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Krise des Steuerstaats? Widersprüche und Perspektiven | APuZ 46/1977 | bpb.de

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APuZ 46/1977 Krise des Steuerstaats? Widersprüche und Perspektiven Finanzsystem und Lebensqualität Zur Bedeutung der Finanzverfassung im Sozialstaat

Krise des Steuerstaats? Widersprüche und Perspektiven

Rolf-Richard Grauhan /Rudolf Hickel

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Optimismus der Reformpolitik Ende der sechziger Jahre, der davon ausging, daß das Wirtschaftswachstum weiterhin florieren würde und sich staatlicherseits laufend eine hönere „Wachstumsdividende“ (höhere „Staatsquote") zur Finanzierung von Reformvorhaben abschöpfen ließe, mußte mit der Abflad 3 des Wirtschaftswachstums dahinschmelzen. Die den Reformoptimismus ablösende Forderung nach einer Politik des „ökonomisch Machbaren" ist beredter Ausdruck für die doppelte Abhängigkeit politischen Handelns: a) In der Entwich ILg der Marktwirtschaft ist es zu einschneidenden funktionalen Veränderungen — z. b. wirtschaftliche Konzentration; monopolistischoligopolistisches Preisund Produktionsverhalten; strukturelle Arbeitslosigkeit — gekommen, die direkte Staatseingriffe erfordern würden. Alle Eingriffe können aber — der „steuerstaatlichen Form" des Staates entsprechend — nur als indirekte, allgemeine Interventionen vorgenommen werden, b) Neben dieser Einengung auf indirekte Interventionen zeigt sich eine zweite Grenze, und zwar bei der Mobilisierung der Finanzmittel. Die Steuern stellen als dominantes Mittel staatlicher Finanzierung das Produkt einer hoheitlich-zwangsmäßigen Beteiligung des Staates an den Ergebnissen „privater Wertschöpfung" dar. Dabei existiert zweifellos eine — wenn auch konkret schwer angebbare — fiskalische Grenze für die Belastbarkeit dieser privaten Wertschöpfung. Diese doppelte Abhängigkeit des Staates bildet den Kern der „Krise des Steuerstaats". Der Staat muß sich bei der Bewältigung der ihm mit der rapiden Entwicklung des Industriesystems neu zuwachsenden kostenwirksamen Staatsfunktionen auf indirekte Einwirkungen gegenüber der privaten Wirtschaft beschränken und kann zum anderen aufgrund des Abschöpfungsmechanismus diese neuen Aufgaben nur begrenzt finanzieren. Während in einem ersten Abschnitt des Beitrags diese Probleme des „Steuerstaats“ herausgearbeitet werden, wird im zweiten Abschnitt gefragt, ob und mit welchen sozialökonomischen Folgewirkungen eine dem Typus Steuerstaat entsprechende Reaktion auf die — mit abflachendem Wirtschaftswachstum sich weiter öffnende — Schere zwischen Staatsausgaben und -einnahmen möglich ist (Ausweichstrategie). Beispielhaft wird nachgewiesen, daß die in der „Finanzkrise" diskutierte Reprivatisierung von öffentlichen Aufgaben und die „Vermarktung von Staatsfunktionen" zu einer Umverteilung von Finanzmitteln zugunsten einer privatökonomischer Wachstumsförderung bei gleichzeitiger Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen führen würden. Im dritten Abschnitt — Auswegstrategien — wird der Versuch unternommen, die „Perspektivskizze einer strukturellen Alternative" zum Typus Steuerstaat zu formulieren, in deren Mittelpunkt der Begriff der „politischen Produktion“ steht. Zwar bleibt diese „Perspektivskizze" unvermeidlich spekulativ, weil sie nicht unmittelbar und widerspruchsfrei in Realität umgesetzt werden kann; sie soll jedoch die knappste Ressource unserer Tage, die „soziale Phantasie“, wecken, um gegenwärtig Existentes und für die Zukunft Gewolltes einander anzunähern.

„Privater Reichtum — öffentliche Armut" — Vom Lebensstandard als dem vollen „Warenkorb" zur Lebensqualität in einet verstädterten Umwelt — Angesichts der „Grenzen des (industriellen) Wachstums" zur nachindustriellen Dienstleistungsgesellschaft — Von der Produktion bereits im „Überfluß" vorhandener Waren zur Produktion öffentlicher Dienste: Bildungsdienste, Gesundheitsdienste, Sozialdienste, als den „wahren" Feldern des gesellschaftlichen Bedarfs — das waren die Parolen von vorgestern.

Der Staat hat sich übernommen — Der öffentliche Dienst frißt den Staat auf — Die „Anspruchsinflation" muß eingedämmt werden — „Entstaatlichung" des öffentlichen Leistungsangebots: das waren die ebenso eingängigen Parolen in der folgenden Rezession.

Und wieder: Der Staat muß die privaten Investitionen fördern durch Steuererleichterungen und Subventionen, denn nur so können Arbeitsplätze geschaffen werden und die „Steuerquellen wieder sprudeln": Wachstum ist die Voraussetzung der staatlichen Leistungsfähigkeit, „Wachstumsvorsorge” deshalb oberstes politisches Gebot.

Das Rad der Argumente ist einmal herumgedreht, der Kreislauf kann von neuem beginnen.

Der erste Block der Argumente hatte sich an einem über Marktprozesse hinausgehenden gesellschaftlichen Bedarf orientiert, der sich aus dem Entwicklungsstand der hochindustrialisierten westlichen Gesellschaft ergäbe.

Dieser Beitrag ist aus der kritischen Fortentwicklung der von Roll-Richard Grauhan unter dem Titel „Rationalisierung, Bürokratisierung, Gesellschaftlicher Fortschritt? Zwischenbilanz zur . Dialektik der Aufklärung'" in dieser Zeitschrift (B 3/75, 18. Januar 1975) vorgelegten Überlegungen entstanden.

Mit kleineren Modifikationen wird dieser Beitrag auch einem Schwerpunktheft zur „Krise des Steuerstaats — Widersprüche und Perspektiven" (Arbeitstitel) vorangestellt werden, das Ende dieses Jahres im „Leviathan — Zeitschrift für Sozialwissenschaft“ erscheint und noch differenzierter die Einzelaspekte dieses Themas ausleuchtet.

I. Vorbemerkung

In diesem Zusammenhang hatte — stellvertretend für diese gängige Position — insbesondere Winfried Vogt argumentiert, der Staat müsse zunehmend jene „Produktion organisieren, die unter dem allgemeinen Imperativ der Legitimationserfordernisse des kapitalistischen Systems aus Gründen der ungleichmä-INHALT I. Vorbemerkung II. Strukturelle Grenzen des Typus Steuer-staat Strukturtypus Steuerstaat 2. Zum Zusammenhang von Rechts-, Steuer-und Interventionsstaat 3. „Staatsfinanzkrise — oder Krise des Steuerstaats?“

HI. Ausweichstrategien aus der Staatsfinanzkrise im Rahmen des Steuerstaats 1. „Immanenz“ der Ausweichstrategien:

Das Beispiel SVR: „Anspruchskrise“

und „Revision der Staatstätigkeit"

2. Das gemeinsame Dilemma der Okono-

misierungsstrategien IV. Auswegstrategien aus der Struktur des Steuerstaats 1. Zur politischen Thematisierung seiner Strukturdefizite 2. Perspektivskizze einer strukturellen Alternative ßigen technischen Entwicklung nicht privat-kapitalistisch betrieben werden kann" 1).

Vogt hatte dabei insbesondere die Produktion selbständiger Dienstleistungen im Auge, die nicht wie Handel, Güterverkehr, Reparatur-dienste u. ä. Annexe der Güterproduktion sind, sondern unmittelbar von Menschen für Menschen erbracht werden wie die Bildungs-, Gesundheitsund Personenverkehrsdienste. Deren Produktion erfordere notwendigerweise einen hohen Einsatz relativ hochqualifizierten und damit teuren Personals und sei deshalb nicht nach dem privatkapitalistischen Kalkül der Erhöhung des Kapitaleinsatzes pro Arbeitsplatz zugleich einzelbetrieblich rentabel, massenhaft und billig zu organisieren. Da sie jedoch gleichwohl organisiert werden müsse, und zwar zur Aufrechterhaltung der Voraussetzungen privater Warenproduktion ebenso wie zur Erfüllung politischer Massenforderungen innerhalb eines sich demokratisch legitimierenden Systems, müsse der Staat die Produktion dieser Dienste organisieren.

Da zudem in einer bereits hochtechnisierten Güterproduktion durch weitere Rationalisierungsmaßnahmen fortlaufend Arbeitskräfte freigesetzt würden, zeichnete Vogt alternative Enwicklungsperspektiven für die industrialisierte kapitalistische Gesellschaft, nach der die im Gütersektor freigesetzten Arbeitskräfte mehr und mehr von der staatlichen Dienstproduktion absorbiert würden, so daß der Staat sich geradezu als die „spezifische Organisationsform''dieser nicht privatkapitalistisch organisierten Produktion definieren lasse.

Bei Argumentationen wie diesen wurde allerdings das Problem des Strukturtypus „Staat" völlig übersehen, nämlich die Frage, wie und was ein politisches System in der Form „Staat" seinem spezifischen organisatorischen Zuschnitt nach eigentlich leisten kann. Und von diesen spezifischen Leistungsgrenzen aus wurde unter dem Eindrude der Fiskalkrise in der Rezession 1974/75 die zweite Welle der Argumente vorgetragen.

II. Strukturelle Grenzen des Typus Steuerstaat

1. Strukturtypus Steuerstaat Damit wird zunächst deutlich, daß der Staat nicht das politische System schlechthin ist, sondern eine besondere Form von politischem System, das keineswegs dadurch charakterisiert ist, daß es — wie auch immer geartete — Produktionsaufgaben erfüllt, sondern im Gegenteil gerade dadurch, daß es im Prinzip selbst nicht produziert. Diesen Sachverhalt beleuchtet der Ausdruck „Steuerstaat“ der ein charakteristisches Strukturmerkmal des Typus „Staat" hervorhebt. -Der Steuerstaat ist ein politisches System, das über Abschöpfungsbeträge aus nicht von ihm selbst organisierter und produzierter Wert-schöpfung finanziert wird. Der Steuerstaat ist die spezifische Form, die das politische System in einer Gesellschaft annimmt, deren ökonomische Wertschöpfung grundsätzlich in privatkapitalistischer Form organisiert ist. Deren Sicherung und Förderung ist deshalb auch eine in seine Grundstruktur eingelagerte Zweckbestimmung.

Produzierte ein politisches System selbst, schöpfte es also selber Wert, so könnte es sich auch aus dieser eigenen Wertschöpfung alimentieren und wäre nicht (allein) auf Steuern und aus Steuern zu tilgende Anleihen angewiesen. Das politische System in den Grenzen des Steuerstaats zu halten, ist darum auch eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Dominanz privatkapitalistischer Produktion. Darin liegt die gemeinsame Logik der politischen Bestrebungen, die staatliche Wirtschaftspolitik primär für die Förderung privater Wert-schöpfung einzusetzen und die Produktionsaufgaben, die der Staat im weiteren Bereich der öffentlichen Dienstleistungen übernommen hat, soweit wie möglich zu „entstaatlichen”, d. h. sie entweder ganz zu „privatisieren" oder nach den dem kapitalistischen Einzelbetrieb abgelauschten Kriterien der Profit-rationalität zu rationalisieren und zu „vergreisen". Aus der Perspektive der steuerstaatlichen Form des politischen Systems wird nun gefolgert: Wenn staatliche Dienstleistungen prinzipiell über Steuern finanziert werden, so können sie nur über eine Verbreiterung der Steuerbasis ausgedehnt werden. Da sie somit Wachstumspolitik im Sinne der Förderung von Produktion und Absatz markt-gängiger Güter voraussetzen, heißt, ihre Ausdehnung zu fordern, zugleich, die Probleme des „Wachstums", der Erschöpfung und Verschmutzung der natürlichen Ressourcen durch noch weitere Industrialisierung der industriell bereits hochentwickelten Länder zu verschärfen. Bei stagnierenden oder sogar schrumpfenden Abschöpfungsmöglichkeiten aus der privat produzierten Wertschöpfung dagegen ist der Steuerstaat erst recht gehindert, in der industriellen Erzeugung „wegrationalisierte" Arbeitskräfte in die Produktion öffentlicher Dienstleistungen zu übernehmen, weil er selbst dem „Rationalisierungszwang" unterliegt. Hält man fest, daß die spezifische Form der Steuerfinanzierung ein politisches System charakterisiert, das generell nicht selbst pro-B duziert, so wird auch verständlich, daß es seiner organisatorischen Struktur nach auf jene politischen Funktionen hin zugeschnitten ist, die die Entfaltung jener privaten Wertschöpfung fördern, von der es getragen wird. Dieser logische Zusammenhang führt historisch auf den Prozeß der Herausbildung des heutigen Steuerstaats aus den Feudalordnungen der spätmittelalterlichen Territorien zurück. Diese waren in der spezifischen Verknüpfung durch das „feudum" zwischen Lehnsherr und Vasall Herrschaftsund Produktionsordnungen (der Agrarproduktion) zugleich. Die Lehensstruktur vermittelte dem Belehnten einerseits die Herrschaftsrechte des Grundherren und andererseits das Recht zur Aneignung der von seinem Lehen aufgebrachten landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Aus den Krisen dieser gesellschaftlichen Gesamtorganisation zwischen Mittelalter und Neuzeit, die sowohl'Herrschaftswie Wirtschaftskrisen waren, entstand die neue Gesellschaftsformation, deren Funktionslogik im Auseinandertreten von politischer Herrschaft und ökonomischer Wertschöpfung besteht.

Der kontinentaleuropäische „Staat" konstituierte sich als von der Ökonomie abgetrennte Form „außerökonomischer" Politik durch die faktische Monopolisierung der „legitimen physischen Gewaltsamkeit" in einem zentralen Herrschaftsapparat, der die Durchdringung aller gesellschaftlichen Beziehungen mit rechtmäßiger Gewaltsamkeit aufgrund der feudalen Fehde-, Selbsthilfe-und Zweikampf-rechte beseitigte. Dieser Monopolisierungsvorgang, der den Staat als spezialisierte Struktur politischer Herrschaft herausbildete, schaffte erst de facto jene gesellschaftliche Sphäre bürgerlicher „Ruhe, Sicherheit und Ordnung", in der sich die Wirtschaft nach äußerlich scheinbar gewaltfreien Marktgesetzen (Konkurrenz) entwickeln konnte — ohne fürchten zu müssen, daß direkte Gewaltsamkeit als legitime in die Konkurrenzbeziehungen eindringt. Tut diese es dennoch, so wird sie nun staatlich als die illegitime Gewaltsamkeit des „Störers“ bzw. „Täters" definiert, der der Sanktion des in Polizei, Gerichten, Bürokratie — und im Notstandsfall Militär — organisierten Apparats des staatlichen Gewaltmonopols anheimfällt.

Diese tatsächliche Monopolisierung der legitimen physischen Gewaltsamkeit in den auf ihre Verwaltung spezialisierten Institutionen des politischen Staats entspricht so gesellschaftsstrukturell der Freisetzung der Ökonomie aus den feudalen (und zünftlerischen) Bindungen. In der Form der (industriellen) Warenproduktion für einen anonymen Markt verselbständigt, kann diese sich nach ihrer eigenen konkurrenzwirtschaftlichen Entwicklungslogik entfalten. Und daß der ihr gegenüber ebenfalls „freigesetzte", rechtlich zur „Souveränität" gelangte politische Staat sein Herrschaftspotential faktisch zur Förderung dieser ökonomischen Eigenentwicklung einsetzt., wird durch die Steuerfinanzierung gewährleistet. Diese bindet die Handlungsmöglichkeiten des Staates an die Entwicklung der privaten Wertschöpfung. Sie schafft damit einerseits den fiskalischen Zwang zur „Wachstumspolitik", die Hoffnung auf die steuerliche „Wachtumsdividende" zur Deckung auch der sogenannten sozialstaatlichen Mehrausgaben, andererseits die in der „Staats" -Form selbst liegende Grenze für politische Zielsetzungen, auch wenn sie im demokratischen Willensbildungsprozeß noch so große Mehrheiten und damit anscheinend noch so große „Macht" gewinnen würden. Die Rede von der „parlamentarischen Demokratie" oder vom „parlamentarischen Regierungssystem" blendet diese Strukturgrenzen, die sich aus der steuerstaatlichen „Staats" -Form des Politischen ergeben, aus.

Die Grundform, in der sich der „Staat" als Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit in Entsprechung zum Monopol privater Wert-schöpfung konstituiert und über die Steuerfinanzierung an deren Eigenentwicklung gebunden bleibt, bestimmt die Formen, in denen der Staat politisch handeln kann. Und hier läßt sich eine Skala von politischen Handlungsformen aufstellen, die sich nahtlos in die Organisationsstruktur des Steuerstaates fügen, bis zu solchen, die sie überfordern und die deshalb politisch vermieden werden — oder diese Struktur vom Prinzip her sprengen müssen: von der hoheitlich-polizeilichen Herrschaftsausübung über die fiskalisch-monetäre „Intervention" in den ökonomischen Krisenzyklus bis zur eigenen staatlichen Dienstproduktion. 2. Zum Zusammenhang von Rechts-, Steuer-und Interventionsstaat Die Kategorie „Steuerstaat" präzisiert so die allgemeine Analyse des Staates, ohne damit andere Charakterisierungen — wie Rechtsstaat oder Interventionsstaat — ersetzen zu wollen, die nur jeweils andere Aspekte ein und derselben Grundform beleuchten. Dieser Zusammenhang zwischen Rechts-, Interven-tionsund Steuerstaat läßt sich mit wenigen Strichen wie folgt skizzieren: Ausgangspunkt der Staatsbestimmung in einer den Marktgesetzen unterliegenden Produktionsweise ist die Notwendigkeit einer besonderen Sphäre der Politik gegenüber der Ökonomie, da die gewinnorientierte Produktion auf eine ihr äußerliche Garantie ihrer Grundlagen — des Privateigentums und der Rechtsfreiheit der Individuen — angewiesen ist. Diese den Marktprozessen zwar äußerliche, aber auf sie bezogene Garantie der Basisinstitutionen privatwirtschaftlicher Produktion und Aneignung verfestigt sich — als politische Zwangs-gewalt — in der Form des Staates.

Seiner Form nach ist der Staat gegenüber der konkurrenzwirtschaftlich selbstgeregelten Privatökonomie nichts anderes als die besondere Sphäre institutionalisierter äußerer Garantie der entsprechenden Eigentumsverhältnisse. Das Gesetz des privaten Eigentums als Gesetz privater Aneignung, das scheinbar frei von unmittelbarer Gewalt die Allokation gesellschaftlicher Arbeit entsprechend den Gewinnerwartungen bestimmt, hat demnach eine besondere Sphäre eines Gewaltmonopols — den Staat — zur Voraussetzung. Emphatisch ausgedrückt: Der Staat ist der Ausdruck jener . Gemeinsamkeit im Gegeneinander', die für die Konkurrenzwirtschaft typisch sein muß.

Aus dieser Notwendigkeit des von konkur-renzwirtschaftlichen Marktprozessen abgehobenen Staates, der deren Existenz politisch garantiert, ergibt sich umgekehrt für staatliches Handeln, daß dieses nicht direkt in diese Marktprozesse, d. h. in die Verteilung gesellschaftlicher Arbeit eingreifen kann. Wenn sich die Existenz des Staates aus der politisch allgemeinen Sicherung der ökonomischen Konkurrenzverhältnisse begründet, dann können sich staatliche Interventionen normalerweise auch nur indirekt und allgemein auf die marktvermittelten Produktions-und Verteilungsprozesse beziehen. Aus der „Grundform“ des Staates bestimmt sich abstrakt die generelle Begrenztheit staatlicher Politik. Sie ist resultathaft — also nicht ex-ante planend und direkt in Produktionsverhältnisse eingreifend — auf das Konkurrenzsystem bezogen. Dieser allgemeinen Form des Staates entsprechend ergeben sich im Prinzip die beiden universalistischen politischen Eingriffsmedien: a) zum einen das Recht zur Sicherung konkurrenzwirtschaftlicher Verkehrsformen, b) zum anderen das Geld als das allgemeine Tauschmedium in einer Konkurrenzwirtschaft. In diesen beiden Typen von Eingriffsmedien schlägt sich die formspezifische Begrenztheit staatlichen Handelns nieder. Sie sind indirekt auf die profitgesteuerte Wirtschaft bezogen, d. h. auf einen „Umweg" angewiesen; ihre Einfallstelle ist die Austausch-und nicht die Produktionssphäre. Mit dem Begriff „Steuerstaat" werden diese „Grundform“ des Staats sowie die diesem entsprechenden Interventionsmedien von der Seite seiner fiskalischen und zweckspezifischen Abhängigkeit aus betont. Insoweit als der Staat sich im Prinzip aus der Abschöpfung privater Wertschöpfung alimen-tieren muß, ist seine Politik auf indirekte Pflege der privaten „Wertschöpfungsquellen" angewiesen. Die allgemeine Steuerfinanzierung stellt das Pendant dafür dar, daß sich der Staat auf die allgemeine Sicherung systemspezifischer Voraussetzungen der Konkurrenzökonomie beziehen muß. Der Staat „schöpft" indirekt Finanzmittel vom Konkurrenzsystem ab — d. h. er ist generell nicht direkt an der Wertschöpfung beteiligt —, um die ausdifferenzierten Funktionen allgemeiner Garantierung der Basisinstitutionen dieses Produktionssystems indirekt wahrnehmen zu können. Indirekter staatlicher Intervention entspricht also eine indirekte Finanzierung aus der „Abschöpfung" der privaten Wert-schöpfung.

Bei dieser allgemeinen formspezifischen Ableitung des Rechts-, Interventions-und Steuer-staats kann jedoch die Analyse nicht abgebrochen werden. Vielmehr kommt es darauf an, die strukturellen Veränderungen der Konkurrenzwirtschaft im Entwicklungsprozeß der Kapitalverwertung selbst aufzusuchen, um von daher die neuen Funktionsanforderungen gegenüber dem formfixierten Staat herauszuarbeiten. Gesamtwirtschaftlich längerfristig sinkende Profitabilität (einschließlich wachsender Bedeutung der Fixkosten-Okonomie), monopolistisch begründete, überzyklische Preisentwicklungen (Phänomen der . säkularen Inflation'), wachsende Ausprägung von öffentlicher Dienstleistungsproduktion, die sich gegenüber den marktvermittelten Produkten ebenso sperrt wie gegenüber dem Modus der Finanzierung aus steuerlicher Abschöpfung von „privater" Produktion, sowie Veränderungen politischer Konstellationen modifizieren die Struktur privatwirtschaftlicher Konkurrenz in deren Entwicklungsprozeß. Aus dem voranschreitenden Entwicklungsniveau der markt-vermittelten Produktionsweise erwachsen spezifische, ausdifferenzierte Funktionsanforderungen (Systemprobleme) gegenüber dem Staat, die sich mit dem Universalmedium Geld immer schwerer verarbeiten lassen und sich den Handlungsformen des Strukturtypus Steuerstaat entziehen. Immer widersprüchlicher gärt unter der engen Form des auf indirekte Politik eingeschränkten Staats die Notwendigkeit direkter Eingriffe in die Konkurrenzökonomie und — letztlich — der Schaffung genuin politischer Produktion. Für die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Wirtschaftspolitik läßt sich etwa —-hier nur kursorisch angedeutet — nachweisen, daß der ökonomische Entwicklungsprozeß schon längst, aufgrund der vorwiegend strukturell bedingten Arbeitslosigkeit und Inflation, zweckbestimmte, direkte Eingriffe des Staates in den über Konkurrenz vermittelten Produktionsprozeß herausfordert. Aufgrund der allgemeinen Form des Staates, die ordnungspolitisch diese Eingriffe nicht zuläßt, werden diese auf indirekte Interventionen über allgemeine „Anreizsysteme“ und damit auf den „Umweg" der rahmenspezifischen Beeinflussung privater Produktionsentscheidungen abgedrängt. Aus speziellen empirischen Untersuchungen — etwa zur Wirkung der Investitionszulage von 1974 oder der Lohnkostenzuschüsse von 1976 — ist zwischenzeitlich bekannt, daß diese teueren, indirekten Maßnahmen die intendierten Effekte nicht zeitigten. Die Steuerstaatstruktur schafft ein immanent kaum auflösbares Dilemma: Einerseits werden die innerhalb der Ökonomie nicht selbst verarbeiteten ökonomischen Systemprobleme auf den Staat abgewälzt, andererseits kann dieser sie jedoch nicht ursachenadäquat verarbeiten, denn seiner Form nach muß er diese Systemprobleme indirekt und global therapieren. Wenn jedoch diese Global-Steuerungspolitik regionale, sektorale und vor allem größenspezifische Strukturdifferenzie-rungen in der Wirtschaft therapeutisch nicht zur Kenntnis bzw. zum Ausgangspunkt nimmt, dann ergibt sich die empirisch nachweisbare Tatsache, daß diese Globalsteuerungspolitik selbst strukturdifferenzierend wirken muß: Zwischenzeitlich ist bekannt, daß die allgemein-global intendierte, restriktive Geldund Kreditpolitik der Bundesbank seit 1973 den monopolistisch-oligopolistischen Bereich kaum getroffen hat, während der sogenannte klassisch-konkurrenzwirtschaftliche Sektor die Lasten dieser Politik zu tragen hatte, und diese Wirtschaftspolitik mithin eine größenspezifische Strukturdifferenzierung der deutschen Wirtschaft zumindest nicht gebremst, wenn nicht sogar beschleunigt hat.

Wirtschaftspolitik, die zwar auf der Folie eines insgesamt preisreagiblen Konkurrenzsystems gedacht ist, faktisch aber auf monopolistisch-oligopolitische Preissetzung im Sinne einer Preisadministrierung trifft, muß ihre Zielsetzung verfehlen. So hat etwa Alfred S. Eichner in einer Untersuchung für die USA theoretisch und empirisch ein spezifisch monopolistisches Preisverhalten bei restriktiver Geldpolitik bestätigt: Bei Verknappung bzw. Verteuerung monetärer Versorgung durch die Geldinstanzen verlagert der monopolistisch-oligopolistische Sektor („Megacorp and Oligopoly") die Finanzierung konjunkturell kaum beeinflußter, mittelfristig festgelegter Investitionen von den geldpolitisch eingeschränkten bzw. verteuerten Möglichkeiten der „Außenfinanzierung" auf „Binnenfinanzierung“ durch Preiserhöhungen. Paradoxerweise zeigt der monopolistische Sektor also Preiserhöhungen bei einer Politik, die auf die Stabilisierung des Preisniveaus ausgerichtet ist. Soweit dieses Beispiel für das generelle Problem des Staates, auf ihn zukommende, unterschiedlichste Funktionserfordernisse wegen seiner indirekten Form frustrieren zu müssen. 3. „Staatsfinanzkrise“ — oder „Krise des Steuerstaats"?

Im Hinblick auf die ausgeführten Formund Funktionsprobleme des entwickelten Interventionsstaates stellt sich die „Krise des Steuerstaates" auf zwei unterschiedlichen Ebenen dar. Einmal als geöffnete Schere zwischen wachsenden Anforderungen zur Finanzierung . verstaatlichter'Voraussetzungs-und Folgekosten der Konkurrenzökonomie und den Grenzen der Steuerabschöpfung, die ihrerseits wieder von den Anlage-und Wertschöpfungschancen privat konkurrierender Kapitale bestimmt werden. Diese Grenzen sind zwar abstrakt, aber dennoch real, weil sie vom steuerstaatlichen Kalkül antizipiert werden, um sie ja nicht zu übertreten. Zum anderen handelt es sich um die Krise der Kernstruktur des Steuerstaates als System, die daraus folgt, daß der hochentwickelte Akkumulationsprozeß Funktionsanforderungen (etwa „ökologische Krise") hervorbringt, die mit dem allgemeinen Interventionsmedium Geld indirekt und nachträglich nicht mehr verarbeitet werden können. Diese Krise leitet sich aus der der Produktionsform ab. Die funktionell erforderlich werdende direkte politische Produktion aber —-die auf staatliches Handeln abzielt, das sich nicht aus den Imperativen der Konkurrenzwirtschaft ableitet, sondern direkt politisch organisierte Versorgung entwickelter, gesellschaftlicher Bedürfnisse beabsichtigt — setzt eine Veränderung der Produktionsform (vgl. dazu IV 2 „Perskpektivskizze einer strukturellen Alternative") selbst voraus. Die mit dem „Haushaltsstruktur-Gesetz" (Sept. 1975) offensiv eingeleitete „Revision der Staatstätigkeit" stellt sich demgegenüber als der konträrorthodoxe, auf die Reprivatisierung von entfalteten Gesellschaftsproblemen hoffende Versuch dar, die aktuelle Finanzkrise des Staates zu beseitigen, ohne auf die zugrunde liegende Krise des Steuerstaates einzugehen. Unter dem neutralisierenden Stichwort „Konsolidierung" werden soziale dienstleistungsorientierte Ausgaben des Staates zurückgestutzt, um Finanzmittel für gewinnorientierte „Wachstumsvorsorge“ freizumachen. Zugleich sollen die Massensteuern erhöht, Vermögens-und Gewerbesteuer aber gesenkt werden.

Die Lösung der Staatsfinanzkrise nach der Funktionslogik des Steuerstaates geht damit voll zu Lasten der abhängigen Bevölkerung, sowohl der Lohnabhängigen, von deren Einkommen die erforderlichen Finanzmittel abgeschöpft werden müssen, wie der von sozial-staatlichen Leistungen Abhängigen, zu deren Lasten die Leistungseinschränkungen gehen.

Die aktuelle Finanzkrise macht damit deutlich, daß das Festhalten an der Form des Steuerstaats dessen „sozialstaatliche" Möglichkeiten bei Wirtschaftswachstum nicht nur blockiert, sondern faktisch in ihr Gegenteil verkehrt. Denn Kennzeichen des „Sozialstaats" sollte es sein, die mit der Marktökonomie verbundene ungleiche Verteilung von Lebenschancen durch „Umverteilung" zugunsten der in ihr benachteiligten wirtschaftlich Abhängigen zu kompensieren. Nun aber wird die „Staatsfinanzkrise" als Folge einer „Anspruchsinflation" dieser nach der primären Verteilungswirkung der Marktökonomie „Minderbemittelten" ausgegeben, die die Leistungskraft des Staates überfordere. Anders ausgedrückt: Die Struktur des Staates als Steuerstaat zeigt sich deutlich als Fessel einer „sozialstaatlichen" Entwicklung, da er — um es zusammenzufassen — a) bei der Ressourcenmobilisierung — Abschöpfungen von privatgeschöpftem Wert — der Eigengesetzlichkeit der Marktökonomie folgen muß (statt ihr entgegenzusteuern), d. h. auch auf der Ausgabenseite vorrangig Verwertungsbedingungen für privates Kapital zu schaffen und zu fördern hat (Investitionshilfe),

b) nach der Form seiner Handlungsmöglichkeiten daran gehindert ist, Leistungen zu erbringen, die der Staat nach dem Entwicklungsstand der privaten Ökonomie für die weitere gesellschaftliche Reproduktion erbringen müßte: generell in dem Sinne, daß die Konkurrenz-Ökonomie aufgrund zunehmender Akkumulationsschwäche höhere staatliche Zuwendungen erfordert und zugleich steuerlich weniger belastbar wird; aber auch speziell gehindert in dem Sinn, daß die steuer-staatliche Struktur es dem „Rechtsstaat" nicht erlaubt, auf dem Wege der demokratischen Gesetzgebung seine „Rechtsmacht" etwa zur Sicherung der natürlichen Grundlagen einer bereits hochindustrialisierten und verstädterten Gesellschaft einzusetzen, falls er dadurch mit steuerlich relevanten Akkumulationsinteressen in Konflikt gerät. Das ist die steuerstaatliche Achillesferse aller Bestrebungen, ohne Rücksicht auf die Fiskalstruktur des Staates durch hoheitliche „Investitionsverbote" gerade die stark umweltgefährdenden Wachstumsbranchen daran zu hindern, ihr Kapital in ökologisch nicht zu vertretender Weise zu verwerten.

Und ferner: Im Verhältnis „zu sich selbst" hindert der Steuerstaat den „Sozialstaat" daran, eigene Produktionsaktivitäten zu entfalten, soziale Bedürfnisse zu befriedigen, die von der Marktökonomie gar nicht oder nur mangelhaft bedient werden:

Das gilt ebenso für verstaatlichte Betriebe, die sich in der Konkurrenzökonomie dem Markt-verhalten privaten Kapitals anpassen müssen, wie für die personalintensive Dienst-produktion im Rahmen der Verwaltung, die, wenn sie unentgeltlich erbracht wird, als kostenintensiver „Staatsverbrauch" von Steuer-geldern im Rahmen der notwendig an der Förderung privater Wertschöpfung orientierten Ausgabenpolitik des Steuerstaats nur nachrangig bedient werden kann, die aber, wenn sie über Gebühren oder private Entgelte konsequent „verpreist" wird, wiederum nur die auch am Markt starke „kaufkräftige Nachfrage” zum Zuge kommen läßt.

Wenn also die herrschende Rhetorik die Finanzkrise des Staates als Krise des Sozialstaates interpretiert, der auf „seine Grenzen" stoße, so wird damit nur die eine Seite der Sache benannt. Richtig daran ist, daß die Sozialstaatlichkeit, die durch die Prosperität ermöglicht wurde, auf die Grenzen des Steuer-staates stößt. Wenn daraus, wie gezeigt werden wird, vorherrschend der Schluß gezogen wird, den Sozialstaat in die „Vernunft" des Steuerstaates zurückzunehmen, so ist das nur eine politische Option — und zwar zu Lasten der abhängigen Interessen. Demgegenüber soll hier die andere Seite der Sache zur Diskussion gestellt werden: Erweist sich hier die Struktur des Steuerstaates als die entscheidende Fessel für jene gesellschaftliche Entwicklung, die in den sozialstaatlichen Zielsetzungen zum Ausdruck kam, dann ist gerade diese Blockierungswirkung das Problem, das der wissenschaftlichen Klärung bedarf. Für eine nicht von vornherein beschränkt betriebsblinde wissenschaftliche Analyse erweist sich die Krise des Sozialstaates vor allem als die Krise des Steuerstaates. Diese gilt es hier zu analyB sieren, wissenschaftlich, um die Einseitigkeit der vorherrschenden Optik zu korrigieren, politisch, um damit alternative Optionen deutlich zu machen, die nicht die sozialstaatlichen Leistungen, sondern in entgegengesetzter Richtung die steuerstaatliche Struktur ins Visier nehmen.

Mit den bisherigen Ausführungen ist lediglich der Grundtypus „Steuerstaat“ und das in ihm schlummernde Krisenpotential charakterisiert worden: Die allgemeine, indirekte Staatsform, die auf die Sicherung privatwirtschaftlicher Basisinstitutionen (Markt, Unternehmensautonomie usw.) ausgerichtet ist, vermag immer schwerer die gesellschaftlichen Probleme des entwickelten ökonomischen Konkurrenzsystems zu verarbeiten. Kurz gefaßt: Diese Staatsform muß zunehmend vor privatwirtschaftlich nicht lösbaren, aber gesellschaftlich erforderlichen Funktionserfordernissen versagen. Dieses allgemeine „Krisenpotential" des „Steuerstaats" schlägt auf der empirisch erfaßbaren Ebene der Finanzierung öffentlicher Ausgaben sichtbar durch: Der Notwendigkeit der Finanzierung wachsender „verstaatlichter" Voraussetzungs-und Folgekosten einer privaten Marktwirtschaft steht eine beschränkte, steuerstaatliche Finanzierungsmöglichkeit gegenüber.

Generelle Finanzierungsquelle ist die private Wertschöpfung des ökonomischen Systems. Steuerstaatliche Abschöpfung privater Wert-schöpfung muß vom Prinzip her dort ihre Grenze haben, wo die Quellen, aus denen der Staat Finanzmittel mobilisiert, zu versiegen drohen. Aus diesem Prinzip erklärt sich der objektiv richtige Kern der Aussage, das Steuersystem dürfe die „Leistungsfähigkeit“ des ökonomischen Systems nicht strangulieren. Wo jedoch diese Grenze genau liegt, läßt sich weder global noch strukturell beantworten. Was die FinanzWissenschaft im Hinblick auf Grenzen der Besteuerung unter dem Stichwort „psychological breaking-point“ zum Ausdruck bringt, ist niemals Produkt rational abgeleiteter Steuertheorie, sondern vielmehr Produkt der historischen Entwicklung von ausgabewirksamen Staatsaufgaben einerseits und'staatlicher Mobilisierung von Finanzmitteln andererseits. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die konkrete Ausprägung der Steuerlastquoten immer Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen — teilweise eben auch von „Steuerkämpfen" — ist. Diesen schlichten Hinweis belegt bereits ein internationaler Vergleich, der zeigt, daß die. gesamtwirtschaftliche Steuer(Abgaben) -Quote (Gesamtsteuern und Sozialabgaben im Vergleich zum Bruttosozialprodukt) für die marktwirtschaftlich-staatsin9 terventionistischen Systeme breit streut: So liegt die Bundesrepublik Deutschland mit 37, 4 0/o hinter Schweden (50, 0 °/o) und Frankreich (39, 1 ®/o) sowie vor England (35, 9 °/o), der Schweiz (30, 6 %) und den USA (29, 3 %).

Während sich also zweifellos in der politischen Auseinandersetzung um die Steuerpolitik konkret-operationelle Grenzen steuerlicher Belastbarkeit nicht ausfindig machen lassen, ist bei der Betrachtung der sozialstrukturell unterschiedlich wirkenden Steuertypen die ganz andere Frage zu beantworten, welche gesellschaftliche Gruppe bei der Verteilung der Steuerlast benachteiligt wird. Die Entwicklung des Steuersystems der Bundesrepublik Deutschland zeigt hier typische Verschiebungen: Die Lohnsteuer (1975 Gesamtaufkommen in Höhe von 71, 194 Mrd. DM), die schon immer die sogenannte „Steuerschlange" anführt, hat in den letzten Jahren überproportional zugenommen; der Kopf wirkt jetzt übergroß im Vergleich zu den Restteilen der Schlange. Während vor 20 Jahren die Lohnsteuer noch mit einem Zehntel, vor zehn Jahren mit einem Sechstel zum allgemeinen Steuereinkommen beitrug, liegt der Anteil jetzt bei einem Drittel. Oder anders zum Ausdruck gebracht: 1970 entfielen von 100 DM Einkommenszuwachs der Arbeitnehmer 18 DM auf Steuern; wenige Jahre später (1974) sind es bereits 26 DM. Wie die einschlägigen Berechnungen belegen, konnte der Trend wachsender Lohnsteuerbelastung im Verhältnis zu allen anderen Steuern auch durch die Steuerreform von 1975 nicht nachhaltig gebrochen werden.

Aus den angeführten Daten ist der Vorwurf abgeleitet worden, die Bundesrepublik befände sich jetzt auf dem spezifischen „Marsch in den Lohnsteuerstaat". Genauer besehen erweist sich dieser „Marsch“ jedoch als ein schleichender Prozeß, innerhalb dessen sich die Inflation über ein spezifisches Steuersystem auf Lohn-und Gehaltsabhängige fortwälzt. Das Anwachsen der Bruttolöhne, soweit es nur nominellen, also rein inflationären Charakter hatte, ließ die Bezieher niedriger Einkommen schnell in die Zone progressiver Besteuerung hineingeraten. Undurchschaute Funktionsmechanismen, die jetzt erst in der Öffentlichkeit thematisiert werden, haben dazu geführt, daß die Lohn-und Gehaltsbezieher nicht nur die Inflation direkt mitzutragen haben, sondern daß ihnen durch inflationär bedingte Steuererhöhung zusätzlich ein Steuer-„Preis" abverlangt wird. Die wachsende Steuerbelastung resultiert aus einem „Preis-Steuer-Effekt“: Vergleicht man etwa die Steuern, die für einen alleinverdienenden verheirateten In-B dustriearbeiter mit zwei Kindern durch den Bruttoreallohn entstehen würden, mit den Steuern des nominalen Bruttolohns, so ergibt sich zwischen 1970— 1974 (auf der Preisbasis von 1970), daß seine Steuerbelastung tatsächlich um 3, 2 % gewachsen ist, während sie bei Ansatz des (preisbereinigten) Reallohnzuwachses nur um 1, 1 °/o gestiegen wäre. Die Differenz ergibt jene Steuerbelastung, die nur deshalb entstanden ist, weil er durch die Inflationsentwicklung eine höhere Besteuerung hinnehmen mußte Der „Preis-Steuer-Effekt" beträgt in diesem Fall von 1970— 1974 insgesamt 2, 9 °/o (Lohnsteuererhöhung).

Diese endogene, schleichende Umverteilung der Steuerlast zeigt eine spezifisch steuerstaatliche Mechanik. Die Steuerstruktur transportiert Inflationsprozesse auf die lohnabhängigen Steuersubjekte. Wenn Lohnpolitik die Realposition der Lohnabhängigen hal-ten soll, dann müßte sie nicht nur die erwarteten allgemeinen Inflationsraten, sondern auch die inflationären Steuereffekte antizipieren. Nominell ausgerichtete Lohnpolitik sieht sich mit einer Gefahr zur „Geldillusion" eben-so konfrontiert wie mit der zur „Steuerillusion" (Preis-Steuer-Lohn-Spirale). Aus all die-sen Zusammenhängen ist der Deutschen Bundesbank zuzustimmen, wenn sie in der Steuerreform von 1975 nicht nur „Gerechtigkeits" -Postulate reklamiert sehen will, sondern darin auch einen „richtigen Beitrag zur Entlastung des Verteilungskampfes" erblickt.

Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Anteil der Veranlagungssteuern (Einkommens-, Körperschafts-, Kapitalertragsteuer und Ergänzungsabgabe) am gesamten Steueraufkommen von 33, 3% im Jahre 1970 auf 28, 4% 1975 gesunken ist. Nimmt man hinzu, daß seit 1974 der unternehmerischen Wirtschaft durch „zehn gezielte Maßnahmepakete" (Offergeld) der Bundesregierung Steuerentlastungen (Investitionszulage 7 Mrd. DM, Verlustvortrag 0, 4 Mrd. DM, Gewerbeertrag-, Gewerbekapital-und Lohnsummensteuer jährlich 1, 3 Mrd. DM, 1, 9 Mrd. DM aus Körperschafts-und Vermögenssteuerreform, vorgesehene Abschreibungserleichterungen mit jährlichen Entlastungswirkungen von 1, 3 Mrd. DM usw. zuteil geworden sind, dann zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie die Logik des Steuerstaates — „Pflege der Wertschöpfungsquellen" — auch die sozioökonomische Struktur des Steueraufkommens determiniert. Steuerstaatlicher Transport von Inflationsprozessen bleibt bei den Lohnund Gehaltsabhängigen hängen, denn diese haben keine Möglichkeiten zur Überwälzung. Lediglich der nachträgliche Einbezug in den „Verteilungskampf" im Sinne der Aufhebung von „Steuerillusionen" macht entsprechende Entlastungen je nach den politisch-ökonomischen Kräfteverhältnissen möglich. Ob freilich diese Entlastungen der Lohnund Gehaltsabhängigen nicht wieder via preisspezifischer Überwälzung real rückgängig gemacht werden, bleibt die entscheidende Frage. Man sieht, nicht nur die Struktur der Ausgaben, sondern auch die der Steuereinnahmen folgt der beschriebenen Logik des Steuerstaates.

III. Ausweichstrategien aus der Staatsfinanzkrise im Rahmen des Steuerstaates

1. „Immanenz" der Ausweichstrategien Das Beispiel „Sachverständigen-Rat": „Anspruchskrise" und „Revision der Staatstätigkeit"

Bei empirischer Anerkennung einer aus dem Produktionssystem resultierenden strukturellen Finanzkrise des entwickelten Interventionsstaates (überkonjunkturelle Öffnung der Schere zwischen staatlichen Einnahmen und Ausgaben) häufen sich die Versuche in der fi-nanzund wirtschaftspolitischen Diskussion, „Lösungs" -Strategien aus diesem Dilemma zu entwickeln, die jedoch die Struktur des „Steuerstaates" in der Weise unangetastet lassen, daß die Krisenursachen nicht innerhalb des speziellen Verhältnisses von Staat und Konkurrenzökonomie bestimmt, sondern innerhalb einer davon abgetrennten Politik gesucht werden. Die den „Steuerstaat" charakterisierende Krise wird aus ihrem ursächlichen Zusammenhang mit dem ökonomischen System ausgeklinkt; sie wird als rein „politisches" Fehlprodukt interpretiert.

Für die herrschende wirtschaftspolitische Beratungspraxis hat der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage" (SVR 1975; 1976/77 unter der Frage5 Stellung „Krise der Marktwirtschaft?“ mit seinem 75er Gutachten eine Interpretation der Wirtschaftsentwicklung, die schließlich 1973 zur schwersten Nachkriegskrise führte, gleichsam abschlußhaft, in einem „Guß" festgeschrieben. Nicht von der „Krise der Marktwirtschaft" wird ausgegangen. Die seit Keynes bekannte Tatsache marktwirtschaftlichen Systemen innewohnender Instabilität wird vielmehr auf den Kopf gestellt. Es ist für den SVR die . politisierte'Stabilitätspolitik der sozial-liberalen Koalition im Konzert mit den Gewerkschaften, die vom Markt nicht bediente Einkommensansprüche („Anspruchskrise") durchgeboxt hat, die — solange mit der Geldmengen-versorgung nicht gegengesteuert wird — zur „Anspruchs-Inflation” führt oder aber sich bei restriktiver Geldpolitik ein Ventil in der Unterbeschäftigung („Anspruchs-Arbeitslosigkeit") schafft.

Derart auf den Kopf gestellte Krisenidentifikation übersieht, daß staatliche Stabilisierungsintervention nicht irgendeiner politischen List entspringt, sondern von einem privat-dezentralen Produktionssystem wegen seiner Tendenz zu einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht bei nicht-optimaler Ausschöpfung vorhandener Produktionskapazitäten hervorgerufen wird. Diesem Krisenszenario folgt konsequenterweise die Empfehlung einer sogenannten „Antikrisenpolitik" mit folgenden Schwerpunkten: — Senkung vor allem sozial-und dienstleistungsorientierter Staatsausgaben sowie Ab-richtung des Staatshaushalts auf unmittelbare Funktionserfordernisse des Marktprozesses;

— Beendigung der strukturpolitisch ausgerichteten Vollbeschäftigungspolitik, um eine „Reprivatisierung" des Beschäftigungsrisikos in Gang zu setzen, das den Lohn wieder zum individuellen Marktsignal macht, d. h. bei Arbeitslosigkeit im Prinzip „vollbeschäftigungskonforme Lohnzurückhaltung“ zum Wirken bringt;

— „Entpluralisierung" der Stabilisierungspolitik durch ihre Autonomisierung gegenüber dem parlamentarisch-politischen System in der Bundesbank und Automatisierung über Geldmengenregeln, die den monetären Rahmen der Tarifpolitik fixieren.

Für die unmittelbare Haushaltspolitik folgt daraus beim SVR eine Offensive gegen Elemente des „Sozialstaats“, die seit dem Gutachten von 1975 unter der Parole „Revision der Staatstätigkeit“ firmiert und folgende Maßnahmen vorsieht: des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; in: BTD 7/5902. — Senkung staatlicher Personalausgaben soll durch „angemessene" Lohnpolitik bei gleichzeitiger Personal-„Freisetzung" via Rationalisierung im öffentlichen Dienst realisiert werden;

— öffentliche Dienstleistungen sollen soweit wie möglich dem Staat entzogen und auf private Unternehmen übertragen werden, um u. a. Qualitätseinschränkungen und Preiserhöhungen über die Anonymität des Marktes zu , entpolitisieren';

— für Reste nichtprivatisierbarer Dienstleistungsproduktion wird Rationalisierung gefordert, was die Arbeitsbedingungen der betroffenen Beschäftigten sowie die Quantität und Qualität dieser Dienste nachweislich verschlechtert; — Abbau staatlicher Umverteilungspolitik etwa durch Umstellung der Sozialleistungen von der Objekt-zur Subjektförderung (d. h. Personen müssen erst einmal Bedürftigkeit nachweisen, bevor sie z. B. Sozialhilfe erhalten) oder aber von der Zuschußbasis auf Darlehensfinanzierung (GrAföG, BAföG usw.), wobei beide Maßnahmen einerseits die Betroffenen individuell mehr belasten und andererseits der Anspruchsausschluß erhöht wird;

— Eingriffe in die Sozialversicherung entweder durch direkte und indirekte Beitragserhöhungen oder aber Leistungsverschlechterung.

Alle diese Maßnahmen laufen darauf hinaus, über den Staat eine Umverteilung der Finanz-massen zu Lasten der abhängigen Bevölkerung vorzunehmen bei gleichzeitigem Wachstum ihrer Steuerabgaben (Erhöhung der Mehrwertsteuer, inflationsbedingtes Ansteigen der Lohnsteuern durch sogenannte Preis-Steuereffekte). Die Strategie „Revision der Staatstätigkeit" benennt jedoch nur die eine Seite der Umverteilung staatlicher Finanzmassen innerhalb einer Antikrisen-Politik. Erst im Gutachten von 1976 des SVR wird deutlich angegeben, für welches finanzpolitische Programm die durch „Revision" eingesparten Finanzmittel verwendet werden sollen:

Unter der Beratungsformel „Konsolidierung und wachstumspolitische Vorsorge“ (SVR 1976/77) verdeutlicht sich der Fixpunkt massiver Umverteilungsstrategie. Hinter der neutralisierenden Chiffre „Konsolidierung“ (bzw. „Revision") steht die Absicht, weiterhin den Rotstift im Bereich sozial-und dienstleistungsorientierter sowie reformpolitisch begründeter Staatsausgaben bei gleichzeitiger Höherbelastung der Masseneinkommen durch Anhebung des Regelsatzes der Mehrwertsteuer an-11 zusetzen. Die dadurch mittelfristig freigesetzten Finanzmassen in Höhe von ca. 8 Mrd. DM sollen teilweise in ein Programm „Wachstumspolitischer Vorsorge" in Höhe von ca. 16 Mrd. DM für die kommenden vier Jahre (davon ca. 8 Mrd. DM Bundesmittel) umgegossen werden und damit dem Marktsystem überantwortet werden, ohne daß auch nur konturen-haft garantiert werden kann, daß das aktuelle Hauptkrisenproblem, die Arbeitslosigkeit, abgebaut wird. An dieser dichotomi-

schen Strategie finanzieller Austrocknung an sich erforderlicher Sozialleistungen — bei Subventionierung der Unternehmergewinne — hält der SVR in seinem neuesten Gutachten in der Ziff. 450 explizit fest (SVR 1976/77): „Grundsätzlich wäre es wünschenswert, wenn der zusätzliche Finanzierungsbedarf, der sich aus diesen wachstumspolitisch begründeten Maßnahmen ergibt, dadurch gedeckt werden könnte, daß bei anderen öffentlichen Ausgaben, die unter wachstumspolitischen Gesichtspunkten weniger dringlich erscheinen, entsprechende Kürzungen vorgenommen würden." Welche aktuell politische Relevanz diese Umverteilungsstrategie des SVR hat, zeigt sich darin, daß der frühere Bundeswirtschaftsminister Friderichs das im Kern den Vorstellungen des SVR nachgebildete „Programm für Zukunftsinvestitionen — mehrjähriges öffentliches Investitionsprogramm zur wachstums-und umweltpolitischen Vorsorge" (sog. 16-Mrd. -Programm für die nächsten vier Jahre) u. a. mit dem „Ziel" einer „Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte hin auf mehr Investitionsaufgaben" begründete, was nach den Aussagen des Bundesfinanzministers Apel in demselben Zusammenhang dazu führt, daß „... bei der Haushaltskonsolidierung in den nächsten Jahren im Bereich der konsumpti-ven Ausgaben weitere Anstrengungen abverlangt" werden

Die Unausweichlichkeit einer derartig ausgerichteten Finanzpolitik, die die momentane sozial-liberale Wirtschaftspolitik bestimmt, begründet der SVR retrospektiv aus der versäumten Beachtung der Strukturgrenzen des Steuerstaats:

Der unbestreitbare „Investitionsattentismus" in der aktuellen Wirtschaftsentwicklung wird als Langzeitfolge „destabilisierender" Stabilitätspolitik seit Anfang der siebziger Jahre interpretiert, einer Stabilitätspolitik, die sich entgegen der Strukturlogik des Steuerstaates zu wenig um die Pflege und Forcierung priva-ter Investitionen gekümmert habe. Politische, finanziell, belastende, steigende Ansprüche zur Befriedigung unterschiedlichster sozio-ökonomischer Interessen gegenüber dem ökonomischen System hätten vielmehr seit 1973 zu „materiellen und immateriellen Schäden" geführt, die in der klassisch kurzen konjunkturpolitischen Frist nicht wieder behoben werden könnten. Wobei es vor allem die „immateriellen Schäden" seien, die den „unternehmerischen Elan" zum Erliegen gebracht hätten, denn „bittere Erfahrungen (hätten, d. V.) die Verhaltensweisen der Investoren verändert und Zukunftsvertrauen noch nicht recht aufkommen lassen", (SVR 76/77, Ziff. 227). Aus diesen Langfrist-„Schäden", die für den SVR erstmals den „Zweifel an den Selbstheilungskräften" des Marktes aufkommen lassen, folgt eine finanzpolitische Gewißheit: der Staat — als Mitverursacher der Wirtschaftskrise identifiziert — muß einen Teil der privaten Innovations-und Investitionsrisiken finanziell übernehmen.

Neben diesen Langfrist-„Schäden" führt der SVR jedoch ein weiteres Argument für die Begründung eines Programms der „Wachstumsvorsorge" ein: Es „könnte sein, daß die Investoren auf dem Entwicklungsniveau, das die Bundesrepublik erreicht hat, länger als früher nach profitablen Projekten Ausschau halten und höhere Risiken in Kauf nehmen müssen“ (Ziff. 287). Zur Begründung etatistischer, risikokompensierender Fiskalpolitik wird hier also deutlich ein Zusammenhang herangezogen, der über die Denkfigur einer bloß politisch verschuldeten „Anspruchskrise" hinaus etwas mit der Entwicklungsdynamik kapitalistischer Gesellschaften zu tun hat. Wenn jedoch im Entwicklungsprozeß die Kapitalrentabilität sinkt, dann muß der Staat mit einer SVR-„Angebots-Politik" wachsende Finanzmassen aufwenden, um die darin liegenden Risiken im Rahmen teurerer Anreizsysteme zu finanzieren. Damit läßt sich die Tendenz belegen, daß staatliche Finanzmassen immer wieder auf ein erlahmendes Profitsystem zuungunsten sozialer und gesellschaftsorientierter Ausgaben umgepolt werden müssen. Die indirekte Form des „Steuerstaats" erzwingt dabei eine solche „Vorsorge auf der Angebotsseite", die die Keynessche, indirekte Nachfragesteuerung auf die Angebotsseite überträgt: Der steuerstaatliche Kern dieser . global-gesteuerten'Angebotspolitik liegt darin, daß im Profitsystem Investitionen durch Finanz-politik indirekt hervorgelockt werden sollen. Diese über teuere Anreizsysteme eingeleitete „Umweg" -Politik kann für die Zielrealisation direkt keine Garantie geben. Sie bleibt an die Unternehmen als ihre Erfüllungsgehilfen gebunden. Damit erweist sich das steuerstaatliche „Nutznießer" -Argument, mit dem der SVR staatliche Risikokompensations-Politik begründet, als brüchig: „Die Ratio einer Wachstums-und Strukturpolitik ... liegt darin, daß der Staat, der am Gewinn hoch beteiligt ist, auch stärker als bisher das Innovationsund Investitionsrisiko trägt“ (Ziff. 306). Diese Hinweise belegen schlaglichtartig den Modus, mit dem in den Strukturgrenzen des Steuerstaats die allgemeine wirtschaftliche Krise sowie ihre Abbildung in den Staatsfinanzen bewältigt werden sollen. Derartige Politik, die die eigentlichen Krisenursachen ausblendet und sich damit auf diese auch nicht ursächlich beziehen kann, verursacht zwar immer größere Mobilisierung staatlicher Ressourcen für das Profit-system, ohne aber die daran geknüpften Beschäftigungsziele garantieren zu können. Indem diese Wirtschaftspolitik des SVR zur „Entlastung der Unternehmen von unnötigen Investitions-und Innovationsrisiken" (SVR 76/77, Ziff. 321) durch „Änderung der Rahmenbedingungen" führt, belastet sie zugleich die Masseneinkommen und öffentlich-soziale Versorgung der abhängigen Bevölkerungsschichten und vergrößert damit noch die Schere zwischen sozio-ökonomisch differenzierter Entund Belastung. 2. Das gemeinsame Dilemma der Okonomisierungsstrategien Das Interpretationsmuster „Anspruchskrise", das die herrschende wirtschaftspolitische Beratungspraxis vorzeigt, läßt damit im Kem nur einen Auswegpfad zu: Rücknahme von Mechanismen politisch ausgerichteter Entscheidungen zugunsten einer funktionalen, d. h. entpolitisierten Rückkopplung des Staates an die Konkurrenzwirtschaft. Die Strategie läuft instrumentell auf eine „Ökonomisierung" staatlichen Handelns hinaus, die sich trotz unterschiedlicher Ausprägungen bei allen Politik-typen nachweisen läßt Ökonomisierung bedeutet diesem Verständnis nach, wirtschafts-und teilweise sozio-politisches Handeln soweit wie möglich in die Strukturen marktpreisvermittelter Produktion und Verteilung zu pressen, um damit auf politisch eigenständige Zielsetzungen endgültig zu verzichten. Sie zielt im Kern auf eine „Rekonstruktion der Verhältnisse von Staat und Ökonomie“ in dem Sinne ab, daß die profitorientierte, private Waren-produktion die entsprechenden Staatsfunktionen bestimmen soll. Es wäre also falsch, sich etwa nur punktuell auf die ominöse „Reprivatisierungsdebatte" zu konzentrieren, ohne diesen Gesamtzusammenhang zu sehen. Vielmehr kommt es darauf an, die verschiedenen Ausprägungen sowie sozialen Folgekosten dieser marktoptimistischen Fluchtversuche aus dem Dilemma des Steuerstaates bei seiner prinzipiellen Anerkennung herauszuarbeiten. Dabei muß klar bleiben, daß die aktuelle Not der „Rekonstitution des Verhältnisses von Ökonomie und Politik" nicht einer bösen Laune neoliberalen ordnungspolitischen Staatsdenkens entspringt. Vielmehr findet sie in der fiskalischen Krise des Steuerstaates ihre reale Verankerung. In einer groben Skizzierung läßt sich eine problemumfassende Systematik von „ökonomisierungs”-Strategien staatlichen Handelns aufstellen, innerhalb derer ihre Ursachen, Widersprüche und Folgeprobleme diskutiert werden müssen: — Reprivatisierung staatlicher Tätigkeit: Hierbei geht es um die Reökonomisierung im eigentlichen Sinne, d. h. also um den Versuch, staatliche Produktion an das System privat-dezentraler Konkurrenzwirtschaft unmittelbar zurückzugeben. Denkt man an die Relevanz öffentlich bereitgestellter Produktion einerseits und an ihre Kostenstruktur andererseits, so liegt die Frage nahe, inwieweit die Reprivatisierung staatlicher Tätigkeit (Schlachthöfe, Müllabfuhr, Reinigungsdienste etc.) zu Preissteigerungen und Qualitätsverschlechterungen führen — wie in jüngster Zeit vergleichende Alternativrechnungen für Großstädte belegen —, die einerseits soziale Folgeaktivitäten des Staates an anderer Stelle wieder provozieren und andererseits über verteuerte — bisher staatliche — Vorleistungen (indirekte Wirkungen) private Produktionspreise insgesamt erhöhen. — Vermarktung von Staatsfunktionen: Hier gilt es, die Vorstellungen zu benennen, die davon ausgehen, daß der Staat zwar allgemein die Infrastruktur zu sichern habe, ihr Angebot und ihre Nutzung jedoch „marktwirtschaftlich" gesteuert werden müsse. Für den Schulbereich etwa haben M. Friedman und im Anschluß daran für den Hochschulbereich C. C. v. Weizsäcker derartige „Modelle" entwickelt. Danach reduziert sich die Funktion des Staates auf die Organisi rung eines „Finanzierungspools", aus dem einerseits Studentendarlehen bezahlt werden und der sich andererseits aus Rückzahlungen aus dem Einkommen bei späterer Erwerbstätigkeit der Hochschulabsolventen (etwa über einen spezifischen „Bildungssteuersatz") speist. Die inhaltliche Ausgestaltung des Hochschulsystems bleibt staatlicher Politik entzogen. Die Hochschule soll sich als ein „QuasiMarktsystem" selbst steuern, d. h. es stehen Lehreinheiten anbietende Hochschullehrer nachfragenden Studenten gegenüber, die sich kostenminimierend in entsprechend konkurrierendes Lehrangebot einkaufen. Mit dem „Finanzierungspool" sichert der Staat lediglich die finanziellen Rahmenbedingungen für einen sich selbst steuernden Hochschul-„Markt". Fa-zit dieses Modells ist, daß die späteren berufstätigen Akademiker ihr Studium selbst finanzieren. Für andere Infrastrukturbereiche wurden zwischenzeitlich analoge marktorientierte „Finanzierungsmodelle" (die Redewendung von „Marktmodellen" ist deshalb irreführend, da die spezifisch staatsvermittelte Form nicht sichtbar wird) formuliert. Auch hier bleibt die Frage, inwieweit solche Modelle nicht an anderer Stelle Folgefinanzmittel des Staates abfordern und damit die Finanzkrise nicht abbauen, denn die öffentliche Zurverfügungstellung von Infrastruktur resultiert gerade aus einem spezifischen Marktversagen, so daß die Rückgabe an den Markt keine langfristige Problemlösung garantieren kann.

— , Entpluralisierung‘ von Staatsfunktionen: Diese Strategie ist — wie bereits angedeutet — bisher am deutlichsten für die ökonomische Stabilisierungspolitik (Herausnahme der Konjunkturpolitik aus dem politischen Meinungsstreit des parlamentarisch-demokrati-schen-pluralistischen Systems) geprobt worden. Von der Intention her zielt sie auf die „Reinigung der Stabilisierungspolitik" (SVR, 1975) von politischen Einflüssen. Sie gipfelt in dem Vorwurf, daß im Grunde eine politisch-pluralistisch überfrachtete Stabilisierungspolitik die Ursache für Störungen des Systems der Konkurrenzökonomie darstelle. Insoweit als die pluralistische Form des politischen Systems dazu führe, daß die funktionalen Erfordernisse einer Stabilisierungspolitik'laufend durchkreuzt würden (vgl. die Argumentation im Gutachten zur Stabilisierungspolitik des Wissenschaftlichen Beirats beim BMW 1973), laufen die „Entpluralisierungs-strategien“ auf Autonomisierung und Automatisierung der staatlichen Stabilisierungspolitik hinaus.

Für die Bundesrepublik Deutschland zeigt sich in den letzten Jahren die Tendenz, die Stabilisierungspolitik auf den Bereich der Geldpolitik abzuschieben. Relativ , autonomisiert’ gegenüber politischer Beeinflussung wird die Stabilitätspolitik im Bereich der Deutschen Bundesbank durch sogenannte Regelbindungen (mittelfristige Ausrichtung der Geldversorgung an der Entwicklung des Sozialprodukts und jährliche Fixierung monetärer Ziele, z. B.der Zentralbankgeldmenge) abgelagert.

Aufgrund der Veränderungen des Funktionsmodus hochentwickelter, konkurrenzwirtschaftlicher Systeme ergeben sich jedoch Inflation und Arbeitslosigkeit als Systemproble-me, die nicht innerhalb der steuerstaatlichen Struktursynchron widerspruchsfrei verarbeitet werden können, was sich in einem Zieldilemma ökonomischer Stabilitätspolitik — entweder Antiinflationsoder Vollbeschäftigungspolitik — niederschlägt.

Da die Form des Staates entgegen den funktionalen Erfordernissen einer eigentlich struktur-direkten Intervention nur indirekte, globale Maßnahmen Hs Normalfall zuläßt, kann der Staat mit seiner Wirtschaftspolitik nur beschränkt den Krisenprozeß beeinflussen. Die Krisenursachen, die im politisch unangetasteten ökonomischen System stecken, bleiben unberührt. Dadurch ist die normale, globalorientierte, indirekte Wirtschaftspolitik mit einem „strukturellen Dilemma" behaftet. Mit indirekten Globalsteuerungsmaßnahmen sind Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität gleichzeitig nicht widerspruchsfrei zu garantieren, denn die dieser Politik theoretisch unterstellten konkurrenzwirtschaftlichen Anpassungsmechanismen stimmen mit der Realität nicht überein. Im Kern resultiert dieses „strukturelle Dilemma" aus der Tatsache, daß das Preissystem immer weniger seiner Funktion der Allokationssteuerung, sondern vorwiegend der Durchsetzung von Einkommensansprüchen dient. Vor allem der monopolistisch-oligopolistische Sektor hat die Möglichkeit, steigende Produktionskosten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Profitansprüchen per Preisadministrierung (Means-These) durchzusetzen. Daher sieht Samuelson „ein Gespenst“ aufziehen, „das das ökonomische Mischsystem überall in Angst und Schrecken versetzt“ Mit indirekter, keynesianischer Restriktionspolitik etwa bekämpfte Inflation führt bei vorherrschender Preisadministrierung zu rapiden, nicht beabsichtigten Produktionseinbrüchen, die mit Arbeitslosigkeit einhergehen, und dies alles bei kaum beeinflußter, über) konjunktureller Preisniveauentwicklung. Der diese Situation beschreibende Begriff „Stagflation" bringt Politikprobleme zum Ausdruck, die ursächlich aus der doppelten — zweckspe-zifischen und fiskalischen — Abhängigkeit des Steuerstaats von der privaten Wirtschaft erklärt werden müssen und dessen Handlungsbeschränktheit demonstrieren.

Das immanente Ausweichen aus diesem Dilemma, das vor allem die neoklassisch-monetaristische Strategie kennzeichnet, kann sich daher auch nur an einer „Reprivatisierung“ der Systemprobleme — hier vor allem der Arbeitslosigkeit — ausrichten. Diese Reprivatisierung des Beschäftigungsrisikos etwa soll die Löhne in Abhängigkeit von Beschäftigungssituationen flexibilisieren. Ein erneutes Beispiel dafür tut sich auf, wie gesellschaftlich produzierte Systemprobleme schicksalhaft individualisiert werden. Faktisch heißt das jedoch, ihre Verarbeitung sozial und ökonomisch den „Betroffenen“ anzulasten. Gefunden ist damit zwar ein Modus der Krisenverarbeitung, der ihre eigentlichen Ursachen jedoch nicht trifft. — Interne Rationalisierung des Staates: Was nach Reprivatisierung, Vermarktung und Entpluralisierung als unvermeidbarer Rest staatlicher Tätigkeiten übrigbleibt, wird in die Strukturen einer monetären Kosten-Nutzen-Rationalitäteingespannt. Damit setzt sich selbst in diesem uniermeidbaren Rest an Staat das Grunddilemma dieser Ökonomisierungs-Strategien durch. Offensichtlich nach großangelegter Säuberung nun wirklich nicht mehr in irgend eine Form direkter Marktrationalität einbindbare staatliche Tätigkeit muß in marktpreissimulierte Kosten-Ertragskalküle eingepfercht werden. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie die Grenzen des Steuerstaates auf seine interne Organisation durchschlagen.

Diese ausdifferenzierten Strategien leben damit von einer sie durchweg kennzeichnenden Paradoxie: Indem sie die notwendige politische Verquickung von ökonomischen Systemproblemen mit staatlicher Funktionserweiterung als ein vom ökonomischen Prozeß abgekoppeltes, politisches „Fehlprodukt“ ausgeben, versuchen sie, staatliche Interventionen an ein Marktsystem zurückzugeben, das jedoch in seiner Entwicklung genau diese wachsende staatliche Intervention hervorruft. Diese Paradoxie zeigt, daß die immanenten „Ausweichstrategien" aus der Fiskalkrise des Staats keinen Ausweg im Sinne der Beseitigung von ökonomischen Krisenursachen darstellen, was nicht heißt, daß sie mit den Umverteilungsmaßnahmen und -Vorschlägen nicht solange erfolgreich sein können, wie die Lasten von den betroffenen Bevölkerungsschichten protestlos getragen werden.

IV. Auswegstrategien aus der Struktur des Steuerstaates

1. Zur politischen Thematisierung seiner Strukturdefizite Inwieweit dieser Modus der Krisenbewältigung gelingt, hängt von der Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse und der damit zusammenhängenden Intensität politischer Auseinandersetzungen ab. Die politisch kaum thematisierte Durchsetzung des „Haushaltsstruktur-Gesetzes" (Sept. 1975) der sozial-liberalen Regierungskoalition, mit dem die „Revisionsstrategie" eingeleitet wurde, legt die Vermutung nahe, daß der Spielraum für derartig fiskalisches Krisenmanagement größer ist, als man bei den massiven Eingriffen in das soziale Reproduktionsgefüge erwartet. Die Hinnahmebereitschaft der nachteilig Betroffenen scheint größer zu sein als die Bereitschaft zu Gegenwehr.

Die Interessenvertretungen der abhängigen Bevölkerung — der abhängig Beschäftigten wie der von Sozialleistungen Abhängigen — stehen vor der besonderen Schwierigkeit, Strukturprobleme des Steuerstaates als politische zu thematisieren. Die Vertretungen der nach der Struktur der konkurrenzvermittelten Marktwirtschaft abhängigen Interessen nämlich folgen selbst der gesellschaftsstrukturellen Entkopplung von Politik und Ökonomie, einmal in Gestalt der auf den Prozeß allgemeiner Wahlen spezialisierten, um Wählerstimmen konkurrrierenden politischen „Links" -Parteien, zum anderen in Form der auf Auseinandersetzung im „ökonomischen" Lohnarbeit-Kapital-Konflikt spezialisierten Gewerkschaften. Die in den Tarifauseinandersetzungen formalisierten „Verteilungskämpfe“ zwischen Kapital und Lohnarbeit werden deshalb mit Recht „Verteilungskämpfe" genannt, weil sie um die Verteilung des in der Struktur der privaten Warenproduktion zuvorgeschöpften „Werts" geführt werden. Die Gewerkschaftsbewegung hat ihre Organisationsformen deshalb auch konsequent auf den Kampf um Lohnprozente hin formalisiert, bleibt deswegen aber eben auch an die Struktur und Prezedur der ökonomischen Wertproduktion, an Auseinandersetzungen im Rahmen des Geldmediums und damit an die Befriedigung marktvermittelter Lebenschancen gebunden. Ihr fällt es darum — um es vorsichtig auszudrücken — aus strukturellen Gründen schwer, die ihr immer wieder angesonnenen Aufgaben zu übernehmen, auch nicht-monetäre Forderungen (etwa solche nach mehr „Lebensqualität" und „Humanisierung der Arbeitswelt") — trotz verschiedener Versuche — prinzipiell in die Tarifauseinander-Setzungen mit aufzunehmen. Das gilt für die — nach der Struktur der Privatökonomie mit Recht so genannten — „externen Effekte", wie Umweltschäden und -gefahren von Industrieproduktion und Energieversorgung in bereits hochentwickelten Gesellschaften, weil diese inhaltlichen Probleme gesellschaftlicher Produktion eben aus der geldvermittelten konkurrenzwirtschaftlicher Wertproduktion und -Verteilung herausfallen.

An der Wertproduktion orientierte Verteilungsstrategien geraten darum in Konflikt mit Strategien, die gerade die inhaltlich destruktiven Nebenwirkungen der am monetären Wertschöpfungskriterium orientierten Produktionsform thematisieren wollen: Gewerkschaftler geraten in Konflikt mit Umweltschützern und verteidigen ihnen gegenüber die ökonomischen Wachstumskalküle. Ganz ähnliches gilt für „inhaltliche“ Forderungen zur Qualität der Arbeitsbedingungen, wie sie unter dem Schlagwort der „Humanisierung des Arbeitslebens" diskutiert werden, wenn sie die „Investitionsneigung“ zu gefährden drohen. Und besonders für „sozialpolitische“ Forderungen, sofern sie sich auf „Umverteilung" zugunsten der aus dem Produktionsprozeß Herausfallenden richten, denn die-se werden im Verteilungskampf zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht vertreten. Und erst recht für Sozialleistungen, die sich in der Form von Geldtransfers, der Schaffung von „kaufkräftiger Nachfrage" für die wirklich Bedürftigen nicht wirksam erbringen lassen, wie die unmittelbaren Gesundheits-, Bildungsund Sozialdienste (etwa die „persönliche Hilfe” nach dem Bundessozialhilfegesetz).

Diese Interessen können nur „politisch", nur durch die Parteien vertreten werden. Diese aber sind nach der ausdifferenzierten Staats-Struktur des Politischen in ihren Handlungsmöglichkeiten wiederum auf das im Rahmen des Staatshaushalts „Machbare“ beschränkt: sowohl auf das ohne Gefährdung der weiteren Akkumulation aus der Wertproduktion fiskalisch Abschöpfbare als auch auf das überhaupt mit Geld Machbare. Aus der Spezialisierung der Parteien auf den Prozeß der Parlamentswahlen im Rahmen der Staatsstruktur sind sie nach ihren Organisationszielen darauf programmiert, die Strukturgrenzen, wenn überhaupt, zur Abwehr der „Inflation von Ansprüchen" zu thematisieren. Sie müßten sonst ihre eigene Leistungsfähigkeit in Zweifel ziehen, die sie, um Wahlen zu gewinnen, gerade hervorkehren müssen. Sie neigen deshalb dazu, je näher sie der Regierungsverantwortung stehen, um so „staatsmännischer" Entlastung auf der Seite der politischen Forderungen zu suchen (sie auf das Maß des im Steuerstaat „Machbaren“ zurechtzustutzen), statt auf der Seite der politischen Strukturen, deren Veränderung auch ihre eigene Organisationsstruktur berühren würde.

Diese Erklärungsansätze sind keineswegs neu, sondern mehr als 50 Jahre alt wegen des Fortbestandes der gesellschaftlichen Grundstrukturen aber heute so realitätsnah wie damals. Doch ist heute deutlicher, daß ein nicht unerhebliches Widerspruchselement quer zu dieser grundsätzlichen Trennung in gewerkschaftliche und „politische" Interessenvertretung liegt, die der gesellschaftsstrukturellen Entkoppelung von privater Ökonomie und politischem Staat folgt. Entsprechend der Entwicklung des sogenannten „öffentlichen Sektors" der Ökonomie entwickelte sich auch die gewerkschaftliche Organisation der im Rahmen des „Staates" für die Erbringung öffentlicher Dienste beschäftigten Arbeitskräfte, unabhängig von der Rechtsform des Anstellungsverhältnisses als Arbeiter, Angestellte oder Beamte. Heute ist die ÖTV als größte Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes mit über einer Million Mitgliedern nach der IG Metall die zweitstärkste DGB-Gewerkschaft. Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes insgesamt (einschl. GEW, Postgewerkschaft, Gewerkschaft der Eisenbahner) stellen 2 Millionen Mitglieder der 7, 3 Millionen Mitglieder des DGB insgesamt (Stand vom 31. Dezember 1975). Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes fügen sich zwar in die am Kapital-Lohnarbeit-Konflikt orientierten Kampfformen — mit Vorrang der jährlichen Tarifauseinandersetzungen —; da die Staatsarbeiter aber nicht im Kapitalverhältnis (private Unternehmungsautonomie) arbeiten, ergeben sich daraus Ungereimtheiten, die eine erhebliche Argumentationsschwäche ihrer gewerkschaftlichen Vertreter bewirken, Nach der vorherrschenden gesellschaftlichen Form privater, wertschöpfender Arbeit und aus steuerlichen Abschöpfungsbeträgen finanzierter Staatstätigkeit stehen die Staatsarbei ter als unproduktive „Kostgänger" ihrer allein wertproduzierenden Kollegen in der Privatwirtschaft da, von deren „Steuergroschen" sie bei zunehmendem Anteil der Lohn-und Umsatzsteuer am gesamten Steueraufkommen unmittelbar ausgehalten werden. Nadi den Gesetzen der privat organisierten Wertschöpfung gehen also gewerkschaftliche Forderungen nach einer Qualitätsverbesserung der öffentlichen Dienste entweder — wenn aus Steuern bezahlt — zu Lasten der privaten Lohneinkommen oder — wenn konsequent „verpreist" und aus Gebühren und Entgelten finanziert — zu Lasten der bedürftigen Leistungsempfänger. Die Gewerkschaften der privaten und der staatlichen Lohnarbeiter geraten damit in einen Interessengegensatz. Das mag erklären, warum z. B. die Gewerkschaften gegenüber Forderungen nach einer „Privatisierung" vorwiegend defensiv argumentieren — ohne ihnen die Gegenforderung nach einer besseren Ausstattung der öffentlichen Dienste offensiv entgegenzustellen Diese Argumentationssdiwächen aber folgen aus der Orientierung an der gesellschaftlich vorherrschenden Form der Wertproduktion und der ihr entsprechenden marktpreisorientierten Wertrechnung. Sie folgen aus einem Produktivitätsbegriff, der als produktive Arbeit nur mehrwertschöpfende Arbeit im Sinne der Kapitalvermehrung und der Verteilung erwirtschafteter Kapitalerträge erfassen kann. Dieser an der gesellschaftlichen Form der Kapitalverwertung orientierte Produktivitätsbegriff aber steht im Widerspruch zum gesellschaftlichen Inhalt. Auf diesen Widerspruch hatte die langjährige Debatte um die „Grenzen des Wachstums" aufmerksam gemacht, indem sie die Frage aufwarf, ob eine weitere Steigerung der industriellen Erzeugung nach den Gesetzen der Wertproduktion angesichts des damit verbundenen Rohstoffverschleisses und der Naturzerstörungen in den schon hochindustrialisierten Ländern für diese überhaupt noch einen gesellschaftlichen Nutzen habe. Ob sie nicht mehr zerstöre als „produziere". Dieser Fragestellung lag ein Produktivitätsbegriff zugrunde, der nicht an der gesellschaftlichen Form, sondern am gebrauchswertspezifischem Inhalt, der Nützlichkeit des Einsatzes von Arbeitskraft für die Gesellschaft orientiert war.

Dieser Begriff ist in Gefahr, wieder völlig aus der politischen Diskussion zu verschwinden.

Gegenwärtig liegt vor allem nahe, daß er in die Irregularität anscheinend „maschinenstür-

merischer“ Proteste gegen die Industrie-und Kernkraftansiedlungen als den sichtbaren Maßnahmen der „Wachstumsvorsorge" abgedrängt wird und damit unter die polizeiliche „Störer" -Definition gerät. Dabei ist er der Gegenbegriff zur monetären Definition der Produktivität als des in Geld rechenbaren Kapitalertrages und dementsprechend zur Sozialproduktberechnung „zu Marktpreisen". Diese gebrauchswertabstrakte, monetär bestimmte Produktivität aber ist noch daran zu messen, ob sie wirklich inhaltlich Produktivität für die Gesellschaft anzeigt, d. h. die Verausgabung gesellschaftlich nützlicher Arbeit. Im Sinne der Wertrechnung kann produktive Arbeit bekanntlich gesellschaftlich ganz unnütz sein, wie andererseits gesellschaftlich nützliche Arbeit von der Wertrechnung gar nicht erfaßt wird. Hier, in der Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen der Produktion, liegt inhaltlich gesehen der gemeinsame Nenner von Lohnarbeit im privaten Kapitalverhältnis und Lohnarbeit im öffentlichen Dienst, deren Produktivität im Sinne gesellschaftlicher nützlicher Arbeit aber von der gesellschaftlichen Form der Wertrech-nung dann nicht erfaßt wird, wenn sie nicht in Marktpreise (Gebühren, Entgelte) eingeht. Sie bedarf darum anderer Kriterien und Bestimmungsformen. Der Begriff des „Gebrauchswerts" und der „Gebrauchswertproduktion“ kann dafür solange wenig leisten, als er jenes materielle Substrat der Ware bezeichnet, die Träger des Tauschwerts ist und damit an die Form der Warenproduktion gebunden bleibt. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenn nachts um eins ein Straßenbahnwagen leer fährt, dann hat sein Fahren mangels Fahrgästen, mangels konkreter „Marktnachfrage* also, auch keinen bestimmbaren Gebrauchs-wert. Dennoch kann der Nachtverkehr der Straßenbahn gesellschaftlich nützlich sein, und die Arbeit des Fahrpersonals deshalb „produktiv" im Sinne der Verausgabung gesellschaft nützlicher Arbeit, weil jedermann sich darauf verlassen kann, noch um ein Uhr die Straßenbahn benutzen zu können.

Ob dieser Nutzen aber erbracht werden soll, ob die verfügbare Arbeitskraft für die Erbringung gerade dieser Leistung oder einer anderen eingesetzt werden soll, läßt sich nur im vorhinein über politische Willensbildungsprozesse bestimmen — im Sinne der Entscheidung, welcher Aufwand den Betroffenen die Erbringung welcher Dienste „wert" ist. Mit diesem Problem schlagen sich gegenwärtig die Unternehmen des öffentlichen Personen-nahverkehrs bei dem Versuch herum, „vom Markt nachgefragte“ und „gemeinwirtschaftliche“ Leistungen auseinanderzurechnen — wobei nach der dominanten steuerstaatlichen Form die „politisch“ zu verantwortenden „gemeinwirtschaftlichen" Leistungen das privat zu erwirtschaftende Steueraufkommen belasten und sich so letztlich wieder den Preisbildungsprozessen der Konkurrenzökonomie fügen müssen.

Hatten sich Ende der sechziger Jahre die allgemeinen politischen Reform-Hoffnungen noch darauf gerichtet, aus der damaligen vorübergehend günstigen Staatsfinanzsituation in Richtung auf eine an inhaltlichen Kriterien orientierte Produktion gesellschaftlichen Nutzens steuern zu können (an inhaltlich definierter „Lebensqualität" statt an — von Markt-Kaufkraft bestimmtem — „Lebensstandard"), so sind diese Hoffnungen in der gegenwärtigen Krise zerstoben. Die herrschende, von der harten steuerstaatlichen Logik diktierte Ausweichstrategie stößt nach unserer Auffassung auch gerade deshalb auf so wenig Widerstand, weil dieser sich nun gegen die strukturellen Einschränkungen richten müßte, die unmittelbar mit dem Typus Steuerstaat selbst gesetzt sind. Diese Auseinandersetzung aufnehmen zu können, setzt nämlich voraus, daß eine Strukturalternative sichtbar ist. Und die gegenwärtige politische Diskussion in der Bundesrepublik ist auch dadurch blockiert, daß alle bisher entwickelten Alternativen zur Struktur privater Wert-schöpfung und steuerlicher Abschöpfung für eine industriell hochentwickelte Gesellschaft bereits politisch kompromittiert erscheinen: die Rätedemokratie z. B. „utopisch”, der Sozialismus „als Staatsmacht" — mehr Staatsmacht als Sozialismus, China und Kuba mit einer westeuropäischen Gesellschaft nicht vergleichbar. Die gegenwärtige Hinnahmebereitschaft ist nach unserer Auffassung auch aufgrund dieses Anscheins der Alternativlosigkeit groß. Eine politische Diskussion der Krise des Steuerstaats ist darum von der politischen Diskussion einer strukturellen Alternative abhängig, die sich weniger an auswärts vorfindlichen „Modellen" (und entsprechenden Feindbildern) als an einer perspektivischen Analyse der Mängelsituation der Struktur unserer eigenen Gesellschaft orientiert. 2.

Perspektivskizze einer strukturellen Alternative Eine die gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüche historisch produktiv auflösende Entwicklungsperspektive kann nicht in einer „Verstaatlichungs“ -Strategie liegen. Diejenigen, die darin nur das Heraufziehen einer gewaltigen Superbürokratie sehen, wären nicht zu widerlegen — und die Kritik an den existierenden staatssozialistischen Systemen kann ihnen nur recht geben.

Eine alternative Entwicklungsperspektive kann daran ankniipfen, daß sich unter dem Mantel und im Toleranzspielraum des herrschaftlichen Staates im Ansatz bereits eine Form von Dienstproduktion entwickelt hat, die einerseits nicht mehr in Marktverhältnissen aufgebracht werden kann, andererseits aber auch im strukturellen Widerspruch zu der auf Herrschaftsfunktionen hin zugeschnittenen Bürokratiestruktur des Steuerstaates steht.

Der Lehrer, der Bildungsprozesse in Gang setzt, der Arzt, der Patienten gesund macht, der Sozialarbeiter, der soziale Mindestausstattungen schafft, produzieren, indem sie Menschen nicht als Dinge „bearbeiten"; was sie produktiv nur können, wenn sie mit ihnen als Gleichgestellten „umgehen“. Als Arbeit in der Interaktion schöpft Dienstproduktion direkt gesellschaftlichen Wert. Dieser Wert kann aber bei gesellschaftlicher Dominanz der Warenproduktion insoweit nicht erfaßt und „gerechnet" werden, als er nicht in ausschließlich individuell anzueignende Waren eingeht und darum keinen Marktpreis erzielt. Die Produktivität des unterrichtenden Lehrers an einer öffenlichen Schule kann deshalb nur nach Kosten erfaßt werden, die er verursacht, die des Lehrers an einer Privatschule dagegen nach dem Warenwert, den er in Gestalt von Unterrichtspreisen einbringt.

Daß die nicht marktpreisbewertete, hilfsweise über Kosten erfaßte Dienstproduktion als „unproduktiv" und „konsumtiv" gelten kann, liegt also an der für diese geltenden Unangemessenheit der Warenform und der an sie anknüpfenden Rechnungsformen.

Dem folgt die These, daß die schon jetzt für den Nutzer kostenlos erbrachten Dienstleistungen als das materielle Substrat einer historisch möglich werdenden, „post-kapitalistischen" Weise des gesellschaftlichen Produzierens angesehen werden können. Die Notwendigkeit, diese Produktion außermarktmäßig und auch nicht nur „privat" zu organisieren, zeigt sich darin, daß sie überhaupt zum großen Teil dem Staat als der einzigen gesamtgesellschaftlichen Instanz überantwortet worden ist. Die spezifische „Staats" -Struktur des Politischen als die logische Entsprechung zur Privatstruktur der Warenökonomie erweist sich als Fessel, die die Entfaltung der politischen Produktion in einer ihr entsprechenden Produktionsform verhindert, d. h. in einer gesellschaftlichen Form, die die Verausgabung produktiver Arbeit auf der Basis politischer Willensbildungsprozesse organisiert. Als Strukturform politischen Entscheidens über Art und Umfang der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen steht im Prinzip — das läßt sich in historischer und systematischer Analyse zeigen — die Verfassungsform kommunaler Selbstverwaltung zur Verfügung Die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse einschließlich der Staatsstruktur des Politischen hindern die Produktivkräfte gerade daran, den vielberedeten Übergang in die „post-industrielle Gesellschaft" wirklich zu bewerkstelligen. Wird aber das Politische nicht mehr primär von der Funktion politischer Herrschaft, sondern von der Funktion politischen Produzierens bestimmt, so muß auch seine Grundform die spezifischen Elemente der Staatlichkeit abstreifen: die bürokratisch-herrschaftliche Organisation und die ökonomische Fundierung durch steuerliches Abschöpfen privat produzierten Werts

Läßt sich nämlich die bisherige Erbringung persönlicher Dienstleistungen durch staatliche Stellen, beispielsweise der Bildungsdienste, nicht schlicht als Staats„verbrauch" abtun, so wird auch die bisherige Definition der staatlichen „Investition" fragwürdig. Unter dem Gesichtspunkt der Verausgabung produktiver Arbeit wären nämlich auch die Mittel für die Erbringung von Bildungsdiensten investiv und nicht konsumtiv. Damit eröffnet sich ein Ansatzpunkt für die politische Thematisierung steuerstaatlicher Selbstverständlichkeiten, die es derzeit erzwingen, Lehrer-stellen zu streichen und Junglehrer arbeitslos zu lassen, obwohl Schulklassen für einen effizienten Unterricht zu groß sind und Unterricht wegen Lehrermangel ausfällt — und das, obwohl der Sektor der Privatökonomie Arbeitskräfte freisetzt, die der „öffentliche Sektor" aufnehmen müßte. Diese gesellschaftliche Paradoxie kann aber nur dann zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden, wenn die Logik des Steuerstaates in Frage gestellt wird, die diese gesellschaftliche Paradoxie erzwingt. Denn nach der Logik des Steuerstaates müssen „konsumtive"

Personalkosten gestrichen werden, wenn sich die Finanzschere öffnet, gerade weil der „private Sektor" Arbeitskräfte freisetzt und damit Steuerausfälle und höhere Sozialausgaben entstehen. Deshalb muß zugleich auch der Steuerstaat seinerseits Arbeitskräfte freisetzen, statt zusätzlich neue aufzunehmen. Sie belasten ja nur den Steuerhaushalt.

Würde dagegen die steuerstaatliche Prämisse der „unproduktiven" Staatsarbeit angegriffen, dann würde z. B. das aus Art. 115 GG abgeleitete Verbot der Kreditfinanzierung von Personalausgaben fragwürdig. Denn diese sind nur im Sinne der Produktivität des privaten Investitionskalküls nicht investiv. Hier läge in der gegenwärtigen Struktur ein erster Ansatzpunkt für eine weiterzielende politische Strategie. Denn das Problem der Kreditfinanzierung wird gerade in der Situation manifester „Staatsfinanzkrise" akut, wenn die Steuereinnahmen mangels „privater Investition" zurückgehen, aber aus dem gleichen Grunde der Geldüberhang groß wird. Weiter wird in dieser Situation das Institut der Kreditfinanzierung selbst fragwürdig, das zur Zinszahlung verpflichtet (entweder aus „erwerbswirtschaftlichen" Einkünften der öffentlichen Hand oder praktisch wiederum aus Steuerabschöpfung). Die Befugnis der Bundesbank, „zur Beeinflussung des Geldumlaufs und der Kreditgewährung" (§ 16 BBankG) aus dem Banksystem zinslos Liquidität abzuziehen, wäre dann auch unter dem Gesichtspunkt zu thematisieren, beim Absak-ken privatkapitalistischer Investitionstätigkeit aus Mindestreservemitteln den „öffentlichen Arbeitgebern" zinslos Liquidität zur „Investition" in die öffentliche Dienstproduktion zur Verfügung zu stellen und damit Beschäftigung im „öffentlichen Sektor" gerade dann zu ermöglichen, wenn der „private Sektor" Arbeitskräfte freisetzt.

Dabei handelt es sich keineswegs notwendig um eine „ständische", auf die „Privilegien" des öffentlichen Dienstes abzielende Strategie. „Beamtenprivilegien" sind Merkmale von Strukturen bürokratischer Herrschaft. „Politische Produktion" dagegen erfordert grundsätzlich andere als die traditionell hoheitlichen Organisationsformen und damit auch eine Umstrukturierung bisher spezifisch staatlicher Arbeit im Hinblick auf Organisierung, Funktionen und Entlohnung. In dieser Richtung zeichnet sich aber schon jetzt eine alternative Perspektive zur aktuell beobachtbaren Unwirksamkeit staatlicher „Investitionsförderung" für private Anlagen bei gleichzeitiger Einschränkung „öffentlicher" Dienstproduktion ab. Wird diese Perspektive als politische Konfliktstrategie verfolgt, so wird auch angesichts der zu erwartenden Gegenstrategien privaten Kapitals (Kapitalflucht, inflationistische Preispolitik) die gesellschaftliche Fragwürdigkeit der Geldund Warenform zur Bestimmung von „Produktivität" und dementsprechend „Knappheit” und „verfügbaren Ressourcen“ politisch thematisierbar: Z. B. wäre zu fragen, ob nicht die durch systematisch zunehmende Schwäche des Wirtschaftswachstums und die entsprechende Krise des Steuerstaats vom Geldmedium erzwungene Unmöglichkeit, in der privaten Warenproduktion strukturell freigesetzte Arbeitskraft fortlaufend im Bereich der öffentlichen Dienste aufzunehmen, gesellschaftlich gerade die entscheidende Ressourcenverschwendung darstellt, nämlich der Ressourcen lebendiger Arbeitskraft.

Gegenüber der konkurrenzspezifischen Vermittlungskategorie „Geld“ ist die gesellschaftlich verfügbare Arbeitskraft die „eigentliche“, nämlich inhaltliche Knappheitsbedingung jeder gesellschaftlichen Produktion. Diese in Wahrheit „knappe" Ressource aber überhaupt als solche bestimmen und „ökonomisch" verteilen zu können, ist erst eine gesellschaftliche Produktionsform in der Lage, die die Entscheidungsprozesse über Art, Um-fang, und Modus der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft als direkt-po-litische Willensbildungsprozesse der daran Beteiligten und der darin Betroffenen organisiert.

Geht man an das Problem einer derartigen Produktionsstruktur inhaltlich von der öffentlichen Produktion der im weiteren Sinne persönlichen Dienstleistungen heran, so kommt ein Umstand ins Spiel, der sie von der industriellen Güterproduktion tendenziell unterscheidet und ihre gesellschaftliche Organisation in nichtbürokratischen Formen demgegenüber erleichtert: Persönliche Dienstleistungen werden im gleichen Moment produziert und konsumiert, Produzenten und Konsumenten müssen im Produktionsakt Zusammenwirken. Die Konsumenteninteressen können also bereits in die Produktionsorganisation selbst eingehen. Das ermöglicht eine Selbstverwaltungsstruktur der produktiven Arbeit, die der Gefahr entgeht, einseitig die Produzenteninteressen zu berücksichtigen Für den dienstleistenden Umgang von professionellen Dienstleistenden mit Dienstleistungsempfängern läßt sich an bisher nur re-18) siduale Organisationsformen anknüpfen, die sich im Bildungs-und Sozialhilfebereich unter der Decke des Organisationsmantels „legaler Herrschaft" entwickelt haben. Gemeint sind die Ansätze von Selbstverwaltungsformen gemeinsamer Entscheidung über die Art der Leistungserbringung, die die Mitbestimmung auch der Konsumenten in Schulen, Hochschulen und Heimen über den Produktionsprozeß organisieren. Hierin läge der Keim einer Struktur professioneller Selbstverwaltung unter Einschluß der Konsumenten auf der Abgabe-und Abnehmerseite politischer Produktion, die sich entsprechend der regionalen Einzugsbereiche, für die die Dienste zu organisieren sind, auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems mit Strukturen der Willensbildung und Entscheidung über den Ressourcenrahmen und die allgemeinen Zielsetzungen der Dienstproduktion zu einem zweiseitigen System politischer Selbstverwaltung koppeln ließen.

Im entwickelten System politischer Produktion hätte der Aktivstatus des allgemeinen, freien und gleichen Stimmrechts nicht mehr nur die Funktion, eine souveräne Entscheidungsinstanz zu legitimieren, die selbst nach den Gesetzen bürokratischer Herrschaft organisiert ist, sondern wäre auch der Anknüpfungspunkt für jene politischen Auswahlprozesse, in denen Produzenten und Konsumenten über die Rahmenbedingung ihrer eigenen professionellen Arbeit unter dem politischen Aspekt der Entwicklung der Produktion insgesamt entscheiden könnten. Diese „konkrete Utopie" geht davon aus, daß Dienstproduktion zur gesellschaftlich vorwiegenden Art der Verausgabung produktiver Arbeit wird und damit auch zum Muster einer Selbstverwaltungsorganisation der verbleibenden Produktion von Gütern.

Wird diese, in der gegenwärtigen Wirklichkeit öffentlicher Verwaltung bereits gestellte, in der Staatsstruktur aber nicht zu bewältigende Aufgabe als Kernproblem einer nachindustriellen Gesellschaft angepackt, so ergibt sich zum gegenwärtigen Trend einer Verstaatlichung der Kommunen die strukturelle Alternative einer Kommunalisierung des Staates. Diese Konsequenz, können wir nach dem hier Erörterten schließen, läge im Sinne des „wahren Verfassungsstaats", von dem Hugo Preuß auf der Basis seiner genossenschaftlichen Theorie gesprochen hatte läge im Sinne einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ auf der Höhe der Zeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. Vogt, Zur Entwicklung eines kapitalistischen Systems, in: Leviathan — Zeitschrift für Sozialwissenschaft (2) 1973, S. 173.

  2. Zum Begriff vgl. J. Schumpeter/R. Goldscheid, Die Finanzkrise des Steuerstaats — Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen (hrg. v. R. Hickel), Frankfurt 1976.

  3. A. Eichner, The Megacorp and Oligopoly-Micro-foundations of Macrodynamics, Cambridge/London

  4. Vgl. die Untersuchung von Otto Roloff, 1976, der diese Größenordnungen entnommen sind.

  5. Vgl. Rainer Offergeld, Vertretbare Grenze erreicht — Steuerlast der Wirtschaft stark erleichtert, in: Frankfurter Rundschau v. 11. 10. 1977.

  6. Jahresgutachten 1975 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; in: BTD 7/4326; Jahresgutachten 1976/77

  7. Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 33, S. 305.

  8. Vgl. R. Hickel, Krisenprobleme des . verschuldeten'Steuerstaats; in: J. Schumpeter/R. Goldscheid, a. a. O„ S. 12 ff.

  9. M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, München 1976, S. 115 ff.

  10. C. C. v. Weizsäcker, Lenkungsprobleme der Hochschulpolitik, in: H. Arndt/D. Swatek (Hrsg.), Grundfragen der Infrastrukturplanung für wachsende Wirtschaften, Berlin 1971, S. 535 ff.

  11. P. A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre — Eine Einführung, Bd. II, vollständig neu bearbeitete Auflage, Köln 1975.

  12. Samuelson, a. a. O., S. 585.

  13. F. Wolfheim, Gewerkschaften oder Betriebsorganisationen?, in: F. Kool (Hrsg.), Die Linke ge-gen die Parteiherrschaft, Olten 1970.

  14. OTV-Gutachten, Qualitätsorientierte Rationalisierung, Stuttgart 1968.

  15. H. Tofaute, Gesellschaftliche und ökonomische Aspekte der Privatisierung unter besonderer Berücksichtigung gewerkschaftlicher Gesichtspunkte, in: WSI-Mitteilungen Heft 7, 1976.

  16. Vgl. näher hierzu die Kapital 11 „Zur Produktivität menschlicher Arbeit: Die politische Produktion" und 12 „Kommunalverfassung als Strukturform politischer Produktion", in: Rolf-Richard Grauhan, Grenzen des Fortschritts? — Widersprüche der gesellschaftlichen Rationalisierung, München 1975, S. 86— 105, und den diese Überlegungen weiterführenden Beitrag im „Leviathan" -Sonderband „Krise des Steuerstaats — Widersprüche und Perspektiven“ (Arbeitstitel, vgl. editorischen Hinweis in der Einleitung dieses Beitrags).

  17. Genauer dazu: Rolf-Richard Grauhan, Der „Staat“ des Macchiavelli und der moderne Begriff des Politischen, in: res publica, Festschrift für Dolf Stemberger, hrsg. von Peter HaungS, Stuttgart 1977.

  18. Vgl. die Diskussion bei K. Korsch, Was ist Sozialisierung?, in: Schriften zur Sozialisierung, hrsg. v. E. Gerlach, Frankfurt 1969.

  19. Hugo Preuß, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland, in: Handbuch der Politik, Bd. I, Berlin'1922, S. 198 ff.

Weitere Inhalte

Rolf-Richard Grauhan, Dr. phil., geb. 1934; Studium der Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Neueren Geschichte in Heidelberg, -Berlin und Kiel; Städtischer Rechtsrat in München; seit 1971 Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Modelle politischer Verwaltungsführung, Konstanz 1969; Politische Verwaltung, Freiburg 1970; Großstadtpolitik — Texte zur Analyse und Kritik lokaler Demokratie, Gütersloh 1972 (Hrsg.); Politik der Verstädterung (mit Wolf Linder), Frankfurt 1974 (Fischer-Athenäum-Taschenbuch 4030).