h. etwas, wozu beizutragen jeder einzelne Bürger aufgerufen und verpflichtet ist.

Bei der politischen und gesellschaftlichen Durchführung dieser Aufgaben kann das Kommissionsgutachten einen wertvollen Beitrag für konkrete Detailaufgaben liefern. Es wäre aber unzureichend und gefährlich, wenn allein dieses Gutachten als Grundlage politischer Arbeit verwendet würde und wenn die politische Arbeit nicht die hier angeführten grundlegenderen Probleme berücksichtigen würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine zusammenfassende Darstellung des Gutachtens erschien in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (B 18/77): H. Kohn, F. Latzeisberger, Steuerungsprobleme in Wirtschaft und Gesellschaft.

  2. H. Stumpf, Leben und überleben, Stuttgart 1976.

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Harald Stumpf, Dr. rer. nat., Professor für Theoretische Physik an der Universität Tübingen, geb. 1927; Studium der Mathematik und Physik in Heidelberg und Stuttgart; Arbeitsgebiete: Grundlagenforschung in der Halbleiterphysik mit Anwendungsmöglichkeit auf Halbleitertechnik, Laser, Supraleitung, biochemische Vorgänge; Grundlagenforschung in der Hochenergiephysik zur Aufklärung der Struktur der Materie. Buchveröffentlichungen: Quantentheorie der lonenkristalle, 1961; Elektrodynamik, 1973 (zus. m. W. Schuler); Thermodynamik I, 1975 (zus. m. A. Rieckers); Thermodynamik II, 1977 (zus. m. A. Rieckers). Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Für die Arbeitsgebiete charakteristisch: On the Theory of Electronic Processes in lonic Crystal Semiconductors II, Phys. Cond. Matter 18, 217— 248 (1974); Functional Relativistic Cluster Theory, Acta Phys. Austr. Suppl. IX, 195— 255 (1972). Seit 1950 nebenberufliches Interesse an Problemen der Lebens-reform. Seit 1967 öffentliche Vorträge darüber. Hauptvortrag: überleben im Atomzeitalter, in: Technik und Wirtschaft im Unterricht 6, 2, 1974. Buchveröffentlichung: Leben und überleben — Einführung in die Zivilisationsökologie, Stuttgart 19772.