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Zur politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus | APuZ 35/1977 | bpb.de

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APuZ 35/1977 Ist parteiliche Wissenschaft noch Wissenschaft? — Eine Streitschrift — Zur politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus Mein Popper, Dein Popper oder: was Philosophie mit Politik zu tun hat 70 Jahre Sozialistische Jugendinternationale

Zur politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus

Christoph Böhr

/ 46 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In jüngster Zeit macht sich im Rahmen der aktuellen politischen Diskussion in der Bundesrepublik ein deutlicher Trend bemerkbar, der sich als Abkehr von „linken" Theoriekonzepten ausweist. Es finden sich immer mehr Diskussionsansätze, die das Problem der Realisierbarkeit politischer Vorstellungen zum zentralen Thema machen. Die Entdeckung des Kritischen Rationalismus als politischer Philosophie trägt dieser Entwicklung Rechnung. Der Autor des vorliegenden Aufsatzes warnt jedoch davor, den Kritischen Rationalismus gleichsam a posteriori als Legitimation für prinzipienloses politisches Handeln zu mißbrauchen. Es wird deshalb auf die eindeutig normative Orientierung der politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus hingewiesen. Im Gegensatz zu anderen Versuchen, die politischen Implikationen des Kritischen Rationalismus zu verdeutlichen, geht der Autor nicht von der Erkenntnislehre dieser Philosophie aus; statt dessen versucht er, die Anthropologie Poppers als gemeinsame normative Wurzel herauszuarbeiten, die zu den Entsprechungen zwischen der politischen Philosophie und der kritisch rationalen Erkenntnislehre führt. Gleichzeitig sollen die Grenzen der politischen . Verwertbarkeit'des Kritischen Rationalismus deutlich gemacht werden. Diese Grenzziehung erscheint besonders wichtig angesichts der Versuche der politischen Parteien in der Bundesrepublik (insbesondere der SPD), sich die Philosophie des Kritischen Rationalismus anzueignen. Das Problem eng begrenzter Rezeptionsmöglichkeiten betrifft jedoch alle Parteien, weil die Theoreme des Kritischen Rationalismus nur bestimmte politische Grundorientierungen betreffen, die gleichsam vor jeder parteispezifischen Aussage über politische Inhalte anzusiedeln sind.

I. Die Problemstellung

1. Die Diskussionslage

Nachdem die gesellschaftspolitische Diskussion in der Bundesrepublik gegen Ende der sechziger Jahre zunehmend von sozialistischer und marxistischer Themenstellung monopolisiert war, ist heute eine erfreuliche Wendung festzustellen. Die Diskussion ist bescheidener geworden: Wurde einst erbittert über die Teleologie der Geschichte und die Transformation des spätbürgerlichen Herrschaftssystems diskutiert, so rückt in den letzten Jahren mehr und mehr das Problem der Realisierbarkeit in den Vordergrund. Ja, es hat manchmal den Anschein, als ob das Pendel vom Stadium der totalen und realen Utopien in ein anderes Extrem zurückschlägt: Politische Diskussion konzentriert sich heute schon häufig auf die Frage der Machbarkeit. Entsprechend dieser Entwicklung scheint heute eine philosophische Strömung — quer durch alle Parteien — auf dem Siegeszug begriffen: Der Kritische Rationalismus liefert für viele den Schlüssel für die Lösung aktueller politischer Probleme 1). Einmal entbrannt, hält diese Diskussion um den Kritischen Rationalismus unentwegt an.

Dies erscheint zunächst einmal verwunderlich, weil der Kritische Rationalismus und sein Protagonist, der englische Philosoph Karl R. Popper, vor allem Wissenschaftstheorie beinhaltet bzw. betreibt. Doppelt verwunderlich ist es deshalb, weil diese Wissenschaftstheorie primär auf die Naturwissenschaft zugeschnitten ist. Die frühen Publikationen Poppers etwa entzünden sich ganz wesentlich an den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Problemen oder Fragestellungen der philosophischen Logik, wie sie den Wiener Kreis und andere Positivisten bewegten. Nun hat in der Tat Popper selbst den Kritischen Rationalismus auch als politische Philosophie ausgewiesen. Spätestens seit dem Erscheinen seines Buches „The Open Society and Its Enemies" im Jahre 1945 ist diese Komponente des Kritischen Rationalismus nicht mehr zu leugnen

In jüngster Zeit erhielt diese Diskussion um den Kritischen Rationalismus als politische Philosophie in der Bundesrepublik neuen und sicherlich auch fruchtbaren Auftrieb, u. a. durch die Publikation des Autorenteams Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Spreer und Manfred Tietzel

Die Fruchtbarkeit dieser Diskussion wird schon deutlich durch die Tatsache, daß mittlerweile ein zweiter Band von „Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" erschienen ist, der Diskussionsbeiträge und Kritik enthält, und die Resonanz, die die Veröffentlichung in den anderen Parteien, insbesondere auch der CDU, fand. Daß ausgerechnet die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mehr oder weniger unvermittelt eine Verbindung zwischen ihrer Programmatik und dem Kritischen Rationalismus aufzuzeigen versuchte, hinterließ zunächst Verwunderung; bis dahin hatte sich die Diskussion und Rezeption des Kritischen Rationalismus eher auf die CDÜ und insbesondere die Junge Union beschränkt während die Jungsozialisten und weite Teile der SPD in eine ganz andere Richtung diskutierten.

Nun scheint die Faszinationskraft des Kritischen Rationalismus als politische Philosophie oder gar als Rechtfertigungsbasis der eigenen politischen Praxis nichts dadurch eingebüßt zu haben, daß gleich mehrere Parteien ihn für sich reklamieren. > Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, die politischen Implikationen des Kritischen Rationalismus zu untersuchen, zunächst einmal unabhängig davon, ob irgendeine Partei diese Philosophie zu Recht beanspruchen kann. Als Ausgangspunkt dieser Überlegungen wird nicht die Erkenntnislehre des Kritischen Rationalismus zugrunde gelegt, sondern es soll der Versuch gemacht werden, die anthropologischen Grundannahmen zu extrapolieren, um die politischen Postulate als konkrete Konsequenzen der Anthropologie darzustellen.

2. Der Zugang zur politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus über die Anthropologie

Politisches Handeln ist seiner Bestimmung und seinem Inhalt nach nicht mit wissenschaftlichem Handeln gleichzusetzen Wer Politik betreibt, tut dies auf einer Basis von Werten, die er als verbindlich und legitim ansieht; durch sein Handeln realisiert er Werte, und indem er handelt, setzt er Präferenzen; politisches Handeln heißt immer, die Wirklichkeit zu verändern und zu gestalten. Nun soll nicht bestritten werden, daß auch ein Wissenschaftler von einer Wertbasis ausgeht; sein Vorwissen, sein Problemhorizont und seine Methoden sind nicht wertneutral. Und dennoch bewegt sich der Wissenschaftler auf einer anderen Wertbasis als der Politiker. Während die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus z. B. das Trial-and-error-Verfahren bevorzugt und die Bewährung von Theoriehypothesen ganz wesentlich unter dem Aspekt der Falsifikationsmöglichkeit betrachtet, wird wohl kein Politiker eine Maß-nähme betreiben, von der er a priori annehmen kann, daß sie sich als falsch erweisen wird. Er tut dies auch dann nicht, wenn er generell von der Unzulänglichkeit seines Handelns und der allgegenwärtigen Möglichkeit des Irrtums ausgeht.

Dieses Beispiel soll zeigen, daß es sehr schwierig — ja unmöglich — ist, die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus stringent in eine politische Philosophie zu überführen oder gar als solche auszuweisen. Der im Beispiel aufgezeigte Vergleichspunkt — nämlich Fallibilismus in der Wissenschaft und in der Politik — erfährt hier wie dort ganz andere Konkretionen, die sehr unterschiedlich sein können.

Auch ist die Funktionsbestimmung von Wissenschaft und Politik eine ganz andere. Kommt es in der Wissenschaft darauf an, Aussagen so zu formulieren, daß sie — nach Popper — möglichst falsifizierbar sind da-mit sie durch neue, bessere ersetzt werden können und so dem Erkenntnisfortschritt dienen, so ist es das Ziel der Politik, für und mit Menschen zu handeln. Diese Unterscheidung steht in der Nähe des aristotelischen Ansatzes, der theoretische Erkenntnisse um des Erkenntnisfortschritts willen unterschied von praktischen Einsichten um des rechten (politischen) Handelns willen

Dennoch soll auch in diesem Beitrag der Versuch gemacht werden, bestimmte Theoreme und Grundannahmen des Kritischen Rationalismus auf eine Theorie des politischen Handelns zu applizieren. Der Ausgangspunkt wird jedoch anders gewählt: Nicht die Wissenschaftslehre, sondern die Anthropologie des Kritischen Rationalismus soll die Grundlage dieses Versuches sein.

Wenn man diesen Ausgangspunkt wählt — und man sollte ihn wählen, wenn man vom Unterschied zwischen politischen Entscheidungen und wissenschaftlichem Handeln ausgeht —, dann muß man sich selbst Klarheit darüber verschaffen, daß man sich letztendlich mit normativen Gestaltungsimperativen beschäftigt, die einer exakten wissenschaftlichen Begründung nicht zugänglich sind. Im Rekurs auf das Menschenbild, das den politischen Schriften Poppers zugrunde liegt und dem bestimmte Postulate entspringen, soll die politische Philosophie des Kritischen Rationalismus erläutert werden. Popper selbst ist es schließlich, der diesen Zugang zur politischen Philosophie über die Anthropologie nahe legt. In einem Interview aus dem Jahre 1971 bekennt er — wie schon an anderen Stellen zuvor —, daß die Entscheidung zum Rationalismus letztlich „auf dem Glauben an die Vernunft" beruhe und durch Argument und Erfahrung nicht begründet werden kann Damit ist „diese Entscheidung für die Vernunft... keine rein intellektuelle, sondern eine moralische . .. Eng verbunden ist damit ein Glaube an die rationale Einheit des Menschen, an den Wert jedes Menschen. Rationalismus läßt sich besser mit einer humanitären Einstellung verbinden als der Irrationalismus mit seiner Ablehnung der Gleichberechtigung . . . , Gleicheit vor dem Gesetz'ist keine Tatsache, sondern eine politische Forderung, die auf einer moralischen Entscheidung beruht."

Gerade mit dem letzten Satz dieses Zitates macht Popper deutlich, daß — noch so selbstverständlich erscheinende politische Forderungen — letztlich auf einer normativen, anthropologischen Grundlage ruhen und von dort abzuleiten und zu verstehen sind.

Die Anthropologie des Kritischen Rationalismus als Ausgangspunkt wurde auch deshalb gewählt, weil gerade sie — anders als die Wissenschaftstheorie und die Erkenntnislehre — den Menschen, und ausschließlich ihn, in den Mittelpunkt stellt, eben den Menschen, der Subjekt und Objekt politischen Handelns ist. Die Anthropologie enthält damit diejenigen Aussagen über den Menschen, die zugleich Grundlage des politischen Handelns sind. Sie bildet die gemeinsame Grundlage von Erkenntnistheorie und politischer Philosophie. Ihre Implikationen führen zu den — häufig analogen — Postulaten von Wissenschaftstheorie und Politiklehre.

Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, die politische Anthropologie des Kritischen Rationalismus in ihren Grundzügen darzustellen. In einem zweiten Schritt sollen diejenigen Postulate, die aus der Anthropologie für unser politisches Handeln zu folgern sind, beschrieben werden. Dabei steht sowohl der Staat als auch die Theorie des politischen Handelns im engeren Sinne zur Diskussion.

Die Ausführungen, die zunächst einer positiven Umschreibung der Philosophie des Kritischen Rationalismus dienen sollen, verdeutlichen gleichzeitig die Grenzen, innerhalb derer diese Philosophie für konkretes politisches Handeln überhaupt fruchtbar gemacht werden kann.

II. Die Anthropologie des Kritischen Rationalismus

1. Die Tradition Kants

Die Anthropologie des Kritischen Rationalismus steht direkt in der Tradition der Gedanken Immanuel Kants und der Aufklärung. In seiner Gedächtnisrede zum hundertfünfzigsten Todestags Kants, die Popper am Februar 1954 im Londoner Rundfunk gehalten hat, charakterisiert er Kant als den Philosophen, der „mutig den Weg der Selbstbefreiung durch das Wissen" beschritt 12). Der Kampf um die geistige Selbstbefreiung, seine Mahnung zum sapere aude, zum Entschluß, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, zeichnen für Kant — und für Popper — die Aufklärung aus. Die Würdigung Kants durch Popper gipfelt in der Interpretation der Kantischen Philosophie als der Philosophie der unbedingten Freiheit des Menschen: „Kant hat gezeigt, daß jeder Mensch frei ist: nicht weil er frei geboren, sondern weil er mit einer Last geboren ist — mit der Last der Verantwortung für die Freiheit seiner Entscheidung.“

Mit diesem Gedanken kennzeichnet Popper gleichzeitig auch den Kern seiner eigenen An-thropologie: Jeder Mensch ist frei und trägt die Verantwortung für seine eigene Freiheit. Gleichzeitig trägt er die Verantwortung für die Freiheit der anderen Menschen, indem er die eigene Freiheit verantwortlich zu gebrauchen hat.

Freiheit ist für Kant zunächst und vor allem anderen die Möglichkeit des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft. „Sokrates war frei, weil sein Geist nicht unterjocht werden konnte" formuliert Popper. Freiheit ist Selbstbefreiung durch den bewußten Willensakt, in dem der Mensch sich auf sich selbst stellt: Subjekt und Objekt der Befreiung und der Aufklärung ist der Mensch, das Individuum. Die Schranken, die ihn am Selbstdenken hindern, liegen primär in ihm selbst, weniger in den Institutionen und äußeren Zwängen, die den Menschen am eigenen Vernunftgebrauch hindern

Das explizit politische Postulat in Kants Programmschrift „Was ist Aufklärung?" besteht in der Forderung nach Freiheit als der Bedingung jeglicher Selbstaufklärung einer Gruppe von Menschen: „Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist... , wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.“ Hier ist Freiheit mehr als der Mut zum Selbstdenken: Sie ist die politische und gesellschaftliche Bedingung, die Voraussetzung für den selbständigen Vernunftgebrauch.

Wir finden bei Kant demnach einen doppelten Freiheitsbegriff: Individuelle Freiheit manifestiert sich im Zerbrechen der eigenen Trägheit und dem Mut zum eigenständigen Den-ken; parallel dazu postuliert Kant aber auch die gesellschaftliche, politische Freiheit, die dem einzelnen allemal erst die Möglichkeit zum öffentlichen Vernunftgebrauch eröffnet. Damit wird die Gedanken-und Meinungsfreiheit — als die Realisation menschlicher Freiheit — zur zentralen Forderung an den Staat, der die Voraussetzungen hierfür zu schaffen hat.

Zweifellos ist die politische Komponente bei Kant nur eher rudimentär zu finden, obwohl sie von der Logik des Gedankens her gleichwertig dazugehört.

Popper kommt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Kant. Jedoch sei zunächst ganz kurz die Ausgangsposition Poppers skizziert, um dann zur Darstellung anthropologischen Grundannahmen zu kommen.

2. Die zentrale Kategorie: Freiheit

Popper bezeichnet sich in seiner anthropologisch-philosophischen Selbstcharakterisierung als Rationalist Ein Rationalist zeichnet sich aus durch den Glauben an die Vernunft des Menschen. Dieser Glaube wird von Popper grundsätzlich geteilt, aber dennoch in zweierlei Hinsicht relativiert: Zum einen weiß er, daß die Vernunft der Menschen immer nur eine sehr bescheidene Rolle im Le-ben spielt; sie ist nicht das bestimmende Moment, das auch nur annähernd umfassend unser Handeln und Hoffen leitet. Zum zweiten sieht Popper menschliche Vernunft nicht ausschießlich in der Rolle, die sie für das Individuum spielt, etwa als der Weg zum Selbstdenken und der (geistigen) Emanzipation; Funktion und Fruchtbarkeit der Vernunft realisieren sich vornehmlich in der Gemeinschaft, in der kritischen Diskussion mit anderen Menschen.

Die Unabdingbarkeit der Diskussion mit anderen begründet Popper mit der Notwendigkeit und der Fruchtbarkeit von Kritik: Wer sich der Wahrheit annähern will, darf die Kritik nicht scheuen, sondern muß sie geradezu suchen, um durch die Berücksichtigung der Kritik die eigene Position verbessern zu können. Wer sich der Wahrheit annähern will, muß seine Gedanken so formulieren, daß sie einfach und verständlich sind und diskutiert werden können. Selbst die Bewährung theoretischer Annahmen verbürgt nicht ihre Wahrheit, denn „beweisen kann man nichts“ unsere Vermutungen können sich als falsch erweisen und an der Wirklichkeit scheitern, oder aber sie bewähren sich angesichts der Kritik und potentieller Falsifikationsmöglichkeiten. Hat sich eine Theoriehypothese einmal bewährt, so ist ihre spätere Falsifizierung in keiner Weise ausgeschlossen.

Doch nicht nur das Kriterium der Fruchtbarkeit angesichts des prinzipiellen Fallibilismus menschlicher Erkenntnis führt Popper zum Postulat der kritischen Diskussion. Diese ist ebenso begründet durch die Forderung, wje-den Menschen und seine Überzeugungen zu respektieren" In diesem Verständnis von der personalen Würde des einzelnen sieht sich Popper mit Kant einig. Die personale Souveränität eines jeden Menschen verbietet es, diesen prinzipiell in Frage zu stellen. Weil jeder Mensch in seiner Würde gleich und unantastbar ist, muß seine Freiheit ebenso unverletzbar sein und muß er die Möglichkeit haben, seine Gedanken und Überzeugungen frei zu vertreten.

Die kritische Diskussion in der Öffentlichkeit und das freie Denken des einzelnen befruchten sich gegenseitig. Dies bedeutet aber, „daß die volle Gedankenfreiheit ohne politische Freiheit unmöglich ist. Und die politische Freiheit wird damit zur Vorbedingung des vollen, freien Vernunftgebrauches jedes Einzelmenschen"

Die volle Souveränität des einzelnen wird fundiert durch die Einsicht, daß unser aller Wissen vorläufig und fehlbar ist. Weil alle Menschen der Fallibilität des Wissens und Erkennens unterworfen sind und keiner für Anspruch sich in nehmen kann, daß er die Wahrheit manifest und damit verbindlich vertritt, zwingt uns das Bewußtsein des Irrens auch eigenen rational dazu, unsere Gedanken und Meinungen der kritischen Diskussion auszusetzen. Nur durch Kritik kann der eigene Standpunkt korrigiert und verbessert werden, nur in der Kritik kann er sich bewähren.

Das skeptische Menschenbild, daß Popper in dieser Frage zweifellos vertritt, bezieht sich auf die Möglichkeit unseres Wissens und Nicht-Wissens und auf den Grad der jeweiligen Gültigkeit, die unsere Erkenntnisse in Anspruch nehmen dürfen. Aus der Skepsis gegenüber unserem Wissen, das Popper für vorläufig und fallibel hält, erwächst bei ihm jedoch keine Resignation, sondern im Gegenteil: Er bietet eine Methode der kritischen Prüfung an, die die Fehlbarkeit unseres Wis-sens kennt und bejaht und die unser Wissen zwar nicht sicher, so aber doch gesicherter werden läßt.

Das Grundaxiom der Anthropologie Poppers, die unbedingte Freiheit der Gedanken und Überzeugungen jedes einzelnen, führt ihn zu den entsprechenden institutionellen politischen Verankerungen der freien Meinungsäußerung und der kritischen Diskussion Dieses Axiom impliziert die unbedingte Achtung vor der Individualität des einzelnen ebenso wie das Wissen um die Verwiesenheit des einzelnen an die Gemeinschaft. In seiner Konsequenz führt es zur unbedingten Absage an die Manifestationstheorie der Wahrheit, ohne den Glauben an die menschliche Vernunft zu verlieren, oder anders ausgedrückt: Popper verknüpft die Kenntnis der eigenen Fehlbarkeit der Unantastbarkeit der der Würde Person.

Im folgenden sind nun die politischen Konsequenzen darzustellen, die sich aus den anthropologischen Grundannahmen ergeben — einmal im Hinblick auf eine mögliche Theorie des Staates und zum zweiten im Hinblick auf bestimmte Grundanforderungen an politisches Handeln.

III. Der Kritische Rationalismus als politische Philosophie

Unter politischer Philosophie des Kritischen Rationalismus sollen hier diejenigen Postulate verstanden werden, die der Kritische Rationalismus an politisches Handeln richtet und die der politischen Rezeption zugänglich sind. In diesem Sinne verstanden ist politische Philosophie „keine Theorie, die bloß sagt(), was ist, ohne selber etwas zu wollen. Sie ist im* Gegenteil Explikation und Begründung eines politischen Willens, der seine.., Ziele und Grundsätze hat." In dem Versuch, einen eigenen politischen Willen vernünftig zu artikulieren und argumentativ zu fundieren, lei-stet sie einen Beitrag zur Formulierung eines normativen Politikkonzeptes, das — weil den Kriterien der Vernunft unterworfen — Irrationalität so weit als möglich ausklammert. 1. Die Theorie vom Staat Wer — wie Popper — die Freiheit des einzelnen als oberstes Axiom setzt, kann dem Staat immer nur eine sekundäre, dienende Funktion zuweisen.

Der Staat erhält Hilfsfunktion zur Sicherung und Bewahrung menschlicher Freiheit. Da aber jeder Staat, auch derjenige, der der Freiheitssicherung dient, die Freiheit der Menschen irgendwie beschränken muß, fordert Popper den Minimalstaat.

Er weiß um die Notwendigkeit des Staates; denn der Staat allein gibt dem Schwächeren (und der Minderheit) das Recht, vom Stärkeren (und der Mehrheit) geduldet und akzeptiert zu werden. Selbst wenn in der Welt der Grundsatz des , homo homini angelus'Geltung hätte, so besäße der Schwächere noch kein Recht, ungestört neben dem Starken zu leben. Er würde allenfalls freundlich geduldet, ohne einen Anspruch auf Duldung zu besitzen. Um aber dem Schwachen das Recht auf Leben zu gewährleisten und ihm gleichzeitig einen Anspruch zu geben, gegen die Macht des Star-ken geschützt zu werden, ist ein Staat notwendig

Die Einsicht in diese Notwendigkeit hindert nicht daran, den Staat immer noch als ein Übel, wenn auch ein „notwendiges Übel" zu betrachten. Er stellt eine ständige Gefahr dar, weil bei ihm Macht kumuliert ist, nämlich diejenige Macht, die er braucht, um seiner Funktion der rechtlichen und faktischen Garantie der Freiheit für jeden einzelnen gerecht zu werden. Seine Macht muß größer sein als die des mächtigsten Privaten. Damit stellt er aber auch die potentielle Bedrohung der Freiheit der Menschen dar. Diese Gefährdung können wir auch dann nicht ganz entgehen — so Popper —, wenn wir Einrichtungen ersinnen, die die Gefahr des Mißbrauchs der staatlichen Macht beschränken und kontrollieren. „Im Gegenteil, es scheint, daß wir immer einen Preis für den Rechtsschutz des Staates werden zahlen müssen, und zwar nicht nur in der Form von Steuern, sondern sogar in Form von Erniedrigung, die wir in Kauf nehmen müssen ... Aber das alles ist eine Frage des Grades — alles hängt davon ab, für den Rechtsschütz keinen allzu hohen Preis zu bezahlen." Der Minimalstaat Poppers — und hierin ist seine zentrale Funktionsbestimmung im Sinne des Kritischen Rationalismus zu sehen — ist ein ordnungspolitisch aktiver Staat. Er hat über die Einhaltung der Rechtsordnung zu wachen; seine Aufgaben konzentrieren sich auf die Regulierung und die freiheitliche Koordination des Zusammenlebens seiner Bürger. Er hat Strukturen aufzubauen, die jedem seiner Bürger Freiheit ermöglichen. Seine ordnenden Mechanismen gehen darauf aus, die Freiheit des einzelnen gegenüber anderen zu garantieren und abzusichern.

Ein Staat darf sich nicht als verlängerter Arm intellektueller philosophischer Teleologien und Prophetien verstehen So verstehen die modernen totalitären Lehren den Staat als Vollzugsorgan eines Volkes, einer Rasse oder einer Klasse er ist, wie Hegel sagte, von einem Genius beseelt, einer allumfassenden Idee. Totalitär ist ein solcher Staat, weil er mit seiner Macht „das ganze Leben des Volkes in allen seinen Funktionen durchdringen und beherrschen" muß. Sein Zweck ist teleologisch; er tritt auf mit dem Anspruch, Vollstrecker einer geoffenbarten oder vermeintlich erkannten historischen Gesetzmäßigkeit zu sein. Ob dabei der Geist (wie bei Hegel) oder die Klasse (wie'bei Marx) der bestimmende Faktor ist, immer wird ein essentielles, wahres und „objektives“ Ziel vorgegeben. Ein solcher Staat fühlt sich unbedingt legitimiert: Er verkörpert Recht und Gesetz, weil er allein seine substantielle Bestimmung, die Erkenntnis des wirklichen Endzweckes, vorweist und sich selbst als das wahrhafte Resultat der Weltgeschichte versteht. Nach innen totalitär, ist er nach außen aggressiv und kämpferisch, um seinen Sendungsauftrag zu verwirklichen.

In Kontrastierung zum diktatorischen, tyrannischen Staat entwickelt Popper sein Programm des Minimalstaates in einer offenen Gesellschaft. Auch dieser Staat schränkt Freiheit ein, um dem „Paradoxon der Freiheit" zu begegnen: Freiheit hebt sich selbst auf, wenn sie uneingeschränkt bleibt Freiheit realisiert sich immer als vom Gesetz geschützte Freiheit, ist also Freiheit unter Gesetzen. Konsequenterweise postuliert Popper diesen Grundsatz auch für die ökonomische Freiheit: Auch hier muß die „Politik schrankenloser ökonomischer Freiheit durch die geplante ökonomische Intervention des Staates ersetzt werden." Popper rechtfertigt damit den Primat der politischen Gewalt über die öko-nomische Macht, die, „wenn nötig, bekämpft und von der politischen Gewalt im Zaum gehalten werden" muß

Die staatliche Gewalt in Poppers Minimalstaat dient jedoch immer — und ausschließlich — dem Freiheitserhalt seiner Bürger. Weil dieser Staat — im Gegensatz zum totalitären — niemals als Vollstrecker historischer Gesetzmäßigkeiten auftritt und niemals die Erkenntnis eines wahren Endzieles vorspiegeln kann, muß er offen strukturiert und organisiert sein: Jeder muß in diesem Staat die Möglichkeit haben, für seine individuellen Ziele einzutreten und zu werben.

Ein solcher Staat kann immer nur demokratisch organisiert sein, denn die Demokratie beinhaltet das Recht der Menschen, frei „zu urteilen und ihre Regierung zu entlassen" Sie haben das Recht dazu, weil in der pluralen Demokratie keine Regierung für sich einen alleinigen und absoluten Legitimationsanspruch stellen kann. Die Demokratie ist „das einzige bekannte Mittel, mit dessen Hilfe wir versuchen können, uns gegen den Mißbrauch der politischen Gewalt zu schützen; sie ist die Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten, der Regierenden durch die Regierten ... die politische Demokratie (ist) auch das einzige Mittel zur Kontrolle der ökonomischen Ge-walt durch die Regierten. Ohne eine demokratische Kontrolle gibt es keinen erdenklichen Grund, warum eine Regierung ihre politische und ökonomische Macht nicht für Zwecke verwenden sollte, die mit dem Schutz der Freiheit ihrer Bürger nicht mehr das geringste zu schaffen haben."

Popper verlagert die Problemstellung der politischen Theorie weg von der Frage: Wer soll regieren? Statt dessen fragt er: Wie können wir politische Institutionen so organisieren, daß es schlechten oder inkompetenten Regierenden unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?

Popper fordert demnach energisch den Abschied von tiefgründigen und letztgültigen Legitimationstheorien und deren implizierten Essentialismus. Ein politischer Souverän, der sich durch das wahre Wesen der Geschichte in seinem Auftrag legitimiert sieht, führt ein Volk in einen autoritären Staat. Die Vorgabe einer objektiven Erkenntnis politischer Not-

Wendigkeit oder geschichtlicher Entwicklung opfert die Freiheit der Menschen auf dem Altar des Totalitarismus.

Poppers Parteinahme für die Demokratie kann somit auch nicht in einer vermeintlichen Erkenntnis der Demokratie als „wahrer“ Staatsform beruhen. Sie resultiert statt dessen aus dem Vergleich der Demokratie mit anderen Herrschaftsformen und stellt fest, daß allein die Demokratie dazu geeignet ist, Freiheit zu ermöglichen und zu sichern. Allein die Konkurrenz der Meinungen in der Demokratie, die durch Institutionen gesichert ist, verhindert, daß die Manifestationstheorie der Wahrheit auf dem Vehikel staatlicher Macht zu Unfreiheit und Diktatur führt Unter dieser Perspektive erscheint dann allerdings die Demokratie als die „beste“ der Staatsformen.

Demokratie heißt für Popper vornehmlich:

Machtkontrolle und Machtbalance. „Wir müs.sen lernen, daß alle politischen Probleme letzten Endes institutionelle Probleme sind, Probleme des gesetzlichen Rahmens ... , und daß der Fortschritt zu größerer Freiheit nur durch die institutionelle Kontrolle der Macht sichergestellt werden kann."

Dieser eindeutige Akzent Poppers auf den freiheitssichernden Institutionen einer Demokratie steht im Widerspruch zur Interpretation von Lührs u. a., die in einer „Politik der Gleichheit" die „sicherste politische Strategie zur Verteilung und damit Entschärfung von Macht" sehen Demokratie und damit Machtkontrolle sieht Popper eben nicht durch eine Politik der Gleichheit gewährleistet, sondern durch eine Institutionalisierung von Kontrollmechanismen. Indem das Rah-men-und Ordnungssystem der Demokratie Pluralismus und Konkurrenz ermöglicht, in-dem es auf die teleologische Rechtfertigung und der damit verbundenen Verpflichtung aller auf ein Ziel hin verzichtet, ermöglicht es die als oberstes Axiom gesetzte Freiheit. Innerhalb dieser Rahmenordnung können politische Werte und Ziele gesetzt, diskutiert und verwirklicht werden. Die Staatsordnung selbst impliziert keine materiale Zielsetzung;

aus genau diesem Grunde kann sich die Staatsgewalt auf ein Minimum an Machtku-35 mulation beschränken, die zudem der Kontrolle unterworfen ist. Der Verzicht auf die materiale Zielsetzung des Staates relativiert die materialen Ziele zu Variablen, die von verschiedenen gleichwertigen Konkurrenten in das Ordnungssystem eingeführt werden können.

Zum Schluß sei noch eine Forderung erwähnt, die Popper immer wieder erhebt: Demokratie bedarf einer starken Tradition, wenn sie — bei allen möglichen Fehlschlägen — erhalten bleiben soll. Ihre Institutionen müssen von der Tradition der Bürger getragen werden. Nur die Tradition der Freiheit in einem Volk verhindert, daß Institutionen ihren ursprünglichen freiheitssichernden Sinn verkehren und in eine andere Richtung wirksam werden. Tradition ist notwendig, „um eine Art Bindeglied zu schaffen zwischen Institutionen und den Intentionen und Wertbegriffen der Individuen“ Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die politische Philosophie des Kritischen Rationalismus in dessen Anthropologie wurzelt: Letztlich ist es die Moral einer Gesellschaft, ihre überlieferten Sinnstiftungen und ihr Verständnis vom Menschen, die Demokratie sichern oder in Frage stellen. Es ist an dieser Stelle zu fragen, inwieweit Popper hier nicht eine spezifisch englische Gedankenwelt unzulässig verallgemeinert. Nicht jede Nation hat — wie die englische — eine sp ausgeprägte freiheitlich-demokratische Tradition und befindet sich trotzdem im Zustand einer politischen Demokratie oder auf dem Weg dorthin. Die Oppositions-und Dissidentenbewegungen gerade in Diktaturen zeigen, wie tief das Bedürfnis nach Freiheit im Menschen verwurzelt ist. Poppers Optimismus — und eigentlich der eines jeden Demokraten — besteht darin, an die Freiheit zu glauben und zu hoffen, daß das Bedürfnis nach Freiheit trotz vieler Rückschläge immer wieder zum Durchbruch kommt.

Die Freiheit selbst wird von Popper anthropologisch begründet; politisches Handeln hat sich an ihr zu orientieren, ist Mittel zu ihrer Verwirklichung. Gerade weil Freiheit im Vorfeld des Politischen angesiedelt ist, kann und darf sie politisch nie zur Disposition stehen. Sie beschränkt im Gegenteil unser politisches Handeln und verhindert, daß dieses in irgendeiner Form zum Selbstzweck denaturiert.

2. Die Theorie vom politischen Handeln

Nachdem einige Grundzüge der Theorie vom Staat aus der Anthropologie des Kritischen Rationalismus gefolgert wurden, soll nun das politische Handeln im Rahmen dieser staatlichen Ordnung erörtert werden.

Dabei sollen zwei Fragen im Vordergrund stehen, die hier zu diskutieren sind: Die erste Frage lautet: Was heißt Rationalität des politischen Handelns im Sinne des Kritischen Rationalismus?, und die zweite heißt: Auf welchen Realitätsausschnitt soll politisches Handeln jeweils bezogen sein?

a) Die Rationalität des politischen Handelns im Sinne des Kritischen Rationalismus

Die Diskussion um die Rationalität des politischen Handelns konzentriert sich bis heute auf die Frage, inwieweit Wissenschaft einen Beitrag für politische Entscheidungsfindung geben kann und soll; dieser Themenkomplex bot in der jüngsten Geschichte der Politikwissenschaft Anlaß zu vielen Äußerungen und Untersuchungen

Häufig anzutreffen ist — im Anschluß an Max Weber — die Unterscheidung zwischen der Zweckrationalität politischen Handelns und der Rationalität der Zielsetzung. Lührs u. a. führen hier eine dreifache Unterscheidung, die zwischen formaler, inhaltlicher und qualitativer Rationalität, ein die jedoch die Kategorien der Handlungsqualifikation im Sinne Poppers vermischen. Was Lührs u. a. unter inhaltlicher bzw. substantieller Rationalität verstehen, ordnet Popper unter den Bezug politischen Handelns auf einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt ein: Politik kann auf das Gesamtsystem — im Rahmen holistischer Veränderungskonzepte — oder auf einen überschaubaren Problemausschnitt — im Rahmen des „piecemeal social engineering", der Reform — bezogen sein. Diese Frage soll im nächsten Abschnitt behandelt werden.

Dem Kriterium der Rationalität unterwirft Popper in erster Linie den jeweiligen Legitimationsanspruch politischen Handelns. Dieses Handeln darf sich nicht als moralisch absolut respektabel ausweisen und damit den Konkurrenten dem Verdacht aussetzen, moralisch unqualifiziert oder gar böswillig zu sein, wenn es nicht zur Irrationalität führen soll. Jede Vorstellung oder Idee, die mit dem Ausweis absoluter moralischer Respektabilität oder Verbindlichkeit auftritt, entzieht sich der Kritik und der Kontrolle Rationalität in der Politik konkretisiert sich für Popper demnach zunächst einmal in der Abwendung von der Fragestellung: Wer hat das Recht zu herrschen? Die Ausweisung einer politischen Entscheidung als „wahr" und „richtig" entzieht sich der rationalen Kontrolle. Statt dessen wendet sich Popper der — rational zu diskutierenden — Frage zu: Wie kann Herrschaft so wirksam kritisiert und kontrolliert werden, daß Entscheidungen korrigierbar bleiben?

Damit setzt Popper den Akzent auf die Rationalität der politischen Organisation und der Institutionen. Aber auch politische Zielformulierungen — im Vorfeld ihrer Realisierung — dürfen sich nicht dem Kriterium der Rationalität entziehen. Auch wenn es sich hier um — nach dem Grad ihrer Konkretion verschiedene — Wertsetzungen handelt, fordert Popper analog dem Postulat der Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus, daß sich politische Zielformulierungen dem Maßstab kritischer Prüfbarkeit unterziehen lassen müssen. Aussagen sollen deshalb so formuliert sein, daß sie nicht von vornherein gegen Kritik immunisiert bleiben.

Allein wechselseitige Kritik und Diskussion gewährleisten Rationalität. Wer sich aus Überzeugung der Konkurrenz anderer politischer Meinungen und dem demokratischen Auswahlprozeß stellt, kennt die Relativität des eigenen Standpunktes. Das Ja zur Konkurrenz impliziert die Kritisierbarkeit auch des eigenen Standpunktes, so wie das Wissen um die eigene Fehlbarkeit die Überzeugung von der Notwendigkeit der Konkurrenz beinhaltet. Popper verlagert den Nachweis von Rationalität: Eine Aussage ist nicht rational, wenn sie (besser) gerechtfertigt scheint, sondern nur dann, wenn sie so formuliert ist, daß sie überprüfbar und kritisierbar ist. Solche Aussagen können niemals den Anspruch erheben, die Wahrheit darzustellen, da sie ja schon unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Falsifizierung aufgestellt wurden. Der rationalen Einsicht in den Fallibilismus menschlicher Erkenntnis hat die Organisation des politischen Systems zu entsprechen.

Politische Rationalität im Sinne Poppers meint also etwas ganz anderes, als bisher un-ter rationaler Politik im Sinne von verwissenschaftlichter Politik oft verstanden wurde. Ja, sie meint beinahe das Gegenteil von Verwissenschaftlichung der Politik, weil gerade die sich oft mit dem Mantel technokratischer Eindimensionalität kaschiert: Wer glaubt, in der Verwissenschaftlichung die Alternative zum . Gezänk der Parteien’ und . sinnlosen’ Wahl-kämpfen zu sehen, steht im Grunde auf der Seite derer, die der Manifestationstheorie der Wahrheit huldigen. Allein die Wissenschaft bringt ihm die — für alle — verpflichtenden Erkenntnisse, der alle einmütig nur noch zustimmen können.

Demgegenüber hat Popper gezeigt, daß sich wissenschaftliche Erkenntnisse immer und überall als falsch erweisen (können); es wäre törricht und irrational, sie gegen Kritik abschirmen zu wollen und als verbindlich zu erklären. Gerade das Bekenntnis zur Rationalität erfordert die kritische Diskussion, weil nur sie den Fortschritt unserer Erkenntnisse fördert. Die Dogmatisierung des Irrtums brächte verheerende Folgen — für die Wissenschaft wie für unsere Freiheit.

b) Der Realitätsbezug des politischen Handelns

Politisches Handeln kann auf verschiedene Ebenen gesellschaftlicher Realität bezogen sein, je nachdem, mit welchem Anspruch und Selbstverständnis ein politisch Handelnder auftritt. In diesem Zusammenhang lassen sich vereinfachend zwei Möglichkeiten aufzeigen: Einmal ist eine politische Handlungsweise denkbar, die das Gesamtsystem einer gesellschaftlichen Realität verändern will. Solche, auf ein Gesamtsystem bezogenen Handlungskonzepte, nennt Popper „holistisch". Die zweite Möglichkeit besteht darin, Einzelprobleme schrittweise verändern zu wollen. Für diese Reformstrategie prägte 'Popper den — mittlerweile häufig zitierten — Begriff des „piecemeal social engineering", der Stückwerkstechnik.

Das Problem des jeweiligen — selbstbeschränkten oder umfassenden — Zugriffs zur Realität im Rahmen politischen Handelns referieren Lührs u. a. unter sog. „substantieller Rationalität“ wie auch unter der Überschrift rationale Reformpolitik gegen , Alternativ-Radikalismus’ “ Uns scheinen die bei Lührs u. a. unterschiedenen Probleme einen gemeinsamen Nenner zu haben, nämlich den poli-tisch intendierten Zugriff zur Realität, der extensiv-holistisch oder auf ein Einzelproblem bezogen sein kann. Von daher erscheint die Unterscheidung, wie sie von Lührs und anderen eingeführt wurde, nicht sehr fruchtbar.

Das Plädoyer Poppers für von ihm vorgeschlagene „Stückwerkstechnik'1 schließt nicht aus, daß ein Politiker abstrakte oder konkrete Vorstellungen über eine seiner Meinung nach — ideale Gesellschaft besitzt. Sie jedoch davor, Gesellschaft warnt „eine als Ganzes“ neu zu planen weil dann die erwarteten Resultate unüberschaubar, unkorrigierbar und mit den tatsächlich erreichten nicht mehr zu vergleichen sind. Denn die bei jeder sozialen Veränderung und Reform „unweigerlich auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen" werden um so undurchsichtiger, je umfassender der verändernde Eingriff war. Die Unüberschaubarkeit der unerwünschten Nebenwirkungen verdeckt deren kausale Beziehung zur politischen Veränderung; eine Fülle neuer Maßnahmen wird notwendig, um die Nebenwirkungen zu korrigieren. Diese sind aber letztlich nicht mehr korrigierbar, weil auch die Maßnahmen in zweiter Instanz — zur Ausschaltung der unerwünschten Folgen — dieselben Probleme mit sich bringen. Diese Konsequenzen erwarten einen Politiker, wenn er gesamtsystemische Veränderungen anstrebt.

Der Realitätszugriff desjenigen Politikers, der nach der Stückwerkstechnik vorgeht, ist bescheidener, weil er sich auf überschaubare Einzelprobleme beschränkt. Er ist zudem vernünftig im Sinne Poppers, weil er von der Ungewißheit und Fehlbarkeit unseres Wissens ausgeht und die Möglichkeit der Korrektur einer Maßnahme ebenso wie mögliche unerwartete Nebenfolgen im Auge behält. Diese als Reform bezeichnete Maßnahme ist zudem geprägt von der Notwendigkeit der Kritik und der Selbstkritik, weil sie im Rahmen einer freiheitlich-pluralistischen Demokratie zur Diskussion steht, ohne Unfehlbarkeitsanspruch auftritt und konsensfähiger ist als eine Gesamtveränderung des Systems.

Der Stückwerkstechniker — im Sinne des Reformers — weiß, daß es in einer Demokratie niemals einen Konsens über alle Veränderungswünsche und -konzepte geben wird; er will nicht mehr, als diesen Konsens in Einzelfragen herbeizuführen, weil er um die positive Funktion des Dissenses weiß und Pluralität für ihn ein Ziel an sich ist. Deshalb wirbt er für eine Einzelmaßnahme, die auf ein überschaubares Problem bezogen ist und einen ganz bestimmten, als negativ empfundenen Zustand verändern und verbessern will. Diese Konzeption der Selbstbeschränkung unseres Zugriffs zur Gesellschaft durch politisches Handeln ist ganz eng mit der pluralistischen Demokratie verbunden; hier wird der Zugriff auch institutionell limitiert, etwa durch den immer neuen Auswahlprozeß der politischen Akteure in allgemeinen Wahlen.

Die Methode der Stückwerkstechnik resultiert aus dem Kritizismus Poppers. Sie ist die Alternative zum unvernünftigen Alternativ-Radikalismus weil sie weder das Bestehende unbesehen beim Alten beläßt, aber auch Veränderungskonzepte nicht unbesehen bejaht, sondern zunächst auf ihre Realisierbarkeit hin überprüft Sie ergreift Partei für die schrittweise Veränderung des Bestehenden und die schrittweise Einführung von Verbesserungen, deren Realisierbarkeit zunächst geprüft werden muß, um nicht von den unerwarteten Konsequenzen der eigenen Maßnahme hilflos überrollt zu werden.

Es wurde schon darauf hingewiesen, wie eng diese Methode des politischen Vorgehens mit dem Verfahren und den Institutionen einer pluralistischen Demokratie verbunden ist. Deshalb kann es auch nicht verwundern, wenn — mehr oder weniger explizit — alle demokratischen Parteien in der Bundesrepublik diesen Weg der dezidierten Reformstrategie beschreiten. Ja, es ist eigentlich die originäre Vorgehensweise einer demokratischen Partei, die keine holistischen Veränderungskonzepte propagieren kann, da diese immer den Rahmen eines demokratischen politischen Prozesses sprengen würden. So verwundert es auch nicht, daß die Politiker verschiedener Parteien gerade auf diesen Vorschlag des Kritischen Rationalismus, die Stückwerkstechnik anzuwenden, zustimmend eingehen Festzuhalten ist jedoch in diesem Zusammenhang, daß diese Zustimmung zu einem Einzelvorschlag des Kritischen Rationalismus noch lan-ge nicht mit einem gleichsam umfassenden Bekenntnis zu dieser Philosophie gleichzusetzen ist

Gerade die Stückwerkstechnik ist an immer neue Konsensfindung gebunden. Idealtypisch muß für jedes Einzelproblem, für das ein Politiker eine Verbesserungsmaßnahme offeriert, ein Konsens in Volk oder Parlament herbeigeführt werden. Dadurch wird jede angestrebte Maßnahme der Kritik und dem argumentatiyen Pro und Contra ausgesetzt. Gerade weil dies immer wieder zu geschehen hat und immer wieder neue Erfahrungen und Bewährungsproben in die Diskussion miteinbezogen werden, ist die reformorientierte Stückwerkstechnik auch ein Beitrag zur Rationalität in der Politik.

3. Die Zielsetzung politischen Handelns

Vom obersten Axiom seiner Anthropologie ausgehend, postuliert Popper die offene pluralistische Gesellschaft als die beste und bewährteste Bedingung zur Möglichkeit des individuellen Freiheitsvollzugs. In der Beschreibung und der präskriptiven Formulierung der Konstituenten desjenigen politischen Systems, das — vom anthropologischen gleichen Axiom ausgehend — der offenen Gesellschaft zuzuordnen ist, liegt der Schwerpunkt des der politischen Philosophie Kritischen Rationalismus. Die Funktionen und die Resultate demokratischer Mechanismen und Institutionen hat Popper unter einer bisher neuen Perspektive beleuchtet und bewertet: nämlich unter dem Gesichtspunkt der Synthetisierung des normativen Postulats individueller Freiheit und politischer Rationalität. Es ist ihm gelungen, Argumente für die demokratische Staatsordnung zu finden, die nicht nur auf normativer Rechtfertigung beruhen, sondern die gleichfalls aus dem systematischen, historischen und empirischen Vergleich der Alternative zur demokratischen Ordnung resultieren. Da Popper zweifellos den systematischen Vergleich zwischen einer dogmatischgeschlossenen und einer pluralistisch-offenen Staatsform besonders akzentuiert hat, verwundert es nicht, daß Kriterien der Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus in gleicher und analoger Weise auch in der politischen Philosophie zur Geltung gebracht werden.

Die politisch zu rezipierenden Vorschläge Poppers beschränken sich jedoch nahezu aus-schließlich auf die Frage nach der politischen Methode und Organisation einer staatlichen Ordnung. So wie er für das wissenschaftliche procedere eines Forschers bestimmte Methodenvorschläge und -regeln unterbreitet, führt er solche auch für den Bereich des politischen Handelns ein.

Doch ist der Ausgangspunkt — hier wie dort — nach Poppers eigener Aussage normativ gesetzt Selbst Rationalität ist nicht selbstevident, sondern beruht auf einem irrationalen Glauben, dem Glauben nämlich an die Fruchtbarkeit der menschlichen Vernunft. Letztlich beruht sie auf dem Glauben an den Menschen selbst, an seine Einsicht, den anderen als wertgleich zu akzeptieren und ihm die gleichen Rechte zuzubilligen wie sich selbst. Diese politisch-rationale Einsicht ist zugleich eine moralische; in ihr finden Politik, Rationalität und Moral zu einer Synthese

über die normative, anthropologische Fundierung politischer Entscheidungen sollte man sich immer Klarheit verschaffen, auch dann, wenn eine Entscheidung einsichtiger und vernünftiger erscheint als eine andere. Weder breite Zustimmung noch vermeintliche Selbstevidenz dürfen uns vergessen lassen, daß eine Option für eine politische Maßnahme normativ begründet ist, mag sie noch so technokratisch kaschiert sein. Es lassen sich -im mer Alternativen zu einer bestimmten Maßnahme denken, die nicht von vornherein als undiskutabel eingestuft werden dürfen.

Man muß sich vergegenwärtigen, daß gerade die alltäglichen politischen Entscheidungen ein komplexes Geflecht von Werten und Interessen darstellen. Gerade da, wo es um die Konkretisierung politischer Grundentscheidungen geht'(etwa die Option für Freiheit), läßt sich ein direkter Wertbezug oft nur schwer erkennen, weil eine Fülle interpretatorischer Werte hinzutreten.

Es ist deshalb unmöglich, von einem philosophischen Fundament her, wie es der Kritische Rationalismus anbietet, generelle Aussagen zu konkreten politischen Maßnahmen und deren zu treffen. Generelle Aussagen können sich — von diesem Ansatz her — nur auf die Option für eine bestimmte Methode des Zustandekommens von Entscheidungen beziehen, so wie auf die Rahmenordnung, innerhalb deren Politik zu realisieren ist.

Aus diesem Grunde stellen Lührs u. a. zutreffend fest: „Die Bedeutung des Kritischen Rationalismus bezieht sich ... weniger auf die Inhalte der Politik, weder auf die Wertentscheidungen noch auf die politischen Vorschläge im einzelnen, sondern auf die Prozesse, in denen diese gewonnen, diskutiert und überprüft werden.“

Unter besonderer Betonung fahren die Autoren jedoch fort: „Davon gibt es allerdings eine entscheidende Ausnahme. Dies ist die Forderung nach Freiheit der Argumentation." Man kann diese Aussage noch weiter fassen, als Lührs u. a. dies tun: Da sich für Popper — im Rekurs auf Kant — Freiheitsvollzug vornehmlich in der Möglichkeit zur freien, offenen und kritischen Diskussion äußert, kann man die Behauptung aufstellen, daß die Realisierung der Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Freiheit die einzige politische Zielsetzung ist, über die der Kritische Rationalismus eine Aussage machen kann und will. Die Frage nach der Zielbestimmung politischen Handelns im Sinne des Kritischen Rationalismus entpuppt sich damit als die Frage nach der Möglichkeit menschlichen Freiheitsvollzuges, und zwar der inhaltlichen politischen Realisierungsmöglichkeit. Wenn der Kritische Rationalismus diese Frage nach den Inhalten stellt, dann tut er dies vor dem Hintergrund der formalen Bedingungen einer freiheitlichen Staatsordnung, die vorrangig menschliche Freiheit ermöglichen und sichern soll.

Aus diesem Grund bietet Popper wiederum eine Minimallösung an. Ein Politiker soll sich seiner Meinung nach darauf beschränken, ge-gen Übel und Mißstände zu kämpfen; er soll nicht danach trachten, „positive" oder „höhere" Werte wie Glück zu erkämpfen „Statt der größten Glückseligkeit für die größte Zahl sollte man — etwas bescheidener — das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle fordern; und man sollte weiterhin verlangen, daß unvermeidbares Leid — wie Hunger in Zeiten eines unvermeidlichen Mangels an Nahrungsmitteln — möglichst gleichmäßig verteilt werde.“ Demnach ist es nicht das Ziel politischen Handelns, das Glück der Menschen zu sichern oder zu mehren. Politische Aufgabe ist es vielmehr, Mißstände und menschliches Leid auszumerzen. Die Selbstbescheidung des Kritischen Rationalismus führt zu dieser negativen Formulierung auch der ethischen Aufgaben. Popper stellt fest, daß „von allen politischen Idealen...der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste" ist weil er im Grunde versucht, „den Himmel auf Erden einzurichten", aber stets die Hölle produzierte Der Wunsch, andere Menschen glücklich zu machen, führt stets dazu, ihnen eine Ordnung der „höheren" Werte aufzuzwingen, „um ihnen so die Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen" Die Überzeugung, andere Menschen glücklich machen zu können, führt zum Dogmatismus. Gerade weil Glück nur individuell erfahrbar ist, kann es politisch nicht zur Disposition stehen und we-der von einer Person noch von einer Partei verfügt werden. Selbst die Mehrheit kann in diesem Fall in gar keiner Weise über die Minderheit verfügen: Glück ist nicht generell bestimmbar oder abstimmbar. Der Versuch, andere durch politisches Handeln glücklich ma-chen zu wollen, beruht zudem für Popper auf einem „völligen Mißverständnis unserer sittlichen Pflichten. Es ist unsere Pflicht, denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen; aber es kann nicht unsere Pflicht sein, andere glücklich zu machen, denn dies hängt nicht von uns ab und bedeutet außerdem nur zu oft einen Einbruch in die private Sphäre jener Menschen, gegen die wir so freundliche Absichten hegen." Da keine Person und kein Staat moralisch oder rational zu der Autorität befugt ist über Fragen des Glücks befinden zu können, ist die politische Verfügbarkeit hierüber ausgeschlossen.

Popper begrenzt damit den Aufgabenbereich und die Zielsetzung politischen Handelns ganz entschieden. Analog zur Stückwerkstechnik fordert er auch hier die Slbstbe-Scheidung, die in jener sokratischen Vernunft wurzelt, „die ihre Grenzen kennt und die da-her den anderen Menschen respektiert und nicht so vermessen ist, ihn zu zwingen — nicht einmal zum Glück“

Statt dessen hat der politisch Handelnde die Aufgabe, in der „Erkenntnis der Notwendigkeit sozialer Institutionen ... die Freiheit der Kritik, die Freiheit des Denkens und damit die Freiheit des Menschen zu schützen" Auf diese Zielbestimmung hat er sich zu beschränken.

IV. Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie

Es soll an dieser Stelle auch noch einmal auf die jüngsten Annäherungsversuche seitens der deutschen Sozialdemokraten an den Kritischen Rationalismus eingegangen werden. Warnfried Dettling hatte diesen Versuch der Annäherung in einigen zentralen Punkten kritisiert in ihrer Replik auf diese Kritik Dettlings weichen Lührs u. a.dessen Argumentation aus. Sie weisen auf die Tatsache hin, daß Parteiprogramme immer Kompromißformeln enthielten und nicht mit logischen Aussagesystemen vergleichbar seien Es lag Dettling jedoch nichts ferner, als dies zu leugnen. Seine Kritik ging in eine ganz andere Richtung.

Auch kann die jüngste Annäherung nicht — wie Lührs u. a. dies tun — durch die Tradition des Neukantianismus in der Sozialdemokratie Deutschlands oder die partielle Rezeption des Kritischen Rationalismus durch führende Sozialdemokraten, wie etwa Helmut Schmidt, als plausibel und sozusagen selbstevident aufgezeigt werden. Um diese Annäherung glaubhaft zu machen, müssen die essentials sozialdemokratischer Programmatik mit den Grundzügen der Philosophie des Kritischen Rationalismus verglichen werden. Genau diesen Vergleich führen Lührs u. a. aber nicht durch.

Es ist Helmut Schmidt voll zuzustimmen, wenn er von sich selbst behauptet, er sei kein Kritischer Rationalist, ebensowenig wie er Marxist sei er behauptet dies völlig zu recht, obwohl er einige Gedanken des Kritischen Rationalismus unterstützt und vertritt. Die Frage ist aber doch die, ob es überhaupt möglich ist, von einer Vereinbarkeit von sozialdemokratischer Programmatik und kritisch rationaler Philosophie zu sprechen. Eben aus diesem Grund sollen hier einige Andeutungen gemacht werden, die einen Vergleich der fundamentalen Aussagen vorbereiten könnten, um die Frage nach der Vereinbarkeit sinnvoll zu beantworten. Ohne diese notwendige Vorleistung könnte die SPD in den Verdacht kommen, den Kritischen Rationalismus als eine willkommene Möglichkeit der Revanche am Theorievorsprung der sozialistisch und marxistisch orientierten Gruppen in der Partei zu mißbrauchen.

An dieser Stelle soll der geforderte Vergleich nur in einem Punkt durchgeführt werden, den wir für ganz elementar und bestimmend halten. Es geht dabei um das Grundverständnis politischen Handelns, konkreter: es geht um die Frage, welches Politikverständnis aus dem anthropologischen Axiom der Freiheit des Menschen gefolgert wird und ob dieses Politikverständnis mit einem sozialdemokratischen vereinbar oder gar identisch sein kann.

In der Formel des Godesberger Programms der deutschen Sozialdemokraten heißt es: „Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt." Damit wird ein übersteigen der formalen Methode eines demokratischen procedere in der Politik intendiert. Demokratie erschöpft sich nach der Aussage des Godesberger Programms nicht in sich selbst, nicht in ihren Verfahren und Rahmenordnungen, Regulativen und Bedingungen der Demokratie ist Freiheitssicherung.

hier mehr als eine Ordnung des politischen Geschehens; sie wird hier definiert als eine politische Ordnung, die erst durch einen bestimmten, spezifischen Inhalt gefüllt werden muß, um zu ihrer wahren, wirklichen Gestalt zu finden. Dieser politische Inhalt ist der Sozialismus. Das Godesberger Programm ver-steht demnach Demokratie als Methode, die essentiell schon ein bestimmtes Ziel beinhaltet. In dieser Argumentation steckt natürlich ein Stück Manifestationstheorie der Wahrheit, nämlich die Überzeugung, daß Demokratie durch den Sozialismus zur Erfüllung, zur wahren und wesensgemäßen Gestalt findet. Das politische Handeln eines demokratischen Sozialisten ist immer auf das Ziel hin orientiert, Sozialismus zu verwirklichen. Diese Zielorientierung stellt man in eindringlicher Weise auch im Orientierungsrahmen '85 der Sozialdemokraten fest: Hier findet sich die „absolute, durch keinerlei Zweifel und Bedenken geplagte Dominanz . zielpolitischer'Politikvorstellungen ... Die Ordnung ist nichts, das Ziel ist alles."

Der demokratische Sozialist legt den Schwerpunkt seines Handelns auf seine inhaltlichen politischen Zielsetzungen, auch wenn er sich aus Überzeugung der Methode demokratischer Entscheidungsfindung bedient. Helmut Schmidt faßt diese zielpolitische Orientierung in seinem Vorwort zu „Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" unter dem Begriff der Wohlfahrt zusammen. Das Ziel, Wohlfahrt und Glück der Menschen durch politisches Handeln zu verwirklichen, stellt alle anderen Überlegungen in den Hintergrund. Es führt zu euphorischen Prophetien und unrealistischen Konzeptionen, wie die Jahre nach der Regierungserklärung Willy Brandts aus dem Jahre 1969 eindringlich gezeigt haben. Und es führt zu einem extensiven Leistungs-und Versorgungsstaat, der sich in seinen materialen Aufgaben der Wohlfahrtsgewährleistung erfüllt. Soziale Indikatoren und eine quantifizierbare Lebensqualität sollten die Erfolge dieser Politik nachweisen.

Die Folge dieser Politik ist, daß Staat und Gesellschaft immmer mehr deckungsgleich werden. Der allzuständige Staat, der den Begehrlichkeiten seiner Bürger nachkommt, zeigt eine „wachsende innere Schwäche, einen permanenten Verlust an aggregativer, ordnender und gestaltender Kompetenz" Ein Staat, der sich fast ausschließlich um Probleme der Verteilungsgerechtigkeit kümmert, erstickt in der Flut der Forderungen, die an ihn gestellt werden. Die Folge ist eine sich einstellende „affektive Leistungsschwäche' sein Unvermögen, auch immaterielle Bedürfnisse seiner Bürger zur Kenntnis zu nehmen. Befriedigt er sie dennoch, dann tut er dies durch Verheißungen und Prophetien. Er überdeckt seine Schwäche, indem er die kritische Frage nach der Realisierbarkeit umgeht. Gerade weil Helmut Schmidt dieses Erbe seines Vorgängers im Amte so genau erkannt hat, betont er diese Frage nach dem realistisch Möglichen heute um so mehr. Erst durch diesen Kurswechsel ist das Kriterium der Realisierbarkeit wieder zu einem Thema in der deutschen Politik geworden.

Wer den Akzent auf zielpolitische Orientierung seines Handelns legt, neigt dazu, die Ordnungsstrukturen einer Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren und damit abzuwerten. Sie werden mehr oder weniger zum brauchbaren Vehikel, um das — primär wichtige — Ziel zu realisieren

Horst Ehmke hat diese Vorstellung deutlich formuliert; „Die wissenschaftliche Staatstheorie muß über den relativ formalen Rahmen der herrschenden Pluralismustheorie hinaus zu einer materialen Demokratietheorie vorstoßen ...der formale Rahmen der herrschenden Pluralismustheorie (muß) zugunsten einer materialen Theorie des demokratischen Gemeinwesens gesprengt" werden

Dieses Politikverständnis entspricht genau dem Auftrag des Godesberger Programms, nämlich Demokratie durch einen spezifischen Inhalt (wie den Sozialismus) zu erfüllen und zu verwirklichen. Der hier zum Vorschein kommende demokratietheoretische Ansatz trennt nicht mehr zwischen ordnungspolitischer Aufgabe, nämlich ein reguliertes politisches procedere zu sichern, und der materialen Zielbestimmung, nämlich bestimmte politische Inhalte zu realisieren. Der formale Rah-men und die materiale Zielsetzung werden in eins gesetzt.

Demgegenüber vertritt der Kritische Rationalismus als politische Philosophie eine strikt ordnungspolitische Schwerpunktsetzung. Die Bewahrung und Fortentwicklung freiheitlicher Strukturen einer Gesellschaft sind für ihn oberste Maxime. Nicht inhaltliche Ziele, nicht Glück oder Wohlfahrt der Bürger, sondern ihre Freiheit gilt es vorrangig zu sichern. Die Ziele sind sekundär, weil sie dem politischen Konkurrenz-und Meinungskampf unterzuordnen sind und als Variable begriffen werden. Ein Politiker hat die Ziele der eigenen Partei sogar unterzuordnen dem Auftrag, die freiheitsschaffenden und -erhaltenden ordnungspolitischen Strukturen einer Gesellschaft zu sichern.

Diese Unterscheidung zwischen Ordnungsund Zielpolitik ist mehr als eine Frage der Prioritätensetzung. Eine materiale Demokratietheorie läuft Gefahr, die ordnungspolitischen Rahmenstrukturen als bloß formale Bedingungen abzuqualifizieren und zu Variablen, die durch andere, zielgerechtere Strukturen ersetzt werden können, zu degradieren’ Wer dagegen den ordnungspolitischen Ansatz in den Vordergrund rückt, weil er menschliche Freiheit vor allem anderen (auch vor Wohlfahrtszielen) sichern will, betrachtet gerade politische Ziele als variabel, da sie miteinander konkurrieren können und sollen. Während die Ziele im Rahmen einer materialen Demokratietheorie — wie sie etwa Horst Ehmke fordert — fixiert sind, werden sie im Rahmen einer formal-strukturalen Demokratietheorie unten immer wieder von artikuliert werden müssen, da eine theoretisch fixierte Verbindung von Methode und Inhalt nicht vorgegeben ist.

Die Annäherung zwischen Sozialdemokratie und Kritischem Rationalismus wird deshalb Fiktion bleiben, weil sich hier zwei konträre Politikverständnisse gegenüberstehen, die — durch den Gegensatz von materialer und formal-strukturaler Demokratietheorie — unvereinbar sind.

Es ist fraglich, ob sich überhaupt eine Annäherung zwischen der kritisch rationalen Philosophie und der Programmatik einer Partei denken läßt. Zweifellos ist es möglich und wünschenswert, daß viele Politiker sich die Attitüde kritisch-rationalen Denkens zu eigen machen. Es scheint jedoch nicht sicher, ob der Kritische Rationalismus in der Lage ist, mehr zu geben als begründete und einsichtige Argumente für eine offene, demokratische und pluralistische Gesellschaft. Die Konkurrenz der Parteien in den westlichen Demokratien setzt aber allemal hinter dieser Vorentscheidung für ein demokratisches und freies System an. Hier geht es um den Vergleich bestimmter inhaltlicher Politikkonzepte und Programme. Gerade da verweigert sich aber der Kritische Rationalismus, weil er keine materiale Theorie politischer Zielbestimmungen ist, sondern ein Regelkanon der Bedingungen für die Möglichkeit eines freien und menschlichen Zusammenlebens.

Eines lehrt uns allerdings die Beschäftigung mit der politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus: Sie gibt die Einsicht in die Notwendigkeit politischer Ordnungsstrukturen und weckt die Wachsamkeit gegenüber latenten Minderbewertungen dieser Strukturen. Der Kritische Rationalist weiß, daß jeder, der seinen Mitmenschen guten Willens das Glück bringen möchte, für die Veränderung der Ordnungsstrukturen sehr ansprechbar ist. Die Geschichte zeigt, daß eine Veränderung dieser Strukturen unter den Vorzeichen einer politischen Heilsbotschaft immer auf Kosten der individuellen Freiheit ging.

V. Demokratie als Konkurrenzmodell?

Im letzten Abschnitt soll in aller Kürze untersucht werden, inwieweit der demokratietheoretische Ansatz der politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus unter dem'Be-griff des „Konkurrenzmodells" subsumiert werden kann.

Wir hatten als Grundlage der politischen Philosophie die Anthropologie des Kritischen Rationalismus herangezogen, weil eine Option für die ein oder andere sinnvoll erscheinende wissenschaftstheoretische Regel noch nicht zu einer stringenten politischen Philosophie führen kann. Auch die Erkenntnislehre des Kritischen Rationalismus, von Lührs u. a. als Ausgangspunkt gewählt’ wurzelt in anthropologischen Grundannahmen. Erst die Fortentwicklung dieser Grundannahmen über den Menschen kann zu einer politischen Philosophie führen; so ist die Tatsache, daß es durchaus sinnfällige Analogien zwischen der Wissenschaftstheorie und der politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus gibt kein Argument gegen den hier gewählten Ansatz. Im Gegenteil: Aus der gemeinsamen anthropologischen Wurzel folgen durchaus vergleichbare — und oft analoge — Aussagen in den verschiedenen Bereichen. Popper selbst nennt die zugrunde gelegte Anthropologie die „ethische Basis der Wissenschaft und des Rationalismus"

Es dürfte wohl kaum eine Kontroverse darüber bestehen, daß die demokratietheoretischen Vorstellungen des Kritischen Rationalismus nicht im Umkreis einer empirischen Demokratietheorie anzusiedeln sind. Wenn Popper auch immer wieder empirisch gewonnene Argumente und historische Vergleiche heranzieht, so sind seine politischen Vorstellungen — auch nach dem eigenen Selbstverständnis — normativ orientiert.

Dennoch könnte es naheliegen, die demokratietheoretischen Vorstellungen des Kritischen Rationalismus mit Josef A. Schumpeters Konkurrenzmodell der Demokratie zu vergleichen oder gar gleichzusetzen.

Dieser Vergleich liegt in der Tat nahe, wenn Schumpeter schreibt: „Die Demokratie ist eine politische Ordnung, um zu politischen — legislativen und administrativen — Entscheidungen zu gelangen .., “ Dieses Demokratieverständnis entspricht doch genau dem des Kritischen Rationalismus, der Demokratie ebenfalls als eine Methode der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung versteht, die — im Sinne Schumpeters — elementar durch das Merkmal der Konkurrenz charakterisiert ist. Aus einem solchen Demokratieverständnis folgt, daß „die unbedingte Treue zur Demokratie ... auf unbedingte Treue zu gewissen... Idealen, denen die Demokratie erwartungsgemäß dienen soll, zurückgeführt werden kann..." Rationale Treue zur Demokratie setzt deshalb „überrationale", normative Werte voraus und „auch einen gewissen Zustand der Gesellschaft..., in dem von der Demokratie erwartet werden kann, daß sie in von uns gebilligter Art und Weise arbeitet" Auch dieser These Schumpeters stimmt der Kritische Rationalismus zu: Demokratie ist für ihn die Methode zur Sicherung der Freiheit des einzelnen durch Herrschafts.

kontrolle, Herrschaftsbeschränkung und Herrschaftskonkurrenz, und er weiß, daß diese Methode einer affektiven Verankerung in der gesellschaftlichen Tradition bedarf, um auf Dauer funktionieren zu können

Und doch findet sich eine bedeutsame Differenz zwischen der Position Schumpeters und der des Kritischen Rationalismus. Schumpeter leugnet, daß die Demokratie, „obschon ... kein absolutes Ideal kraft eigenen Rechtes .... doch ein stellvertretendes ist vermöge der Tatsache, daß sie mit Notwendigkeit... gewissen Idealen dienen wird, für die wir be-reit sind, bedingungslos zu kämpfen und zu sterben"

Gegen eine Überschätzung der Demokratie wendet Schumpeter etwa ein, daß Fragen des Rechts nicht per Mehrheit entschieden werden können. Dies ist zweifellos richtig. Gerade deshalb ist für den Kritischen Rationalismus Freiheit in einer Demokratie immer Freiheit unter Gesetzen. Er geht vom Paradoxon der Freiheit aus und weiß um die gefahrenvolle Utopie absoluter Freiheit. Weil er dieser Gefahr vorbeugen will, gesteht er jedem das gleiche institutionalisierte Recht zu: das Recht zur individuellen Meinung, zur Kritik, zum Wettbewerb.

Auch der Kritische Rationalismus dogmatisiert nicht die demokratische Methode, er immunisiert sie schon gar nicht gegen mögliche Kritik; er zeigt nur gute Gründe dafür auf, daß Demokratie im Vergleich zu anderen Ordnungssystemen für Freiheit steht, sehr wohl ihr stellvertretendes Ideal ist, und deshalb fähig ist — was Schumpeter negiert —, „selbst ein Ziel zu sein, unabhängig davon, welche Entscheidungen . .. unter gegebenen historischen Verhältnissen" in einer Demokratie gefällt werden

Die immer nur a posteriori festzustellende Hinfälligkeit einer Entscheidung ist für den Kritischen Rationalisten kein Argument ge-gen die Demokratie, sondern ein Argument dafür, die Institutionen der Kritik und der Kontrolle funktionsfähig zu erhalten und auszubauen. Konstituens des Kritischen Rationalismus ist die Kritik. Durch sie entzieht er politischen Entscheidungen den Nimbus einer essentiellen, wesentlich begründeten Rechtfertigung, ja, er kritisiert das Institut der Begründung als Rechtfertigung generell. Für ihn ist jede Erkenntnis und jede Entscheidung fallibel, jeder Anspruch auf die Vertretung der Wahrheit von vornherein verdächtig. Der Kritische Rationalist ist konsequent demokratisch, weil die Demokratie diejenige Ordnungsform darstellt, in der politische Entscheidungen auf einen Wahrheitsanspruch verzichten können.

Menschliches Zusammenleben muß geordnet, ein Staat muß regiert werden. Im Spannungsverhältnis von Freiheit und Herrschaft, von individueller Entscheidung und staatlicher Regierung zeigt der Kritische Rationalismus die Funktion der menschlichen Vernunft hinsichtlich der Grenzziehung zwischen beiden Funktionsbereichen auf. So versteht er sich selbst als Versuch, das Dilemma des Spannungsverhältnisses von Ethik, Rationalität und Politik — oder anders ausgedrückt: von Norm, Vernunft und Handeln — zu lösen.

Auf die Diskussion dieses Versuches beschränkt sich seine Fruchtbarkeit für eine grundsatzpolitische Debatte.

Der Aufruf des Kritischen Rationalismus zur Kritik ist nicht unbeantwortet geblieben. Er hat zu — zum Teil massiver — Kritik an dieser Philosophie selbst geführt. Die mit dem Positivismusstreit in der deutschen Soziologie entbrannte Auseinandersetzung betrifft heute auch die politische Philosophie des Kritischen Rationalismus. Auf diese Kritik kann in diesem Zusammenhang nicht in extenso eingegangen werden. Vorab seien nur zwei der Kritikpunkte aufgeführt, auf die sich eine Menge der mittlerweile laut gewordenen Einwände zurückführen lassen: 1. Der Kritische Rationalismus huldigt einem puristischen Formalismus. Von der politischen Praxis ist er so weit entfernt, daß er als politische Philosophie untauglich erscheint 2. Analog zum puristischen Formalismus bietet der Kritische Rationalismus einen Metho-

VI. Kritik

denrigorismus. Sein Politikkonzept ist das Produkt einer „methodischen Vorgehensweise, der Übertragung der Erkenntnismethode des Wissenschaftlers auf die Entscheidungsfindung des Politikers"

Diese Einwände sind sicherlich nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Es ist zunächst jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, daß beide Kritikpunkte die politische Philosophie des Kritischen Rationalismus gleichsam als Analogie zur Wissenschaftstheorie verstehen.

Genau darin besteht aber ein berechtigter Zweifel. Wenn man die Anthropologie Poppers sowohl der Wissenschaftstheorie wie der politischen Philosophie zugrunde legt, haben beide Einwände nur begrenzte Geltung und Gültigkeit. Popper selbst beansprucht, „keine philosophische Lehre ..., keine neue Offenbarung ..., sondern Probleme und Lösungsversuche" vorzutragen

Seine Vorschläge zur Problemformulierung und Problemlösung beziehen sich auf die Methode, auf das procedere in Wissenschaft und Politik. Da formulierte Inhalte sowieso fallibei sind (und die Fallibilität hat ihren Ur-sprung in der Anthropologie), kommt es darauf an, daß sie immer revidierbar bleiben. Dieses Grundanliegen Poppers läßt sich aber nun einmal nur methodisch lösen. Der formale Charakter des Lösungsvorschlages ist jedoch nicht realitätsfern, sondern hat enorme Implikationen für die Praxis. Praktische Handlungshilfe bietet er allerdings dann nicht für die „Abwägung und Durchsetzung von Interessen" Genau das versagt er sich aber selbst.

Eine Parteinahme für bestimmte Interessen muß sich immer durch den Rekurs auf spezifische Begründungszusammenhänge legitimieren. Eine philosophische Begründung und Legitimation spezifischer Interessen stellt für Popper aber genau die Konflation von Werten und Tatsachen dar, die er anderen vorwirft. Seine Parteinahme gilt deshalb ausschließlich der Würde des Menschen und des-sen Recht auf ein Leben ohne vermeidbare Unfreiheit. Daß hieraus nicht für jede politi-sehe Entscheidung eine Handlungsrezeptur ableitbar ist, bleibt unbestritten.

Dies kann auch nicht Aufgabe einer praktischen Philosophie sein. Wenn Popper auf dem „Gebiet des Sozialen ... das Praktische“ betont, dann meint er: „die Bekämpfung von Übeln, von vermeidbarem Leiden und unvermeidbarer Unfreiheit" Daß diese generelle Aussage einer situationsspezifischen Konkretisierung bedarf, ist ohne Frage.

Poppers politische Philosophie muß als Philosophie akzeptiert werden. Sie ist kein Parteiprogramm, wohl aber weist sie diesem seine rationale Funktion und Bedeutung zu. Der Kritische Rationalismus läßt sich auch nicht in ein Parteiprogramm umschreiben. Er ist eine Philosophie eines demokratischen Ordnungssystems und eine Metatheorie des politischen Handelns. Um zu einer wirksamen Theorie des politischen Handelns zu werden, bedarf er der Ergänzung durch konkrete politische Vorstellungen und Programme. Die Bemühungen um diese Ergänzung haben in der Bundesrepublik mittlerweile eingesetzt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Als Brücke zwischen Poppers wissenschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Vorstellungen kann man — zu Recht — sein Buch „Das Elend des Historizismus“ (Tübingen 1965) ansehen, das schon grundlegende Auffassungen zu Poppers Politikverständnis beinhaltet.

  2. Vgl.: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, hrsg. von Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Spreer und Manfred Tietzel, Berlin, Bonn-Bad Godesberg 1975 (hier auch das Vorwort von Helmut Schmidt); das Buch erhielt schon im Erscheinungsjahr eine zweite Auflage. Vom gleichen Autorenteam: Kritischer Rationalismus und politische Praxis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2/77 (15. Januar 1977), S. 23ff.; auf diese Ausführungen wird an späterer Stelle noch eingegangen.

  3. Vgl. Helmut Kohl, Zwischen Ideologie und Pragmatismus. Aspekte und Ansichten zu Grundfragen der Politik, Stuttgart 1973; in fast regelmäßigen Abständen finden sich Beiträge zu diesem Thema in: Sende. Neue Christlich-demokratische Politik. I

  4. So etwa Helmut Schmidt in seiner Einführung zum ersten Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1973— 1985, hier im Zusammenhang mit dem Realisierbarkeitsproblem angesichts der komplexen Strukturen von Industriestaaten.

  5. Politik und Politikwissenschaft haben nicht bei einer Deskription der Realität stehenzubleiben, sondern müssen fragen, was „im Lichte des Möglichen und wünschbar Guten geschehen solle und könne". Vgl. Dieter Oberndörfer, Politik als praktische Wissenschaft, in: ders., Wissenschaftliche Politik, Freiburg 1962, S. 19. über die Grenzen wissenschaftlicher Beratung in der Politik vgl. auch Arnd Morkel, Politik und Wissenschaft, Hamburg 1967, insb. S. 129 ff.

  6. Vgl. Karl R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1971, 6., verb. Auflage 1976, S. 48 ff.

  7. Vgl. dazu Wilhelm Hennis, Politik und prakti.sehe Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied 1963, S. 37.

  8. Revolution oder Reform? Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation, hrsg. von Franz Stark, München 1971, 3. Auflage 1972, S. 38 f.

  9. Ebd., S. 39.

  10. Diese Analogie resultiert meines Erachtens nicht aus einer Transformation der Wissenschaftstheorie in eine politische Philosophie, sondern ist von der gemeinsamen anthropologischen Grundlage her zu erklären. So konstatiert auch Flohr in der „Art der Fragestellung" Poppers Denken als . aus einem Guß“. „Die Parallelität der Ansätze (sc. von Wissenschaftstheorie und politischer Philosophie) ist offensichtlich." Die Absage an den Versuch, in der Wissenschaft endgültig zur Wahrheit durchzustoßen, findet ihre Entsprechung in der Politik, „statt der Suche nach dem Glück (für alle) die Verminderung von Leid" anzustreben" (s. Heiner Flohr, Rationalität und Politik. I. Einige Grundprobleme von Theorie und Praxis, Neuwied 1975, S. 49 f.). Diese Parallelität ist Konsequenz des skeptischen Menschenbildes Poppers.

  11. Karl R. Popper, Immanuel Kant. Der Philosoph der Aufklärung. Eine Gedächtnisrede zu seinem hundertfünfzigsten Todestag, in: ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. L Der Zauber Platons, Bern 1957, 2. Auflage 1970, S. 11.

  12. Ebd., S. 19.

  13. Ebd., S. 19.

  14. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, In: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1975 (3., nochmals überpr. reprogr. Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1964), S. 53 ff.

  15. Ebd., S. 54; vgl. hierzu auch: Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, München 1974, S. 52 ff.

  16. Karl R. Popper, Woran glaubt der Westen?, im Erziehung zur Freiheit, hrsg. von Albert Hunold, Erlenbach/Zürich 1959, S. 238.

  17. Ebd., S. 241.

  18. Ebd., S. 242.

  19. Ebd., S. 242.

  20. Popper postuliert die institutionell verankerte Möglichkeit zur öffentlichen kritischen Diskussion. Er nimmt auf gar keinen Fall — wie etwa die partizipatorische Demokratietheorie — die „Existenz eines vorrangigen und universellen menschlichen Interesses an politischer Beteiligung“ an (so als Kritik an der partizipatorischen Demokratietheorie: Fritz Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970, 2., unveränd. Auflage 1972, S. 57).

  21. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, München 1974, S. 9.

  22. Karl R. Popper, Die öffentliche Meinung im Lichte der Grundsätze des Liberalismus, in; Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 8 (1956), S. 11.

  23. Ebd., S. 11.

  24. Ebd., S. 12.

  25. Vgl. dazu Popper, Woran glaubt der Westen?, a. a. O., S. 239 ff.

  26. Vgl. dazu Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II. Falsche Propheten, Bern 1958, 3. Auflage 1973, S. 81.

  27. Ebd., S 81.

  28. Vgl. Ebd., S. 153; ebenso: Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. I., a. a. O., S. 359 ff.

  29. Popper, die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II., a. a. O., S. 154.

  30. Ebd., S. 156.

  31. Ebd., S. 157; vgl. auch: Popper, Die öffentliche Meinung im Lichte der Grundsätze des Liberalismus, a. a. O„ S. 12.

  32. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. H. a. a. O„ S. 157.

  33. Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. I., a. a. O„ S. 170.

  34. Deshalb schreibt Popper auch unmißverständlich: „In einer Demokratie sollte sich der volle Schutz der Minoritäten nicht auf jene erstrecken, die das Gesetz verletzen, und insbesondere nicht auf jene, die andere zur gewaltsamen Abschaffung der Demokratie anstiften.“ Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II., S. 198.

  35. Ebd., S. 200.

  36. Lührs, Sarrazin, Spreer, Tietzel, Kritischer Rationalismus und politische Praxis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, a. a. O., S. 31.

  37. Popper, Die öffentliche Meinung im Lichte der Grundsätze des Liberalismus, a. a. O., S. 12.

  38. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die umfangreiche Literatur zum Thema der politisehen Planung hinzuweisen. Dabei wird in jüngster Zeit zwischen der politischen Planung der Regierung und dem Planungsauftrag der politischen Parteien sowie der Parlamente unterschieden.

  39. Lührs, Sarrazin, Spreer, Tietzel, Kritischer Rationalismus und politische Praxis, a. a. O., S. 28.

  40. Vgl. Dieter Aldrup, Zu einer rationalen Theorie der Politik, Kritischer Rationalismus und irrationale Theorie der Politik, in: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, hrsg. von Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Spreer und Manfred Tietzel, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1975, 2. Auflage 1975, S„ 265 f.

  41. Lührs, Sarrazin, Spreer, Tietzel, Kritischer Rationalismus und politische Praxis, a. a. O., S. 28, S. 29 ff.

  42. Vgl. Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, 3., verb. Auflage 1971, S. 51 ff.

  43. Ebd., S. 53.

  44. Ebd., S. 54.

  45. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, 2., unveränd. Auflage 1969, S. 176 F.

  46. Vgl. Ebd.

  47. Helmut Schmidt, Vorwort zu: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, a. a. O.; Helmut Kohl, Zwischen Ideologie und Pragmatismus, a. a. O., S. Hf.

  48. Vgl. Christoph Böhr, SPD: Neuorientierung an Kant und Popper? Anmerkungen zum Politikverständnis Helmut Schmidts und der deutschen Sozialdemokratie, in: Sonde. Neue Christlich-Demokratische Politik, 9. Jg„ Heft 1 (1976).

  49. Karl R. Popper, Utopie und Gewalt, in: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, a. a. O., S. 306.

  50. Vgl.: Revolution oder Reform. Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation, a. a. O., S. 39; ebenfalls dazu: Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II., a. a. O., S. 285, 288 f., 293 ff.: „Der Rationalismus ist... mit der Idee verbunden, daß der andere ein Recht hat, gehört zu werden und seine Argumente zu verteidigen. Das bedeutet, daß er die Anerkennung der Forderung nach Toleranz enthält... Kant hatte recht, als er die , goldene Regel'auf die Idee der Vernunft gründete. Es ist zwar sicherlich unmöglich, die Richtigkeit irgendeines ethischen Prinzips zu beweisen oder zu seinen Gunsten so zu argumentioren, wie wir es im Falle einer wissenschaftlichen Behauptung tun. Die Ethik ist keine Wissenschaft. Aber obgleich es keine rationale wissenschaftliche Basis für die Ethik gibt, gibt es doch eine ethische Basis der Wissenschaft und des Rationalismus."

  51. Lührs, Sarrazin, Spreer, Tietzel, Kritischer Rationalismus und politische Praxis, a. a. O., S. 30.

  52. Ebd., S. 30.

  53. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II., S. 342.

  54. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I., S. 388.

  55. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II., S. 291.

  56. Ebd., S. 292.

  57. Ebd., S. 292.

  58. Ebd., S. 292.

  59. Ebd., S. 292 f.

  60. Ebd., S. 294.

  61. Ebd., S. 294.

  62. Warnfried Dettling. Friedliche Koexistenz. Der Konflikt in der SPD, in: Sonde. Neue Christlich-Demokratische Politik, 8. Jg., Heft 2 (1975).

  63. Lührs, Sarrazin, Spreer, Tietzel, Kritischer Rationalismus und politische Praxis, a. a. O., S. 33.

  64. Lührs, Sarrazin. Spreer, Tietzel, Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, a. a. O., S. XV.

  65. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, hrsg. vom Vorstand der Sdzialdemokratischen Partei Deutschlands, Bonn 1959, S. 8.

  66. Wilhelm Hennis, Sozialismus - Medizin für Deutschland? Zum Orientierungsrahmen der SPD - Eine Einladung zur Diskussion (I), in: Deutsche Zeitung. Christ und Welt, vom 26. September 1975.

  67. Bernd Guggenberger, Sind wir noch regierbar? Zur Dialektik von Stärke und Schwäche des modernen Staates, in: Der überforderte schwache Staat. Sind wir noch regierbar?, München 1975, S. 35.

  68. Ebd., S. 39.

  69. Vgl. dazu: Böhr, SPD: Neuorientierung an Kant und Popper?, a. a. O., S. 28 f.

  70. Horst Ehmke, Demokratischer Sozialismus und demokratischer Staat, in: Beiträge zur Theoriediskussion, II., hrsg. von Georg Lührs, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 92 f.

  71. Selbstverständlich dürfen auch — nach Popper — Institutionen nicht gegen Kritik immunisiert werden. Doch spielen sie für Popper eine übergeordnete Rolle, weil allein durch Institutionen Herrschaft kontrolliert werden kann und Kritik wirksam wird. Darüber hinaus betont er ihre „zentrale Rolle... für die soziale Reform" (vgl.: Revolution oder Reform. Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation, a. a. O., S. 22).

  72. Lührs, Sarrazin, Spreer, Tietzel, Kritischer Rationalismus und politische Praxis, a. a. O., S. 23 ff.

  73. Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. I., S. 388.

  74. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II., S. 293.

  75. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1950, 3. Auflage 1972, S. 384.

  76. Ebd., S. 385.

  77. Ebd., S. 385.

  78. Vgl. Popper, Die öffentliche Meinung im Lichte der Grundsätze des Liberalismus, a. a. 0. S. 12.

  79. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, a. a. O., S. 385.

  80. Ebd., S. 384.

  81. So etwa (stellvertretend für andere) Lothar F. Neumann, Traktat über einige Unzulänglichkeiten des „kritischen Rationalismus“, in: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, II. Diskussion und Kritik, hrsg. von Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Spreer und Manfred Tietzel, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 84 f.

  82. Fritz Rahmeyer, Kritik der Politikkonzeption des kritischen Rationalismus, in: ebd., S. 289.

  83. Karl R. Popper, Philosophische Selbstinterpretation und Polemik gegen die Dialektiker, in: Claus Grossner, Verfall der Philosophie. Politik deutscher Philosophen, Reinbek 1971, S. 282.

  84. Neumann, Traktat über einige Unzulänglichkeiten „kritischen Rationalismus”, a. a. O., S. 78.

  85. Popper, Philosophische und Polemik gegen die S. 285.

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ChristophBöhr, cand. phil., geb. 1954 in Mayen/Eifel; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Neueren Geschichte in Trier und Mainz.