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Problemorientierter Geschichtsunterricht oder Die Frage nach dem Zugang des Schülers zu historischem Denken | APuZ 4/1978 | bpb.de

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APuZ 4/1978 Artikel 1 Das Wertproblem in der politischen Bildung der Gegenwart Problemorientierter Geschichtsunterricht oder Die Frage nach dem Zugang des Schülers zu historischem Denken

Problemorientierter Geschichtsunterricht oder Die Frage nach dem Zugang des Schülers zu historischem Denken

Uwe Uffelmann

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der vorliegende Aufsatz versteht sich als ein Folgebeitrag zu dem in B 33/75 erschienenen Aufsatz des Verf. „Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich" und behandelt das in der geschichtsdidaktischen Diskussion bisher ungelöste Problem der Auswahl der historischen Unterrichts-inhalte. Die Überlegungen gehen aus von der lebensweltlichen Einbindung des Individuums in die Geschichte, die als Rechtfertigung und Grundlage für historischen Unterricht generell anzusehen ist. Ein Geschichtsunterricht, der diese Voraussetzungen historischen Lernens ernst nehmen und den Zugang des Schülers zu historischem Fragen und Denken treffen will, wird der Inhaltsfindung besonderes Gewicht beimessen müssen. Hier wird der Versuch gemacht, zwei Ebenen der Inhaltsauswahl zu unterscheiden: Erstens die Ebene der Setzung eines Inhalts unter dem Kriterium der Bedeutsamkeit für die Identitätsgewinnung des Schülers; zweitens die Ebene der Prüfung des Inhalts unter dem Kriterium der Betroffenheit des Schülers. Die Setzung des Inhalts erfolgt auf der Basis einer durch Lernzielorientierung und erkenntnisleitende Interessen charakterisierten didaktischen Konzeption mit Hilfe der Bedeutsamkeitskriterien „Ursachen gegenwärtiger Probleme" und „Gelebte und gedachte Möglichkeiten menschlich-gesellschaftlicher Existenz". Die Prüfung der Inhalte orientiert sich am sozialen Ort der Schüler und den hier lokalisierten Bedürfnissen. Neu ist dabei der Versuch, „menschliche Bedürfnisse" als Auswahlkriterien zu finden und für den Unterricht zu instrumentalisieren. Die Ergebnisse sollten als vorläufig betrachtet und der gesamte Versuch, erneut den Zugriff zum Problem der Inhaltsauswahl zu wagen, als Diskussionsimpuls verstanden werden, der besonders den Lehrer „treffen" möchte.

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INHALT I. Die Fragestellung II. Das grundsätzliche Interesse des Individuums an Geschichte 1. Zum Begründungszusammenhang eines problemorientierten Geschichtsunterrichts im sozialwissenschaftlichen Lernbereich 2. Die lebensweltliche Einbindung des Individuums in die Geschichte 3. Zur Zielorientierung des historischen Unterrichts III. Das Problem der Auswahl historischer Unterrichtsinhalte 1. Interesse, Bewußtseinslage und Betroffenheit des Schülers 2. Die erste Ebene der Inhaltsauswahl:

Setzung eines In藍@

Die wichtigsten Thesen lauten:

IBedürfnisse nach gesellschaft-

hucnhdesmozKiaolnertaAktn, eArkuesntanuusncgh Schaubild IV Zweite Ebene der Inhaltsauswahl Prüfung des Inhalts unter dem Kriterium der Betroffenheit des Schülers Überlebensbedürfnisse T Sozialer Ort Mittlere Bedürfnisorientierung der Gesellschaft Bedürfnisse nach sSeeiDTssttvveerwrwiriKrklilc/nhuinnag

1. Das Problem der Auswahl historischer Unterrichtsinhalte ist nur dann befriedigend lösbar, wenn es gelingt, ein existenziell begründetes Interesse des Individuums an Geschichte zu ermitteln.

Schaubild V Die Auswahl historischer Unterrichtsinhalte im Hinblick auf das lebensweltlich in die Geschichte eingebundene Individuum

2. Die Auswahl eines Inhalts — der die Erkenntnis zugrunde liegt, daß die historische Dimension konstitutiver Bestandteil der Ich-Identität ist — vollzieht sich auf zwei Ebenen: a) der Ebene der Setzung eines Inhalts unter dem Kriterium der Bedeutsamkeit für'die Identitätsgewinnung des Schülers;

b) der Ebene der Prüfung des Inhalts unter dem Kriterium der Betroffenheit des Schülers. 3. Die Setzung des Inhalts erfolgt auf der Basis der sich in Zielorientierung und erkenntnisleitenden Interessen artikulierenden didaktischen Konzeption mit Hilfe der Bedeutsamkeitskriterien „Ursachen gegenwärtiger Probleme“ und „Gelebte und gedachte Möglichkeiten menschlich-gesellschaitlicher Existenz“. 4. Die Prüfung des Inhalts orientiert sich am sozialen Ort der Schüler und den hier lokalisierten Bedürfnissen. 5. Die Instrumentalisierung des Faktors „Bedürfnisse" für die Inhaltsauswahl verlangt a) die Erschließung einer mittleren Bedürfnis-orientierung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland als Maßstab, da die Inhaltsfindung nicht ständig neu vom einzelnen Lehrer geleistet werden kann;

b) eine Sensibilisierung des Schülers für seine eigenen Bedürfnisse wie für die in seiner Gesellschaft vorhandenen, damit er zu den im Lichte von Bedürfnisorientierungen gewonnenen historischen Problemstellungen selber die Brücke zu schlagen vermag. 6. Ein historischer Sachverhalt, der die beiden Ebenen der Auswahl erfolgreich durchlaufen hat, wird zum zielorientiert strukturierten Unterrichtsinhalt.

I. Die Fragestellung

Schäubild I

Die sowohl Lehrer wie Fachdidaktiker angesichts der (trotz Lernzielorientierung) immer noch geringen Erfolgsträchtigkeit des Geschichtsunterrichts beunruhigende Frage, wie der Zugang des Schülers zu historischem Denken erleichtert werden kann, soll im folgenden unter dem Aspekt der Inhaltsauswahl behandelt werden. In diesem Bemühen erscheint es dem Verfasser wichtig, zunächst nach der Legitimation von Geschichtsunterricht überhaupt zu fragen. Zu diesem Zweck ist zu prüften, ob die historische Dimension als notwendiger bewußter oder unbewußter Bestandteil des Deutungs-und Handlungsentwurfs, den der junge Mensch in seinem Umgang mit der ihm vorgegebenen Umwelt konzipiert, definiert werden kann, d. h. ob das

Individuum grundsätzlich Zugang zu historischem Denken hat.

Erst wenn es gelingt, die historische Identität als zur Ich-Identität gehörig zu beweisen, kann die Frage angemessen behandelt werden, was ein Inhalt leisten muß, soll über ihn der Zugang des Schülers zu geschichtlichem Denken erleichtert werden, d. h. welche Bedingungen ein historischer Sachverhalt erfüllen muß, damit er zum Unterrichtsinhalt werden kann.

Die nachstehenden Überlegungen stellen eine Erweiterung und Fortsetzung der 1975 an gleicher Stelle veröffentlichten „Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich" dar

II. Das grundsätzliche Interesse des Individuums an Geschichte

Abbildung 4

1. Zum Begründungszusammenhang eines problemorientierten Geschichtsunterrichts im sozialwissenschaftlichen Lernbereich Im genannten Beitrag hat der Verfasser versucht, Zielsetzung und Anlage des problemorientierten Geschichtsunterrichts zu beschreiben Was ist problemorientierter Geschichtsunterricht?

Unter problemorientiertem Geschichtsunterricht wird eine Unterrichtskonzeption verstanden, die auf der Basis Wissenschafts-, sozialisations-und lerntheoretischer Reflexion, anknüpfend an Interesse, Bewußtseinslage und Betroffenheit der Schüler, einen Lernprozeß einleitet und durchführt, der dem jungen Menschen Fähigkeit und Bereitschaft vermittelt, in Auseinandersetzung mit historischen Problemen ein Gegenwartsverständnis zu gewinnen, das ihm mündige Beteiligung am gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Leben ermöglicht.

Der problemorientierte Geschichtsunterricht ist in seinem Ablauf (Einheit, Kurs, Lehrgang, Projekt) dadurch gekennzeichnet, daß die Schüler 1. in der Motivationsphase an Hand z. B. einer historischen Quelle, die einen Bezug zu ihrer eigenen individuellen und kollektiven Lage herzustellen geeignet ist, ein Problem finden, sie zur Hypothesenbildung anregt und sie darüber nachzudenken veranlaßt, wie und mit welchen Mitteln sie es partiell im Rahmen der ihnen verfügbaren Möglichkeiten lösen können; 2. in den Lösungsphasen die historische Analyse in selbständiger Arbeit mit Hilfe von bereitgestellten und selbstgefundenen Materialien in verschiedenen, Gemeinschaftsarbeit fördernden Sozialformen (Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Rollenspiel, Unterrichtsgespräch) durchführen, um die eingangs aufgestellten Hypothesen zu überprüfen; 3. in der Schlußphase die gewonnenen Ergebnisse sammeln, diskutieren und auf ihren Erkenntniswert für die Klärung der Problematik, die sie als solche aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit formuliert haben, wie auf die möglichen Handlungskonsequenzen hin auswerten.

Die Begriffe „Interesse", „Bewußtseinslage" und „Betroffenheit" bleiben trotz des Hinweises auf wissenschafts-, sozialisations-und lerntheoretische Reflexion recht unscharf, und es ist nicht schwer einzusehen, daß das Instrumentarium für die Hand des Lehrers noch nicht fertig geschmiedet ist. Damit wird zugleich eine andere Schwäche des genannten Entwurfs deutlich, nämlich die, daß es in ihm noch nicht gelungen ist, den am Interesse des Schülers orientierten Geschichtsunterricht in einen wirklich stringenten Begründungszusammenhang zu stellen:

Zu dem Versuch, den Entwurf einer Konzeption vom problemorientierten Geschichtsunterricht zu beschreiben und wissenschafts-, sozialisations-und lerntheoretisch zu dimensionieren, ist der Verfasser u. a. durch die Frage nach der Anwendbarkeit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule auf die Geschichtsdidaktik angeregt worden. So sind die wissenschaftstheoretischen Überlegungen stark von diesem Impuls getragen, indem sie das Problem der Entwicklung und Begründung erkenntnisleitender Interessen für den Geschichtsunterricht als Analyseinstrumentarium wie als Motivationsfaktor für die Schüler vordringlich berücksichtigen. Dabei lassen sie andere Aspekte der wissenschaftstheoretischen Dimension unbehandelt, so etwa eine spezifisch geschichtstheoretische Begründung des problemorientierten Geschichtsunterrichts.

Dieser Umstand verweist auf eine Erscheinung der geschichtsdidaktischen Diskussion der letzten Jahre: Seit 1970 ist wohl viel Neues aus den verschiedenen, das fachdidaktische Feld konstituierenden Wissenschaftsbereichen aufgenommen und verarbeitet worden, es ist aber noch nicht gelungen, alle Impulse der Fachwissenschaften wie der Grund-wissenschaften in einem stringenten Begründungszusammenhang einer curricularen Fach-didaktik Geschichte zu verschmelzen. Der Prozeß der Rezeption des Neuen ist noch im Gang. Er hat jedoch die notwendige additive Phase durchlaufen und ist in dem Stadium angelangt, in dem Möglichkeiten eines konsistenten Begründungszusammenhangs langsam ins Blickfeld treten.

Annette Kuhns Skizzierung der wichtigsten neueren Ansätze der Geschichtsdidaktik sollte als Bestandsaufnahme des bisher Geleisteten verstanden werden, ihre Überlegungen zum Begründungszusammenhang einer curricularen Geschichtsdidaktik als Wegweiser für die ins Haus stehenden Aufgaben der Fachdidaktik Geschichte Die Vielfalt der Diskussionsbeiträge bedarf zuweilen einer klärenden Durchforstung, damit die zurückgelegten und die noch zu beschreitenden Wege bewußter werden. Kuhns diesbezügliche Leistung in den genannten beiden Aufsätzen sollte nicht nur von den Studenten als wertvolle Orientierungshilfe verstanden, sondern auch von keinem der „Eingeweihten", gleich, welche Position er einnimmt, unterschätzt, vielmehr als Aufruf zur Überprüfung der eigenen Überlegungen begriffen werden.

Für den didaktischen Entwurf des Verfassers heißt dies, daß ein Aspekt, der zum stringenten Begründungszusammenhang des problemorientierten Geschichtsunterrichts unerläßlich ist, noch auf seine Aufarbeitung wartet. Die bisherigen wissenschaftstheoretischen Begründungen des problemorientierten Geschichtsunterrichts bewegen sich auf der Ebene wissenschaftstheoretischer Reflexion, die Kuhn als „Wissenschaftsdidaktik" bezeichnet. Es handelt sich dabei um einen den einzelnen Fachdidaktiken und Fachwissenschaften vorausgehenden Frageansatz, ein interessegebundenes, erkenntnisleitendes Prinzip, das wissenschaftliche Tätigkeit in ihren spezifischen gesellschaftlichen Bezugsrahmen und Verwertungszusammenhang stellt.

Die andere Ebene der wissenschaftstheoretisehen Reflexion ist eine fachspezifische. Im Falle der Geschichte ist es die Geschichtstheorie, die Historik, die u. a. das lebensweltliche Fundament geschichtlicher Erkenntnis untersucht. Um diese Ebene geht es bei der Bewältigung des unter Punkt 1 der Fragestellung genannten Problems, ob die historische Identität als notwendiger Bestandteil der Ich-Identität definiert werden kann * 2. Die lebensweltliche Einbindung des Individuums in die Geschichte In verschiedenen Studien hat J. Rüsen das Verhältnis von Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik in der Absicht untersucht, der Fachdidaktik mit Hilfe der Historik Einsichten in Prinzipien historischer Erkenntnis zu vermitteln. „Die Historik stellt ... ihre Relevanz für die Fachdidaktik unter Beweis, wenn sie die Eigenart der historischen Methode bestimmt. Eine solche Bestimmung knüpft an den konkreten Forschungsprozeß der Geschichtswissenschaft an. Die Historik macht an ihm die Besonderheiten wissenschaftlicher Rationalität aus, die der Etablierung des Wissenschaftsbereichs . Geschichte'zugrunde liegen und die ihn von anderen Wissenschaftsbereichen abgrenzen."

Indem die Historik es sich zur Aufgabe setzt, die Besonderheiten geschichtswissenschaftlicher Rationalität zu ermitteln, muß sie sich an das erkennende Subjekt wenden. Daß dieses erkennende Subjekt nicht erst im ausgebildeten Historiker seinen Anfang hat, macht Rüsen deutlich, indem er die genannten Besonderheiten in dem Vorgang aufspürt, in welchem „vor-und außerwissenschaftliches, alltägliches Denken und Handeln sich in wissenschaftliche Theorien und Vorgehensweisen umsetzt" Demselben Problem wendet sich K. Bergmann zu, wenn er in seinem Aufsatz im ersten Heft (1976) der neuen Zeitschrift „Geschichtsdidaktik" die Frage stellt und zu beantworten sucht: „Warum sollen Schüler Geschichte lernen?"

Nach einer Aufarbeitung des Bedeutungsumfangs des Begriffs Geschichte (Realgeschichte, referierte Geschichte, wissenschaftliche Disziplin Geschichte) stellt Bergmann dar, wie der Mensch Geschichte erfährt: a) als Realgeschichte — zeitgleich zu seiner eigenen Lebensgeschichte —, in die er eingewoben ist und die seine Identifikationen, seine Zeitperspektive, seine Wertvorstellungen und seine Einstellung zu politischer Praxis beeinflußt; b) als referierte Geschichte, einmal in Gestalt der ihn umgebenden, sinnlich wahrnehmbaren Reste vergangener Zeiten, den „Objektivationen vergangenen menschlichen Lebens", zum andern als historische Erarbeitungen, indem er das bis zu ihm hin Durchlebte und Erarbeitete in sich aufnimmt in dem Sinne, daß die Wirklichkeit in ihrer Totalität auch eine historische Erarbeitung darstellt; c) in Gestalt von Elementen der Geschichtswissenschaft insofern, als er Teil jener Öffentlichkeit ist, der Historiker ihre Fragestellungen, Denkformen und Ergebnisse mitteilen

Die Bedeutung des hier Gesagten für die geschichtstheoretische Grundlegung eines problemorientierten Geschichtsunterrichts liegt auf der Hand. Denn in der Begegnung mit der zeitgleich geschehenden Geschichte, den Relikten der Vergangenheit und den historischen Erarbeitungen beginnt das Individuum, wenn auch rudimentär, historisch zu fragen und zu denken. Dieser Denkansatz steht nicht im Gegensatz zu fachwissenschaftlichem historischen Denken; die Differenz liegt allein im methodischen Instrumentarium: „Historisches Fragen und Denken als Ausdrucksformen des Strebens nach lebens-und gattungsgeschichtlicher Erinnerung sind nicht beschränkt auf eine professionell betriebene Fachwissenschaft; sie sind vielmehr gattungsgeschichtlich erarbeitete und lebensgeschichtlich erlernte Frage-und Denkweisen von Individuen gegenüber der Wirklichkeit — ein historisch-anthropologischer Befund. Dem vor-wissenschaftlichen Streben nach Geschichtsverständnis liegt ein lebenspraktisches Erkenntnisinteresse zugrunde. Vorwissenschaftliche Erinnerung geht darauf aus, primäre lebensgeschichtliche und sekundäre vermittelte Erfahrungen für anstehendes Handeln zu aktualisieren." Damit wird Geschichte bereits in vorwissenschaftlicher Gestalt dem entscheidenden Zweck, Weltverstehen und Handeln des Individuums mit zu bestimmen, dienstbar gemacht. Der Deutungs-und Handlungsentwurf, den das Individuum in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt konzipiert, enthält somit, da in dieser Auseinandersetzung immer auch Begegnung mit Geschichte stattfindet, eine historische Dimension, gleich, ob sie ihm bewußt wird oder nicht.

Rüsen sieht vornehmlich die bewußte Einbeziehung der Geschichte in den jeweiligen Entwurf: „Wenn dieser Entwurf sich auf die zeitliche Dimension der gegebenen soziokulturellen Bedingungen und Regelungen von Handeln bezieht, dann konstituiert sich Geschichte: Der Mensch weiß um sich selbst, indem er sich die Veränderung seiner Welt durch Handeln und Leiden klarmacht. In diesem Bewußtsein ist er freigesetzt, die ihm vorgegebenen Bedingungen und Regelungen seines Handelns und Leidens zu relativieren auf eine Einsicht davon, was sein soll. Die Einsicht wiederum, was sein soll, wird nicht unabhängig vom Wissen darüber gewonnen, wie das, was geworden ist. Im Zusammenhang von Wissen darüber, was sein soll, und darüber, was geworden ist, wird Geschichte vor-wissenschaftlich, lebensweltlich gewußt."

Ich meine dagegen, daß aufgrund eben dieser lebensweltlichen Einbindung des Individuums in die Geschichte in jedem Deutungs-und Handlungsentwurf die historische Komponente, wenn auch noch so rudimentär, angelegt ist. Die historische Dimension von Denken und Handeln ist gleichsam jedem einzelnen in die Kinderschuhe gesteckt und bedarf — da nicht jedes Individuum ihrer selbst bewußt wird — nur der Bewußtmachung. Und eben dieses wäre dann die erste Aufgabe des Geschichtsunterrichts, dessen Legitimation damit feststeht.

Für diese Zugehörigkeit der Geschichte zum Leben des Menschen ist im Anschluß an K. Bergmann, der das in den Sozialwissenschaften diskutierte Identitätskonzept geschichtsdidaktisch fruchtbar macht, der Begriff der historischen Identität als Teil der Ich-Identität verwendbar: „Historische Identität meint eine Selbstlokalisierung von sozialen Gruppen und ihren Mitgliedern im historischen Prozeß. Vom Individuum her meint sie eine selbstidentifikatorische Zuordnung zum historischen Selbstverständnis sozialer Bezugsgruppen."

Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist es folglich einmal, dem Schüler die historische Dimension seines Denkens und Handelns überhaupt bewußt zu machen, zum anderen ihn über die Reflexion kognitiver Inhalte zu veranlassen, „seine eigene individuelle Lebensgeschichte und kollektive Sozialgeschichten für sich aufzuarbeiten" und somit historische Identität zu gewinnen.

Damit ist auf hoher Abstraktionsebene eine geschichtstheoretische Begründung des problemorientierten Geschichtsunterrichts gefunden, die erlaubt, als Ergebnis festzuhalten, daß der Mensch von Kindheit an Geschichte täglich erfährt und somit grundsätzlich Zugang zu historischem Fragen hat, wenn dieser Zugang auch durch spezifische Sozialisationsbedingungen verschüttet sein kann und folglich freigelegt werden muß.

Dieses Ergebnis kann mit Hilfe eines anderen Begriffs noch akzentuiert werden: Wenn feststeht, daß das Individuum grundsätzlich Zugang zu historischem Denken hat, ist es wohl nicht abwegig, unter Aufnahme des Interesse-Begriffs von einem grundsätzlichen Interesse des Menschen an Geschichte, das auf Identitätsgewinnung gerichtet ist, zu sprechen. Die lebensweltliche Einbindung des Individuums in die Geschichte ermöglicht diese Definition des Schülerinteresses, so daß dabei auf alle umständlichen, Geschichte nur am Rande berücksichtigenden Theoriekonstrukte verzichtet werden kann. Nicht gemeint, und das sei deutlich gesagt, sind mit dieser Definition die empirisch ermittelbaren jeweiligen Interessen einer Schülergruppe an Geschichte generell bzw. an bestimmten Inhalten.

Die lebensweltliche Einbindung des Individuums in die Geschichte einschließlich der Konsequenzen für dessen eigenen Deutungs-und Handlungsentwurf lassen sich graphisch folgendermaßen darstellen: 3. Zur Zielorientierung des historischen Unterrichts Welche Konsequenzen für die Zielorientierung des Geschichtsunterrichts ergeben sich aus den gewonnenen Einsichten in die Voraussetzungen des Zugangs der Schüler zu historischem Denken? Ist die Ich-Identität u. a. ein Ergebnis der Bildung an und durch Geschichte dann ist die Förderung der historischen Identität als Teil der Ich-Identität zentrales Ziel des Geschichtsunterrichts. Historische Identität ist Voraussetzung für das mit dem problemorientierten Geschichtsunterricht angestrebte weiterführende Ziel, dem Schüler mündige Beteiligung am gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen. Auf eine Formel gebracht: Ohne historische Identität keine mündige Beteiligung!

Die Frage, welche Qualifikationen notwendig erscheinen, um solches, die historische Identität einschließendes Verhalten zu ermöglichen, hat der Verfasser in den „Vorüberlegungen" mit der Darlegung des Richtziels für den historisch-politischen Unterricht und dessen Auffächerung in Gestalt der erwünschten Sozialisationsergebnisse beantwortet. Auf eine Wiederholung kann an dieser Stelle verzichtet werden

III. Das Problem der Auswahl historischer Unterrichtsinhalte

Schaubild III Erste Ebene der Inhaltsauswahl Setzung eines Inhalts unter dem Kriterium der Bedeutsamkeit für die Identitätsgewinnung des Schülers Ursachen gegenwärtiger Probleme Gelebte und gedachte Möglichkeiten menschlich-gesellschaftlicher Existenz:

1. Interesse, Bewußtseinslage und Betroffenheit des Schülers Nachdem die historische Dimension des Deutungs-und Handlungsentwurfs, den das Individuum in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt konzipiert, als zur Ich-Identität gehörig nachgewiesen ist, gilt es nun, die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Auswahl der historischen Unterrichtsinhalte zu ziehen.

Im genannten früheren Beitrag wurde als wichtigstes Mittel zur Erreichung der erwünschten Sozialisationsergebnisse die Analyse gegenwärtiger und vergangener Gesellschaften auf der Basis des strukturgeschichtlichen Ansat-zes erkannt In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, daß die Analyse vergangener Gesellschaften ebenso an Interesse, Bewußtseinslage und Betroffenheit der Schüler anknüpfen müsse wie die gegenwärtiger. Was dies jedoch für die Auswahl der Unterrichts-inhalte bedeutet, ist bisher nicht genügend reflektiert worden.

Wenn man von einer „Anknüpfung" des Unterrichts an Interesse, Bewußtseinslage und Betroffenheit der Schüler spricht, kann man die drei Begriffe gleichgeordnet nebeneinander stehenlassen, nicht aber, wenn man nach Kriterien für die Auswahl der Unterrichtsgegenstände sucht. Während „Interesse" eine fundamentale Größe darstellt, ohne deren Klärung die Inhaltsauswahl gar nicht erst beginnen kann, ist die „Bewußtseinslage''wohl ein wichtiger Faktor, der sich jedoch noch unter das Betroffenheitskriterium subsumieren läßt:

Es bedarf keiner weiteren Diskussion mehr, daß das oben definierte grundsätzliche, auf Identitätsgewinnung ausgerichtete Interesse des Individuums an Geschichte Basis des historischen Unterrichts überhaupt ist und damit auch für die Inhaltsfindung ausschlaggebend sein muß. Dennoch wird man den Interessebegriff für die Inhaltsauswahl nicht direkt verwenden können. Man wird vielmehr einen historischen Sachverhalt daraufhin befragen, ob er im Sinne des auf Identitätsgewinnung gerichteten Interesses des Individuums an Geschichte bedeutsam sein kann. Es empfiehlt sich daher, bei der Benennung des am Interesse orientierten Kriteriums für die Inhaltssuche den Begriff Bedeutsamkeit zu wählen und damit die Basis des Geschichtsunterrichts schlechthin („Interesse") und erstes Auswahl-kriterium („Bedeutsamkeit") begrifflich zu scheiden.

Mit der Feststellung eines durch die lebens-weltliche Einbindung des Individuums in die Geschichte bedingten grundsätzlichen historischen Interesses des Menschen ist noch nichts über den Bewußtheitsgrad bzw. das Vorhandensein eines empirisch meßbaren Interesses beim Schüler ausgesagt. Die empirisch feststellbaren Interessen oder Desinteressen sind Ergebnisse von Sozialiationsprozessen und deshalb für die Inhaltsfindung unter dem am grundsätzlichen Interesse orientierten Kriterium der Bedeutsamkeit ungeeignet. Gleichwohl gewähren sie Einblick in die durch Sozialisation bestimmten Bewußtseinslagen der Schüler. Auf die immer wieder neue Ermittlung der Bewußtseinslagen kann aber nicht verzichtet werden, soll der Zugang des Schülers zu historischem Fragen mit Hilfe eines ausgewählten Inhalts „getroffen“ werden. Den Zugang des Schülers zur Geschichte treffen, heißt, ihn betroffen machen. Das ist mit der Forderung gemeint, der problemorientierte Geschichtsunterricht solle an die Betroffenheit des Schülers anknüpfen.

Erhebt man die Betroffenheit des Schülers zum weiteren Auswahlkriterium, so bedeutet dies, daß ein historischer Sachverhalt, der das grundsätzliche Interesse des Schülers an Geschichte wecken, seinen grundsätzlichen Zugang zu historischem Denken treffen soll, sich ohne Abwägung dessen, ob und wo er den Schüler betroffen machen kann, nicht als Unterrichtsinhalt konstituieren lassen wird. Konkret: Ein historischer Sachverhalt, der den Schüler treffen soll, muß ihn mit Beginn des Prozesses seiner Aneignung subjektiv betroffen machen. Diese Aussage darf nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, das Betroffenmachen des Schülers sei allein eine Frage des Unterrichtsverfahrens. Gewiß kann auch die Art und Weise der Vermittlung eine Betroffenheit veranlassen, aber dieses Verfahren kann nicht losgelöst von dem zu vermittelnden Inhalt erfolgen. Eine sachbezogene (intrinsische) Betroffenheit kann nicht durch einen sachfremden (extrinsischen) „Trick" des Lehrers erreicht werden, sondern nur durch den Inhalt selber, um den es geht, z. B. durch die Aussage eines Quellentextes. Daran ist gedacht, wenn in der Beschreibung des problemorientierten Geschichtsunterrichts davon die Rede ist, daß die Schüler in der Motivationsphase anhand eines historischen Materials, das einen Bezug zu ihrer eigenen individuellen und kollektiven Lage herzustellen geeignet ist, ein Problem finden sollen, das sie zu Hypothesenbildung und Problemlösung anzuregen vermag.

Auf der Basis des Interesses wird nun vorgeschlagen, beim Prozeß der Inhaltsauswahl zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden:

a) Setzung eines Inhalts unter dem Kriterium der Bedeutsamkeit für die Identitätsgewinnung des Schülers;

b) Prüfung des Inhalts unter dem Kriterium der Betroffenheit des Schülers. 2. Die erste Ebene der Inhaltsauswahl: Setzung eines Inhalts unter dem Kriterium der Bedeutsamkeit für die Identitätsgewinnung des Schülers

Die Wahl des Begriffes „Setzung" läßt erkennen, daß der Verfasser eine absolut gültige Aussage darüber, welche Inhalte den Schüler objektiv betreffen und welche nicht, als unmöglich erachtet. Mit den folgenden Überlegungen soll der Anspruch zurückgewiesen werden, der Didaktiker könne allgemeinverbindliche Entscheidungen treffen, d. h. wissen, welche Inhalte mit welcher Zielsetzung für die Gewinnung historischer Identität unerläßlich und welche entbehrlich seien. Die Über-prüfung eines historischen Sachverhalts hinsichtlich seiner Eignung als Unterrichtsinhalt ist nur möglich, wenn man bei der Benennung eines Gegenstandes klarlegt, daß es sich dabei um eine auf bestimmten erkenntnisleitenden Interessen beruhende Setzung handelt, die im einzelnen begründet werden muß. Dabei genügt es nicht allein, Kriterien für die Ermittlung der Bedeutsamkeit eines Sachverhalts für die Identitätsgewinnung zu benennen, vielmehr müssen vorher die Prämissen, unter denen die Bedeutsamkeitskriterien erst wirksam werden können, ausgewiesen werden. Kurz: Der den Inhalt Setzende muß seine fachdidaktische Konzeption darlegen. Welche Komponenten eine fachdidaktische Konzeption bilden und wie der Vorgang der Entnahme eines historischen Sachverhalts aus dem Lernpotential Geschichte zum Zweck seiner Setzung als Lerninhalt aussieht, läßt sich graphisch folgendermaßen darstellen: Mit der Entnahme eines historischen Sachverhalts aus dem Lernpotential Geschichte ist dessen Setzung auf der ersten Ebene der Inhaltsauswahl eingeleitet. Die Setzung erfolgt entsprechend den obigen Überlegungen mit Hilfe des Kriteriums der Bedeutsamkeit des Gegenstandes für die Identitätsgewinnung des Schülers.

In seinem Beitrag „Warum sollen Schüler Geschichte lernen?“ nennt K. Bergmann zwei leitende Ideen für die Auswahl historischer Sachverhalte im Hinblick auf das lernende Subjekt, die als Bedeutsamkeitskriterien im oben genannten Sinn gelten können: „ 1. Die Auswahl richtet sich auf historische Sachverhalte, die als Ursachen gegenwärtig anstehender Probleme gelten können. Die Kenntnis der Genese eines gegenwärtigen Problems stellt ein Informationswissen dar, das die Gefahr irrtümlicher Entscheidungen und Handlungen zwar nicht ausschließt, aber verringert. 2. Die Auswahl richtet sich auf historische Sachverhalte, die durch die in ihnen auffindbaren Werte und Sinnvorstellungen für Schüler bedeutsam sein können. Sie richtet sich auf Probleme und/oder Werte und Sinnvorstellungen, die gegenwärtig existenten Problemen und/oder Werten und Sinnvorstellungen identisch sind, entsprechen oder entgegengesetzt sind. Die Auseinandersetzung mit historischen Sinn-und Wertvorstellungen ist geeignet, den Käfig der Gegenwart zu öffnen, sich selber und die Gegenwart in Frage zu stellen."

Bergmann greift mit diesen Aussagen die Kategorie des Gegenwartsbezuges in der weiteren Definition nicht nur als Wirkungszusammenhang, sondern auch als Bedeutungs-oder Sinnzusammenhang auf, die J. Rohlfes bereits 1971 vorgenommen hat

Unter der Perspektive des Gegenwartsbezuges als Bedeutungs-oder Sinnzusammenhang im Hinblick darauf, daß es im Geschichtsunterricht nach M. Dörr darum gehen müsse, „Grundmuster menschlichen Zusammenlebens, Grundmodelle von Herrschaftsformen und eine räumliche und zeitliche Großgliederung" zu erarbeiten, oder, wie F. Jahr formuliert, „Menschen, Lebensbedingungen, Gesellschaftsordnungen und Werthaltungen der Vergangenheit kennenzulernen, die zum Vergleich mit der Gegenwart herausfordern und zu einem vertieften Verständnis des , Ich', des , Wir‘ und der . Anderen'in den Lebensbedingungen unserer Zeit" verhelfen ist es unschwer einzusehen, daß die Inhalte historischen Lernens ohne Bedenken auch aus weit zurückliegenden Zeiten gewählt werden können, sofern der den Inhalt Setzende den entsprechenden Sinnzusammenhang zu erschließen vermag. Da es verhältnismäßig einfacher ist, einen Wirkungszusammenhang auszumachen und dafür auch breitere Zustimmung zu erhalten, sollte das, was unter Sinn-oder Bedeutungszusammenhang zu verstehen sei, etwas präziser gefaßt werden. Vielleicht ist dazu die Formulierung geeignet, daß ein Inhalt dann für den Schüler bedeutsam sein könne, wenn er Auskunft über „gedachte und gelebte Möglichkeiten menschlich-gesellschaftlicher Existenz und ... ihr Verhältnis zur . objektiv realen Möglichkeit'damals und heute" zu geben in der Lage sei

Zum Zweck ihrer leichteren Instrumentalisierung erscheint es sinnvoll, die beiden Bedeutsamkeitskriterien kurz zusammenzufassen:

Ein historischer Sachverhalt ist auf der ersten Ebene der Inhaltsauswahl als Lerninhalt setzbar, wenn er — unter Ausweisung der für seine Entnahme aus dem Lernpotential Geschichte maßgeblichen didaktischen Prämissen — einer der beiden Dimensionen des Kriteriums der Bedeutsamkeit für die Identitätsgewinnung des Schülers genügt: Er muß in der Lage sein, Auskunft zu erteilen über a) Ursachen gegenwärtiger Probleme und/oder b) gelebte und gedachte Möglichkeiten menschlich-gesellschaftlicher Existenz.

Graphisch läßt sich diese erste Ebene der Inhaltsauswahl folgendermaßen darstellen: In diesem Zusammenhang ist ein wichtiger Hinweis vonnöten: Damit sich eine Inhaltssetzung nicht verabsolutiert, sollte den Schülern im Laufe der unterrichtlichen Realisierung des Gegenstandes auf jeden Fall die Möglichkeit eingeräumt werden, den Setzungscharakter des behandelten Themas zu erkennen und zu überprüfen, ob die Annahmen, die für die Konstituierung des Unterrichtsinhalts maßgeblich waren, zutreffen. Kurz: Die Schüler müssen selber zur Kontrollinstanz für die didaktische Entscheidung werden, indem sie die Frage beantworten, ob der gesetzte Inhalt wirklich für sie bedeutsam ist und ihrer Identitätsgewinnung dient.

Mit der Feststellung, daß das Kriterium der Bedeutsamkeit nicht nur Sachverhalte aus der Vorgeschichte der Gegenwart, sondern auch solche aus weit zurückliegenden Zeiten für den Unterricht zuläßt, ist wohl eine wichtige Aussage gemacht, das Problem der Inhalts-auswahl jedoch keineswegs gelöst. Im Gegenteil: Es wird relativ leichtfallen, eine Fülle von Inhalten zu gewinnen, die die erste Ebene der Auswahl passieren, indem sie dem Bedeutsamkeitskriterium genügen. So weit ist man bisher immer gekommen, und das zur Setzung eines Inhalts Dargelegte stellt im Grunde nichts Neues dar. Würde man hier einhalten, dann bliebe alles beim alten, und der Versuch könnte im Papierkorb verschwinden. Der gesetzte Inhalt kann zum Unterrichtsgegenstand erst dann werden, wenn er auf dem Prüfstand der zweiten Ebene nicht versagt. Immerhin — und dies sollte festgehalten werden — müßte der Inhalt auf der ersten Ebene zu einem durch ein umfassendes Problem konstituierten „Strukturthema" verdichtet werden. Ich habe in anderem Zusammenhang derartige Strukturthemen vorgeschlagen 3. Die zweite Ebene der Inhaltsauswahl: Prüfung des Inhalts unter dem Kriterium der Betroffenheit des Schülers a) Der soziale Ort Die Frage aber, ob und wie ein das Struktur-thema konstituierendes Gesamtproblem zu einem echten Problem für die Schüler zu werden vermag, kann nur mit Hilfe des Betroffenheitskriteriums beantwortet werden. Betroffenheit der Schüler läßt sich ermitteln, wenn man konkret die Sozialisations-und Lernvoraussetzungen der Schüler erkundet und die Möglichkeiten des Zugangs zu dem auf der ersten Ebene erschlossenen Inhalt am Bewußtseinsstand der Schüler ermittelt.

Sozialisations-und Lernvoraussetzungen der Schüler ermitteln heißt, über die Bedingungen einer bestimmten Lerngruppe (Schulklasse) hinaus den „sozialen Ort“ auszumachen, der ihre Bewußtseinslage prägt. Dieser Ort ist das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland, er ist im besonderen die moderne Industriegesellschaft. Die industrielle Arbeitswelt ist zweifellos der Faktor unter den verschiedenen Artikulationen des Gesamtsystems der Bundesrepublik Deutschland, der Bewußtseinslage und Verhaltensweisen der Majorität der Bevölkerung und damit auch der Majorität der Schüler bestimmt. „Indem die moderne industrielle Gesellschaft tagtäglich erfahren wird, und zwar vorwiegend als eine unbegriffene Naturnotwendigkeit mit scheinbar eigener Sachgesetzlichkeit, schlagen sich diese mannigfaltigen Erfahrungen der scheinbaren Unabänderlichkeit einer modernen technisch-industriellen Welt auf die Deutungen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nieder. Das gesamtgesellschaftliche Phänomen der Industriegesellschaft wird meistens nur in seinen parzellierten Fragmenten wahrgenom34 men." Auf dieser Grundlage ist es erforderlich, die in der primären Sozialisation vermittelten Interpretationsmuster für die Deutung der Umwelt des Kindes zu erschließen. Denn nur so lassen sich auch die lebensgeschichtlichen Erfahrungen des Individuums ausmachen, die in diese Deutung eingehen. Die Vermutung liegt hier nahe, daß der Zugang des Schülers zu historischem Fragen über Sachverhalte, die die Unterschichten gegenwärtiger und vergangener Gesellschaften betreffen, eher erreichbar ist als über Themen, die auf den höheren Ebenen der staats-und gesellschaftspolitischen Entscheidungen und Ereignisse angesiedelt sind. Betroffenheit läßt sich an Sachverhalten herstellen, die Identifizierungsmöglichkeiten enthalten, da sie Lebenslagen zeigen, die den Schülern aufgrund ihrer eigenen Situation nicht fremd erscheinen. Viele Versuche, Unterschichtenprobleme vergangener Gesellschaften didaktisch aufzuarbeiten, sind von daher erklärbar. Meistens werden entsprechende Verhältnisse aus der entstehenden Industriegesellschaft thematisiert. Hier ist das Betroffenmachen — z. B.

über Kinderarbeit in England im 19. Jahrhundert — einfacher als bei dem Versuch, den Schülern die Lebens-und Arbeitsbedingungen der Bauern im Mittelalter zu erschließen

Ein historischer Sachverhalt zur Unter-und auch wohl zur Mittelschichtenproblematik, der die erste Ebene der Inhaltsauswahl passiert hat, wird auf der zweiten leichter bestehen können als einer, der z. B. Diplomatiegeschichte betrifft. Das darf aber nicht bedeuten, daß nur Unterschichtenprobleme zu Gegenständen des Unterrichts werden können.

So wichtig diese bisher vernachlässigten The-men auch sind, der Geschichtsunterricht darf nicht dabei stehenbleiben, soll er dem jungen Menschen „gesamtgesellschaftliche" Einsichten, Erkenntnisse über Strukturen und Wandlungsprozesse von Gesellschaften vermitteln, die der Identitätsgewinnung dienen. Alle Artikulationen einer Gesellschaft müssen prinzipiell thematisierbar sein. Nur wird nicht jeder Inhalt den Schüler primär betroffen machen können. Die Betroffenheit aber eröffnet den Zugang. Und über diesen Zugang können auch schwerer faßbare Dimensionen eines Problemkomplexes erschlossen werden. Deshalb ist es wichtig, die Wege zu suchen, die den Zugang des Schülers zu historischem Fragen erleichtern. Sind die Wege bekannt, dann kann ein Sachverhalt leichter danach befragt werden, ob er Dimensionen enthält, die diese Wege zu treffen vermögen. Anders gesagt:

Die Prüfung eines Sachverhalts daraufhin, ob er in der Lage ist, Betroffenheit beim Schüler auszulösen, ist nur möglich, wenn die Wege zumindest annähernd bekannt sind, die das Betroffenwerden überhaupt zulassen. Mit der Nennung des „sozialen Orts" ist ein Weg markiert, auf dem der Schüler angesprochen werden kann.

Dieser Ort ist der Erlebnis-und Erfahrungsraum des Schülers und damit auch der Ort seiner lebensweltlichen Einbindung in die Geschichte. Geschichte wird am sozialen Ort erfahren. Deshalb muß der die historischen Lerninhalte Auswählende die Chance des Zugangs des Schülers zu historischem Fragen nutzen, die der direkte Bezug zur industriellen Arbeitswelt und der in ihr arbeitenden Bevölkerung gewährt. Mit einem Bild ausgedrückt: Man kann sich die zweite Ebene der Inhaltsauswahl als einen Filter vorstellen. Der auf der ersten Ebene als bedeutsam für die Identitätsgewinnung erkannte Sachverhalt wird durch das in das Filtergehäuse „Betroffenheit" eingelegte Filterblatt „sozialer Ort des Schülers" gefiltert.

Der kritische Leser wird einwenden, daß das der Betroffenheit subsumierte Kriterium des sozialen Orts wohl ein partiell brauchbares Instrumentarium sein könne, daß es aber dem Mißbrauch nicht entzogen sei, denn die Analyse des sozialen Orts hänge stark von den Prämissen des Analysierenden ab. Diese Gefahr wird erkannt. In einer freiheitlichen Demokratie hat jedoch der Spielraum für unterschiedliche Ansätze aufgrund des Normensystems der Gesellschaft, das der Verfasser im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland skizziert hat recht groß zu sein, d. h. die Toleranzgrenzen müssen sich also recht weit voneinander entfernt befinden. Dennoch sollte es eine Korrekturinstanz geben, die als weiteres Filterblatt in das Filtergehäuse „Betroffenheit" eingelegt werden kann. Diese Instanz müßte in der Lage sein, das der Betroffenheit subsumierte Kriterium des sozialen Orts so zu differenzieren, daß die Sachverhalte, die über die Basisebenen hinausgehen und die Ebene der „staats-und gesellschaftspolitischen Entscheidungen und Ereignisse" betreffen, nicht einfach im Filter hängenbleiben und sich nicht von vornherein als filtrierungsunfähig erweisen. Eine weitere Instanz in Gestalt eines Auswahlkriteriums als Filterblatt in das Gehäuse einzulegen heißt allerdings, sie nur in Verbindung mit dem sozialen Ort zu instrumentalisieren. Das wiederum setzt voraus, daß eine Beziehung zwischen ihm und dem sozialen Ort besteht und nicht erst gewaltsam hergestellt werden muß. Es wird vorgeschlagen, dieses neue Kriterium aus der Dimensionierung der Kategorie „menschliche Bedürfnisse" zu gewinnen. b) Menschliche Bedürfnisse In einem früheren Beitrag hat der Verfasser unter der Frage nach der Qualität der politischen Bildung, die ein Staat veranlaßt und organisiert, festgestellt, daß eine Antwort nur gefunden werden könne, wenn die Frage nach dem Wert des betreffenden Systems auf den verschiedenen Ebenen seiner Artikulation nicht ausgeklammert werde. Man müsse folglich nach Kriterien suchen, die es ermöglichen, prinzipiell verschiedene Gesellschaften auf ihre Leistungen für den Menschen hin zu überprüfen. Als Kriterien für diese Überprüfung wurde in Anlehnung an Überlegungen R. Engelhardts im Anschluß an A. Rapoport die „Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse" vorgeschlagen. „Die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse könnte insofern als Kriterium in Frage kommen, als man damit die verschiedenen Gesellschaften danach befragen kann, ob und inwieweit sie diese Bedürfnisse befriedigen und aus welchen Gründen nicht."

Die Kategorie „Bedürfnis" könnte somit Kriterien für die Auswahl der Inhalte des historisch-politischen Lernens liefern. Eine didaktische Dimensionierung der menschlichen Bedürfnisse ist nach R. Engelhardts Versuch erst wieder von dem Autorenteam des neuen Lehrbuches für die Sekundarstufe I „Thema Politik" im Jahr 1976 vorgenommen worden Aber weder Engelhardt noch die Schulbuchautoren liefern eine hinlängliche Begründung und Problematisierung der menschlichen Bedürfnisse. Einen profunden Zugriff wagt indes K. O. Hondrich in seiner 1975 erschienenen Einführung in die Sozialwissenschaft mit dem Titel „Menschliche Bedürfnisse und soziale Steuerung"

Was sind Bedürfnisse?

„Nach einer alten Definition aus den Wirtschaftswissenschaften ist ein Bedürfnis das . Gefühl eines Mangels, verbunden mit dem Bestreben, ihn zu beseitigen .. .'Anders ausgedrückt, können wir Bedürfnis als einen Spannungs-oder Konfliktzustand innerhalb des personalen Systems bezeichnen: Eine Person nimmt wahr, daß es ein Mittel der Bedürfnisbefriedigung gibt, über das sie gern verfügen möchte; sie nimmt zugleich wahr, daß sie unter den gegebenen Umständen nicht sofort über dieses Mittel verfügen kann. Spannung besteht also zwischen diesen beiden Wahrnehmungen, man könnte auch sagen, zwischen der Warhnehmung eines Ist-Zustandes (tatsächliche Verfügung über Mittel der Bedürfnisbefriedigung) und eines Soll-Zustandes (angestrebte Verfügung über Mittel der Bedürfnisbefriedigung). Genaugenommen hat ein Bedürfnis also immer zwei Pole. Die auf bestimmte Gegenstände gerichteten Bestrebungen von Menschen sind nicht denkbar ohne die Wahrnehmung von Mitteln der Befriedi-gung. Bedürfnisse sind nicht vorstellbar ohne den Vorgang der Befriedigung. Was aber ist mit Befriedigung gemeint? Von einer Befriedigung soll gesprochen werden, wenn ein Spannungszustand so weit vermindert wird, daß (vorübergehend) ein Zustand der Ruhe eintritt."

Wenn Hondrich vom „personalen System" spricht, versteht er, ausgehend von einem systemtheoretischen Ansatz die Person als einen „Sinnzusammenhang von Bedürfnissen bzw. Bedürfnisorientierungen unterschiedlicher Intensität und/oder Relevanz" Der Person stellt Hondrich die in drei Systeme aufgegliederte Umwelt gegenüber, so daß es möglich wird, die wichtigsten Einwirkungen der Umwelt auf eben diese Person wie deren Reaktionen systematisch zu erfassen: den Körper als biologisches System der Person (Person wird dabei nicht als der ganze Mensch, sondern nur als dessen psychologischer Aspekt verstanden), das System der Natur als Zusammenhang von biologischen, geologischen, metereologischen u. a. Faktoren außerhalb des Körpers und schließlich das soziale System, das durch die Beziehungen zwischen den Personen gebildet wird. Mit Hilfe dieses Instrumentariums der in drei Systeme gegliederten Umwelt der Person kann genau bestimmt werden, wie Probleme in der Wahrnehmung von Personen zustande kommen, nämlich durch Veränderungen des Körper-, des Natur-oder des Sozialsystems. „Jede dieser Umweltveränderungen trifft zunächst auf ein Personensystem, das sein Zusammenspiel von Bedürfnisorientierungen und Bedürfnisbefriedigungen unter früheren Umweltverhältnissen gelernt und an ihnen ausgerichtet hat."

Entstehen also Probleme für ein Personensystem, wenn sich das Verhältnis zwischen der Person und ihrer Umwelt verändert, so bringen Verhältnisänderungen zwischen Person und Körper bzw. Natur natürliche und Verhältnisänderungen zwischen Person und sozialem System soziale Probleme hervor. „Probleme sind demgemäß eine Verhältnisgröße; sie sind nur denkbar, wenn man sich zuvor Person und Umwelt in einer bestimmten Relation gedacht hat."

Für die Überlegungen Hondrichs wie für die didaktische Dimensionierung und Instrumentalisierung der menschlichen Bedürfnisse sind vor allem die Beziehungen zwischen personalem und sozialem System Untersuchungsgegenstand. Nach diesen weit ausholenden Bemerkungen, die aber zum Verständnis des Ansatzes notwendig sind, kann die Definition von Bedürfnis als Spannungs-oder Konfliktzustand innerhalb des personalen Systems erst voll begriffen werden. Der Leser wird zum anderen verstehen, warum der Verfasser einen sozialwissenschaftlichen Ansatz, der von der Person als einem Sinnzusammenhang von Bedürfnissen ausgeht, für die Konzeption eines an lebensgeschichtlich begründeten Interessen orientierten historischen Unterrichts auf seine Brauchbarkeit für die Gewinnung von Kriterien für die Auswahl „schülernaher" Unterrichtsinhalte überprüft: Ist das System der Person als ein Bedürfnissystem definiert, so ist unter dem Ziel der Findung von Auswahl-kriterien zu fragen, welche Bedürfnisse sich „ausmachen" lassen, wie sie entstehen und wie sie vergehen.

Vor einer Aufzählung wichtiger menschlicher Bedürfnisse ist aber nach dem bisher Ausgesagten bereits deutlich, daß das Person-System nicht losgelöst von seiner Umwelt gesehen werden kann, daß es also ebenso wie von dem Körper-und dem Natur-System von dem sozialen System bestimmt wird. Wenn das System der Person sich als ein Sinnzusammenhang von Bedürfnissen definiert, dann sind diese Bedürfnisse Resultate der Auseinandersetzung mit der natürlichen und der sozialen Umwelt.

Unter dem Erkenntnisinteresse-Schwerpunkt „Personales und soziales System" betrachtet, bedeutet dies, die allgemeine Aussage einengend, „daß alle Bedürfnisse sich in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt formen, das Personensystem sich also in der Orientierung am sozialen System ausbildet" Deshalb schlägt Hondrich vor, von Bedürfnisorientierung statt von Bedürfnis zu sprechen: „Es ist schwer vorstellbar, daß Bedürfnisse völlig unabhängig von Sozialsystemen entstehen. Alle Bedürfnisse sind sozial . verformte'Bedürfnisse, die unter anderen so-zialen Bedingungen zwar eine andere Form oder einen anderen Differenzierungsgrad annehmen, sich aber niemals von sozialen Systemen völlig emanzipieren und ihnen als unabhängige Kontrollinstanz gegenübertreten können."

Damit sind die Bedürfnisse, noch bevor sie im einzelnen ausgesondert sind, bereits an dem (der Betroffenheit subsumierten) Kriterium des „sozialen Orts“ festgemacht. Die oben geforderte Beziehung ist somit gegeben und braucht nicht erst „gewaltsam" hergestellt zu werden. Es ist zugleich aber auch festzuhalten, daß die Bedürfnisse weder bloße Konstrukte sind, die sozusagen frei im leeren Raum schweben, noch daß sie im Sinne H. Marcuses dereinst in einer manipulationsfreien Gesellschaft als „wahre" oder „wirkliche" Bedürfnisse sichtbar werden können Auf dieser Basis ist eine Aussonderung von Bedürfnissen wie deren Instrumentalisierung für die Auswahl historischer Unterrichtsinhalte unter dem Kriterium der subjektiven Betroffenheit des Schülers möglich:

Einer der bekanntesten Versuche, menschliche Bedürfnisse zu klassifizieren, ist der A. H. Maslows, dem auch Hondrich in seiner Analyse folgt. Maslow unterscheidet folgende Bedürfnisse: 1. Physiologische Bedürfnisse; 2. Sicherheitsbedürfnisse; 3. Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe; 4. Bedürfnisse nach Achtung; 5. Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung

Entsprechend der Definition, daß Bedürfnisse nicht vorstellbar seien ohne den Vorgang ihrer Befriedigung, nimmt Hondrich folgende Unterteilung der Mittel der Bedürfnisbefriedigung vor: 1. politische Mittel (Androhung und Anwendung physischer Stärke), 2. ökonomische Mittel (materielle Güter und Dienste) und 3. normative oder kulturelle Mittel (Kenntnisse, Denk-und Urteilsfähigkeit sowie Zugehörigkeitsgefühle)

Das heißt im Hinblick auf die eingangs dieses Kapitels gestellte Frage nach möglichen Kriterien für die Überprüfung der Qualitäten von Gesellschaftssystemen, daß der Wert einer Gesellschaftsordnung mit Hilfe dieses Instrumentariums daran gemessen werden könnte, wieweit und mit welchen Mitteln sie Leistungen für den Menschen erbringt, die seinen Bedürfnissen gerecht werden. c) Bedürfnisse und gesellschaftliche Entwicklung Wenn die menschlichen Bedürfnisse aber nicht als allgemein in jeder Gesellschaftsordnung gleichermaßen gültig angesehen werden können, muß bei der Bemühung, den Wert des betreffenden Systems zu ermitteln, die „gesellschaftliche Entwicklung als Konstitutionsprozeß sozialer Probleme" berücksichtigt werden Die in der fachdidaktischen Konzeption des problemorientierten Geschichtsunterrichts vorgeschlagene Analyse der Struktur einer Gesellschaft sowie der Bedingungen, Verlaufsformen und Richtungen ihres Wandels wird, wenn sie unter die Frage nach den Leistungen des Ordnungsgefüges für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse gestellt wird, ermitteln müssen, welche Bedürfnisse aufgrund des Standes der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt vorhanden sind. In anderem Zusammenhang habe ich meine Überlegungen zur didaktischen Strukturierung der Geschichte des Mittelalters an der sehr bedeutenden, aber bisher noch nicht voll ausgeschöpften — obwohl nicht mehr ganz neuen — Zivilisationstheorie von N. Elias orientiert. Ich teile dessen Untersuchungsprämissen, daß nämlich im Hinblick auf heutige wie auf frühere Gesellschaften Ur-Antriebe von Veränderungen weder durch „wirtschaftliche Zwecke und Zwänge für sich allein oder allein politische Motive und Motoren" gebildet werden. „Ungeordnete oder geordnete Monopole der physischen Gewaltausübung und der wirtschaftlichen Konsumtions-und Produktionsmittel sind unaufhebbar miteinander verbunden, ohne daß eines je die eigentliche Basis und das andere lediglich einen . überbau'darstellt. Beide zusammen bilden das Schloß der Ketten, durch die sich die Menschen gegenseitig binden. Und in beiden Verflechtungssphären, in der politischen wie in der wirtschaftlichen, sind, in steter Interdependenz, die gleichen Verflechtungszwänge am Werke." K. O. Hondrich stellt unter Verarbeitung auch der Studien von N. Elias zwei Modelle auf: Erstens ein Modell . primitiver'Gesellschaften und zweitens ein Evolutionsmodell von Bedürfnis-und Sozialsystemen.

Zu 1: Hondrich geht davon aus, daß die Probleme, die den heutigen Menschen so unendlich vielfältig erscheinen, sich im Hinblick auf die früheren Entwicklungsstufen leicht zu einem einzigen Problem, nämlich dem, die biologisch-personale Existenz (ursprünglich noch keine Trennung von biologischem und personalem System) zu erhalten, verdichten. Das Grundproblem ist also das des überlebens. Es wird gelöst in der Auseinandersetzung mit der Natur durch Arbeit und Fortpflanzung zur Reproduktion des Lebens. Beide Lösungen des Grundproblems vollziehen sich in einem sozialen System, das als Verwandtschaftssystem im Sinne verwandtschaftlich definierter Regeln des Sozialverhaltens funktioniert: „Das Grundproblem menschlichen überlebens wird demnach auf früher Entwicklungsstufe durch den Austausch zwischen bio-personalem System und umgebendem Natur-System einerseits, zwischen verschiedenen bio-personalen Systemen andererseits gelöst ... Reproduktion des Lebens auf einer relativ niedrigen Entwicklungsstufe bedeutet aber, daß sich eine Reihe von Problemen, die in der modernen Gesellschaft im Brennpunkt des Interesses stehen, noch gar nicht stellt. Erziehung etwa ist nicht problematisch ..., weil die Jugendlichen in dieselben unveränderten Rollen hineinwachsen, die die Erwachsenen ihnen vormachen. Bestrebungen der Jungen, sich davon , zu emanzipieren'und neues, abweichendes Verhalten auszuprobieren, sind schon deshalb illusorisch, weil primitive Gesellschaften, im Gegensatz zu modernen, gar nicht genug materielle Möglichkeiten für neues Verhalten eröffnen. Sie verfügen nicht über einen Vorrat an technischem und sozialem Wissen, materiellen Produktionsmitteln und Konsumgütern, die zu Experimenten reizen könnten. Entsprechend bleibt neben der sozialen Differenzierung auch die Differenzierung der Bedürfnisorientierungen gering

Zu 2: Die Befreiung einer Gesellschaft aus dem Teufelskreis der Rückständigkeit kann nur durch eine neue Lösung des Grundproblems des überlebens erreicht werden, nämlich durch die Produktionsausweitung, d. h.den Übergang von der reproduktiven zur produktiven Problemlösung in dem Sinne, daß über die Subsistenzmittel hinaus ein Mehrprodukt erzeugt wird. Hondrich unterscheidet zwischen zwei Evolutionsimpulsen, einem externen (Umweltveränderungen) und einem internen (Dynamik des Bedürfnissystems selbst), die zur Produktionsausweitung anregen. Differenzierung sozialer Beziehungen, d. h. Ausweitung der Kontakte auf immer mehr Personen, und eine Spezifizierung dieser Beziehungen sowie Verteiiungsprobleme im Hinblick auf das Mehrprodukt (Konsumgüter und Produktivgüter, d. h. das Einsetzen des Konkurrenz-bzw. Monopolmechanismus [N. Elias]) sind Begleit-und Folgeerscheinungen der durch Produktionsausweitung gekennzeichneten zweiten Lösung des Grundproblems des überlebens.

Bezogen auf das Schicksal der menschlichen Bedürfnisse bedeutet das in den Worten Hondrichs: „Ausgegangen waren wir von einem Bedürfnis bzw. Bedürfnis, klumpen’: zu überleben. Dieses Bedürfnis in seiner einfachsten Ausrichtung auf physisches überleben ist durch die Produktionsausweitung in sozialer Evolution andauernd befriedigt und somit unproblematisch geworden. Zugleich hat sich jedoch die Art des überlebens verändert: überleben heißt unter Bedingungen der Differenzierung, Akkumulation und Zentralisation für die einzelnen Personen jetzt: Anpassung an differenzierte Rollenerwartungen, soziale Ungleichheit und Großkollektive mit zentralisierten Entscheidungen. Dies bedeutet für die einzelnen, daß ihnen Sicherheiten und Regelmäßigkeiten verlorengehen, die auf früheren, eher statischen Stufen der Vergesellschaftung selbstverständlich waren: die Sicherheit des Unveränderten, die klar überschaubaren Zugehörigkeiten in relativ undifferenzierten Sozialbeziehungen, die gegenseitige Achtung, die aus der sozialen Gleichheit erwuchs, und das Gefühl der Selbstbestimmung in Kleinkollektiven, in denen man an allen wesentlichen Entscheidungen teilhaben konnte. Diese Selbstverständlichkeiten der statischen Gesellschaft werden in der dynamischen zu Bedürfnissen. Und so kann man sagen, daß die Bedürfnisklassifikation von Maslow ... nicht . ewige', . wahre'oder . authentische'Bedürfnisse des Menschen widerspiegelt, sondern eine Bedürfniskonstellation, die sich auf einer bestimmten Stufe sozialer Entwicklung im personalen System herausdifferenziert hat und sich im Laufe fortschreitender Entwicklung weiter differenzieren wird."

Mit diesen Konsequenzen für die Bedürfnis-struktur evolutionärer Gesellschaften ist zugleich eine Aussage über die Bedürfnisse in unserer Gesellschaft möglich. Wenn sich unsere Bedürfnisse am „sozialen Ort" unserer Gesellschaft orientieren, so bilden sie sich beim jungen Menschen im Rahmen der primären Sozialisation heraus. Die Instanzen der primären Sozialisation prägen das personale System als ein Bedürfnissystem. Die Ermittlung der Sozialisationsbedingungen der Schüler muß folglich münden in Reflexion des Bedürfnissystems, das Hondrich für den gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung in unserer Gesellschaft in generalisierter, noch nicht auf einzelne Lerngruppen differenzierter Form folgendermaßen beschreibt: „Da unsere Sozialkontakte durch weitere Rollendifferenzierung andauernd gefährdet werden, entwickeln wir ein Bedürfnis nach Sicherheit (Kontinuität, Zugehörigkeit, Liebe) und suchen nach einer weniger hektischen Gesellschaft, die dieses Bedürfnis befriedigen kann; da die Ungleichheit der Belohnungen nicht mehr der zunehmenden Gleichbedeutung von Arbeitsleistungen entspricht, entwickeln wir ein Bedürfnis nach gleichmäßigerer Verteilung von Belohnungen und suchen nach einer gerechteren Gesellschaft; da die zunehmende Zentralisation von Entscheidungen in Großkollektiven nicht mehr unserer Vorstellung vom selbstentscheidenden Individuum entspricht, entwickeln wir ein Bedürfnis nach Durchschaubarkeit von und Beteiligung an Entscheidungen und suchen nach einer mündigen Gesellschaft. Alle diese . Bedürfnisse nach'und die vorgeschlagenen Lösungen einer , guten'oder zumindest . besseren'Gesellschaft zeigen nicht die authentischen oder wahren Bedürfnisse der Menschheit überhaupt an; dahinter stehen vielmehr Diskrepanzen zwischen erlernten und befriedigten Bedürfnisorientierungen bestimmter Gruppen/Klassen auf einer . modernen'Stufe gesellschaftlicher Entwicklung. Auf anderen Entwicklungsstufen mögen die Diskrepanzen und die darauf bezogenen Lösungsvorschläge anders aussehen."

Diese Formulierungen werden den Leser, der die erwähnten „Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich" in dieser Zeitschrift gelesen hat, an die Ausführungen zu den erkenntnisleitenden Interessen als Analyseinstrumentarium und als Motivationsfaktor für die Schüler sowie an die Überlegungen zur negativen und positiven Welterfahrung der Schüler erinnern, in denen es darum ging, Defizite, die der junge Mensch in seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit erfährt, als Ansatzpunkte für den historischen Unterricht zu wählen. Der Erkenntniswert dieser zur Begründung eines an Interesse, Bewußtseinslage und Betroffenheit der Schüler anknüpfenden problemorientierten Geschichtsunterrichts entwickelten Überlegungen gewinnt unter der Bemühung, die Betroffenheit der Schüler an ihrem eigenen sozialen Ort festzumachen, eine neue, die bisherigen Aussagen konkretisierende Bestätigung. Wenn sich die erkenntnisleitenden Interessen an konkreten Bedürfnissen der Schüler gewinnen lassen und wenn die Defizite, die der junge Mensch in seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit erfährt, Bedürfnissen insofern zum Ausdruck verhelfen, als diese die Spannung zwischen der Wahrnehmung eines Ist-Zustandes (tatsächliche Verfügung über Mittel der Bedürfnisbefriedigung) und eines Soll-Zustandes (angestrebte Verfügung über Mittel der Bedürfnisbefriedigung) darstellen, so sind die früheren Überlegungen mit den hier vorgenommenen verschmolzen und für den Unterricht besser, d. h. konkreter instrumentalisiert.

Als Ergebnis der vorstehenden Ausführungen kann gelten, daß das Kriterium „menschliche Bedürfnisse" geeignet erscheint, die entsprechende Funktion als Filterblatt im Filtergehäuse „Betroffenheit" wahrzunehmen: Indem sich die historischen Unterrichtsinhalte an den Bedürfnissen der Schüler dadurch konstituieren, daß sie die Defizite, die die Schüler in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahren, aufnehmen, konstituieren sich auch die erkenntnisleitenden Interessen sowohl als Instrumentarium für die historisch-politische Analyse als auch als Motivationsimpuls für das Wagnis des Zugriffs überhaupt.

Zum Instrumentarium für die historisch-politische Analyse vermögen die Bedürfnisse insofern zu werden, als die Ermittlung der Struktur einer vergangenen — natürlich auch gegenwärtigen — Gesellschaft sowie der Bedingungen, Richtungen und Ver-laufsformen ihres Wandels unter der Fragestellung erfolgen kann, welche Bedürfnisse sich in dieser Gesellschaft entwickelten, ob und wie sie befriedigt bzw. warum sie nicht befriedigt wurden usw. Mit einem derartigen Fragezugriff lassen sich alle Ebenen der Artikulation eines gesellschaftlichen Ordnungsgefüges einschließlich seiner Außenbeziehungen zu anderen Gesellschaften thematisieren. Erst die Einbeziehung der Bedürfnisse in den „Filter" eröffnet die Chance, Betroffenheit über den eigenen sozialen Ort des Schülers hinaus auch für die Erarbeitung einer fremderen Vergangenheit durchzuhalten. d) Didaktische Instrumentalisierung der Bedürfnisse Sind die menschlichen Bedürfnisse grundsätzlich als brauchbare Kriterien für die Auswahl historischer Unterrichtsinhalte erkannt worden, so ist es zum Zweck ihrer relativ leichten Verwendbarkeit durch den Lehrer sinnvoll, die Vielfalt der Bedürfnisorientierungen auf wenige Basisbedürfnisse bzw. Kategorien von Bedürfnissen zu reduzieren.

Die Bedürfnisklassifikation Maslows legt eine derartige Konzentration durchaus nahe. Die physiologischen Bedürfnisse und die Sicherheitsbedürfnisse lassen sich unter die von den Schulbuchautoren des Lehrbuches „Thema Politik" (die sich an H. F. Lorenz orientieren) und auch von R. Engelhardt genannten Über-lebensbedürfnisse subsumieren Den Über-lebensbedürfnissen sollte aber auch das von Engelhardt gesondert aufgeführte „Bedürfnis , gut'/, richtig'zu leben" zugeordnet werden; denn es dürfte unzweifelhaft sein, daß der Mensch in seinen auf das überleben bezogenen Anstrengungen seine Vorstellungen vom guten und richtigen, zumindest vom besseren Leben entwickelt und sie zum Ziel seiner Bemühungen macht.

Die von Maslow genannten Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe wie die nach Achtung könnten der Kategorie der Bedürfnisse nach gesellschaftlichem Kontakt, Austausch und sozialer Anerkennung (Schulbauchautoren) zugeordnet werden. Schließlich verbleibt eine dritte Kategorie, die sowohl bei Engelhardt (Grundbedürfnis nach Wirksamkeit) als auch bei den Verfassern des Schulbuches (Bedürfnisse nach Selbstentfaltung, Kreativität und Individuation) erscheint und mit Maslow als Kategorie der . Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung'bezeichnet werden sollte.

Zusammenfassend ergibt sich folgende Aufstellung: Bedürfniskategorien 1 Erste Kategorie: Überlebensbedürfnisse — Bedürfnisse zu überleben im engeren Sinn;

— Bedürfnisse „gut", „richtig", „besser" zu leben;

— Bedürfnisse nach Sicherheit.

Zweite Kategorie: Bedürfnisse nach gesellschaftlichem Kontakt, Austausch und sozialer Anerkennung — Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe; — Bedürfnisse nach Achtung.

Dritte Kategorie: Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung — • Bedürfnisse nach Wirksamkeit generell; — Bedürfnisse nach Selbstdefinition und Ich-Stärke.

Gewiß läßt sich manches gegen diese Kategorisierung einwenden. Trotz der nicht übersehbaren Unschärfen und fließenden Trennungslinien sollte die Qualität der drei Kategorien aber von ihrem instrumentalen Charakter als Kriterien für die Auswahl historischer Unterrichtsinhalte her bewertet werden.

Eines sollte bei der didaktischen Instrumentalisierung der Bedürfnisse für die Inhaltsfindung zum Zweck der Vermeidung von Mißverständnissen deutlich festgehalten werden: Die Bedürfnisse sind nur ein Auswahlkriterium unter anderen; sie dürfen deshalb nicht verabsolutiert werden. Anders ausgedrückt: Die Auswahl historischer Unterrichtsinhalte erfolgt nicht auf der Basis des Bedürfnis-ansatzes, sondern unter anderem auch im Lichte der Bedürfnisorientierungen der Gegenwart wie vergangener Epochen. Zwei Fragen bleiben zu klären:

1. Müssen die Bedürfnisse der Schüler ständig neu ermittelt werden, damit historische Sachverhalte daraufhin überprüft werden können, ob sie über Bedürfnisdimensionen verfügen, die durch Ähnlichkeit oder Anders-artigkeit ein Betroffenmachen der Schüler ermöglichen können?

2. Ist mit einem im Lichte der Bedürfnisse geprüften historischen Sachverhalt das Betroffenmachen bzw. das Betroffenwerden des Schülers gewährleistet?

Zu 1: Die erste Frage kann — so wichtig die immer neue Ermittlung der Schülerbedürfnisse auch ist — mit . nein'beantwortet werden: Die Inhaltsauswahl müßte sonst sozusagen täglich neu erfolgen, und der Lehrer hätte sie allein zu leisten. Dies zu verlangen, hieße die Schulwirklichkeit zu verkennen, abgesehen davon, daß der Willkür die Tür geöffnet würde. Eine in Grenzen verallgemeinerungsfähige Inhaltsauswahl kann einmal nur von fachdidaktisch und fachwissenschaftlich qualifiziert zusammengesetzten Gremien geleistet werden, zum anderen bedürfen auch derartige Gremien eines Maßstabes zur angemessenen Handhabung des Bedürfnisinstrumentariums. Ohne eine zumindest für einen bestimmten Zeitraum verallgemeinerungsfähige inhaltliche Füllung dessen, wie sich in der gegenwärtigen Gesellschaft die Überlebensbedürfnisse, die Bedürfnisse nach gesellschaftlichem Kontakt und die Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung artikulieren und sich über die primäre Sozialisation auch im Schüler darstellen, kann keine dem Betroffenheitskriterium gerecht werdende Inhaltsentscheidung gefällt werden.

Diese Orientierungshilfe könnte in einer Verbindung von empirisch ermittelten Bedürfnissen und dem Normengefüge der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland bestehen. Das Ergebnis könnte eine mittlere Bedürfnis-orientierung der Majorität der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland sein.

Wenn hier eine derartige mittlere Bedürfnis-orientierung auch nicht sofort konsensfähig formuliert werden kann, sollte doch ein Impuls für eine mögliche Denkrichtung gegeben werden:

Auf der Basis einer Verbindung meiner früher vorgelegten Überlegungen zu den aus dem Grundgesetz ableitbaren Prinzipien für die politische Bildungsarbeit in Gestalt von Aufgaben der Gesellschaft mit dem Ergebnis der Untersuchungen K. O. Hondrichs zum gegenwärtigen Bedürfnissystem könnte eine solche mittlere Bedürfnisorientierung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland skizziert werden. Zu ihr gehören u. a.:

— das der 1. Kategorie subsumierbare Bedürfnis nach gleichmäßigerer Verteilung von Entlohnungen mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschaft;

— das der 2. Kategorie subsumierbare Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe mit dem Ziel einer weniger hektischen Gesellschaft; — das der 3. Kategorie subsumierbare Bedürfnis nach stärkerer Durchschaubarkeit von und größerer Beteiligung an Entscheidungen mit dem Ziel einer mündigen Gesellschaft

Von der Grundlage einer mittleren Bedürfnis-orientierung aus könnte nun ein historischer Sachverhalt daraufhin geprüft werden, ob er Aussagen darüber zuläßt, ob und auf welche Weise sich Überlebensbedürfnisse, Bedürfnisse nach gesellschaftlichem Kontakt, Austausch und sozialer Anerkennung sowie Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung dargestellt haben und welche Identifikationsmöglichkeiten sich daraus für die Schüler ermitteln lassen. A. Borsts drei Fragen an das Mittelalter, die sich in ihrer Reihenfolge den Überlebensbedürfnissen, den Bedürfnissen nach Selbstverwirklichung und den Bedürf-nissen nach gesellschaftlichem Kontakt zuordnen lassen, sollen als Beispiel für einen entsprechenden Zugriff hier angeführt werden:

„Wie geht es den Menschen, also wie verhielten sich mittelalterliche Menschen in ihrem Lebenslauf zwischen Geburt und Tod?

Wo befindet sich der Mensch, also wie richteten sich die Menschen ihre Lebensräume zwischen Landstraße und Gaststube ein?

Mit welchen Gefährten lebt der Mensch, also in welchen Gemeinschaften vollzog sich das Zusammenleben zwischen Knechtschaft und Krieg? Und welche Beziehungen bestanden dabei zwischen Bedürfnissen, Konventionen, Institutionen und Normen?"

Zu 2: Selbst wenn es gelingen sollte, den Gegenstand „Mittelalter" auf dem genannten Wege ins Blickfeld der Schüler zu rücken und Betroffenheit zu ermöglichen, so wäre damit für das Gelingen des Betroffenmachens und des Betroffenwerdens jedoch noch nicht genug getan:

Die Zeugen der mittelalterlichen Gesellschaft vermögen dem Schüler gewiß vielfache Aussagen über menschliche Bedürfnisse zu geben, vorausgesetzt, er ist fähig und bereit, sie überhaupt zu hören und sich von ihnen zum Fragen anregen zu lassen. Ein ausgewähltes historisches Material kann nur dann für den Schüler zur Initialzündung werden wenn er dafür sensibilisiert ist, d. h. konkret, wenn er gelernt hat, seine eigenen Bedürfnisse und die der Gesellschaft, in die er eingefügt ist, zu ergründen; wenn er gelernt hat, überhaupt Fragen an seine Umwelt, seine Gegenwart zu stellen und sie nicht als selbstverständlich und unveränderbar hinzunehmen. Nur so kann echte Betroffenheit, die über naives Erstaunen hinausgeht, möglich werden und zur längerfristigen Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit motivieren.

Das erwähnte Lehrbuch „Thema Politik“ wählt den Weg der Bedürfnisreflexion Wenn auch die Geschichte hier natürlich weitgehend ausgespart bleibt, sollte das Buch jedoch daraufhin geprüft werden, ob es in Ansatz und Verfahren nicht einen geeigneten Ausgangspunkt auch für den historischen Unterricht darstellen könnte. Die lebensweltliche Einbindung des Individuums in die Geschichte müßte dann allerdings stärker ausgewiesen werden, damit der Nährboden für das Betroffenwerden durch historische Probleme zeitig geebnet werden kann.

Uber diesen Weg der das primäre Erfahren von Geschichte einbeziehenden Bedürfnissensibilisierung des Schülers sollte es dem jungen Menschen gelingen können, zu historischen Problemstellungen, die die Bedürfnisdimension aufweisen, selber die Brücke zu schlagen.

Diese Überlegungen zur zweiten Ebene der Inhaltsauswahl lassen sich graphisch folgendermaßen zusammenfassen (siehe obenstehendes Schaubild). Der Prozeß der Inhaltsauswahl endet mit der zielorientierten Strukturierung des Unterrichtsinhalts. Während am Ende der ersten Ebene der Auswahl ein Strukturthema formulierbar sein muß, das aufgrund der didaktischen Prämissen und der Bedeutsamkeitskriterien eine deutliche problemorientierte Zielakzentuierung enthält, hat die Prüfung auf der zweiten Ebene die detaillierte, das Problem auffächernde Gliederung des Unterrichtsinhalts zu bewirken: Der problemorientierte Geschichtsunterricht entsprechend der nebenstehenden graphischen Beschreibung kann beginnen

Fussnoten

Fußnoten

  1. U. Uffelmann, Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33/75, S. 3 ff.

  2. Ebd., S. 4 f.; siehe auch: U. Uffelmann, Internationale Politik und deutsche Frage 1945— 1947. Ein didaktisches Konzept für Schule und Studium, Düsseldorf 1976, S. 12.

  3. A. Kuhn, Neuere Ansätze in der Didaktik der Geschichte, in: Neue Sammlung 1976, Heft 2, S. 134 ff.; dies., Zum Begründungszusammenhang einer Geschichtsdidaktik, in: F. Neumann /K. G. Fischer (Hrsg.), Option für Freiheit und Menschenwürde. Festschrift für Wolfgang Hilligen zum 60. Geburtstag, Frankfurt /Kronberg 1976, S. 83 ff.

  4. A. Kuhn, Zum Begründungszusammenhang ..., a. a. O., S. 85 ff.

  5. J. Rüsen, Zum Verhältnis von Theorie und Didaktik der Geschichte, in: GWU 1975, Heft 7, S. 427 ff., hier S. 435; siehe auch: ders., Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens, Paderborn 1969; ders., Probleme und Funktionen der Historik, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Wozu noch Geschichte?, München 1977, S. 119 ff.; ders., Historik und Didaktik, in: E. Kosthorst (Hrsg.), Geschichtswissenschaft. Didaktik — Forschung — Theorie, Göttingen 1977, S. 48 ff.

  6. J. Rüsen, Zum Verhältnis ..., a. a. O., S. 435.

  7. K. Bergmann, Warum soNen Schüler Geschichte lernen?, in: Geschichtsdidaktik 1976, Heft 1, S. 3 ff.

  8. K. Bergmann, a. a. O., S. 7 f.

  9. K. Bergmann, a. a. O., S. 8.

  10. J. Rüsen, Zum Verhältnis ..., a. a. O., S. 435.

  11. K. Bergmann, Geschichtsunterricht und Identität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 39/75, S. 19 ff., hier S. 23.

  12. K. Bergmann, Geschichtsunterricht ..., a. a. O., S. 24.

  13. K. Bergmann, Warum sollen Schüler Geschichte lernen?, a. a. O., S. 8.

  14. U. Uffelmann, Vorüberlegungen ..., a. a. O., S. 13 f.

  15. U. Uffelmann, Vorüberlegungen ..., a. a. O., S. 14 f.:

  16. K. Bergmann, a. a. O., S. 11.

  17. J. Rohlfes, Kategorien des Geschichtsunterrichts, in: GWU 1971, Heft 8, S. 474 ff.

  18. M. Dörr, Zur Reform des Geschichtsunterrichts, in: GWU 1972, Heft 6, S. 338 ff., hier S. 341 f.

  19. F. Jahr, Didaktische Kategorien für den Geschichtsunterricht an Realschulen, in: GWU 19G 7, Heft 1, S. 16 ff., hier S. 19. S. dazu auch U. Uffelmann, Geschichte in der Orientierungsstufe, in: Die Schulwarte 1974, Heft 1/2, S. 31 ff.

  20. K. Bergmann, Warum sollen Schüler Geschichte lernen, a. a. O., S. 11.

  21. U. Uffelmann, Vorüberlegungen .... a. a. O., S. 23.

  22. A. Kuhn, Wozu Geschichtsunterricht? Oder ist ein Geschichtsunterricht im Interesse des Schülers möglich?, in: Geschichtsdidaktik 1976, Heft 1, S. 39 ff., hier S. 41 f.; zur Sozialisationsforschung s. auch: L. Steinbach, Der Beitrag der Sozialisationsforschung zur Geschichtsdidaktik, in: Geschichtsdidaktik 1976, Heft 1, S. 30 ff.

  23. Siehe dazu u. a.: L. Steinbach, Der Pauperismus in Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine didaktische Fallstudie, in: G. Schneider (Hrsg.), Die Quelle im Geschichtsunterricht, Donauwörth 1975, S. 181 ff.; H. D. Schmid, Der Bauernstand. Kontinuität und lange Dauer in der Geschichte. Planungsbeispiel für den Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe I, in: J. Rohlfes/K. E. Jeismann (Hrsg.), Geschichtsunterricht. Inhalte und Ziele, Beiheft GWU 1974, S. 97 ff.; U. Uffelmann, Die Stedinger Bauern. Ein Unterrichtsbeispiel im Rahmen der Thematik . Bäuerliche Freiheitsbestrebungen im Mittelalter’, in: G. Schneider (Hrsg.), Die Quelle ..., a. a. O., S. 139 ff.

  24. U. Uffelmann, Vorüberlegungen ..., a. a. O., S. 10 ff.

  25. H. Süssmuth, Politische Sozialisation als Determinante der Unterrichtsplanung, in: Anmerkungen und Argumente 7/1, Stuttgart 1973, S. 71 ff., hier S. 88.

  26. U. Uffelmann, Politischer Unterricht in der integrierten Gesamtschule, in: Die Schulwarte 1973,

  27. H. Becker /J. Feick /M. Greiffenhagen /G. Hufnagel /H. Müller /H. Stetzer /H. Uhl, Thema Politik. Lese-und Arbeitsbuch für die Sekundarstufe I, Stuttgart 1976. Das dazugehörige Heft „Informationen für den Lehrer" wurde von H. Becker, J. Feick und H. Uhl verfaßt. Besonders wichtig für die Bedürfnisse: S. 6 f.

  28. K. O. Hondrich, Menschliche Bedürfnisse und soziale Steuerung, Reinbek/Hamburg 1975.

  29. K. O. Hondrich, a. a. O„ S. 27 ff.

  30. „Unter einem System sollen Eigenschaften von Einheiten verstanden werden, die in einem raumzeitlich bestimmbaren Sinnzusammenhang (= einer funktionalen Beziehung) miteinander stehen." K. O. Hondrich, a. a. O., S. 19.

  31. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 20.

  32. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 23.

  33. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 19.

  34. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 31.

  35. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 31 f.

  36. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, S. 26.

  37. A. H. Maslow, Motivation and Personality, New York 1970; vgl. dazu K. O. Hondrich, a. a. O., S. 30 f.

  38. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 32.

  39. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 39 ff.

  40. N. Elias, über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bände, München/Bern 1969 (zuerst 1936), hier Band 2, S. 436 f.

  41. Außerdem wurden Studien verarbeitet von E. Durkheim, A. Hauser, K. Marx, R. König, J. Layard, Ch. Sigrist, A. J. Toynbee, H. P. Dreitzel u. a.

  42. Die längeren Zitate dienen dem leichteren Hineindenken des Lehrers in die Gedankengänge Hondrichs. Aus diesem Grunde sei die Ausführlichkeit des Zitierens freundlicherweise gestattet; K. O. Hondrich, a. a . O., S. 42 f.

  43. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 52.

  44. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 53.

  45. Vgl. Anm. 26 und 27, -außerdem: H. F. Lorenz, Verwaltung in der Demokratie, München 1972, S. 20 ff.

  46. U. Uffelmann, Vorüberlegungen .... a. a. O., S. 5 ff. (s. dort die Gewichtung „bessere Gesellschaft“ und „besseres Leben“).

  47. „ 1. Bewahren der personalen Grundrechte;

  48. K. O. Hondrich, a. a. O., S. 53.

  49. A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt 1973, S. 33 f.

  50. L. Steinbach, Die Verwendung von Quellen im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I. Diskussionsbeitrag, in: W. Fürnrohr (Hrsg.), Geschichtsdidaktik und Curriculumentwicklung, München 1974, S. 135 ff., hier S. 138.

  51. S. Anm. 27.

  52. Eine Anwendung der theoretischen Überlegungen zur Inhaltsauswahl am Beispiel der Geschichte des Mittelalters wird im Herbst 1978 in Düsseldorf erscheinen.

Weitere Inhalte

Uwe Uffelmann, Dr. phil., geb. 1937 in Kassel, Studium der Geschichte und Germanistik in Marburg und Heidelberg; 1966— 1971 Studienrat am Gymnasium in Fritzlar, politikwissenschaftliches Begleitstudium 1967— 1969, seit 1971 Professor für Geschichtswissenschaft und Didaktik der Geschichte an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Vorüberlegungen zu einem problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33/75; Die Stedinger Bauern, in: G. Schneider (Hrsg.), Die Quelle im Geschichtsunterricht, Donauwörth 1975; Internationale Politik und deutsche Frage 1945— 1947. Ein didaktisches Konzept für Schule und Studium, Düsseldorf 1976; Zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Ein Reader für den historisch-politischen Unterricht (zus. mit H. Schneider), Paderborn 1977; Die Befähigung zum sozialen Handeln als Dimension des Verbots der Überwältigung des Schülers. Vorüberlegungen und Unterrichtsbeipiel für die Hauptschule, in: S. Schiele/H. Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977.