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Schwächen der NATO-Verteidigung und Angriffs-Optionen des Warschauer Pakts. Kritische Anmerkungen zur derzeitigen „Strategiedebatte" | APuZ 37/1977 | bpb.de

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APuZ 37/1977 Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Entspannung. Menschenrechte und Rüstungspolitik im Ost-West-Konflikt Schwächen der NATO-Verteidigung und Angriffs-Optionen des Warschauer Pakts. Kritische Anmerkungen zur derzeitigen „Strategiedebatte" Sicherheitspolitische Aspekte der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen I. Das sicherheitspolitische Problemfeld des Korbes II der KSZE

Schwächen der NATO-Verteidigung und Angriffs-Optionen des Warschauer Pakts. Kritische Anmerkungen zur derzeitigen „Strategiedebatte"

K. -Peter Stratmann

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Zusammenfassung

Aggression in Mitteleuropa begrenzt halten und innerhalb dieser Begrenzungen politisch oder militärisch erfolgreich beenden zu können. Trotzdem sollte die NATO die gegenwärtig unzureichende Reaktionsfähigkeit und Abwehrstärke ihrer grenznahen konventionellen Streitkräfte für die Anfangsverteidigung steigern, um ihre weitgehende Abhängigkeit von der Fähigkeit und Bereitschaft zum frühzeitigen Einsatz von Kernwaffen abzubauen.

I. Vorbemerkung

Die derzeit in der Bundesrepublik geführte „Strategiedebatte" vermittelt zwiespältige Eindrücke: Einerseits erfüllt sie die wichtige Aufgabe, der Öffentlichkeit Verschiebungen im globalen und regionalen militärischen Kräfteverhältnis der Bündnisse bewußtzumachen, auf die die westliche Sicherheitspolitik reagieren muß, und auf Unzulänglichkeiten und fragwürdig gewordene Annahmen der bestehenden NATO-Posture hinzuweisen. Andererseits fördert die Debatte Bewertungen dieser Faktoren und ihrer militärischen Nutzbarkeit durch den Warschauer Pakt (WP) zutage, die häufig allzu subjektiv sind. Auf diese Weise kommt es zu dramatisierenden und damit unrealistischen Lagebeurteilungen, die die politische Anfälligkeit des westlichen Bündnisses gegenüber militärischem Druck steigern und die Wahrscheinlichkeit von Pressionsversuchen erhöhen könnten. Oder man sucht der vermeintlichen Sicherheitskrise durch die Forderung nach alternativen strategischen Konzepten zu entgehen, ohne zu prüfen, ob sie nicht die politisch-psychologischen und materiellen Möglichkeiten des Bündnisses überfordern, dem westlichen Interesse an Rüstungskontrolle zuwiderlaufen und die bisherige sicherheitspolitische Stabilität Mittel-europas gefährden müßten, ohne das dort bestehende militärische Kräfteverhältnis nennenswert zugunsten der Allianz verändern zu können.

Sicherlich wird jede Einschätzung der Bedrohung durch subjektive Elemente mitbestimmt sein; der Versuch einer „Objektivierung" stößt auf Grenzen. Die Kenntnisse über Potentiale, Doktrinen und Operationspläne der Gegenseite sind unvollständig. Gesichert erscheint allerdings, daß die politisch-militärische Führung des WP im Ernstfall über weit-gehende Flexibilität verfügt. Für welche Optionen sie sich entscheiden könnte, ist schwer vorauszusagen, weil der Bedingungskontext derartiger Entscheidungen aus bisherigen Erfahrungen kaum abzuleiten ist. Die USA und die Sowjetunion sowie die von ihnen geführten Militärbündnisse haben bislang jeden direkten militärischen Konflikt vermieden. Niemand kann genau vorhersagen, welchen Einfluß die politisch-strategischen Besonderheiten der europäischen Lage auf den Verlauf eines in diesem Raum geführten Krieges hätten. Auch über den politischen Charakter des Konflikts und seine Wahrnehmung durch die Kontrahenten kann nur spekuliert werden, obgleich beide Faktoren von überragender Bedeutung wären. Dasselbe gilt für die Auswirkungen der in einem derartigen Konflikt unvermeidlichen Streß-Situation auf die Handlungsfähigkeit der politischen Entscheidungsträger und ihrer Stäbe, insbesondere auf ihre Fähigkeit, die Kriegshandlungen unter politischer Kontrolle zu halten.

Trotz dieser Einschränkungen bleibt das Bemühen um eine objektivierende Bedrohungsanalyse, die alle relevanten politischen und militärischen Faktoren zu berücksichtigen sucht, notwendig und sinnvoll. Zumindest diejenigen Parameter, die die subjektive sowjetische Risikoerwartung im Hinblick auf Verlauf und Ergebnisse eines Krieges zwischen NATO und WP in Europa bestimmen, sind relativ gut einzuschätzen. Der Charakter der Risikoerwartung erlaubt wiederum Rückschlüsse auf die Höhe der für eine Aggression erforderlichen Risikobereitschaft des WP und somit auf die Tauglichkeit der unterschiedlichen militärischen Optionen, die er als Mittel zur Verfolgung politischer Zielsetzungen einsetzen könnte.

Die militärische Posture der NATO konfrontiert die Führung des WP mit den Risiken einer konventionell oder nuklear geführten Direktverteidigung und einer vorbedachten Eskalation, die den Krieg geographisch ausweiten und durch den taktischen, operativen und strategischen Einsatz von Kernwaffen intensivieren könnte. Die WP-Planer müssen sich dementsprechend für die verschiedenen denkbaren Kriegs-„ebenen" gegen die Gefahr eines militärischen Mißerfolgs und gegen die Möglichkeit katastrophaler Schadenswirkungen im eigenen Bündnisbereich abzusichern suchen. Das Ergebnis ihres Risikokalküls hängt also von der Realisierbarkeit der Forderung ab, die Kriegshandlungen begrenzt halten und innerhalb dieser Begrenzungen politisch oder militärisch erfolgreich beenden zu können.

Die westliche Diskussion nennt vor allem drei. Angriffs-Optionen des WP, die auf diese Kriterien zugeschnitten sind: — die Eroberung eines „Faustpfands'in einer erklärt und erkennbar örtlich begrenzten militärischen Operation;

— das konventionelle Unterlaufen der nukleinen Reaktionsfähigkeit der NATO durch eine großangelegte oder eine größere begrenzte Aggression und — den geographisch auf Westeuropa begrenzten Kernwaffenschlag, der die konventionellen und taktisch-nuklearen Verteidigungsmöglichkeiten der NATO weitgehend zerschlagen könnte.

Die erste und die dritte Option Sollen hier nur kurz angesprochen werden, da sie in der gegebenen politisch-strategischen Lage Europas von eher zweitrangigem Interesse sind.

II. Die Option einer Faustpfandnahme

Eine überraschende Eroberung Fehmarns oder Hamburgs als „Faustpfand" wäre zwar leicht zu planen und durchzuführen, könnte jedoch die konventionelle Verteidigungsfähigkeit der NATO nicht entscheidend beeinträchtigen. Wollte die NATO sich nicht politisch selbst aufgeben, müßte sie versuchen, die Lage — falls politischer Druck erfolglos bliebe — militärisch zu . bereinigen'

und den Status quo ante wiederherzustellen. Durch Mobilisierung, Aufmarsch und Verstärkung könnte sie die örtlich dafür benötigten Kräfte gewinnen und sich zugleich auf eine mögliche Ausweitung der Kampfhandlungen vorbereiten. Die Führung des WP stünde in dieser Lage vor der Alternative, die eigenen Streitkräfte unter militärischem Druck zurückzuziehen und damit eine politische Niederlage in Kauf zu nehmen, oder sich auf das Risiko eines erweiterten und intensivierten konventionellen Konflikts in Mitteleuropa einzulassen, der möglicherweise in kurzer Zeit auf die gesamte Region und den Atlantik übergreifen würde. Die Ausgangslage für diese entscheidende militärische Auseinandersetzung der Bündnisse wäre für die NATO insofern günstig als zunächst ihr die weitere Initiative zufiele. Sie hätte Zeit genug, um ihre Verteidigung zu organisieren und zu verstärken, die Einsatzbereitschaft ihres nuklearen Potentials zu steigern und die Uberlebensfä-higkeit ihrer Streitkräfte zu sichern, bevor sie ihre Gegenoperationen einleitete. Der WP müßte zwangsläufig darauf verzichten, seinen entscheidenden Vorteil operativ zu nutzen: die Abhängigkeit der NATO-Verteidigung von zeitraubenden Mob-Maßnahmen und ^^uppenbewegungen und ihre Anfälligkeit für Überraschung.

Wenn trotzdem der Annahme östlicher Faustpfandaktionen Bedeutung beigemessen wird, so deswegen, weil sie jedem abstrakten Nutzen-Kosten-Kalkül ausnehmend attraktiv erscheinen müssen. Falls sie Erfolg hätte, könnte eine derartige taktische Operation den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses sprengen, also politisch einen strategischen Gewinn bringen. Ihre Kosten und Risiken scheinen wegen der erklärten und sichtbaren Begrenzung der militärischen Zielsetzung und des Kräfteansatzes gering und kontrollierbar zu sein. Aus sowjetischer Sicht muß diese Einschätzung jedoch unrealistisch erscheinen, weil sie apolitischem und unstrategischem Denken entspringt. In Wirklichkeit bedeutete nach sowjetischer Einschätzung in Mitteleuropa gegenwärtig jeder militärische Angriff, unabhängig von seinem Umfang, politisch eine strategische Herausforderung, die mit INHALT I. Vorbemerkung II. Die Option einer Faustpfandnahme III. Die Option eines auf Westeuropa begrenzten überraschenden Kernwaffen-schlages IV. Die Option eines konventionellen Überraschungsangriffs 1. Konventionelles „fait accompli"

2. Die Bedeutung des Zeitfaktors 3. Die Fähigkeit der NATO zur nuklearen Reaktion 4. Fazit V. Unzulänglichkeiten der derzeitigen „Strategiedebatte“ hoher Wahrscheinlichkeit zu einer entschiedenen Reaktion der wichtigsten NATO-Staaten führen würde. Wenn aber vorherzusehen ist, daß der begonnene Konflikt letztlich militärisch entschieden werden müßte, wird es für den Angreifer um so wichtiger, die optimale Form der Kriegseröffnung zu wählen. Die Vorschaltung einer örtlich begrenzten Aggression wäre unter diesem Aspekt ausgesprochen töricht.

III. Die Option eines auf Westeuropa begrenzten überraschenden Kernwaffenschlages

Die in der innerwestlichen Debatte erörterte Annahme eines auf Westeuropa begrenzten überraschenden Kernwaffenangriffs des WP gründet sich vor allem auf die Einschätzung, daß die „theater nuclear forces“ (TNF) der NATO in ihrer Friedensdislozierung hochgradig verwundbar seien und daß der Präsident der USA davor zurückschrecken werde, einen derartigen Angriff mit strategischen Schlägen gegen die Sowjetunion zu beantworten, um nicht das überleben der eigenen Nation zu gefährden. Eine derartige Strategie scheint deswegen bei kalkulierbar begrenztem Eskalationsrisiko eine weitgehende Lähmung der militärischen Reaktionsfähigkeit der NATO zu erlauben. Außerdem deutet auf den ersten Blick die sowjetische nukleare Doktrin in die-se Richtung.

In Wirklichkeit dürfte diese Kriegseröffnung jedoch auch in der Einschätzung der Planer des WP mit extremen Risiken verbunden sein und deswegen als rationale Option einer auf „Gewinn“ ausgehenden offensiven Politik nicht in Frage kommen. Zwar betont die sowjetische Militärstrategie die Bedeutung des nuklearen Präemptivschlags aber sie sieht ihn offenbar nur als äußerstes Mittel der Verteidigung an, das der Schadensbegrenzung in einer an sich katastrophalen Lage dienen'soll. Ein hinreichend wirksamer Kernwaffenschlag gegen das nukleare Potential der NATO müßte mit nahezu vollständiger Überraschung erfolgen und so umfassend und massiv ausfallen, daß in Westeuropa mit verheerenden Schadenswirkungen zu rechnen wäre. Die NATO würde in einem solchen Fall vermutlich ihr überlebendes Potential in einem programmierten Vergeltungsschlag gegen militärische Ziele in Mittelund Osteuropa einsetzen. Die WP-Planer müssen berücksichti-gen, daß sich die eigenen Landund Luftstreitkräfte zu diesem Zeitpunkt noch überwiegend in ihren normalen Stationierungsräumen befinden dürften, weil umfangreiche militärische Bewegungen vor Angriffsbeginn die NATO warnen und ihr Gelegenheit geben könnten, in kurzer Zeit die Überlebensfähigkeit ihres landgestützten nuklearen Potentials durch Auflockerung und Erhöhung seiner Einsatzbereitschaft wesentlich zu verbessern. In dieser Position wären folglich die Angriffskapazitäten des WP noch relativ stark durch den massiven Einsatz von Kernwaffen zur Abriegelung gegen Flugplätze, Depots, Hauptquartiere etc. gefährdet, wie ihn die Programme in SACEURs Nuklearem Operationsplan vorsehen.

Diese Gefährdung ist deswegen emstzunehmen, weil seit längerem ein erheblicher Teil der nuklearen Zielliste SACEURs durch assignierte amerikanische und britische Poseidon-und Polaris-SLBM abgedeckt wird, deren Überlebensfähigkeit als gesichert gelten kann. Dieses Potentiäl würde sich noch erheblich erhöhen, falls ein Entwaffnungsangriff des Warschauer Pakts britisches und französisches Territorium und die Trägerverbände der 2. und 6. US-Flotte aussparte, um das Risiko nuklearstrategischer Vergeltungsschläge möglichst gering zu halten. Außerdem verfügen die USA national über eine umfangreiche „Reserve" an sogenannten taktischen Kernwaffen, die in kurzer Zeit nach Europa verlegt werden könnten. Auch der taktische Einsatz strategischer Waffensysteme, wie etwa der B-52 Bomber, dürfte der Gegenseite vorstellbar erscheinen.

Die Planer des WP müssen folglich mit der Möglichkeit rechnen, daß ein auf Westeuropa begrenzter Kernwaffenschlag eine Reaktion der NATO auslöste, die bei weitreichender Zerstörung Ostmittelund Osteuropas auch zu einer Lähmung der in diesem Raum stehenden östlichen Streitkräfte führte, bevor sie in der Offensive einen entscheidenden Geländegewinn erzielen könnten. Zu dieser Gefährdung des strategischen Kriegsziels in Westeuropa und den kaum absehbaren politisch-sozialen Auswirkungen für die betroffenen WP-Staaten träte das Risiko einer Eskalation zum strategisch geführten Kemwaffenkrieg. Es dürfte in der Sicht der Wp-Planer wesentlich größer sein, als die in der westlichen Debatte verbreiteten Befürchtungen einer „Entkopplung" des amerikanischen nuklearstrategischen Potentials von der europäischen Verteidigung und einer „Sank-tuarisierung" des sowjetischen und amerikanischen Territoriums erwarten lassen.

Zunächst wäre nicht auszuschließen, daß Frankreich und Großbritannien Vergeltungsschläge gegen strategische Ziele in der Sowjetunion führen würden, falls sie Objekt eines nuklearen Überraschungsangriffs werden sollten. Ihr überlebensfähiges strategisches Potential ist zwar begrenzt, reichte jedoch wahrscheinlich aus, um zumindest eine zweistellige Zahl sowjetischer Großstädte zu zerstören. Die USA wären nach einem Ausfall der landgestützten TNF der NATO zum Einsatz strategischer Systeme gezwungen, der voraussichtlich über ihr nationales strategisches Führungssystem gesteuert werden müßte. Da die in der westlichen Sowjetunion stationierten IRBM/MRBM und Fernfliegerkräfte bereits an dem ersten Kernwaffen

1. Konventionelles „fait accompli"

Den stärksten Einfluß auf die westliche Strategiedebatte hat das Szenario eines vom WP in Mitteleuropa konventionell geführten „Blitzkriegs". Es sieht eine schnelle, raum-greifende Offensive vor, die die konventionel-le Vorneverteidigung der NATO desorganisiert, bevor mit dem Einsatz von Kernwaffen zu rechnen ist. Die NATO verlöre damit jede sinnvolle Möglichkeit zu weiterer konventioneller oder taktisch-nuklearer Verteidigung. Ihr bliebe nur noch der bewußt eskala-torische Gebrauch von Kernwaffen, der jedoch die auf dem Gefechtsfeld eingetretene Lage voraussichtlich nicht revidieren könnte und mit dem Risiko der nuklearen Reaktion der Gegenseite belastet wäre. Eine Entscheidung der NATO für diese Option wird deswegen für unwahrscheinlich gehalten.

Dieser Offensivstrategie des konventionellen „fait accompli" wird also eine für den WP schlag gegen Westeuropa beteiligt wären und für Folgeeinsätze bereitstünden, könnte dieses Angriffspotential voraussichtlich beim Gegenschlag der NATO nicht ausgespart bleiben. (Verteidigungsminister Schlesinger hob es als Ziel amerikanischer selektiver strategischer Einsatzoptionen wiederholt hervor.)

Schließlich bleibt zu fragen, ob sich nicht die verbreitete Grundannahme einer gesicherten Abschreckungsstabilität auf der nuklearstrategischen Ebene unter den extremen Bedingungen eines überraschenden, massiven Kernwaffeneinsatzes in Europa als unrealistisch erweisen könnte. Die sowjetische Doktrin betont unverändert den kriegsentscheidenden Charakter des ersten massiven strategischen Kernwaffenschlages, und auch westliche Analytiker verweisen darauf, daß die technisch gesicherte strategische Zweitschlagfähigkeit nicht bedeute, daß die Führung eines angegriffenen Staates sich unter dem Schock der auftretenden Wirkungen noch für den umfassenden Vergeltungsschlag entscheide. Die Möglichkeit einer präemptiven Instabilität auch auf strategischer Ebene kann deswegen für den Ernstfall nicht ausgeschlossen werden. Ein geographisch begrenzter sowjetischer Kernwaffenangriff in Europa, der das nuklearstrategische Potential der USA unangetastet ließe, dürfte auch aus diesem Grunde unwahrscheinlich sein.

IV. Die Option eines konventionellen Überraschungsangriffs

günstige Risikoerwartung zugeschrieben. Man rechnet, bei kalkulierbar geringem nuklearem Eskalationsrisiko, mit einer hohen militärischen Erfolgswahrscheinlichkeit. Die hierfür angeführten Gründe sind zahlreich:

Die NATO habe sich für ein strategisches Konzept grenznaher Verteidigung entschieden, dessen Kräftebedarf angesichts der Stärke, Kampfkraft und Dislozierung der WP-Streitkräfte bisher die eigenen Möglichkeiten überfordere. Die hierin liegende Schwäche werde durch die Abhängigkeit der NATO-Verteidigung von zeitaufwendigen Vorbereitungen und durch die wachsende Fähigkeit des WP zum Angriff ohne vorherige Mobilisierung und Verstärkung wesentlich verschärft. Überraschung gilt vielen Beobachtern als sicheres Mittel, um bereits dem Aufbau einer zusammenhängenden Vorneverteidigung der NATO zuvorzukommen.

Die derart begründete Skepsis im Hinblick auf die Stabilität der konventionellen Direkt-verteidigung verbindet sich mit Zweifeln an der Fähigkeit der NATO zu frühzeitigem und taktisch wirksamem Kernwaffeneinsatz. Aus offiziellen und inoffiziellen amerikanischen Äußerungen zum Problem des nuklearen „initial use" wird gefolgert, daß ein frühzeitiger Ersteinsatz politisch so gut wie ausgeschlossen sei. Hinweise auf den technischen Zeitbedarf des nuklearen Anforderungs-und Freigabeverfahrens (request and release) und die

voraussichtliche Dauer des nuklearen Konsul-tationsund Entscheidungsprozesses weisen in dieselbe Richtung. Wenn der westliche Ersteinsatz jedoch verzögert erfolge, so hätte sich die operative Lage inzwischen wahrscheinlich so ungünstig entwickelt, daß nur noch der massive Einsatz von Kernwaffen mit Schwerpunkt auf eigenem Territorium die gegnerische Offensive zum Stehen bringen könnte. Die Entscheidung für diese Option wird jedoch, wie gesagt, für unwahrscheinlich gehalten, weil sie für die Bundesrepublik selbstmördische Konsequenzen hätte, weil ihre Wirkung durch einen taktisch-nuklearen Gegenschlag der WP-Streitkräfte aufgehoben werden könnte, der die sich abzeichnende Niederlage der NATO in Mitteleuropa noch beschleunigen würde, und weil ihr eskalatori-scher Charakter im Widerspruch zum amerikanischen Interesse stünde, die Gefahr einer unkontrollierbaren Ausweitung der Kriegs-handlungen möglichst gering zu halten.

Das für den taktisch-nuklearen Ersteinsatz der NATO geltend gemachte selbstabschreckende Dilemma — entweder massiv oder somit zerstörerisch und eskalatorisch oder militärisch unwirksam oder sogar beides zugleich zu sein — wird jedoch nicht nur als Konsequenz der erwarteten Verzögerung und ihrer operativen Wirkungen gesehen, sondern auch als Folge der Inflexibilität der gegenwärtigen nuklearen NATO-Posture. Viele Kritiker behaupten, daß bisher das Waffenspektrum, die Einsatz-planung und die Aufklärungsund Führungskomponenten der NATO (vor allem ihr schwerfälliges Anforderungsund Freigabe-verfahren) die Möglichkeit zu flexiblen selektiv taktisch-nuklearen Einsätzen auf dem Gefechtsfeld ausschlössen. Sie erlaubten vielmehr nur massive Optionen in der Art der automatischen Programme SACEURs für die Allgemeine Nukleare Reaktion oder den taktisch unbedeutenden, quasi demonstrativen Einsatz einiger weniger Waffen. Außerdem wird auf die relativ hohe Anfälligkeit hingewiesen, die die nukleare Posture der NATO in ihrer Friedensdislozierung sogar gegenüber konventionellen Operationen und Waffenwirkungen aufweise. Ein überraschender koordinierter Angriff luftgelandeter oder verdeckt kämpfender Kommandoeinheiten und konventioneller Jagdbomber-und Raketeneinheiten auf die relativ wenigen Sondermunitionslager, in denen im Frieden der Großteil der NATO-Kernwaffen konzentriert ist, auf Hauptquartiere, Nachrichtenverbindungen etc., könnte die Fähigkeit der NATO zum wirksamen nuklearen Gefechtsfeldeinsatz von vornherein drastisch reduzieren.

Es kann nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, die skizzierten Annahmen und Bewertungen im einzelnen zu prüfen. Es scheint, als hätten die meisten von ihnen einen realen Kem oder ließen sich zumindest in einen plausiblen Zusammenhang mit erkennbaren Problemen und Mängeln der NATO-Posture bringen. Trotzdem dürfte die Risikoerwartung der sowjetischen Führung für die hier untersuchte Option des konventionellen „Blitzkriegs" insgesamt anders ausfallen, als das dargestellte Szenario des „fait accompli" erwarten läßt, wie im folgenden anhand einiger Beispiele gezeigt werden soll.

2. Die Bedeutung des Zeitfaktors

Im Falle eines nach längerer Spannungszeit gegen eine vorbereitete NATO-Verteidigung geführten konventionellen Angriffs dürfte der Zeitfaktor für die taktisch-nukleare Reaktionsfähigkeit der NATO eigentlich keine kritische Rolle spielen. Die NATO könnte als Teil ihrer umfassenden Verteidigungsvorbereitungen die Verwundbarkeit ihrer nuklearen Komponente verringern und deren kurzfristige Einsatzbereitschaft sicherstellen. Die Stabilität der konventionellen Vorneverteidigung sollte ausreichen, um die Abwicklung der nuklearen Konsultation und des vorgesehenen Anforderungsund Freigabeverfahrens zu ermöglichen und die operativen Voraussetzungen für einen taktisch wirksamen Kernwaffeneinsatz zu erhalten.

Die Annahme der Überraschung ist deswegen von entscheidender Bedeutung für die Vorstellung eines erfolgreichen konventionellen „Blitzkriegs". Allerdings bleibt zu fragen, welchen Grad an Überraschung dieses Konzept voraussetzt und ob er unter den gegebenen Bedingungen zu erreichen ist.

Ein häufig vernachlässigtes grundsätzliches Problem liegt darin, daß eine Aggression des WP um so weniger politisch und strategisch aus einem spezifischen Konfliktverlauf zu verstehen und zu motivieren sein dürfte, je überraschender sie gedacht wird. Im Extremfall vollständiger Überraschung läge ihre Ratio nicht in einem zwingenden politischen Angriffsgrund, sondern vor allem in der günstigen militärischen Erfolgsaussicht. Von der sowjetischen Führung zu erwarten, sie könnte sich bei einer Entscheidung zum Krieg mit der rivalisierenden Weltmacht in Europa von einer derart apolitischen taktischen Logik leiten lassen, ist jedoch unrealistisch. Vor jedem derartigen Entschluß wäre vielmehr mit intensiven Bemühungen um die politische Verhinderung des Krieges zu rechnen. Wahrscheinlich käme es zu einer Phase des Krisen-managements, in der beide Seiten auch militärische Bereitschaftsmaßnahmen als Signale benutzen würden. In jedem Falle müßten die Sowjets die politischen Kader in Partei und Armee und ihre Verbündeten propagandistisch auf die politische Notwendigkeit dieser Entscheidung vorbereiten.

Auch die für die sowjetische Führung bestehende Notwendigkeit, sich vor der Eröffnung des Kampfes umfassend gegen eine mögliche geographische Ausweitung und nukleare Eskalation des europäischen Krieges abzusichern, läßt für die NATO eine Warnzeit erwarten. Dies scheint in der westlichen Strategiedebatte kaum bestritten zu werden. Wenn in ihr der Möglichkeit von Überraschung trotzdem wesentliche Bedeutung zugeschrieben wird, so deswegen, weil man mit einem politischen Fehlverhalten der NATO-Regie-rungen rechnet. Man erwartet, daß diese ungeachtet der offensichtlichen Abhängigkeit der NATO-Verteidigung in Mitteleuropa von zeitraubenden Mobilmachungsmaßnahmen und Marschbewegungen die Warnzeit ungenutzt verstreichen lassen könnten. Sicherlich ist auch ein solches Verhalten denkbar, aber wahrscheinlich ist es nicht. Man sollte deswegen den subjektiven Charakter dieser Annahme berücksichtigen und die Frage stellen, inwieweit sie den Planern des Warschauer Pakts als verläßliche Größe ihres Risikokalküls dienen kann, statt den Selbstzweifel auf die unterstellte Risikoerwartung der anderen Seite zu projizieren. Wenn dies kaum geschieht, so liegt es wohl an der verbreiteten Neigung, strategische Analyse entpolitisiert zu betreiben, ohne Bezug auf die wesentlichen politischen Charakteristika des kriegs-auslösenden Konflikts und seiner Entwicklung. Da das tatsächliche Verhalten der Kontrahenten entscheidend von ihrer Wahrnehmung des jeweiligen politischen Konflikthintergrunds bestimmt sein dürfte, müssen die verbleibenden Leerstellen durch Ad-hoc-Verhaltensannahmen gefüllt werden, deren Plausibilität jedoch nicht zu kontrollieren ist.

Selbst wenn die NATO die ihr verfügbare Warnzeit zunächst ungenutzt ließe, weil sie den Ernst der Lage nicht erfaßte oder befürchtete, durch eigene militärische Vorbereitungen die Spannung zu verschärfen, wäre nicht mit vollständiger Überraschung zu rechnen. Zumindest einige Stunden vor Kriegsbeginn müßten die NATO-Regierungen eindeutige Indikatoren der gegnerischen Angriffs-vorbereitung erhalten. Zwar ließe sich innerhalb dieser knappen taktischen Warnzeit keine stabile konventionelle Vorneverteidigung aufbauen, aber es sollte möglich sein, die grenznah dislozierten Verzögerungsverbände in ihre GDP-Räume zu legen und auf diese Weise zumindest die Möglichkeit eines Not-aufmarsches zu sichern. Die dem Angriffsszenario General Closes zugrundegelegte Annahme eines zunächst kampflosen, raschen Vordringens der östlichen Divisionen in die Tiefe der Bundesrepublik ist deswegen irreführend. Außerdem könnte die NATO in dieser Zeit durch Räumung der Sondermunitionslager, Auflockerung ihrer nuklearen Einsatz-verbände und Erhöhung der Zahl der in kurzfristiger Einsatzbereitschaft gehaltenen nuklearen Systeme die Überlebensfähigkeit ihrer nuklearen Posture gegenüber konventionellen Angriffsoperationen und somit die Möglichkeit eines späteren taktisch-nuklearen Einsatzes sichern.

In welcher Zeit die Planer des WP erwarten, gegen eine unvollständig organisierte NATO-Verteidigung konventionell das erforderliche „fait accompli“ erkämpfen zu können, ist ungewiß. Entscheidend ist, ob sie diese Zeit für kürzer halten als den Zeitbedarf der NATO bis zum taktisch-nuklearen Ersteinsatz. Westliche Anhänger der „Blitzkriegs" -These unterstellen dies und verweisen zur Begründung auf die angeblich von der NATO-Doktrin geforderte hohe nukleare Schwelle und auf die angebliche Schwerfälligkeit der vorgesehenen nuklearen Anforderungs-, Konsultations-und Freigabeverfahren. Daß diese Faktoren in vergleichbarer Weise auch die sowjetische Risikoerwartung bestimmen, ist allerdings aus mehreren Gründen wenig wahrscheinlich: Sowjetische Analysen betonen die Ambivalenz der NATO-Doktrin im Hinblick auf das Problem des nuklearen Ersteinsatzes. Ihrer Ansicht nach haben die innerhalb der NPG erarbeiteten politischen Richtlinien der NATO zum taktischen Ersteinsatz und zur Konsultation die konzeptionellen Voraussetzungen für einen frühzeitigen Kernwaffeneinsatz mit eher demonstrativer oder taktischer Wirkung geschaffen. Diese Einschätzung dürfte durch das bereits vor einigen Jahren öffentlich formulierte Interesse SACEURs an der weiteren Entwicklung selektiver nuklearer Einsatzoptionen zur direkten und indirekten Unterstützung konventioneller Verteidigungsoperationen bestärkt werden. Auch das operative Denken der amerikanischen Landstreitkräfte tendiert seit einigen Jahren dazu, taktisch-nukleare Optionen planerisch bereits in die Konzeption grenznah geführter Vorne-Verteidigung einzubeziehen. Die Kriterien der NATO fordern den Ersteinsatz, bevor die konventionelle Verteidigung erschöpft ist und Gebiete von strategischer Schlüsselbedeutung verlorengehen.

Im Gegensatz zu der in der westlichen Literatur vertretenen Behauptung, der amerikanische Präsident werde sich jeder Forderung nach einem frühzeitigen Kernwaffeneinsatz der NATO widersetzen, lassen sowjetische Analysen die Erwartung erkennen, daß der Präsident im Ernstfall in dieser Frage mit zwingenden politischen und militärischen Argumenten der europäischen Verbündeten, der militärischen NATO-Hierarchie und des Pentagon konfrontiert würde, gegen die er sich wahrscheinlich nicht durchsetzen könne. Die-se Einschätzung erscheint realistisch, wenn man sich vor Augen hält, daß nur ein frühzeitiger taktischer Einsatz der NATO die doppelte Forderung erfüllen könnte, im Interesse von Eskalationskontrolle und Kollateralschadensbegrenzung deutlich begrenzt auszufallen und trotzdem zugleich zur Stabilisierung auf dem Gefechtsfeld beizutragen. Politische und taktische Gesichtspunkte sprechen dafür, den Ersteinsatz vorzunehmen, solange die grenznahe konventionelle Verteidigung der NATO noch intakt ist, die Möglichkeit zum Kriegsabbruch auf der Grundlage des territorialen Status quo ante vorstellbar bleibt und die eigenen Kräfte noch in der Lage sind, die gegnerischen Angriffsverbände zu verlangsamen und zur Konzentration zu zwingen, um lohnende nukleare Ziele zu gewinnen und die Wirkung des Kernwaffeneinsatzes auszunutzen.

3. Die Fähigkeit der NATO zur nuklearen Reaktion

Daß dieser Aspekt in der westdeutschen Strategiedebatte in der Regel nicht gesehen wird und statt dessen die amerikanische Interessenlage auf die vereinfachende, abstrakte Forderung reduziert wird, „die nukleare Schwelle hoch zu halten", verweist auf einen grund-sätzlichen Mangel: Man extrapoliert aus offi-ziehen und offiziösen amerikanischen Stellungnahmen zur NATO-Strategie „die" Strategie der USA und glaubt, mit ihrer Hilfe das amerikanische Verhalten im Ernstfall vorhersagen zu können. Als dominierend gilt dabei das Interesse, die Verwicklung in einen strategisch geführten Kernwaffenkrieg zu verhindern. Daraus wird ein mechanisches Konzept abgestufter kontrollierter Eskalation abgeleitet, das nach der ausgedehnten Phase konventioneller Verteidigung eine geographisch begrenzte, intensive taktisch-nukleare Kriegführung in Mitteleuropa vorsieht, schließlich auch Kernwaffeneinsätze in die Tiefe des nicht-sowjetischen WP-Gebiets erlaubt, jedoch das Territorium der Sowjetunion als „Sanktuarium'ausspart.

Ob eine derartige Strategie als Bündnisstrategie überhaupt geeignet wäre, wird dabei nicht gefragt. Gewichtige Gründe lassen aber erwarten, daß die NATO auf der Grundlage eines solchen Konzepts bereits in einer verschärften Ost-West-Krise politisch nicht zusammenzuhalten wäre und daß es im Krieg zu einem raschen politischen und militärischen Zusammenbruch der europäischen Front führen müßte. Wie dies mit dem nationalen Sicherheitsinteresse der USA vereinbar sein soll, bleibt unerfindlich. Die zwangsläufige Komplexität dieses Interesses, das konkurrierende Zielsetzungen beinhaltet, wird ebenso ignoriert wie die Tatsache, daß die Entscheidung darüber, welches strategische Verhalten im Hinblick auf die Realisierung dieser komplexen Zielfunktion optimal wäre, erst im Ernstfall selbst, in Kenntnis aller relevanten Faktoren der politisch-militärischen Lage, getroffen werden könnte. Immerhin ist bereits heute erkennbar, daß die Forderung nach einer hohen nuklearen Schwelle möglicherweise in Widerspruch zu der Forderung nach frühzeitigem Abbruch der Kriegshandlungen und nach wirksamen, kontrollierbaren taktischen und strategischen nuklearen Optionen steht und deshalb das Risiko einer abrupten Eskalation zum unkontrollierten strategischen Einsatz eher erhöhen als verringern würde. Die NATO-Strategie der „flexible response" trägt diesem Gesichtspunkt Rechnung. Leider werden in der Bundesrepublik amerikanische Stellungnahmen zum Problem der nuklearen Schwelle in der NATO-Strategie ohne Rücksicht auf ihren spezifischen innenund bündnispolitischen Bedeutungshintergrund häufig zum Nennwert genommen und ersetzen die an sich geforderte politisch-strategische Analyse. Diese unkritische Doktrin-und Begriffsgläubigkeit ist in der sowjetischen strategischen Literatur nicht zu finden. Sie orientiert sich vor allem an der Bewertung militärischer Potentiale und Optionen und setzt sie in Beziehung zu den besonderen politischen und strategischen Bedingungen, die im Ernstfall den Charakter und Verlauf eines europäischen Krieges bestimmen müßten.

Die sowjetische Literatur zieht weder die politische Entschlossenheit der USA und ihrer Hauptverbündeten, notfalls auch frühzeitig Kernwaffen einzusetzen, noch die entsprechende technische Fähigkeit der NATO in Zweifel. Sie registriert vielmehr ausdrücklich das Bemühen der NPG um eine Vereinfachung des nuklearen Konsultationsverfahrens und hebt die in diesem Zusammenhang wichtige Bedeutung der Sonderstellung hervor, die die USA in der NATO im nuklearen Bereich einnehmen. Sie bezeichnet die für unbeschränkt gehaltene nationale amerikanische Entscheidungsund Handlungsfreiheit mit der für die sowjetische Einschätzung der Nato charakteristischen Formel des „nuklearen Zentralismus". Diese Formel trifft realistisch einen Tatbestand, der in der westlichen Strategiedebatte aus vielerlei Gründen kaum angesprochen wird, obgleich er für die nukleare Reaktionsfähigkeit der Allianz wesentlich ist: Der Präsident der USA ist vor dem Einsatz von Kernwaffen nur dann gehalten, die Verbündeten zu konsultieren, wenn es seiner Auffassung nach Zeit und Umstände erlauben. Außerdem verfügt er über die Möglichkeit, über den nationalen amerikanischen Befehls-strang dem Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa (USCINCEUR) und den nachgeordneten Befehlshabern den Einsatz von Kernwaffen zu befehlen. Diese unilaterale nukleare Handlungsfähigkeit der gegnerischen Hauptmacht, die im Oktober 1973 während des Yom-Kippur-Krieges mit der unabhängigen Alarmierung der amerikanischen nuklearen Verbände auch im Bereich Europa öffentlich sichtbar wurde, dürfte es den Planern des WP riskant erscheinen lassen, mit einer längeren „Pause“ vor dem nuklearen Ersteinsatz der NATO zu rechnen.

Außerdem bleibt zu berücksichtigen, daß die in der westlichen Öffentlichkeit kursierenden Angaben über den Zeitbedarf für das nukleare Anforderungsund Freigabeverfahren der Allianz Ergebnisse von Verfahrensübungen wiedergeben, deren Aussagewert ohnehin begrenzt ist und weiterhin dadurch eingeschränkt wird, daß bis zur Ebene der Korps hinunter gespielt und die Möglichkeit eines unmittelbaren „request" durch SACEUR oder e>ne NATO-Regierung außer acht gelassen wurde. Letzteres Verfahren könnte vor allem in Verbindung mit vorgeplanten selektiven nuklearen Einsatzoptionen der NATO, auf die auch sowjetische Analytiker hinweisen, zu einer Beschleunigung des Entscheidungs-und Freigabeprozesses beitragen.

Schließlich kann auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß sich die politische Führung der Allianz in einer zugespitzten Krise zu einer bedingten Prädelegation begrenzter nuklearer Einsatzbefugnisse an die militärische NATO-Führung bereitfände.

Wenn die Planer des WP die Möglichkeit eines frühzeitigen nuklearen Ersteinsatzes der NATO weder technisch noch politisch zuverlässig ausschließen können, so müßte sich die ihnen in dem Szenario des konventionellen „Blitzkriegs“ zugeschriebene Erwartung eines raschen kriegsentscheidenden Erfolgs unterhalb der Schwelle nuklearer Kriegführung auf die Annahme stützen, daß dieser Ersteinsatz mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ohne einschneidende politische und militärische Wirkung bleiben würde. Daß sie jedoch entsprechende Vorhersagen westlicher Kritiker der gegenwärtigen nuklearen NATO-Posture teilen, ist kaum anzunehmen.

Das in Europa stationierte nukleare Waffen-potential der NATO ist beeindruckend und erlaubt der Bündnisführung, das gesamte Spektrum taktisch relevanter Kernwaffeneinsätze abzudecken. Daß die NATO Pläne und Programme unterschiedlichen Charakters vorbereitet hat, auf die sie zurückgreifen könnte, um zum Beispiel ihre nukleare Risikobereitschaft zu demonstrieren, gegnerische Durchbruchsversuche zu bekämpfen oder das Gefechtsfeld abzuriegeln, ist bekannt. Ihre Wirksamkeit ist ohne genauere Kenntnis nicht einzuschätzen, dürfte jedoch gegen einen ausschließlich konventionell angreifenden Gegner in jedem Fall erheblich sein. Die Disparität der verwendeten Kriegsmittel würde voraussichtlich eine ausschließlich konventionelle Fortsetzung der Offensive ausschließen. Westliche Autoren neigen dazu, die politisch-psychologische und militärische Gewichtung der „initial use“ -Optionen der NATO durch die WP-Planer zu unterschätzen, weil sie den Maßstab symmetrischer nuklearer Kriegführung anwenden und die Besonderheiten des unilateralen Waffeneinsatzes vernachlässigen. Viele Gründe lassen erwarten, daß im Kalkül der Gegenseite sogar ein ausschließlich demonstrativer Ersteinsatz der NATO eine nukleare Reaktion erzwingen und damit die Risikoerwartung einschneidend verändern müßte.

Außerdem bleibt zu berücksichtigen, daß das sowjetische Konzept der gestaffelten Offensi-ve durch gezielte taktisch-nukleare Einsätze der NATO gefährdet werden könnte. Die vor allem auf amerikanischer Seite entwickelten Vorstellungen für selektive nukleare Gefechtsfeldoptiqnen der NATO versuchen systematisch, diese funktionalen Schwachstellen zu nutzen. Schließlich ist zu vermuten, daß das Umschalten des Warschauer Pakts von einer konventionell begonnenen großangelegten Aggression auf eine nukleare Fortsetzung der Offensive nach dem nuklearen Ersteinsatz der NATO erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen würde, die den gesamten Angriffserfolg gefährden könnten.

4. Fazit

Als Fazit bleibt zunächst festzuhalten, daß die in der westlichen Strategie-Diskussion vertretenen Vorstellungen vom konventionellen „Blitzkrieg 1'aller Wahrscheinlichkeit nach fundamentale Elemente der sowjetischen Risikoerwartung verfehlen. Soweit gegenwärtig erkennbar, schätzen die WP-Planer die politische Risikobereitschaft der USA und die technische Fähigkeit der NATO zu frühzeitigem und taktisch wirksamem Kernwaffeneinsatz wesentlich vorsichtiger ein, als vielfach angenommen wird.

Trotz der gewachsenen sowjetischen Fähigkeit, einen konventionellen Krieg in Europa zu führen, bislang keine Anzeichen für sind eine Änderung der sowjetischen Einschätzung der damit verbundenen Risiken festzustellen. Nach wie vor scheint auf östlicher Seite die Erwartung zu dominieren, daß ein derartiger Krieg nuklearen Charakter annähme und nuklear entschieden werden müßte. Die Abschreckungswirkung der erscheint vor diesem Hintergrund trotz aller

Probleme und Mängel erheblich. Die TNF der NATO zwingen dem WP auch für den Fall einer konventionellen Aggression eindeutig die Bereitschaft auf, die Risiken nuklearer Krieg-führung in Kauf zu nehmen. Es kann davon ausgegangen werden, daß ihre taktische Wirksamkeit für nicht verläßlich unterlaufbar gehalten wird. Dies ist trotz langjähriger Vernachlässigung und strittiger Bewertung der Rolle der TNF der NATO in öffentlichen Auseinandersetzungen zur NATO-Strategie der Fall.

Trotzdem bleibt die starke Abhängigkeit der NATO von ihrer Fähigkeit zur Drohung mit frühzeitigem Kernwaffeneinsatz gegen einen nach kurzer Warnzeit erfolgenden konventionellen Angriff problematisch. Diese Drohung ist auch für die NATO-Staaten mit so hohen Risiken verbunden, daß die Aussicht, sie verwirklichen zu müssen, den Zusammenhalt des Bündnisses im Krisen-und Kriegsfall voraussichtlich extrem belasten müßte. Falls jedoch erkennbar würde, daß die NATO in einer sich verschärfenden Krisenlage politisch außerstande wäre, die ihr verfügbare Warnzeit für die dringend notwendigen, militärischen Vorbereitungen zu nutzen und dadurch ihre Fähigkeit zu rascher konventioneller und zu flexibler taktisch-nuklearer Reaktion gefährdete oder verlöre, so könnte dieses Fehlverhalten den Ausschlag für die Entscheidung der WP-Führung zum Krieg geben. Informationen über den Verlauf des NATO-Entschei-dungsprozesses könnten ad hoc dem WP objektiv und subjektiv die Bewertung jener politischen und militärischen Risikofaktoren vereinfachen, die heute seinen Planern keine hinreichend zuverlässige vorherige Risikokalkulation erlauben. Die Erwartung, unter diesen Bedingungen durch einen konventionellen Überraschungsangriff doch ein entscheidendes „fait accompli“ erzielen zu können, mag dann eine Offensive auslösen, die die WP-Führung hinausschieben oder unterlassen würde, wenn sie mit der Notwendigkeit einer sofortigen nuklearen Eröffnung verbunden wäre.

Für die NATO stellen sich im Interesse glaubwürdiger Abschreckung und gesicherter Krisenstabilität deswegen vor allem zwei Aufgaben: Sie sollte die Reaktionsfähigkeit und Abwehrstärke ihrer grenznahen konventionellen Anfangsverteidigungskräfte mit der Zielsetzung steigern, die Abhängigkeit von zeitraubenden und möglicherweise politisch umstrittenen Vorbereitungsmaßnahmen in der Krise zu verringern, um dem Zwang zu frühzeitigem taktischen Kernwaffeneinsatz zu entgehen. Die NATO muß sein, unter allen Bedingungen über eine ausreichende Zeitspanne eine stabile konventionelle Vor-neverteidigung zu führen. Dies ist die notwendige Bedingung auch für einen Erfolg ihrer im Rahmen der Strategie der „flexible res-ponse" vorgesehenen nuklearen Verteidigungs-und Eskalationsoptionen.

Zugleich sollte die NATO die Überlebensfähigkeit, Reaktionsbereitschaft und Einsatzflexibilität ihrer in Europa dislozierten nuklearen Streitkräfte erhöhen, um auch diese den im Ernstfall geforderten Bedingungen anzunähern. Es geht darum, die taktische Wirksamkeit ihrer nuklearen Kräfte außer Frage zu stellen, ohne das grundlegende Prinzip der politischen Kontrolle des Gebrauchs von Kernwaffen einzuschränken.

Diese Verbesserungen der konventionellen und nuklearen NATO-Verteidigung entsprächen den Forderungen der gültigen NATO-B Strategie. Sie dürften auf Seiten des WP jede etwaige Erwartung ausräumen, in Mitteleuropa bei kalkulierbar begrenztem Risiko Krieg führen zu können und erübrigten somit die in der westlichen Diskussion „Mode" gewordene Forderung nach einer „neuen’ NATO-Strate-gie. Sie ließen sich mit begrenztem Aufwand verwirklichen und wären daher mit einer Politik der Entspannung und Rüstungskontrolle zu vereinbaren.

V. Unzulänglichkeiten der derzeitigen „Strategiedebatte"

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die in der westdeutschen Publizistik geführte . Strategiedebatte" bisher durch unrealistische Prämissen und Bewertungskriterien, methodische Unzulänglichkeiten, begrenzte Sachkenntnis und weitgehend unkontrollierte Subjektivität gekennzeichnet. Ihre Einschätzungen der sowjetischen Bedrohung und der damit verbundenen Glaubwürdigkeit der NATO-

Strategie sind ebenso problematisch wie die auf solcher Beurteilung beruhenden Empfehlungen für eine Veränderung dieser Strategie. Als Entschuldigung mag gelten, daß diese Mängel in der Regel keineswegs originell sind, sondern Eigenarten der gedankenlos nachvollzogenen amerikanischen Strategie-diskussion wiedergeben. Das gemeinsame Grundübel liegt in der bereits angesprochenen Neigung, strategische Analyse ohne Rücksicht auf die politisch-strategischen Besonderheiten des jeweils betrachteten Konflikts und deren Einfluß auf Wahrnehmungen und Verhalten der Konfliktgegner entpolitisiert und abstrakt zu betreiben.

Ein Beispiel bietet die verbreitete apolitische Betrachtungsweise der sowjetischen Bedrohung, die militärische Abschreckung als einziges wirksames Instrument westlicher Sicherheitspolitik erscheinen läßt. Statt für das Gesamtspektrum vorstellbarer Aggressionen den jeweils wahrscheinlichen politischen Konflikthintergrund und seinen relativierenden Einfluß auf Risikobereitschaft und Risiko-erwartung der WP-Führung zu berücksichtigen, wird der Gegner als in jedem Fall zum Äußersten entschlossener „wargame Opponent" (B. Brodie) begriffen. Ihm wird ohne Bezug auf politisch motivierende Konfliktannah-men eine extreme Aggressivität zugeschrieben. Aus dieser Prämisse folgt der Eindruck, daß die NATO Sicherheit nur unter der Voraussetzung eigener militärischer Überlegenheit finden könne. Eskalationsdominanz scheint die einzige zuverlässige Methode zu bieten, um Aggressionen des WP glaubhaft abzuschrecken und in einem bewaffneten Konflikt die eigenen Zielsetzungen durchsetzen zu können.

Abgesehen davon, daß die NATO seit Ende der sechziger Jahre ihre einstige Eskalationsdominanz verloren hat, bleibt zu fragen, ob dieses in der Zeit des Kalten Krieges entstandene verengte Sicherheitsverständnis, das jede Erwartung eines sowjetischen Interesses an Krisenmanagement, Kriegsbegrenzung und Eskalationskontrolle als strategisch ungerechtfertigtes „Prinzip Hoffnung" abtut (H. Afheldt), bezogen auf den sowjetischen „real enemy" (B. Brodie) nicht militärisch überdeterminiert ist. Es ignoriert, daß Aggressionen mit extremer Risikobereitschaft nur unter extremen politischen Umständen erfolgen dürften, deren Entstehung angesichts des allseitigen starken Interesses an einer Politik der Entspannung, Kriegsverhinderung und Eskalationskontrolle wenig wahrscheinlich ist. Sollten jedoch diese Umstände eintreten, so würden sie wahrscheinlich jede Möglichkeit politisch verhandelter Kriegsbeendigung ausschließen und die endgültige militärische Entscheidung des Konflikts unabwendbar machen. Für die Bundesrepublik und ihre westeuropäischen Verbündeten könnte in dieser Lage keine denkbare Militärstrategie der NATO an dem Dilemma einer Wahl zwischen Kapitulation oder katastrophaler Zerstörung vorbeiführen.

Der sterile Grundsatzcharakter der westdeutschen „Strategiedebatte" rührt daher, daß sie auf den unwahrscheinlichen und im Hinblick auf die Möglichkeiten der eigenen strategischen Politik unergiebigen Extremfall einer sowjetischen Aggression mit „strategischer" Risikobereitschaft fixiert ist. Die Glaubwürdigkeit der gültigen NATO-Strategie an der Forderung messen zu wollen, die Bundesrepublik gegen alle denkbaren Formen sowjetischer Aggression verteidigen zu können, ohne ihr überleben als moderne Industriegesellschaft zu gefährden (C. F. v. Weizsäcker, H. Afheldt), ist insofern irreführend, als dieser Maßstab jede denkbare Militärstrategie ad absurdum führt, die jüngst von Afheldt vorgeschlagene eingeschlossen Das eigene Sicherheitsproblem wird in nicht-lösbarer Form definiert. Die daraus resultierende prinzipielle Überforderung der NATO-Strategie wird zu Unrecht als Kritik an ihrer Tauglichkeit und Glaubwürdigkeit ausgegeben, übersehen wird dabei, daß die NATO-Strategie nur den begrenzten, aber sicherheitspolitisch entscheidenden Auftrag erfüllen kann, Aggressionen abzuschrecken und abzuwehren, die mit begrenzter Risikobereitschaft unternommen werden, bei denen folglich noch die Möglichkeit besteht, das Verhalten des Gegners durch politische und militärische Einwirkung auf sein Risikokalkül zu beeinflussen. Dies könnte für Kriegshandlungen gelten, die sich aus der ungewollten Verschärfung und Ausweitung einer Krise in Ostmittel-oder Südosteuropa oder aus einem unkontrollierten überspringen außereuropäischer Konflikte auf Mitteleuropa entwickeln, oder für Angriffe der oben diskutierten Art, die durch eine günstige Risikoerwartung der WP-Füh-rung ausgelöst würden. In diesen Fällen müßte die NATO entsprechend ihrer strategischen Doktrin durch entschiedene Vornever-teidigung einen raschen militärischen Erfolg des Angreifers auszuschließen und — falls notwendig — durch Schritte der vorbedachten Eskalation auf der Gegenseite etwaige Fehleinschätzungen der politischen Risikobereitschaft und militärischen Handlungsfähigkeit des westlichen Bündnisses zu korrigieren suchen. Der WP müßte, ohne durch eine Überreaktion der NATO in eine von ihm ursprünglich nicht gewollte Eskalation hineingezogen zu werden, vor die Wahl gestellt werden, seinen Angriff ohne entscheidenden Geländegewinn abzubrechen oder sich für die Risiken eines „großen" Krieges gegen die konkurrierende Weltmacht USA zu entscheiden. Gemessen an diesem Auftrag ist die NATO-Strategie optimal. Falls es die politischen Konfliktziele der Kontrahenten zulassen, bietet sie alle Voraussetzungen dafür, Kriegshandlungen zu begrenzen und auf niedriger Schadensebene beenden zu können. Der Möglichkeit politisch irrationaler Aggression korrespondiert die „irrationale" Drohung der NATO mit einer Eskalation der Kampfhandlungen zum allgemeinen Kernwaffenkrieg.

Inwieweit die NATO-Posture trotz ihres begrenzten Auftrags die militärische Sicherheit Westeuropas garantieren kann und welchen Kriterien ihre konventionelle und nukleare Verteidigungs-und Eskalationsfähigkeit im Hinblick auf diesen Auftrag entsprechen sollte, läßt sich nur bei Berücksichtigung zumindest der Grundelemente der Risikoerwartung beurteilen, die die sowjetische Führung mit der Annahme eines militärischen Konflikts der Bündnisse in Mitteleuropa verbindet. Man muß versuchen, ihre Bewertung der der NATO verfügbaren militärischen Optionen zu erfassen und der Frage nachgehen, welchem verhaltensbestimmenden politisch-strategischen Konfliktbild sie die verschiedenen denkbaren Angriffsvariahten zuordnet.

Der vorliegende Beitrag hat in einigen Beispielen angedeutet, daß westliche und östliche Analytiker für den Verlauf eines bewaffneten Konflikts in Europa von sehr unterschiedlichen „Eskalationsleitern''(im Sinne Herman Kahns) ausgehen, ohne daß die weitreichende politische und strategische Bedeutung dieser Asymmetrie begriffen würde. Statt dessen projiziert die westliche Strategie-debatte subjektive Annahmen, Erwartungen und Bewertungen auf die unterstellte sowjetische Risikoerwartung, obgleich sie erkennbaren sowjetischen Grundüberzeugungen widersprechen und aus sehr verschiedenen historischen Erfahrungen, strategischen Denktraditionen und innen-und bündnispolitischen Einflüssen resultieren.

Bis zu einem gewissen Grade sind Unterschiede in der Lagebeurteilung unvermeidlich, da Bedrohungsanalysen mit subjektiven Wahrscheinlichkeitsannahmen arbeiten müssen und jede Seite dazu tendiert, die jeweils für sie kritischen Erwartungen zugrunde zu legen. Dieser Hang zur „worst case analysis" kann allerdings nicht verständlich machen, weshalb die derzeitige Strategiedebatte noch nicht einmal die Hauptfaktoren erfaßt, die das sowjetische Risikokalkül bestimmen, und die sowjetische Sicht der politischen und militärisch-operativen Besonderheiten des europäischen Kriegsschauplatzes (und ihrer Auswirkungen auf das wahrscheinliche Verhalten der Konfliktgegner) ebenso ignoriert oder mißversteht wie diese Besonderheiten selbst. An Beispielen für den weitgehend unstrategischen Charakter der bisher in der Bundesrepublik formulierten Kritik an der Glaubwürdigkeit der NATO-Strategie ist kein Mangel. Die von nahezu allen relevanten Gesichtspunkten abstrahierende Diskussion über „die'Höhe „der" nuklearen Schwelle ist in dieser Hinsicht ebenso aufschlußreich wie die Berufung auf angebliche Gesetzmäßigkeiten „der’ Eskalation (H. Afheldt) oder die unrealistische Verengung des amerikanischen Sicherheitsinteresses an der Verteidigung Westeuropas auf den Aspekt der Eskalationskontrolle, ohne zumindest über die unterschiedlichen strategischen Bedingungen der Möglichkeit von Eskalationskontrolle bei unterschiedlichen Aggressionsannahmen und Kriegslagen nachzudenken. Der unübersehbare Hang zu Verallgemeinerungen und mechanisch-verein fachendem „Modelldenken" wird durch ein® Überschätzung der verhaltensleitenden Bedeutung deklaratorischer strategischer Doktrinen ergänzt. In frappierender Begriffsgläubigkeit wird auf „herrschende Lehren" verwiesen, so als würden diese die strategische Lagebeurteilung und Entscheidung der verantwortlichen politischen und militärischen Führer unter den Bedingungen des Ernstfalls vorwegnehmen und die prognostische Analyse dieser Bedingungen erübrigen.

Auch die üblich gewordene Ableitung einer verstärkten konventionellen Gefährdung der NATO aus dem eingetretenen Zustand der nuklearstrategischen Parität ist hier einzuordnen. Sie impliziert ein Urteil über die sowjetische Einschätzung der Möglichkeit begrenzter Kriegführung in Europa, ihrer Erfolgsaussichten und Risiken, ohne diese Einschätzung zureichend analysiert zu haben. Die relative Auswirkung der eingetretenen Kräfteverschiebung auf den Charakter des abschrekkungsbestimmenden Verhältnisses von sowjetischer Risikoerwartung und Risikobereitschaft ist auf diese Weise nicht zu erfassen.

Schließlich ist der bekannte Versuch v. Weizsäckers und Afheldts zu nennen, die NATO-1)

Strategie als „Mystifikation" eines „logischen Widerspruchs" aus den Angeln zu heben

Als archimedischen Punkt haben sie die kritische Frage gewählt, ob es „rational" und ergo glaubwürdig sei, daß die USA für ihre „Schützlinge" die eigene Existenz aufs Spiel setzen könnten. So sicher die negative Ant-wort auf diese Frage ist, so irrelevant ist strategisch die Frage selbst, da sie sich in dieser Form niemals stellen würde. Wenn der Präsident der USA in einem in Europa begonnenen Krieg schließlich über den massiven strategischen Einsatz von Kernwaffen auf sowjetischem Territorium zu entscheiden hätte, so geschähe dies in einem veränderten politischen und strategischen Kontext, in dem die unmittelbare militärische Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA außer Frage stünde. Der Krieg würde dann nicht mehr „für die Schützlinge" geführt. Eskalationsschritte auf niedrigerer Ebene bedeuteten jedoch wiederum nicht die Entscheidung zur unmittelbaren Gefährdung der eigenen Existenz. Der vorgeblich „logische" Widerspruch erweist sich so-mit als Produkt einer abstrakten, statischen entscheidungstheoretischen Problemformulierung, die die kontingente Logik strategischen Verhaltens verfehlt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für diesen amerikanischen Begriff gibt es bisher keine deutsche Entsprechung. Er bezeichnet die Gesamtheit aller für ein militärisches System wichtigen Komponenten und schließt Strategie, Organisation, Ausrüstung und Bewaffnung, Taktik, Führungssystem und Operationsplanung ein.

  2. Diesen TNF sind alle amerikanischen und nichtamerikanischen Kernwaffen zuzurechnen, die SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) für seine nukleare Einsatzplanung assigniert sind. Der deutsche Begriff der Operationsgebiets-gebundenen Kernwaffen hat sich bisher nicht durchgesetzt.

  3. Darunter wird ein Angriff verstanden, der einem unmittelbar bevorstehenden oder als unmittelbar bevorstehend erwartetem gegnerischen Angriff zuvorkommt.

  4. Submarine launched ballistic missiles.

  5. Intermediate range und medium range ballistic missiles.

  6. Die int . general defense plan" SACEURs und der nadigeordneten Kommandos vorgesehenen Operationsräume.

  7. Robert Close, L'Europe sans defense, Brüssel 1976.

  8. Nukleare Planungsgruppe.

  9. Als Kollateralschaden (collateral damage) bezeichnet man jede ungewollte Schadenswirkung, die eine Waffe in der Umgebung des militärischen Zieles verursacht, gegen das sie eingesetzt wird.

  10. Horst Afheldt, Verteidigung und Frieden. Politik mit militärischen Mitteln, München 1976.

  11. Carl Friedrich v. Weizsäcker, Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971, S. 58 ff. u. ö.

Weitere Inhalte

K. -Peter Stratmann, geb. 1943; Studium der Politologie, Soziologie und Geschichte in Hamburg und München; Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in deren Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit in Ebenhausen. Veröffentlichungen: Vom Autismus kritischer Friedensforschung. Zur Kritik der Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/73; (mit Rene Herrmann): Limited Options, Escalation, and the Central Region, in: Johan H. Holst/Uwe Nerlich (Hrsg.), Beyond Nuclear Deterrence. New Aims, New Arms, New York 1977.