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Sowjetische Politik heute Probleme und Alternativen *) | APuZ 40/1978 | bpb.de

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APuZ 40/1978 Artikel 1 Sowjetische Politik heute Probleme und Alternativen *) Das „Dritte China" Die chinesischen Minderheiten in Südostasien

Sowjetische Politik heute Probleme und Alternativen *)

Heinz Brahm, Hans-Hermann Höhmann und Christian Meier Hans-Hermann Höhmann und Christian Heinz Brahm Meier

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Zusammenfassung

Das Verhältnis der UdSSR zum Westen ist bestimmt von ihrem Selbstverständnis als Weltmacht wie auch von ihrem innen-und wirtschaftspolitischen Zustand. Dies wurde deutlich auf dem Belgrader KSZE-Folgetreffen und im Verlauf der Diskussionen um ein neues SALT-Abkommen sowie im Zusammenhang der MBFR-Verhandlungen. Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch einer Bestandsaufnahme sowjetischer Politik, die zugleich Einsichten in ihre Probleme und Alternativen eröffnen soll. Die Autoren fassen damit eine Reihe von Untersuchungen zusammen, die am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien zu diesem Themenbereich erstellt werden. Lage und Entwicklungstendenzen der sowjetischen Wirtschaft sind durch enger werdende Wachstumsgrenzen gekennzeichnet. Das Wachstumstempo der UdSSR hebt sich gegenwärtig nicht sehr von dem der meisten westlichen Industrieländer ab. Für die Zukunft stehen vor allem die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften und die anhaltenden Schwierigkeiten, die Produktivität der Gesamtwirtschaft zu steigern, einer zügigen wirtschaftlichen Expansion im Wege. Eine umfassende Wirtschaftsreform ist nicht in Sicht. Der enge Reformspielraum beeinträchtigt nicht nur Wachstum und Effizienz der Wirtschaft. Er bedeutet auch, daß von der Wirtschaft gegenwärtig keine starken Impulse für eine gesellschaftlich-politische Reform zu erwarten sind. Der Struktur-und system-bedingte Konservatismus der sowjetischen Wirtschaftspolitik wirkt zugleich als konservierendes Element einer autoritären politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Die sowjetische Führung bemüht sich vorrangig, die politische, militärische, wirtschaftliche und ideologische Integration der sozialistischen Staaten Osteuropas zu vertiefen. Dabei sind gleichermaßen integrationsfördernde und integrationshemmende Faktoren zu registrieren. Im Verhältnis zu den USA, dem Hauptkontrahenten in der Weltpolitik, hält die Stagnationsperiode seit 1975 an. Zusätzliche Belastungen erwachsen aus den Kontroversen um die Durchsetzung der Menschenrechte und dem Abschluß eines SALT-II-Abkommens. Trotz intensiver Entspannungsrhetorik lassen die sowjetischen Positionen im biund multilateralen Dialog mit den westlichen Staaten wenig Kompromißbereitschaft erkennen. Die militärische Überlegenheit des Warschauer Paktes in Mitteleuropa erhöht sich weiter. Die Risikobereitschaft ist beträchtlich bei der Einflußnahme auf die nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und bei der politisch-militärischen Einmischung in Konflikte dieser Region. Die sowjetisch-chinesischen Beziehungen bleiben auch in der Nach-Mao-Ära so gespannt wie bisher.

I. Probleme der sowjetischen Innenpolitik

Das Entstehen einer neuen Ideologie 60 Jahre nach der russischen Revolution, 25 Jahre nach dem Tode Stalins und 13 Jahre nach dem Sturz Chruschtschows ist die Sowjetunion weit entfernt von den ursprünglich egalitären Vorstellungen eines Lenin, weit auch entfernt vom Massenterror der dreißiger Jahre und schließlich auch entfernt von der zeitweiligen Aufbruchstimmung unter Chruschtschow. Die UdSSR hat sich von Etappe zu Etappe in eine Richtung entwickelt, die von keinem der Parteiführer vorausgesehen oder gewollt war. Die Geschichte der UdSSR ist ein Schulbeispiel dafür, wie eine Ideologie unter dem Druck gesellschaftlicher Kräfte und äußerer Faktoren aus der vorherbestimmten Bahn herausgetragen wird.

Charakteristisch für die Sowjetunion von heute ist die Ideologiemüdigkeit. Aus vielen Indizien, Berichten und Klagen ergibt sich, daß der Marxismus-Leninismus nicht mehr auf fruchtbaren Boden fällt. Sacharow glaubte, schon von einem Absterben der offiziellen Ideologie sprechen zu können Solschenizyn hat die sowjetische Führung aufgefordert, den Marxismus-Leninismus preiszugeben, da dieser nur noch eine überflüssige Theater-säule sei. Man mag dies für Übertreibungen der Dissidenten halten. Aber auch der ZK-Sekretär Demitschew hat schon vor Jahren eingeräumt, daß sich in der Jugend Nihilismus und Nörgelei ausbreiteten Stand die Jugend in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution in großer Mehrheit hinter den Kommunisten, so ist der Kommunismus heute mehr eine Sache der Älteren geworden. Angesichts des steigenden Informationsbedürf-nisses der sowjetischen Jugend sind die offiziellen Erklärungen zum Phänomen des Stalinismus, zur wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens, zur Entstehung des Maoismus und des Eurokommunismus geradezu simpel, kaum noch akzeptabel.

Die Erosion der sowjetischen Ideologie bedeutet allerdings nicht, daß die Fundamente der UdSSR erschüttert seien. Der Marxismus-Leninismus hat lediglich an Zugkraft verloren, aber er behält natürlich seinen Rechtfertigungscharakter. Am Beispiel der italienischen Kommunisten kann man ablesen, wie lange es dauert, bis sich Bewußtseinsänderungen auch in der Praxis niederschlagen. Für die sowjetische Führung ist der ideologische Glaubensverlust gegenwärtig durchaus nicht bedrohlich, weil in das Vakuum ein kräftiger Sowjetpatriotismus, eine Begeisterungsfähigkeit für die Technik und nicht zuletzt ein starkes Konsumentendenken nachgewachsen sind. Vor allem die Großrussen werden sich, wenn schon nicht mit der KPdSU, so doch mit ihrem Staat identifizieren. Man hat den Eindruck, daß neben dem Mythos der Oktoberrevolution ein neuer Mythos an Bedeutung gewonnen hat, ein Mythos der militärischen Stärke, der auf den Siegen des Zweiten Weltkrieges basiert. Das einst so mächtige und gefürchtete Deutschland konnte geschlagen werden, Frankreich und England büßten ihre alte Weltstellung ein. Während alle Kolonialreiche zerfielen, konnte die Sowjetunion ein Imperium begründen, die sogenannte sozialistische Gemeinschaft. Politisch wie militärisch ist die Sowjetunion eine Supermacht, die nur noch die USA als überlegen oder ebenbürtig anerkennen muß.

Wachsender Lebensstandard und konservative Grundhaltung Auch wirtschaftlich, so suggeriert die sowjetische Propaganda ihrer Bevölkerung, sei die UdSSR in einem unaufhaltsamen Aufstieg be3 griffen. Da man in Moskau in der Regel keine konkreten Vergleichsmöglichkeiten mit westlichen Ländern hat, werden die Erfolgsmeldungen, der Sowjetwirtschaft mehr oder weniger geglaubt. Für den einfachen Sowjetbürger ist es ein Grund zur Zufriedenheit oder sogar zum Stolz, wenn er hört, daß sein Land keine Krisen, keine Inflation und keine Arbeitslosen kennt, und daß die Sowjetunion heute bereits der größte Produzent von Erdöl, Kohle und Stahl ist. Er mißt die Effektivität der Wirtschaft vor allem am eigenen Lebensstandard, der unverkennbar, wenn auch langsam wächst. Die Durchschnittsgröße der Wohnungen war Ende der fünfziger Jahre 42 qm. Sie erhöhte sich 1975 auf 49 qm Fernsehapparate, Waschmaschinen und Kühlschränke sind für den Sowjetbürger schon keine unerreichbaren Ziele mehr. Allerdings sind die Güter des gehobenen Bedarfs erheblich teurer als in den westlichen Staaten. Für einen Anzug muß ein Moskauer Arbeiter 106 Stunden, für eine Waschmaschine 432 Stunden arbeiten Störend werden allerdings die Knappheit an hochwertigen Waren und die Umständlichkeit des Einkaufs empfunden. Die sowjetische Hausfrau muß täglich zwei bis drei Stunden für den Einkauf opfern.

Die breite Masse der Bevölkerung scheint sich mit ihrer gegenwärtigen Lage durchaus abgefunden zu haben. Sie läßt jedenfalls wenig Neigung erkennen, offen gegen die Mißstände im Land zu opponieren. Der Kommunismus in der Sowjetunion ist ein nationales Gewächs, das nicht von außen eingeführt worden ist wie in der DDR, in Polen oder Ungarn. Er hat daher im Land auch tiefere Wurzeln geschlagen als in den genannten sozialistischen Ländern. Das steht nicht im Gegensatz zu der Annahme, daß der Marxismus-Leninismus seine Gewalt über die Bevölkerung zu verlieren beginnt.

Die Bevölkerung ist von Kindesbeinen an zum Stillhalten und zum Konformismus erzogen; sie ist konservativ und nationalbewußt. Wir wissen, welche Überwindung es selbst einen Sacharow oder einen Solschenizyn gekostet hat, bis sie sich mit ihren Problemen an die Weltöffentlichkeit wandten. Zudem aber wirkt auch heute noch die Schreckstarre der Stalinzeit nach. Es ist noch nicht vergessen, wie die Väter und Großväter der heutigen Generation liquidiert worden sind. Das gegenwärtige kommunistische Regime hat subtilere Methoden, um die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Durch Ermahnungen, Drohungen und Entzug von Privilegien können Widerspenstige in der Regel schon diszipliniert werden. Die wenigsten dürften bereit sein, nach Jahren schlimmster Entbehrungen wegen einiger unvorsichtiger Äußerungen den beginnenden Lebensstandard aufs Spiel zu setzen. Die sowjetischen Intellektuellen, die die politische Rückständigkeit des Landes am ehesten kennen dürften, sind vergleichsweise privilegiert und scheinen davon auszugehen, daß die Zeit noch nicht reif ist für offene Kritik.

Die Dissidenten Es bedarf schon eines ungewöhnlichen Mutes, wenn einzelne Sowjetbürger es dennoch wagen, dem kommunistischen Regime entgegenzutreten. Es war daher sensationell, daß sich seit Anfang der sechziger Jahre die bis dahin kahle politische Bühne in der Sowjetunion plötzlich mit unterschiedlichen Gruppen von Nonkonformisten, Regimekritikern und Rebellen belebte. Noch überraschender war, daß viele dieser Dissidenten weder durch Lagerhaft noch durch Einweisungen in psychiatrische Kliniken zum Schweigen gebracht werden konnten. Im engeren Sinne versteht man unter Dissidenten vor allem die Reformkommunisten, die in Roy Medwedjew ihren Sprecher gefunden haben, die Liberalen, als deren bekanntester Repräsentant Andrej Sacharow gelten kann, und schließlich die Christlich-Nationalen mit Solschenizyn als Zentralfigur. Allen diesen oppositionellen Kräften war und ist der Wunsch nach mehr Rechtsstaatlichkeit und nach mehr Demokratisierung gemeinsam. In jüngster Zeit haben sich die Dissidenten vor allem in den sogenannten Helsinki-Komitees zusammengeschlossen, die sich den Schutz der Menschenrechte zum Ziel gesetzt haben.

Sehr groß ist die Zahl derer, die offen und kompromißlos gegen die Mißstände in der Sowjetunion zu Felde gezogen sind, nie gewesen. In den vergangenen Jahren dürften schätzungsweise 1 000— 2 000 aktive Menschenrechtskämpfer in Erscheinung getreten sein. Der Widerstand der Dissidentengruppen ist jedoch in letzter Zeit merklich schwächer geworden. Die sowjetischen Behörden haben viele Dissidenten ausreisen lassen, andere abgeschoben oder inhaftiert. Nur noch wenige Regimekritiker befinden sich heute auf freiem Fuß. Wie weit man aber auch den Spielraum für oppositionelles Denken wieder einengen wird, es darf als sicher gelten, daß über kurz oder lang eine neue Generation von Dissidenten heranwachsen wird.

Das Potential nonkonformen Verhaltens Sieht man von den Dissidenten ab, so ist das Potential nonkonformen Verhaltens und kritischen Denkens in der Sowjetunion allerdings noch immer groß, in Zukunft vielleicht sogar brisant. Den gefährlichsten Nährboden für oppositionelle Strömungen bildet ohne Frage das Nationalitätenproblem. Die Großrussen dürften heute nur noch die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung ausmachen, halten allerdings die politischen Schlüsselstellungen in Moskau. Auf das politische und kulturelle Übergewicht der Russen reagieren die größeren und traditionsreichen Nationalitäten mit einem pronon-cierten Nationalgefühl. Die Ukrainer kämpfen schon seit Jahrzehnten um ihre nationale Identität. Tausende von Krimtataren haben in Petitionen die Rückkehr in ihre angestammte Heimat verlangt. Viele Sowjetjuden fühlen sich diskriminiert. Die baltischen und kaukasischen Völker betonen, sofern sich nur die Gelegenheit bietet, ihre Eigenständigkeit. Die Sowjetunion ist noch weniger als die USA ein Schmelztiegel der Völker. Es gibt westliche Beobachter, die die Spannungen unter den Nationalitäten für das größte Problem Moskaus in den kommenden Jahren halten.

Ungeachtet der massiven atheistischen Propaganda hat sich die Religion in der Sowjetunion behaupten können. Unter Intellektuellen ist die Hinwendung zur Religion keine Seltenheit mehr. Man denke etwa an Swetlana Allilujewa, die Tochter Stalins, an Solschenizyn, Maximow oder Sinjawski. Auch in der Jugend wächst das Interesse an Religion, allerdings auch an Spiritismus und Mystizismus. Die orthodoxe Kirche hat zwar den Ausgleich mit der Staatsmacht vollzogen, aber nicht alle Gläubigen billigen diesen Schritt. Verfolgt werden auch heute noch jene religiösen Gemeinschaften, die sich nicht anpassen wollen: die Baptisten, Katholiken, Pfingstler, Buddhisten.

Neben den Nationalitäten und den Religionsgemeinschaften ist die Intelligenz die dritte kritische Gruppe. Zugleich bietet sie auf lange Sicht auch die Hoffnung auf eine langsame Reform in der Sowjetunion. Für die breite Masse der sowjetischen Bevölkerung mag die geistige Freiheit noch nicht so ausschlaggebend sein, für die Intellektuellen ist sie unabdingbar. Viele Sowjetwissenschaftler sind schon längst aus dem engen Dogmatismus her-ausgewachsen. Sie haben mehr Daten und Fakten zur Verfügung als der Prawda-Leser, sie sind sich daher auch am ehesten bewußt, in welcher Unwissenheit die breite Bevölkerung lebt. Gegenwärtig hat man in Moskau allerdings das Heft noch fest in der Hand. Die KPdSU mit ihren 16 Millionen Mitgliedern hat ein dichtes Netz der Kontrolle über das ganze Land gebreitet und ist mit dem KGB und den Streitkräften nach wie vor eine einschüchternde Macht. Der KGB, dem die heimlichen Verschiebungen im Lande, in den Nationalitäten, in der Intelligenz und in der Jugend kaum entgangen sein dürften, greift nur in solchen Fällen ein, wo eine bestimmte Grenze der Unbotmäßigkeit überschritten wird. Die Streitkräfte sind genauso wie der KGB der politischen Führung untergeordnet. Sie können keine eigenständige Politik betreiben. Wohl können sie als Interessengruppe bestimmte Ziele verfolgen und sich die Zustimmung zum politischen Kurs der Partei durch finanzielle Zuwendungen an den Rüstungs-und Militärsektor honorieren lassen.

Der engste Kreis der Macht Die eigentlichen Grundsatzentscheidungen sind den Politikern Vorbehalten, einem kleinen Kreis von etwa drei Dutzend Männern. Diese kleine Führungsmannschaft hat in der Ägide Breshnews größten Wert auf Geschlossenheit und Stabilität gelegt. Seit 1964 befinden sich Breshnew als Parteiführer und Kossygin als Ministerpräsident in ihren Ämtern. Erst in den letzten Jahren hat es in der Parteispitze größere Verschiebungen gegeben, als deren letzte der Abgang Podgornys als Staatsoberhaupt gelten muß. Generalsekretär L. Breshnew besaß und besitzt eine solche Autorität, daß seine Position offensichtlich nie ernsthaft in Gefahr war. Er ist eine Integrationsfigur für die verschiedensten Gruppen in der Partei.

Obwohl der jetzt 71jährige Breshnew offensichtlich nicht in bester gesundheitlicher Verfassung ist, scheint man bislang jedenfalls ein großes Interesse daran zu haben, ihn so lange wie nur möglich in seinen Ämtern zu halten, ja man traute ihm im letzten Jahr sogar noch die Übernahme des höchsten Staatsamtes zu. Es drängt sich geradezu der Eindruck auf, daß es der KPdSU schwerfällt, einen vollwertigen Ersatz für den alternden Generalsekretär zu finden.

Unabhängig davon, ob und wie ernst Breshnew erkrankt ist, muß man damit rechnen, daß die Ära Breshnew zu Ende geht. Breshnew wird in diesem Jahr 72 Jahre, A. Kossygin ist 74, M. Suslow 75 und A. Pelsche sogar 79 Jahre. Noch nie in der Geschichte der KPdSU hat es eine solche Überalterung in der Parteiführung gegeben. Das Durchschnittsalter im 13köpfigen Politbüro beläuft sich auf 68 Jahre. Es hat sogar den Anschein, daß man jüngere Politbüro-mitglieder bewußt aus dem engsten Kreis der Macht verdrängt hat. So kann verhältnismäßig bald der Fall eintreten, daß infolge von Tod und Krankheit die politische Führung der Sowjetunion zu großen Teilen ausgewechselt werden muß.

Alternativen zum gegenwärtigen Kurs Da die gegenwärtige Parteiführung sich in den letzten Jahren nicht durch eine große Innovationsbereitschaft ausgezeichnet hat, könnten die künftigen Politiker versuchen, einige Probleme, die man jetzt auf die lange Bank geschoben hat, neu anzupacken. Vor allem in der Innenpolitik könnten neue Wege gesucht werden. In der Außenpolitik wäre ein Kurs-wechsel wahrscheinlich riskanter. Man kann sich angesichts der angestrengten Wirtschaftslage nicht auf ein endloses Wettrüsten mit den USA einlassen. Drei Problemkreise dürften den sowjetischen Politikern großes Kopfzerbrechen bereiten: 1. Die Wirtschaft. Von der sowjetischen Bevölkerung kaum erkannt, von der Führung aber immer deutlicher gesehen, ist die Sowjetunion an die Grenzen ihres extensiven wirtschaftlichen Wachstums gestoßen.

2. Die Außenpolitik. Die Ergebnisse der Detente werden in bestimmten Kreisen der Sowjetunion heute wohl mit einiger Sorge beobachtet. 3. Der internationale Kommunismus. Moskau weiß nur noch wenige kommunistische Parteien hinter sich. Die zentrifugalen Kräfte im Weltkommunismus konnten nicht gebremst werden. Der Eurokommunismus erwies sich als die größte Herausforderung der KPdSU in den jüngsten Jahren.

Die Nachfolge Breshnews Es läßt sich kaum voraussagen, wer der Nachfolger oder — falls es zu einer kollektiven Führung kommen sollte — die Nachfolger Breshnews sein wird bzw.sein werden. Theoretisch wären vier Linien denkbar, die nach dem Abgang Breshnews verfolgt würden: 1. Der Kurs der Verhärtung. Angesichts der schleichenden Aufweichungserscheinungen in der Sowjetunion und in den vorgelagerten osteuropäischen Staaten könnten bestimmte Kreise daran interessiert sein, den von Moskau kontrollierten Machtbereich zu redisziplinie-ren und stärker gegen alle westlichen Einflüsse zu sichern. Eine solche Politik würde wahrscheinlich die Kooperation mit dem Westen beeinträchtigen, zu einem verstärkten Wettrüsten führen, für die sowjetische Wirtschaft nur nachteilig sein.

2. Die zweite Variante bestünde in einer Verhärtung der sowjetischen Innenpolitik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Außenpolitik.

3. Die dritte Alternative zum Breshnew-Kurs wäre ein kühner Sprung vorwärts. Sie würde eine wachsende Auflockerung in der Innenpolitik bedeuten, den Ausgleich mit dem Euro-kommunismus, Duldung eines nationalen Wegs in Osteuropa. Mit einer solchen Politik würde die Sowjetunion international an Ansehen gewinnen. Diese Alternative hat allerdings keine große Wahrscheinlichkeit. 4. Die vierte Linie, die die Erben Breshnews einnehmen könnten, läge im Status quo, der allerdings einige Kurskorrekturen nicht auszuschließen braucht. Aus wirtschaftlichen Gründen wäre ein Festhalten an der Detente für die Sowjetunion am vorteilhaftesten. Das gegenwärtige ZK und auch das Politbüro wird von Anhängern Breshnews bzw. A. Kirilenkos dominiert. Daran wird sich ganz sicher im ZK nach dem Ausscheiden Breshnews nichts ändern, am ehesten könnte es zu einer langsamen Gewichtsverlagerung im Politbüro kommen. Angesichts der augenblicklichen Stärke von Breshnews Anhang scheint vieles für die Kontinuität der Außenpolitik zu sprechen.

Nach einer ungeschriebenen Regel hatte in der Sowjetunion immer der ranghöchste Sekretär des ZK die besten Aussichten, Parteichef der KPdSU zu werden. Der ranghöchste Partei-B sekretär (nach Generalsekretär Breshnew) ist allerdings noch älter als Breshnew selbst: Suslow, der bald 76 Jahre wird. Er kommt also kaum ernsthaft für die Nachfolge in Frage. Kirilenko, der 3. ZK-Sekretär, ist 72 Jahre, hätte aber vielleicht noch Chancen, wenn Breshnew in Kürze die Zügel aus der Hand legte. An vierter Stelle in der Hierarchie der ZK-Sekretäre steht nach dem plötzlichen Tod des 60jährigen F. Kulakow im Juli 1978 Ponomarjow, der im Januar nächsten Jahres 74 Jahre wird. Angesichts der Überalterung dieser Führungsmannschaft ist nicht auszuschließen, daß sich der Übergang zum neuen Parteichef nicht so geordnet vollzieht, wie es die KPdSU wünschen dürfte. Die Nachfolge Breshnews stellt somit die Führung der KPdSU vor eine Reihe von Problemen. Niemand dürfte imstande sein, Breshnew voll und ganz zu ersetzen. So scheint eine kollektive Führung die wahrscheinlichste Lösung zu sein. Nur eine starke Persönlichkeit an der Spitze der Partei würde jedoch maßgebende Einflüsse auf das Schicksal des Landes nehmen können. Die dringenden Probleme werden sicher nicht unmittelbar nach dem Ausscheiden Breshnews angepackt werden, sondern wahrscheinlich erst nach zehn oder zwanzig Jahren.

II. Lage und Entwicklungsperspektiven der sowjetischen Wirtschaft

Die sowjetische Wirtschaft im 10. Planjahrfünft (1976— 1980)

Die wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR in den Jahren 1976— 1978 signalisiert ernsthafte Wachstumsstörungen. Die gegenüber der Vergangenheit bereits reduzierten Wachstumsziele des 10. Fünfjahresplans konnten in vielen Wirtschaftsbereichen nicht erfüllt werden Dies gilt für das Nationaleinkommen insgesamt ebenso wie für die wichtigsten Positionen auf der Entstehungsseite (Industrieproduktion, Agrarproduktion, Bau-und Verkehrsleistungen), der Verwendungsseite (persönlicher Verbrauch) und der Verteilungsseite (Löhne im staatlichen Sektor). Nimmt man den Jahresplan 1978 hinzu, so schwanken die Wachstumsraten des sowjetischen National-einkommens in den fünf Jahren zwischen 1974 und 1978 von 3, 50/0 bis 5 ’/o. Ein so langsames Entwicklungstempo über eine mittelfristige Periode hinweg hatte die sowjetische Wirtschaft noch nicht zu verzeichnen.

Schwerwiegender als das Verfehlen einzelner Planziele ist, daß die Grundkonzeption des 10. Fünfjahresplans aller Voraussicht nach nicht verwirklicht werden kann. Diese Konzeption bestand darin, bei starker Drosselung des Investitionswachstums rasche Produktivitätssteigerungen zu erreichen und unter der Devise „Fünfjahresplan der Qualität und Effizienz“ (Breshnew) den lange schon fälligen Übergang zu einem überwiegend intensiven Wachstumsprozeß zu vollziehen Tatsächlich blieb der extensive Charakter der wirtschaftlichen Entwicklung in stärkerem Ausmaß als geplant erhalten. Dies bedeutet, daß mehr Kapital und Arbeit eingesetzt werden mußten als ursprünglich vorgesehen, um die entstandene Produktivitätslücke zu schließen. Dies gelang allerdings nur zum Teil.

Wachstumsgrenzen werden enger Auf längere Sicht ist eine solche Politik nicht durchzuhalten, denn die traditionellen Wachstumsfaktoren der extensiven Phase: Arbeit, Kapital und Natur werden zunehmend knapper. Die Knappheit der Arbeitskräfte vergrößert sich infolge einer Scherenentwicklung zwischen anhaltend hoher Nachfrage und dem im Wachstumstempo stark abgebremsten Arbeitsangebot (Rückgang der „klassischen“ Re-serven ländlicher und in der Hauswirtschaft tätiger Bevölkerung, Verlängerung der Ausbildungszeit, Rückgang des Bevölkerungswachstums und Verlagerung nach Sowjetmittelasien und in den Transkaukasus). Die Knappheit des Kapitals vergrößert sich aufgrund der abnehmenden Wachstumsdynamik der Gesamtwirtschaft. So sah der 10. Fünfjahresplan eine Halbierung des Investitionswachstums vor. Andererseits bleibt der Kapitalbedarf außerordentlich hoch (Ostverlagerung der Wirtschaft, Überalterung der betrieblichen Ausrüstungen, aufwendige wirtschaftliche und soziale Infrastruktur, wachsende Ansprüche des tertiären Sektors). Was schließlich den Faktor Natur betrifft, so sind ungenutzte Böden kaum noch vorhanden, Rohstoffe und Energieträger werden knapper und teurer, Umwelt muß bewirtschaftet werden. Auch in der UdSSR ist ein Stand der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht, der Umweltschutz (abgesehen von seiner Bedeutung für die Bevölkerung) mehr und mehr zur Voraussetzung von Produktionssteigerungen macht.

Im Zusammenhang mit dem Produktionsfaktor Natur müssen Ertragsschwäche und Ertragslabilität der sowjetischen Landwirtschaft erörtert werden Diese sind auf eine Reihe von Ursachen zurückzuführen: Klimabedingungen, Bodenqualität, unzureichende Kapitalausstattung, schwache Infrastruktur, begrenzte Verarbeitungskapazitäten, starres Planungssystem, nicht optimale Betriebsgrößen, Arbeitskräfteprobleme. Aus der Landwirtschaft kommen immer noch ca. 20 °/o des Nationaleinkommens. Das macht diesen Wirtschaftszweig zur chronischen Wachstumsbremse für die Gesamtwirtschaft. Nur eine umfassende Förderung der Landwirtschaft (Kapitalbildung, materielle Anreize, Qualifizierung der Arbeitskräfte, Elastizität der Planung und dgl.) könnte sie zum Wachstumsreservoir machen. Für eine solche Politik gibt es gegenwärtig keine Anzeichen. Im Gegenteil: der Anteil der Landwirtschaft an den Investitionen geht wieder zurück. Vertrauen auf den Wettergott ist aber allenfalls vorübergehend Ausdruck einer rationalen Agrarpolitik.

Der Rückgang der Wachstumsrate wirft die Frage auf, ob dem Konsum-und Rüstungssektor Mittel entzogen werden können, um das Wachstumstempo der Wirtschaft wieder zu beschleunigen. Dies ist nur sehr begrenzt möglich. Die Hoffnungen, die die sowjetische Führung mit dem Konsumprogramm des 9. Fünfjahresplans geweckt hatte, der immer noch niedrige Lebensstandard, die Bedeutung des Konsums für die Verbesserung der Arbeitsmotivation, das Einwirken von internationalen Demonstrationseffekten, die Lehren, die in Polen aus der Unzufriedenheit der Konsumenten gezogen werden mußten, all das läßt den Schluß zu: Wachstum des Konsums ist zunehmend Bedingung für wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität. Eine Vernachlässigung des Verbrauchs zugunsten der Kapitalbildung läßt sich heute kaum noch durchsetzen. Eine nachhaltige Reduzierung der Rüstungsbelastung aus vorwiegend ökonomischen Gründen ist auch im Falle ernsthafter Wachstumsschwierigkeiten nicht zu erwarten Dazu ist der Wachstumseffekt einer Umleitung von Mitteln aus dem militärischen in den zivilen Sektor der Wirtschaft zu gering, sofern man nicht im Zuge einer umfassenden Abrüstung bereit wäre, die Verteidigungsfähigkeit der UdSSR ernsthaft in Frage zu stellen. Im Hinblick auf die Stellung der Sowjetunion in der Weltpolitik ist es auch bei wirtschaftlichen Wachstumsschwierigkeiten sinnvoller, durch eine starke Rüstung die Rolle der militärischen Großmacht zu sichern, als auf die begrenzten und ungewissen wirtschaftlichen Gewinne einer Abrüstung zu setzen.

Engpaß Produktivitätssteigerung Angesichts der Engpässe bei den Faktoren Arbeit, Kapital und Natur hängt die Zukunft der sowjetischen Wirtschaft in der Tat von „Qualität und Effizienz", d. h. von Produktivitätssteigerungen ab. Heute ist der Beitrag des Faktors Produktivität zum wirtschaftlichen Wachstum in der UdSSR verglichen mit westlichen Industrieländern gering. Aufgrund der derzeitigen. Wachstumsschwäche steht die sowjetische Führung vor der dringenden Aufgabe, die Bedeutung der Produktivität als Wachstumsfaktor nachhaltig zu verstärken. Vier Ansätze hierfür stehen zur Verfügung: Motivationsverbesserungen bei der Bevölkerung, technischer Fortschritt im Innern, Zusammenarbeit mit westlichen Industrieländern, umfassende Reformen des Planungssystems. Keiner dieser Ansätze verspricht in absehbarer Zeit wirkliche Erfolge.

Die Motivation der Bevölkerung leidet unter der chronischen Frustration durch unbefriedigende Versorgung Dieser beeinträchtigt die stimulierende Wirkung des „Prinzips der materiellen Interessiertheit". Der Rückgriff auf „moralische Stimuli" (Propagierung ideologischer Leitbilder, z. B. einer „sozialistischen Lebensweise“, Kampagnen der Partei und der Gewerkschaften und dgl.), wie er für die Gegenwart kennzeichnend ist, trifft auf ein unverkennbares Desinteresse der Bevölkerung, auf eine wachsende „Entideologisierung von unten". Ein Wandel in der Arbeitsmotivation ist nicht zu erwarten.

Im Bereich des technischen Fortschritts sind begrenzte Verbesserungen möglich. Doch stehen raschen, strukturverändernden Wandlungen immer noch Aufbau und Arbeitsweise des sowjetischen Planungssystems im Wege. Immer noch gibt es organisatorische Barrieren zwischen Forschung, Entwicklung und Produktion. Immer noch ist der Anreiz für die Betriebe, Produkt-und Prozeßinnovationen vorzunehmen, zu gering. Technische Neuerungen sind mit Risiken verbunden und können die Planerfüllung gefährden. Insgesamt dürfte die traditionelle Innovationsschwäche des sowjetischen Wirtschaftssystems im Prinzip bestehen bleiben. Beziehungen zu westlichen Industrieländern bieten auch in Zukunft Möglichkeiten, Angebotslücken zu schließen und der sowjetischen Wirtschaft moderne Technologie zuzuführen. Das Wachstum der wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen hat sich allerdings gegenüber der boomhaften Entwicklung in den frühen siebziger Jahren wieder verlangsamt, wenn sich auch im ersten Halbjahr 1978 die Importe aus westlichen Ländern wieder belebt haben. Gleichzeitig hat der Ausbau der Zusammenarbeit mit den RGW-Ländern Vorrang erhalten. Ursächlich für das insgesamt immer noch gebremste Wachstum des West-Handels sind das sowjetische Bestreben, bestehende Ungleichgewichte angesichts wachsender Verschuldung und anhaltender Exportschwäche abzubauen — und möglicherweise auch die Einsicht in den zwar vorhandenen aber doch begrenzten Wert westlicher Technologie-und Ausrüstungsimporte. Fallende Wachstumsraten bei zunehmender westwirtschaftlicher Verflechtung zeigen, daß das Produktivitätsproblem nur binnen-

wirtschaftlich lösbar ist, mag auch der Außenhandel einen begrenzten Beitrag dazu leisten.

Tendenzen der Reformpolitik Mit dem Stichwort „binnenwirtschaftlich lösbar" ist das Reformproblem in der sowjetischen Wirtschaft angesprochen. Welcher Kurs der Reform ist gegenwärtig erkennbar? Es zeigt sich, daß die Maßnahmen der sowjetischen Wirtschaftspolitik nach wie vor am Leitbild einer aufgelockerten, rationalisierten behördlichen Planwirtschaft orientiert sind, wie es seit Mitte der sechziger Jahre bestimmend ist. Das bedeutet, daß begrenzte Reformen innerhalb der Verwaltungsstruktur (Bildung von Industrie-und Produktionsvereinigungen), der Planungsmethodik (mathematische Modelle, EDV) und der Betriebsplanung (Änderungen im Kennziffernsystem) vorgenommen werden. Eine tiefgreifende Reform — etwa im Sinne einer „sozialistischen Marktwirtschaft" — ist dagegen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Damit bleiben aber auch die Erfolge der Reformpolitik begrenzt.

Die Ursachen für die Begrenzung der Reform-politik liegen im wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Bereich Wirtschaftlich ist das Risiko einer umfassenden Reform in einem so unausgeglichenen Land wie der UdSSR sehr groß (Wachstums-und Stabilitätskrisen). In politischer Hinsicht ist das traditionelle System der Planwirtschaft zunächst auch ein wirksames Sy-stem der Machtausübung, auf das die Partei nur ungern verzichten dürfte. Es erlaubt zugleich ein Gegensteuern gegen Autonomiebe-strebungen der sowjetischen Nationalitäten und ist schließlich auch ein bewährtes Instrument zur Sicherung sowjetischer Hegemonie im RGW-Bereich. Gesellschaftlich wirken sich die „vested interests" der Partei-und Staats-bürokratie gegen eine umfassende Reform aus. Ideologisch begrenzen vor allem das Planbar-keits-und das Harmoniepostulat die Möglichkeiten, einen marktwirtschaftlichen Mechanismus einzuführen. Denn Marktwirtschaft würde ja ein hohes Maß an Nicht-Planbarkeit mit sich bringen und zugleich Interessendivergenzen in der sozialistischen Gesellschaft der UdSSR deutlich machen.

Der enge Reformspielraum und auch die eingeschränkten Möglichkeiten, die Produktivität der sowjetischen Wirtschaft auf andere Art zu erhöhen, legen den Schluß nahe, daß es zu dem reduzierten Wachstumstempo der sowjetischen Wirtschaft auf absehbare Zeit keine Alternative gibt. Nach dem westlichen Sozialproduktskonzept dürfte das durchschnittliche Wirtschaftswachstum der UdSSR im kommenden Jahrzehnt zwischen 3 und 4 °/o liegen. Der enge Reformspielraum bedeutet aber auch, daß von der Wirtschaft keine starken Impulse für eine gesellschaftlich-politische Reform zu erwarten sind, wie sie etwa im „Prager Frühling" sichtbar wurden oder — auf eine weniger spektakuläre aber deutlich vernehmbare Weise — in Ungarn wirken. Die Struktur-und systembedingte Immobilität der sowjetischen Wirtschaftspolitik wirkt zugleich als konservierendes Element einer autoritären politischen und gesellschaftlichen Ordnung.

III. Tendenzen sowjetischer Außenpolitik 1976— 1978

Moskau und die sozialistischen Staaten Osteuropas Seit Ende der 60er Jahre bemüht sich die Sowjetunion, die umfassende Integration der sozialistischen Staaten Osteuropas zu vertiefen und Destabilisierungserscheinungen in diesem Raum einzudämmen.

Osteuropa ist und bleibt wichtigster Regional-bereich der sowjetischen Außenpolitik, und zwar nicht nur aus geographisch-strategischen Erwägungen, sondern auch wegen der angestrebten ökonomischen Integration dieser Staaten auf der Grundlage des Bukarester Komplexprogramms von 1971. Ferner ist die Kontrolle dieses Raumes notwendig im Hinblick auf den sowjetischen Führungsanspruch im gesamten kommunistischen Staatensystem. Die Kreml-Führung konzentrierte sich 1976/78 auf den institutioneilen Ausbau der politischen Organe für die koordinierte Außen-und Sicherheitspolitik der WPO-Staaten. Gemäß den Beschlüssen der Bukarester PBA-Tagung (PBA = Politisch-Beratender Ausschuß, das höchste politische Gremium des Warschauer Paktes) vom 26. November 1976 wurden ein Komitee der Außenminister und ein Vereinigtes Sekretariat beim PBA geschaffen. Auf der Belgrader KSZE-Folgekonferenz blieb Rumänien außerhalb kollektiver Absprachen. Mit dem jüngsten Besuch des chinesischen Regierungschefs Hua Kuo-feng hat Ceausescu einen weiteren Beweis außenpolitischer Eigenständigkeit geliefert. Der Stärkung der militärischen Komponente des Warschauer Paktes dienten nicht nur die laufende Überprüfung der Gefechtsbereitschaft aller Streitkräftegattungen, sondern auch die Umrüstung auf den modernsten sowjetischen Panzer T-72 und erste Vorkehrungen für die Installierung mobiler, MIRV-bestückter Mittelstreckenraketen vcm Typ SS-20. Der sowjetische Wunsch nach kombinierten Truppenmanövern auf rumänischem Territorium erfüllte sich bislang nicht.

Bei der wirtschaftlichen Integration geht es nach sowjetischer Auffassung nicht nur um den gegenseitigen Vorteil, sondern um die politische Aufgabe der Festigung der gemeinsamen materiellen Grundlagen der sozialistischen Gemeinschaft. Die Berufung von K. Katuschew zum sowjetischen Vertreter im RGW signalisierte nicht nur Unzufriedenheit mit dem bisherigen Stand der Wirtschaftsintegration, sondern auch den Beginn neuer Anstrengungen wie z. B.der Erstellung neuer Programme für die Zusammenarbeit in den Brennstoff-, Energie-und Rohstoffzweigen, für die Zusammenarbeit im Maschinenbau, die Zusammenarbeit bei der Produktion von Hauptnahrungsmitteln, die Erweiterung der Produktion industrieller Konsumgüter sowie die Zusammenarbeit zur Entwicklung der Transportverbindungen der RGW-Mitgliedsländer. Derartige Aktivitäten vermögen nicht das Gewicht solcher integrationshemmender Faktoren, wie z. B. die erheblichen Struktur-und Niveauunterschiede zwischen den Partnerstaaten sowie die Umständlichkeit der Entscheidungsprozeduren, wesentlich zu erleichtern.

Als zunehmend wichtigeres Aktionsfeld erweist sich die Zusammenarbeit mit sozialistischen und nichtsozialistischen Entwicklungsländern. Der Beitritt Vietnams zum RGW anfang Juli 1978 wird die ohnehin bereits starke Belastung der Gemeinschaftsressourcen weiter erhöhen. Die Gespräche über ein Rahmenabkommen zwischen RGW und EG konnte die Sowjetführung jedoch nicht voranbringen.

Die sowjetischen Bemühungen um eine ideologische Zusammenarbeit vollziehen sich auf zwei verschiedenen Ebenen: der gesamteuropäischen und der osteuropäischen. Für die KPdSU-Spitze ist das Abschlußdokument der gesamteuropäischen Kommunistenkonferenz in Ostberlin vom 30. Juni 1976 nicht zuletzt deshalb von großer Bedeutung, weil es wenigstens nach außen hin den Anschein eines einheitlichen Kommunismus in Ost-und Westeuropa mit gemeinsamer Bindung an Moskau erweckt, wenngleich zwischen damit die Differenzen Traditionalisten und Autonomisten innerhalb der kommunistischen ausgeräumt nicht ideologische sind. Die Zusammenarbeit mit den regierenden kommunistischen Parteien Osteuropas hat im wesentlichen den Charakter eines bi-und multilateral koordinierten Abwehrkampfes gegen die Bedrohung von außen durch den Eurokommunismus und von innen durch die Systemreformer sowie Bürgerrechtler. Die KPdSU-Spitze hat die Autoritätskrise der Parteiführungen Polens, der DDR und CSSR zum Anlaß genommen, diese Staaten noch fester einzubinden.

Die Ost-West-Beziehungen Grundsätzlich blieb Moskau an der Aufrechturhaltung des bipolaren Systems der globalen Friedenssicherung nebst Konflikt-und Krisenmanagement mit den USA interessiert. Es verhehlte jedoch nicht seinen Unmut über die anhaltende Stagnation beim Ausbau der bilateralen Beziehungen. KPdSU-Generalsekretär L. I. Breshnew hat auf dem XXV. KPdSU-Kongreß im Februar/März 1976 die Minderung der Gefahr des Ausbruchs eines Kernwaffenkrieges als wichtigstes Entwicklungsergebnis der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen seit 1971 bezeichnet. Trotz angeblich guter Aussichten für den Ausbau des bilateralen Verhältnisses in der Zukunft haben sich jedoch die gesteigerten sowjetischen Hoffnungen auf Überwindung der bisherigen Stagnationsperiode durch die neue Administration Carter/Brzezinski/Vance nicht erfüllt. Vier Faktoren sind nach offizieller Verlautbarung für diese Lage verantwortlich zu machen: — die mit der Absicht offener Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion inszenierte Menschenrechtskampagne; — die restriktive Haltung in Handels-und Kooperationsfragen; — die Bestrebungen, durch einen qualitativen Rüstungswettlauf das strategische Gleichgewicht zugunsten der USA zu verschieben;

— der grundlegende Einstellungswandel in der Frage eines SALT-II-Abkommens.

In offiziellen und offiziösen Analysen der amerikanischen Außenpolitik wird die US-Führungsspitze bezichtigt, nach der mühevollen Erarbeitung eines gemeinsamen Rahmens für ein SALT-II-Abkommen zügigen Fortgang der Verhandlungen durch das Streben nach einseitigen Vorteilen zu behindern und die Sowjetunion durch die Drohung mit einem neuen Rüstungswettlauf zu erpressen. Den SALT-II-Gegnern überlasse man nicht nur kampflos die politische Arena, sondern komme ihnen mit Diskussionen über eine Verbindung zwischen SALT-II und dem sowjetischen Engagement im äthiopisch-somalischen Konflikt sogar noch entgegen Die Außenminister beider Staaten, Vance und Gromyko, ver-mochten im Verlaufe von drei Konsultationsrunden Ende April in Moskau, Ende Mai in New York und Mitte Juli 1978 in Genf die SALT-II-Gegensätze zwar weiter zu vermindern. Doch nach der Rede von US-Präsident Carter in Annapolis (Maryland) am 7. 6. 1978 und den sowjetischen Repliken droht die Kontroverse um Grundprinzipien der Entspannungspolitik den Spielraum für Vereinbarungen wieder zu verengen

Seit Abschluß der KSZE vertritt die Sowjetunion vehement die These, daß die eingetretene politische Entspannung durch eine militärische zu ergänzen sei, um diese dann unumkehrbar zu machen. Die wortreiche Bukarester Grundsatzerklärung der Warschauer-Pakt-Staaten über die Festigung der Sicherheit und die Entwicklung der Zusammenarbeit vom 26. November 1976 hatte lediglich eine formale Alibifunktion. Auf dem Hintergrund überdimensionierter Rüstungsanstrengungen, die das Kräfteungleichgewicht in Mitteleuropa augenfällig demonstrieren, und einer selektiven Erfüllung der KSZE-Schlußakte, der eine wenig konstruktive Haltung auf der Belgrader KSZE-Nachfolgekonferenz entsprach, wurde ein sowjetisches Streben nach für den Westen verhängnisvollen Optionen erkennbar. Unter diesen Umständen überraschten weder die sowjetischen Vorstöße zugunsten einer einseitigen Korrektur der ausgewogenen Interessenlage beim Viermächte-Abkommen über Berlin noch die hartnäckige Weigerung, Berlin (West)'in drei unterschriftsreife Kooperationsabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland formell und materiell einzubeziehen.

Es bleibt abzuwarten, ob die „Gemeinsame Deklaration über die Förderung der Entspannung und der guten Nachbarschaft und die Festigung des Friedens", die zum Abschluß des Breshnew-Besuches in der Bundesrepublik Deutschland vom 4. bis 7. Mai 1978 unterzeichnet wurde, zu einer Lösung der anstehenden Fragen beitragen und damit dem Entspannungsprozeß einen gezielten Auftrieb vermitteln wird Bemerkenswert ist das sicher-heitspolitische Leitprinzip in diesem Dokument: „Sie betrachten es als wichtig, daß niemand militärische Überlegenheit anstrebt. Annähernde Gleichheit und Parität sollen zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen."

Eine erste positive Auswirkung ist zu registrieren. Im Anschluß an die Budapester Tagung des Militärrates vom 16. bis 19. Mai 1978 überreichten die Warschauer-Pakt-Staaten am 8. Juni 1978 neue Vorschläge der MBFR-Kon-ferenz als Antwort auf die NATO-Offerte vom 19. April 1978. Der NATO-Rat sprach von „einem bedeutenden Schritt nach vorn" in den seit Jahren stagnierenden Rüstungsbegrenzungsverhandlungen.

Die Dritte Welt Die Sowjetunion unterstützt massiv „antiimperialistische" Frontbildungen in der Dritten Welt und ist bestrebt, die ökonomischen Konflikte zwischen unterentwickelten Ländern und den westlichen Industriestaaten auszunutzen.

Ideologische, geographisch-strategische und politische Motive bestimmen die sowjetische Haltung gegenüber den Staaten der Dritten Welt. Mangelndes westliches Engagement im allgemeinen und die politisch-psychologische Konstellation in den USA im besonderen haben der Sowjetunion in den letzten Jahren eine nahezu konkurrenzlose Einflußnahme auf die nationalen Befreiungsbewegungen ermöglicht (MPLA, ANC, SWAPO, Freiimo). Mittels umfassender Waffen-und Wirtschaftshilfe, vorbehaltloser politischer Solidarisierung sowie Freundschafts-und Kooperationsverträgen sind einige Staaten wie Angola, Moam-bique und Äthiopien in sowjetische Abhängigkeit geraten, andere schicken sich an, dem sowjetischen Werben nachzugeben. Gleichwohl hat die Sowjetunion Rückschläge im Nahen Osten und im Fall Somalias hinnehmen müssen. In der afrikanischen Konfliktzone ist ein Verstoß gegen einen wichtigen Entspannungsgrundsatz zu registrieren, wonach Zurückhaltung und Mäßigung der Großmächte dort notwendig sind, wo sich ihre Interessen überschneiden. Aus dem Konflikt zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen ergibt sich für die Sowjetunion zugleich eine Chance und eine Verlegenheit: eine Chance, weil sie zu einer antiwestlichen Grundhaltung in den Entwicklungsländern führt; eine Verlegenheit, weil diese Länder auch in der Sowjetunion und einigen ihrer Verbündeten hochentwickelte Industrieländer sehen, an die sie die gleichen Forderungen stellen können.

Der Konflikt mit Peking Erfolglos blieben alle Versuche, die Konfrontation mit der Volksrepublik China abzubauen und zumindest die staatlichen Beziehungen zu Peking zu normalisieren.

Der Tod Mao Tse-tungs . (9. September 1976) hat bislang nicht zu einer positiven Bewertung sowjetischer Koexistenz-und Entspannungsangebote durch die neuen chinesischen Machthaber geführt, die ihren antisowjetischen Kurs sogar noch verstärkt haben.

Als gescheitert anzuseheh ist überdies das sowjetische Bemühen, die Volksrepublik China außenpolitisch zu isolieren. Gezielte Einschüchterungsversuche haben die japanische Regierung nicht davon abgehalten, am 12. August 1978 einen Friedens-und Freundschaftsvertrag mit der Pekinger Führung abzuschließen. Die Anti-Hegemonieklausel in diesem Dokument wertet Moskau als eine gemeinsame japanisch-chinesische Frontstellung gegen ein weitreichendes sowjetisches Engagement in Asien. Ob der KPdSU-Spitze indes mit der Einbindung Vietnams in die engere sozialistische Gemeinschaft über die RGW-Mitgliedschaft Anfang Juli 1978 ein erfolgreicher Gegenzug gelungen ist, bleibt vorerst abzuwarten. Auf die außenpolitische Offensive Hua Kuo-fengs, der Ende August 1978 Rumänien und Jugoslawien besucht hat, reagierte Moskau mit gereizten Stellungnahmen. Der spektakuläre Bruch Albaniens mit der Volksrepublik China erfolgte ohne Einwirkung des Kreml und bietet lediglich Stoff für antichine-

sische Propaganda in den sowjetischen Massenmedien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Andrej Sacharov, O strane i mire, New York 1976, S. XV.

  2. Alexander Solschenizyn, Die Eiche und das Kalb, Darmstadt 1975, S. 118.

  3. Sowjetunion 1976/77, hrsg. vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Köln, München 1977, S. 172.

  4. U. S. News & World Report, 24. 10. 1977, S. 53.

  5. Vgl. H. -H. Höhmann/G. Seidenstecher, Halbzeit-bilanz des 10. Planjahrfünfts, Wachstumsgrenzen der sowjetischen Wirtschaft werden enger, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Köln 1978, Nr. 8.

  6. L. I. Breshnew, Rechenschaftsbericht des Zentral-komitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, XXV. Parteitag der KPdSU, Moskau 1966, S. 62 ff.

  7. Vgl. Jahresbericht Sowjetunion 1975/76, hrsg. vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, München 1976, S. 115 f.

  8. Vgl. zur Rüstungsbelastung der sowjetischen Wirtschaft: H. Bergendorf/P. Strangert, Projections of Soviet Economic Growth and Defense Spending, in: Soviet Economy in an New Perspective, Joint Committee Print, Washington 1976, S. 394 ff.

  9. Vgl. H. -H. Höhmann/G. Seidenstecher, Konsum und Wirtschaftsplanung in der UdSSR, in: Osteuropa-Wirtschaft, H. 3/1977, S. 209 ff.

  10. Vgl. H. -H. Höhmann, UdSSR: Wirtschaftspolitik ohne Alternative, in: Außenpolitik, H. 1/1977, S. 40 ff.

  11. Ungezeichneter, aber offenbar von höchster Stelle autorisierter Artikel: „Die Aufgabe der Begrenzung strategischer Waffensysteme: Perspektiven und Probleme", in: Prawda v. 11. 2. 1978.

  12. G. Arbatov, Die Zeit schwerwiegender Entscheidungen, in: Prawda v. 28. 3. 1978.

  13. Vgl. dazu IHT v. 8. 6. 1978, ferner Prawda v. 18. 6. 1978.

  14. Wortlaut in Prawda v. 27. 11. 1976.

  15. Vgl. Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 44 v. 9. 5. 1978, S. 429 bis 430.

Weitere Inhalte

Heinz Brahm, Dr. phil., geb. 1935 in Viersen, Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Trotzkijs Kampf um die Nachfolge Lenins, Köln 1964; Pekings Griff nach der Vormacht, Köln 1966; Der Kreml und die CSSR 1968— 1969, Stuttgart 1970; (Hrsg.) Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; Der sowjetisch-chinesische Konflikt, in: Osteuropa-Handbuch, Sowjetunion, Außenpolitik, Bd. 2, Köln—Wien 1976. Hans-Hermann Höhmann, Dr. rer. pol., geb. 1933 in Kassel, Wissenschaftlicher Oberrat im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Wandlungen im sozialistischen Wirtschaftssystem? — Modell und Wirklichkeit osteuropäischer Wirtschaftsreformen, Bonn 1970; Die Wirtschaftsordnungen Osteuropas im Wandel, 2 Bände, Freiburg 1972 (Co-Autor und Mithrsg.), englische Ausgabe 1975; Die Wirtschaft Osteuropas und der VR China 1970— 1980. Bilanz und Perspektiven, Stuttgart 1978 (Co-Autor und Hrsg.). Christian Meier, Dipl. -Politologe, geb. 1939 in Friedland/CSSR, wissenschaftlicher Referent im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Trauma deutscher Außenpolitik. Die sowjetischen Bemühungen um die internationale Anerkennung der DDR, Stuttgart 1968; Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Analyse und Dokumentation, Köln 1973 (Co-Autor und Mithrsg.); Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1973— 1975/78. Analyse und Dokumentation, Köln 1978 (Co-Autor und Mithrsg.).