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Revolution und Revolutionsalltag 1918/19 in Deutschland | APuZ 45/1978 | bpb.de

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APuZ 45/1978 Artikel 1 Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung Forschungsüberblick und Kritik an der „herrschenden Lehre" Revolution und Revolutionsalltag 1918/19 in Deutschland

Revolution und Revolutionsalltag 1918/19 in Deutschland

Dirk Blasius

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Abhandlung beschäftigt sich mit einem Thema, das die umfangreiche Forschung zur deutschen Revolution 1918/19 bisher kaum aufgegriffen hat: dem Revolutionsalltag. Es werden die in ihm anzutreffenden Sorgen und Nöte der Menschen behandelt, aber auch ihre Hoffnungen'auf einen politischen Neubeginn nach der Kriegsniederlage. Wenn man das Revolutionsgeschehen und das Revolutionsschicksal 1918/19 in Deutschland richtig werten will, kann man nicht nur bei den politischen Entscheidungsprozessen ansetzen. Die Bedürfnissituation dieser Zeit muß, stärker als dies bisher geschehen ist, in den Blick genommen werden. Arbeits-, Nahrungsund Wohnprobleme hatten einen starken Einfluß auf den Revolutionsablauf; es gab aber auch politische Bedürfnisse, das gesellschaftlich breit gelagerte Bestreben, die lange verwehrte politische Mündigkeit endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Bisher wurde die „Doppelaufgabe" der Revolulionsregierungen stark betont, die in der Absicherung der revolutionären Errungenschaften und in der Bewältigung gesellschaftlicher Not bestand. Es gab aber auch einen Lösungsversuch dieser Doppelaufgabe durch die Räiebewegung; sie verstand es anfangs, politisches Handeln an politischen und gesellschaftlichen Bedürfnissen breiter Massen zu orientieren. Wie erfolgreich dieser Versuch war, wird hier beschrieben; auch werden die Gründe für sein Scheitern genannt. Eine Sozialgeschichte des Revolutionsalltags vermag die Verantwortung für die „fortschreitende Zurücknahme" der deutschen Revolution 1918/19 neu zu gewichten. Sie erkennt die Leistungen der politische Verantwortung Tragenden aus der Bedürfnisperspektive der betroffenen Menschen an, deckt aber ebenso das Versäumnis einer politischen Sicherstellung von Bedürfnisbefriedigung auf. Hier lag die geschichtliche Chance der Rätebewegung. Sie wurde ihr genommen; z. T. aber nahm sich die Rätebewegung diese Chance auch selbst, indem sie im Verlauf der Revolution Alltagsinteressen und Alltags-bedürfnisse aus den Augen verlor.

I. Ansatz und Ergebnisse neueren Revolutionsforschung

Revolutionen faszinieren, Revolutionsalltag schreckt: mit dieser Einsicht in die Phänomenologie „geschichtlicher Krisen" formulierte Jacob Burckhardt in den . Weltgeschichtlichen Betrachtungen’ die bürgerliche Absetzbewegung vom in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Revolutionspathos des Bürgertums Burckhardt steht für einen Revolutionspessimismus, der weiß, daß auf den „Hochzeitsstaat" einer Krisis jeweils „böse Werktage folgen werden" „Bei weiterem Fortschreiten bringt eine jede große Krisis dasjenige . Soziale', wobei ihren idealistischen Begründern die Haare zu Berge stehen, nämlich die Not und die Gier mit ins Spiel, teils durch das Stillestehen des bürgerlichen Verkehrs, teils durch den verfügbar gewordenen Raub, teils durch Straflosigkeit."

Es überrascht bei einem so breit abgehandelten Thema wie der deutschen Revolution von 1918/19, daß der Alltag dieser Revolution, d. h. ihre „bösen Werktage" vom November 1918 bis zum Frühjahr 1919, bisher kaum zum Ansatzpunkt einer systematischen Betrachtung von Revolutionsgeschehen und Revolutionsschicksal genommen wurden Fragt man nach den Gründen, so ist an erster Stelle der Symbolwert dieser Revolution zu nennen. Sie war eine Zusammenbruchskrise im Zuge eines verlorenen Krieges, der mit großen Erwartungen begonnen worden war Macht-deflation und Autoritätsverlust — Erscheinungen, die schon während des Krieges zu beobachten waren — drückten in den Novembertagen 1918 dem politischen Leben den Stempel auf. Leiteten die linksliberalen und sozialistischen Kräfte die Legitimität ihres Handelns aus ihrer Nichtverantwortung für den Kriegsausbruch ab, so begründete das rechte politische Kräftespektrum seine Aktivitäten nach 1918 mit der These von der Nichtverantwortung für die Kriegsniederlage.

Die Revolution geriet in das Sperrfeuer politischer Polemik, eine Befrachtung, von der sich auch ihre historische Aufarbeitung nie hat freimachen können

Die politischen Vorzeichen der Revolutionsforschung haben zwar gewechselt, doch das methodische Instrumentarium hat sich kaum geändert. Das hängt mit der eingerasteten Perspektive auf die im engeren Sinne politischen Aspekte und Entscheidungssituationen zusammen Diese Sehweise hat Ergebnisse gebracht, doch es fragt sich, ob sie heute, in einer Zeit sich wandelnden Selbstverständnisses moderner Geschichtswissenschaft, noch voll befriedigen können Die neuere For-schung hat die Geschichte der deutschen Revolution von 1918/19 als die Geschichte einer versäumten Sicherstellung von Demokratie thematisiert Sie hat die lange vorherrschende These korrigiert, daß während der Revolution die größte Gefahr von links gedroht habe und damit eine umfassende „Rehabilitierung“ der Rätebewegung eingeleitet. „Die Revolution von 1918/19 war", wie einer der Anreger der neueren Revolutionsforschung, Reinhard Rürup, resümiert, „von einer breiten demokratischen Massenbewegung — vornehmlich in der Arbeiterklasse, aber auch über sie hinausgreifend — getragen, deren Ziel eine freiheitlich-demokratische, in allen Bereichen der Gesellschaft fest verankerte Republik war. Es war einer der wenigen Augenblicke in der deutschen Geschichte, in denen ein mündiges, politisch verantwortliches Volk den Versuch unternahm, die alten Unterdrückungsmechanismen zu zerstören und eine neue demokratische Gesellschaft — den sozialen . Volksstaat', wie man es damals gern nannte — zu verwirklichen."

II. Revolution als Gegenstand Historischer Sozialwissenschaft

Wäre die Entwicklungsrichtung der deutschen Revolution als eine so gradlinige anzusetzen, bliebe ein noch bittererer Nachgeschmack hinsichtlich ihres Scheiterns; in der kühlen Distanz Jacob Burckhardts formuliert: „Um relativ nur Weniges zu erreichen, wobei man fragt, wieweit es sich um Gewünschtes oder gar um Wünschenswertes gehandelt haben wird, braucht die Geschichte ganz enorme Veranstaltungen und einen ganz unverhältnismäßigen Lärm.“ Eine gewisse Skepsis gegenüber der Annahme, daß es gleichsam eine Hauptstoßrichtung der Revolution mit einem weitgehenden Gleichklang der politischen Zielvorstellungen ihrer sozialen Träger-schichten gegeben habe, stellt sich besonders auch dann ein, wenn man diese Revolution zum Gegenstand einer Historischen Sozialwissenschaft zu machen versucht In diesem Fall wäre das Problem der „Alternativen" auf eine neue Weise anzugehen und ebenso das der Markierung von politischen Verantwortlichkeiten. Revolution als Gegenstand Historischer Sozialwissenschaft — dies der Kern dieses Versuchs — bedeutet Aneignung und Ausmessen ihres Alltags.

Alltagswirklichkeit auf ihre Bedeutung für soziale Erfahrungen und Bedürfnisse hin zu untersuchen, ist ein gegenwärtiger Trend der SozialWissenschaft Der Blick richtet sich auf die Leiden und Freuden, Erinnerungen und Hoffnungen, die im Alltag der Menschen auffindbar sind und ihn prägen. Diese Diskussion ist auch für den Historiker wichtig Denn eine Analyse der Alltagswirklichkeit in einzelnen Zeitabschnitten vermag die in ihnen anzutreffenden gesellschaftlichen Handlungsmuster geschichtlich einzuordnen — sowohl gesellschaftliche Aktion wie gesellschaftliche Apathie.

Auch für die deutsche Revolution 1918/19 kann es lohnend sein, Fragen nach der Sozial-geschichte des Alltags in dieser Revolution aufzuwerfen. Ihre . linke'wie auch ihre , rech-te‘ Auslegung haben eines ausgespart, worauf es ankommt: die gesellschaftsgeschichtliche Rekonstruktion von Bedürfniskontexten; ohne sie ist es kaum möglich, sowohl Klassen-wie Macht-und Herrschaftsverhältnisse adäquat zu erfassen. Von den zeitgenössischen Akteuren waren es nicht nur die politische Verantwortung tragenden Mehrheitssozialdemokraten, die den Bedürfnissen der handelnden Massen vermeintlich einen hohen Stellenwert zuschrieben. In ihrem Versuch einer politischen Selbstvergewisserung formulierte auch Rosa Luxemburg: „Daß wir uns die tatsächlichen Tendenzen bewußt machen, auf die die geschichtliche Entwicklung abzielt, befreit uns keineswegs von der nötigen Einmischung in die eigene Gesellschaftsgeschichte .. Wo hat nun das . Einmischen'in die eigene Gesellschaftsgeschichte anzusetzen und welchen Ertrag vermag es abzuwerfen?

III. Revolutionsalltag im Spannungsfeld sozialökonomischer Vorgaben und politischen Handelns

Die Handlungsmuster der die Revolution . steuernden' politischen Kräfte und die Erwartungshaltungen der hinter ihr stehenden sozialen Gruppen müssen auf dem Hintergrund zentraler ökonomischer und politischer Vorgaben gesehen werden. Was den ersten Punkt betrifft, so warf die Zusammenbruchssituation des Krieges gravierende Probleme auf. Demobilmachung, Rekonstruktion der Friedenswirtschaft und Anpassung an die veränderten Bedingungen der weltwirtschaftlichen Beziehungen sind hier die entscheidenden Stichworte Es mußten finanz-und wirtschaftspolitische Strategien für eine Situation entworfen werden, in der innerhalb einer Zeitspanne von nur wenigen Monaten sechs bis sieben Millionen Soldaten nach Deutschland zurückkehrten Sie warteten auf ihre Eingliederung in den Arbeitsprozeß und glaubten nach dem durchlittenen Krieg ein Recht darauf zu haben. Doch ein Großteil der Arbeitsplätze war von Frauen besetzt. Auch nahmen die Industrien, die im Krieg stillgelegt worden waren, erst allmählich die Produktion wieder auf. Die Beschäftigungslage stellte bei Kriegsende die größte Herausforderung für das politische Management dar, vor allem auch deshalb, weil sie breite Bevölkerungsschichten in ihrer Existenz und Subsistenz unmittelbar betraf.

In nüchternen Zahlen spiegelt sich die ganze Schärfe des Problems. So ging die Industrie

Produktion von 1913 = 100 über 1915 = 67 auf 1918 = 57 zurück Mit Recht kann man bei Kriegsende — die industrielle Leistung betrug nur noch 4O°/o des Standes von 1913 — von einem weitgehenden Zusammenbruch des Produktionsund Verteilungssystems sprechen. In dieser Situation eines prekären Ungleichgewichts zwischen Arbeitsplatzangebot und Arbeitskräftepotential hatte die Nahrungslage eine Verstärkerfunktion für den allgemeinen Problemdruck. Für 1918 veranschlagt man den Rückgang der pflanzlichen Produktion auf mindestens 30 °/o, den der tierischen Produktion auf etwa 60 °/o. Diese Daten verdeutlichen die ökonomische Umzäu-mung des Revolutionsalltags; sie machen den ganzen Umfang der damals vorhandenen und sich verschärfenden gesellschaftlichen Notlage vorstellbar.

Fragt man nach dem politischen Aufgreifen der durch die Kriegsniederlage geschaffenen Probleme, muß der Blick auf die politischen Kraftzentren in den Revolutionsmonaten geworfen werden. Den sichtbarsten Ausdruck fand die Revolution in den Novembertagen des Jahres 1918 in der Ausrufung der Republik und der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den „Rat der Volksbeauftragten“, ein von MSPD und der links von ihr stehenden USPD paritätisch besetztes Gremium — Ebert, Scheidemann, Landsberg für die MSPD; Haase, Dittmann, Barth für die USPD. Diesem . revolutionären’ Akt an der Regierungsspitze entsprach auf unterer Ebene die spontane Bildung von Arbeiter-und Soldaten-räten. Sie repräsentierten die Massenbewegung dieser Wochen. Allerorten wurden sie in den Novembertagen improvisiert; es gab keine zentrale Steuerung. Die Soldaten wählten in den unteren Einheiten bzw. in den Garnisonen ihre Soldatenräte; in der Heimat wirkte der örtliche Soldatenrat in der Regel eng mit dem örtlichen Arbeiterrat zusammen. Beide Räte tagten gemeinsam und fungierten daher als . Arbeiter-und Soldatenrat“. Die Arbeiterräte gingen in größeren Städten meist aus Delegiertenwahlen in den Betrieben hervor; wo dies nicht der Fall war, resultierte ihre Zusammensetzung aus Verhandlungen zwischen den am jeweiligen Ort maßgebenden Partei-und Gewerkschaftsführern oder man wählte sie — so in kleineren Städten und Landgemeinden — in öffentlichen Versammlungen

Ein Telegramm des Oberbürgermeisters von Hamborn an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf vom 10. November 1918 gibt einen Eindruck von der Unmittelbarkeit politischen Engagements wieder, die für die Anfangsphase der Revolution typisch war: „Nach einer heute nachmittag hier stattgefundenen öffentlichen großen Versammlung, in welcher 15 Teilnehmer als Arbeiterrat gewählt worden sind, sind Versammlungsteilnehmer zum Rathaus gezogen und haben die Anerkennung des Soldaten-und Arbeiterrats als oberste Kontrollinstanz der Stadtverwaltung und die Aufhissung der roten Fahne auf öffentlichen Gebäuden verlangt. Dem Zwange nachgebend, habe ich mich auf Aufforderung, um Unruhen zu vermeiden und zum Besten der Bürgerschaft, hierzu bereit erklären müssen." Zu Beginn der Revolution begegnet allerorten ein gesellschaftliche Sogwirkung entfaltendes politisches Selbstbewußtsein. Es prägt den Revolutionsalltag in dieser Phase, der sich als ein Alltag gesellschaftlicher und politischer Solidarität gerade jener Schichten darbietet, die bislang gesellschaftlich und politisch benachteiligt gewesen waren.

Das Verhältnis von Revolutionsregierung und den — zumindest im Anfangsstadium — die Revolution . regierenden'Räten ist ein sehr komplexes gewesen. Erst regional und lokal angesetzte Untersuchungen können hier die gebotene Differenzierung leisten Es gab hinsichtlich des politischen Profils verschiedene Typen von Räten, die mit den jeweiligen sozialstrukturellen Bedingungen Zusammenhängen (z. B. Bevölkerungsdichte, Urbanisie-rungs-und Industrialisierungsgrad). Eine Rätetypologie, die ebenso die Vorstellung vom . roten'Räteterror zu korrigieren beabsichtigt wie die in der Rätebewegung anzutreffende revolutionäre Substanz zu gewichten gewillt ist, hätte hier anzusetzen. In dieser Abhandlung geht es nun nicht um ein politisches Aufrechnen von Alternativstrategien; vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise das Handeln der relevanten politischen Gruppen seine Legitimationsgrundlage in der Bedürfnissituation breiter Massen fand. Wenn auch Arbeits-, Nahrungs-

und Wohnprobleme diese Situation am Ende des verlorenen Krieges prägten, so ist sie dennoch hierauf nicht zu reduzieren; es gab auch politische Bedürfnisse, das Verlangen, die lang verwehrte politische Mündigkeit endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Der spontane . Einstieg'breiter Massen in die Revolution dokumentiert dies.

Reinhard Rürup hat mit Recht auf die „kaum zu überschätzende Doppelaufgabe" der Revolutionsregierungen hingewiesen Sie „hatten einerseits die Folgen des militärischen und politischen Zusammenbruchs zu bewältigen ..., und sie hatten andererseits die Ziele der Revolution zu verwirklichen, der sie ihr Mandat verdankten“. Die Regierung aus MSPD und USPD setzte schon zu Beginn der Revolution die Akzente. „Mit Gesetzeskraft“

. erließ der Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918 eine Verordnung, in der neben der Gewährleistung rechtsstaatlicher Grundsätze (Vereins-und Versammlungsfreiheit, Zensurannullierung, Religionsfreiheit usw.) Ausfallbürgschaften des Staates für so zentrale Alltagsprobleme wie Arbeit, Wohnen und Ernährung festgeschrieben wurden: „Die Regierung wird alles tun, um für ausreichende Arbeitsgelegenheit zu sorgen. Eine Verordnung über die Unterstützung von Erwerbslosen ist fertiggestellt... Die Wohnungsnot wird durch Bereitstellung von Wohnungen bekämpft werden. Auf die Sicherung einer geregelten Volksernährung wird hingearbeitet werden. Die Regierung wird die geordnete Produktion aufrechterhalten, das Eigentum gegen Eingriffe Privater sowie die Freiheit und Sicherheit der Person schützen." Man würde sich an der Gesellschaftsgeschichte der deutschen Revolution ideologisch vorbeistehlen — also in den . Fehler des Nichteinmischens'(Luxemburg) verfallen —, wollte man den Bezugspunkt einer solchen Politik in der Bedürfnissituation ihrer Adressaten nicht sehen. Hinter der Politik insbesondere der MSPD stand mehr als das . rechte'Kalkül einer Isolierung bzw. eines Niederknüppelns der Rätebewegung.

Die Verordnung vom November 1918 wurde praktische Politik. Schon am 13. November kam es zur Regelung der Erwerbslosenfürsorge Die Gemeinden wurden in die Pflicht genommen. Sie hatten ein Verfahren zu praktizieren — und das scheint unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten sehr wichtig zu sein —, das die Fürsorge für Erwerbslose deutlich von der traditionellen Armenfürsorge unterschied. Auch ist angesichts der katastrophalen Arbeitsmarktlage die Sicherstellung der Beschäftigung von Schwerbeschädigten in einer Verordnung vom 9. Januar 1919 in ihrer Wirkung, kaum zu überschätzen Die extrem hohe Mobilität der Revolutionsmonate — nicht nur Soldaten kehrten aus dem Krieg zurück, sondern auch zwangsverpflichtete männliche und weibliche Arbeitskräfte in ihren Heimatort — machte das Wohnungsproblem zu einem besonders dringenden. Am 15. Januar 1919 führte eine Verordnung „für diejenigen Bezirke, in denen sich ein dringendes Bedürfnis nach Klein-und Mittelwohnungen in der Übergangszeit nach dem Kriege" herausstellte, in denen also „obdachlose Familien" unterzubringen waren, eine Wohnungszwangsbewirtschaftung ein „Eine verzweifelte Situation, wie sie noch niemals für ein Volk und für eine Regierung vorhan-den gewesen ist", so der Volksbeauftragte Dittmann in seinem Rechenschaftsbericht auf dem Reichsrätekongreß, wurde zu steuern versucht

Organisatorisch wurden die geschilderten Maßnahmen initiiert und verantwortet von dem am 12. November geschaffenen Reichs-amt für wirtschaftliche Demobilmachung. Sein Leiter, der ehemalige Chef der Kriegsrohstoffabteilung, Oberstleutnant Koeth, hatte das Vertrauen von Unternehmern und Gewerkschaften Koeth verlegte seine Aktivitäten auf „zwei große Aufgabengruppen": Versorgung des Volkes mit den dringenden Lebensbedürfnissen; Bekämpfung der Arbeitslosigkeit' Er begriff seine Tätigkeit als „soziale Pflicht“, die vor allem auch deshalb geboten sei, „um die Revolutionsbewegung nicht leichtsinnig zu nähren"

Hat, so wäre an diesem Punkt zu fragen, die Revolutionsregierung sich nicht allzu . leichtsinnig' den Effizienz garantierenden Kräften des alten Obrigkeitssystems überantwortet und es dabei versäumt zu sehen, daß eigene Politik nicht nur nach links abgegrenzt, sondern auch nach rechts durchgesetzt werden mußte? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Es fällt jedoch auf, daß der Leiter des Demobilmachungsamtes selbst von den ihm gesetzten politischen Grenzen berichtet, die er nicht habe überschreiten können. Sie gestatteten nicht, so Koeth, „den starken Mann" zu spielen. „Was bedeuten“, so schreibt er, „die weitestgehenden Befugnisse in einem Staate, in dem die Herrschergewalt weder über physische Gewaltmittel verfügt noch allseitig von den Beherrschten als verbindlich und notwendig anerkannt wird!"

IV. Revolutionsalltag und Rätebewegung

Wenn von der geschilderten Problemlage her zu vermuten ist, daß die Politik des Rates der Volksbeauftragten zu beträchtlichen Loyalitätsgewinnen bei breiten Bevölkerungsschichten führte — auch die Ergebnisse der Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 und der Wahlen zur verfassunggebenden preußischen Landesversammlung vom 26. Januar 1919 müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden —, so hat das allerdings weniger mit dem ererbten, politisch umstrittenen und gesellschaftlich weitgehend abgelehnten institutionellen und personellen Instrumentarium dieser Politik zu tun, als mit ihrer Abfede-rung durch die eigentlichen Organe .der Revolution: die Räte. In den Anfangswochen der Revolution waren die Räte die entscheidende und gestaltende politische Kraft. Sie konstituierten sich vor allem als Kontrollorgane lokaler Bürokratien.

Es gab z. B. formelle Vereinbarungen zwischen Räteorganen und Gemeindeverwaltungen. So regelten am 11. November 1918 der Duisburger Arbeiter-und Soldatenrat und der Oberbürgermeister ihre Zusammenarbeit: „Zwischen der Stadtverwaltung Duisburg und dem Arbeiter-und Soldatenrat in Duisburg wird zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und zur Aufrechterhaltung der Geschäfte der Stadtverwaltung folgendes vereinbart:

1. Die Stadtverwaltung führt ihre Geschäfte bis auf weiteres in der bisherigen Weise fort Der Arbeiterrat tritt ihr als beratendes Organ zur Seite. Zu diesem Zwecke ernennt der Arbeiter-und Soldatenrat einen Vollzugs-Ausschuß, den der Oberbürgermeister nach Bedarf oder auf Antrag eines Mitgliedes des Arbeiter-und Soldatenrates einladet.

2. Die Polizei-Exekutive wird durch die städtische Polizei-Verwaltung unter der Kontrolle des Arbeiter-und Soldatenrates mit Hilfe des Bezirkskommandos ausgeübt.

Die Polizeibeamten werden wieder bewaffnet. Der Sicherheitsdienst wird von den städtischen Polizeibeamten und den Wachmannschaften des Arbeiter-und Soldatenrates ausgeführt. Die Polizeiverwaltung hat eine Erklärung zu erlassen, daß sie ihr Amt im Einvernehmen mit dem Soldatenrat führen wird. Die politische Polizei ist aufgehoben.

Der Arbeiter-und Soldatenrat beantragt nachdrücklich bei der Stadtverwaltung die Bezahlung derjenigen seiner Unkosten, die im Interesse der Sicherheit und Wohlfahrt notwendig und nach Verständigung mit der Stadtverwaltung aus der Stadtkasse zu bewilligen sind. Drei Mitglieder des Arbeiter-und Soldatenrates sollen die Ausgaben mit der Stadtverwaltung vereinbaren.

3. Die Stadtverordneten-Versammlung und die städtischen Ausschüsse haben das Recht, ihre gesetzlichen Befugnisse bis auf weiteres auszuüben. Der Arbeiter-und Soldatenrat behält sich vor, die Ausführung etwaiger arbeiter-feindlicher Beschlüsse zu verhindern.“ Kontrolle war für die Arbeiter-und Soldaten-räte nicht Selbstzweck, von bürokratischer Praxis abgelöstes Partizipationssymbol, son-dem hatte ihre konkreten Gegenstände. Nicht zufällig nimmt die Regelung der Polizeiangelegenheiten den breitesten Raum ein. Man versuchte, über die Abschaffung der politischen Polizei und die politische Einbindung der Ordnungspolizei, einen repressionsfreien Alltag zu gewährleisten, gerade auf dem Erfahrungshintergrund massiver Repression im Kaiserreich.

Die Arbeiter-und Soldatenräte rechneten auch, wie die Formulierung zeigt, mit der „Ausführung etwaiger arbeiterfeindlicher Beschlüsse". Sie wußten, daß der politische Alltag in der Revolutionszeit nicht nur von einer Aufbruchs-, sondern auch von einer bewußt geförderten . Versandungstendenz'beherrscht war. Stützpfeiler der letzteren war die Bürokratie, die zwar mit den Arbeiter-und Soldatenräten Vereinbarungen traf, dabei aber, wie der Landrat des Kreises Essen schrieb, ein „hohes Maß von Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung" aufbringen mußte

Die bürokratischen und gesellschaftlichen Widerlager der Revolution führten auf Seiten der Räte schon früh zu dem Versuch, gegen-revolutionären Ansätzen durch Mobilisierung des eigenen revolutionären Potentials zu begegnen. So faßte am 20. November 1918 die Bezirkskonferenz der Arbeiter-und Soldaten-räte des Bezirks Niederrhein folgenden Beschluß: „Von der Tatsache ausgehend, daß die Revolution erst begonnen hat und vom Proletariat bis zur Durchführung der Sozialisierung der Gesellschaft durchgekämpft werden muß, daß weiter anerkannte politische Zentralstellen nicht vorhanden sind und daß von den Stellen, die sich das Recht der Zentralgewalt anzueignen versuchen oder auch schon angeeignet haben, eine konterrevolutionäre Politik getrieben oder auf eine Versandung der Revolution hingearbeitet wird, stellt die Versammlung der Arbeiter-und Soldatenräte des Bezirks Niederrhein fest: Die ganze Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter-und Soldatenräte. Das Ziel der Revolution ist, die Sozialisierung der Gesellschaft, die Überführung der Produktionsmittel aus den Händen weniger in den Besitz der Gesamtheit zu erwirken. Hierauf hat die heutige Macht mit allen Mitteln hinzuarbeiten, um so mehr, als das revolutionäre Proletariat, die Masse des Volkes, die Herbeiführung dieses Ziels erwartet und stürmisch verlangt. Jede andere Politik wird als eine gegenrevolutionäre Politik verurteilt und aufs schärfste bekämpft werden. Die Politik der genannten unmaßgeblichen alten Regierungsstellen ist eine gegen-revolutionäre Politik und verfolgt den Zweck, das Volk um die Früchte seiner Opfer zu betrügen, den toten kapitalistischen Gesellschaftskörper zu galvanisieren. Die Arbeiter-und Soldatenräte haben die Pflicht, auf die große Gefahr aufmerksam zu machen und die Volksmassen zum rücksichtslosen Kampf gegen diese Gegenrevolution aufzurufen . .. Die Arbeiter-und Soldatenräte des Bezirks Niederrhein werden keine Politik und keine Maßnahmen dulden, die geeignet sind, die Revolution in ihrem Lauf zu hemmen und das Volk um seine Rechte zu prellen. Den gegen-revolutionären Plan, die kapitalistische Gesellschaftsordnung vor der Sicherstellung der Ziele der Revolution durch eine Nationalversammlung zu retten, lehnen die Arbeiter-und Soldatenräte des Bezirks Niederrhein auf das bestimmteste ab. Nur die konsequente und restlose Durchführung der Revolution sichert den Sieg des Proletariats, Glück und , Wohlbefinden des gesamten Menschengeschlechts!"

In dieser Resolution tritt sehr stark die politische Seite der Rätebewegung hervor. Wenn Räte zum Alltag der deutschen Revolution 1918/19 gehörten, dann hatte das seinen Grund jedoch nicht allein in der Aufnahme politischer Bedürfnisse; Räte fanden vor allem deshalb breiten gesellschaftlichen Anklang, weil sie Alltagssorgen und Alltagsbeschwernisse nicht außer acht ließen, sondern politisch zu verarbeiten suchten.

Man hat bisher fast ausschließlich die . Doppelaufgabe'der Revolutionsregierungen gesehen, weniger den Lösungsversuch dieser Doppelaufgabe, der dürch die Rätebewegung unternommen wurde. Er soll hier beschrieben und erläutert werden.

Am 11. November berichtete z. B.der Landrat des Kreises Mettmann an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf: „In Vohwinkel und Haan hat der Arbeiter-und Soldatenrat die Kontrolle über die Gemeindeverwaltung übernommen. Gestern fand im hiesigen Kreishause eine Besprechung zwischen dem Arbeiter-und Soldatenrate und mir statt, in der Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung sowie zur Sicherung der Lebensmittelversorgung vereinbart worden sind." In einem anderen Bericht vom 21. November schrieb der Landrat von Kempen: „Kleineren Mängeln stehen ebenso große Vorteile gegenüber. Vor allen Dingen habe ich in den Arbeiter-und Soldatenräten endlich die Organe, die mir anstelle der so oft beantragten aber nie bewilligten Hülfsgendarmen in der Unterdrückung des hier wie sonst nirgendswo blühenden Hamsterunwesens hülfreich zur Seite stehen. Mit einer Rücksichtslosigkeit, wie sie früher unbekannt war, ist man dem Unwesen zu Leibe gegangen und seiner auch endlich Herr geworden. Die Mitarbeit der Arbeiter-und Soldatenräte ist auch um deswillen ersprießlich, weil sie mit viel größerem Eifer als manche durch den ewigen Widerstand schon etwas zermürbte Beamte arbeiten und weil sie bei der Bevölkerung nicht den Widerstand finden, mit dem der Beamte während des ganzen Krieges zu kämpfen hatte." Diese Beispiele sind nicht willkürlich gewählt. Es gab in der Anfangsphase der Revolution einen weitgehenden Gleichklang zwischen Regierungsund Rätepolitik. Der , Nicht-Widerstand’ der Bevölkerung gegenüber den Räten erklärt sich aus der Tatsache, daß diese es verstanden, auf soziale Bedürfnisse und Forderungen einzugehen. Lokale Politik hatte sich zu dieser Zeit nicht nur nach oben hin zu verantworten, sondern auch nach unten, d. h. gegenüber den betroffenen Menschen zu legitimieren. Denn hier, im lokalen Rahmen, wurden Sicherheits-, Arbeits-, Wohnungs-und Nahrungsfragen konkret.

In einer öffentlichen . Bekanntmachung’ vom 26. November 1918 stellte sich der Düsseldorfer Arbeiter-und Soldatenrat als Garant der öffentlichen Sicherheit vor. Er griff das in der Revolutionszeit sich verschärfende Kriminalitätsproblem auf und wollte „Vergehen gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit, insbesondere Gewalttätigkeiten, Raub, Plünderung, Wucher, Schleichhandel, Brandstiftung"

von „besonderen Gerichten des Arbeiter-und Soldatenrats in beschleunigtem Verfahren abgeurteilt“ wissen

Die Arbeiter-und Soldatenräte verloren in der Revolution nicht das aus den Augen, was jenseits der politischen Bewegungsrichtung der Revolution lag. Das waren die vom einzelnen konkret erfahrbaren Nöte des gesellschaftlichen Alltags. Die . Tätigkeitsberichte’ lokaler Arbeiterräte in Württemberg belegen sehr eindrucksvoll die Verschränkung von Revolutionsalltag und Rätebewegung. Die „Tätigkeit“ etwa des Arbeiterrates in Vaihingen, einer Vorstadtgemeinde Stuttgarts, „begann damit, die immer schwieriger werdende Ernährung der Bevölkerung zu verbessern.

Um eine bessere Versorgung mit Käse, Teig-waren, Marmelade zu erreichen, wurde der Arbeiterrat bei den Landesversorgungsstellen und dem Kommunalverband vorstellig. Eine bessere Kontrolle um Belieferung wurde zugesagt. Dann wurde der Gemeinde die Erlaubnis erteilt, Pferde schlachten und aushauen zu dürfen. Bezüglich besserer Versorgung und Erfassung der Milch wurden vom Arbeiterrat gemeinsam mit dem Bauernrat die nötigen Schritte getan. Es wurden die Kuhhalter aufgesucht und die Ställe kontrolliert. Mit dem Gemeinderat und einem Vertreter der Landesversorgungsstelle wurde verhandelt, um eine bessere Milchversorgung zu erreichen. Leider war bisher alle Tätigkeit zur besseren Versorgung mit Milch ohne greifbaren Erfolg. Besonders haben die Lieferungsorte ihre Lieferungspflicht nicht erfüllt, so daß Vaihingen heute [Frühjahr 1919; D. B. ] vor einer Milch-not steht und nur die Kranken, die Kinder und die alten Leute notdürftig mit Milch versorgt werden."

Die Wohnungsnot stand neben der Ernährungslage im Mittelpunkt der sozialfürsorgerischen Aktivitäten der Räteorgane. In Blaubeuren engagierte sich der Arbeiterrat „mit vieler Mühe und Eifer" in der Wohnungsfrage, „um die immer mehr auftretende Not zu lindern, was jetzt auch zum größten Teil gelungen ist, teils durch Einbauten, auch teils durch Verschiebung von kleinen Familien, welche zu große Wohnungen besessen haben, in kleinere Wohnungen, oder Zusammenlegen von verwandten Familien"

Die Arbeiter-und Soldatenräte waren in der Anfangsphase der Revolution Anlaufstelle für die breite Masse derjenigen, die mit der Organisierung ihres, massiven Verelendungstendenzen ausgesetzten Alltags überfordert waren. „All die Mühseligen und Beladenen sehen uns als Allheilmittel an" — diese Einschätzung des Arbeiter-und Soldatenrates Ravensburg vom Dezember 1918 trifft genau den Punkt

Im Produktionsbereich war das gravierendste Problem die Arbeitslosigkeit. Wie die Revolutionsregierung setzten auch die Räte hier an. Die Übertragung der Maßnahmen des Reichs-amtes für wirtschaftliche Demobilmachung in die gesellschaftliche Praxis gelang nur, weil die Räte „mit unzähligen Beratungen und Auskünften“ zu Hilfe kamen Doch nicht nur dies. Es wurde z. B. in Vaihingen „durch Verhandlungen mit verschiedenen Betriebsinhabern ...der achtstündige Arbeitstag und die gleiche Bezahlung wie bei der längeren Arbeitszeit durch Eingreifen des Arbeiterrates erreicht... Bei der Neufestsetzung der ortsüblichen Löhne sowie der Festsetzung von Löhnen für die Notstandsarbeiter hat der Arbeiterrat mitgewirkt."

Um die Zusammenhänge zwischen Rätepraxis und Regierungspolitik in der Anfangsphase der Revolution in einer Formel auszudrücken, wird man sagen können, daß die Erfolge des Demobilisierungsamtes die Mobilisierung politischer Energien durch Räte voraussetzten. Sie waren durch ihre Kontrolltätigkeit der Garant dafür, daß Verwaltungsmaßnahmen an die Interessen der Betroffenen gebunden blieben, nicht versandeten oder gar in ihrer Intention verfälscht wurden.

Die Funktionen der Räte wurden von den Staatsbehörden auch in der Mittelphase der Revolution noch ausdrücklich anerkannt. So heißt es in einem gemeinsamen Erlaß des Preußischen Innen-und Finanzministeriums vom 1. Januar 1919: „Die Räte haben bei den Behörden, denen sie zugeteilt sind, eine fortlaufende Kontrolle auszuüben." Auch wurde ihnen das „Recht" zugestanden, „gegen Maßnahmen der Behörden vorläufig Einspruch zu erheben". Zugleich aber werden in diesem Erlaß auch die Kompetenzgrenzen der Räte fixiert. Eingriffe in die Kassenverwaltung und die Rechtsprechung sollten unterbleiben, auch durften sie keine „Verwaltungsmaßnahmen fordern, die den geltenden Gesetzen zuwider laufen oder die geordnete und pünktliche Erledigung der Geschäfte zu hindern geeignet sind“. „Die vollziehende Gewalt steht nur den Behörden zu", heißt es abschließend.

Die hier sichtbare Distanzierung der politischen Verantwortungsträger von der Rätebewegung hatte Gründe. Es gilt die Formveränderung der Räteorgane im Verlauf der Revolution zu sehen, eine Formveränderung, die sowohl ihr Sozialprofil wie ihre politische Willensausrichtung betrifft. Zu Beginn der Revolution war es keine Seltenheit, daß in den Arbeiter-und Soldatenräten auch Anhänger bürgerlicher Parteien saßen. So bestand z. B. nach Angaben der Behörden vom 29. November 1918 der Arbeiterrat in Cleve „überwiegend aus Mitgliedern der christlichen Gewerkschaften und Bürgern. Wie hier bekannt, bekennen sich zwei Mitglieder zur gemäßigten sozialdemokratischen Partei."

Man bekommt das Räteproblem — das hat die neuere Forschung überzeugend herausgearbeitet — nur in den Griff, wenn man es auf den Entwicklungsablauf der Revolution bezieht. Eine Rätetypologie vermag Rätetypen zu bezeichnen, die den einzelnen Phasen der Revolution zugeordnet werden können. Bis zur Jahreswende 1918/19 war die Rätebewegung vor allem deshalb ein Kraftzentrum im Revolutionsgeschehen, weil es ihr gelang, Alltagsinteressen und Bedürfnissituationen breiter Massen als Bedingungsrahmen ihrer auf demokratische Durchformung von Staat und Gesellschaft abzielenden politischen Arbeit zu begreifen. Doch dieser Rückbezug auf den Alltag schwand in dem Maße, wie sich die Rätebewegung radikalisierte. Einher ging damit ein Verlust an gesellschaftlicher Resonanz, mit anderen Worten: „Was die Bewegung an Radikalität, zum Teil auch an revolutionärer Dynamik gewann, verlor sie an Breite."

Die aus dem linken Parteienspektrum sich ausklinkende Spartakusgruppe wurde zum bestimmenden Faktor der Rätebewegung an der Basis. Es wird noch darauf einzugehen sein, daß diese Entwicklung nicht allein auf dem Konto von Spartakus abgebucht werden kann, sondern auch von den politischen Entscheidungsträgern in der Revolution zu verantworten ist. Auf die sog. Radikalisierungsphase, an deren Beginn der „Spartakus-Aufstand" Anfang 1919 steht, zu der aber auch die kurzlebigen Räterepubliken von Bremen und München zu zählen sind, mag die Entwicklung in Düsseldorf einige Schlaglichter werfen In den ersten Tagen des Januar übernahm hier die Spartakus-Gruppe die „vollziehende Gewalt"

In einem Bericht des Regierungspräsidenten vom 18. Januar 1919 an das Preußische Ministerium des Innern heißt es: „An die Stelle des bisher von Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei gebildeten Arbeiterrates ist ein rein spartakistisch zusammengesetzter Vollzugsausschuß getreten, der nunmehr unter dem Namen . Vollzugsrat des Arbeiterrates'seine Anordnungen erläßt". Der Oberbürgermeister wurde abgesetzt und durch ein Vorstandsmitglied des Arbeiterrates ersetzt. Ebenso wurde die Stelle des Polizeidezernenten einem Mitglied der „Spartakuspartei" übertragen. Die Aktivitäten der Spartakusgruppe hatten einen extrem . politischen'Charakter, der durch die Revolutionsprogrammatik dieser . Partei', hier ist an die Gründung der KPD Anfang Januar zu erinnern, vorgegeben war. In bürgerliche und sozialdemokratische Presseorgane wurde . eingegriffen', Parteilokale der Zentrumspartei und der Demokraten wurden gefilzt, Mitgliederlisten . vernichtet und mit großem Aufwand wurde Agitation gegen die Wahlen zur Nationalversammlung betrieben. Man muß die von den Behörden konstatierten „anarchischen Zustände" zweifellos quellenkritisch werten; denn die alte Verwaltung war sicherlich kein unbefangener Beobachter. Doch der Streik von „Eisenbahn-, Post-und Telegraphenbeamten ... gegen die Spartakisten" fand statt, und ebenso gab es die „blutigen Zusammenstöße" des 10. Januar: Mehrheitssozialisten und Demokraten organisierten „Demonstrationsumzüge, bei welchen die überwältigende Mehrheit der Regierungsanhänger klar zutage trat".

V. Politische und soziale Weichenstellung im Revolutionsgeschehen

Wo liegen nun die Gründe für diese Polarisierung und auch dafür, daß die Spartakus-gruppe die Rätebewegung durchdringen und ihren an sozialer Demokratie orientierten Ansatz zum Verschwinden bringen konnte? Hier ist einmal an zentrale politische Entscheidungen und Weichenstellungen im Revolutionsgeschehen zu erinnern. Der eigentli-ehe Einschnitt, der es gestattet, von einer ersten Phase der Revolution zu sprechen, war die vom ersten Rätekongreß abgesegnete Entscheidung, Wahlen zur Nationalversammlung für den 19. Januar 1919 auszuschreiben. Mit ihnen verband die MSPD die Hoffnung auf eine „sozialistische Mehrheit", während ein so entschiedener Befürworter des reinen Räte-systems wie Ernst Däumig die „Zustimmung zur Nationalversammlung" mit dem „Todesurteil" für die „proletarische Demokratie" gleichsetzte Aus den Wahlen sowohl zur Nationalversammlung wie zur preußischen Landesversammlung ging zwar die MSPD als stärkste Partei hervor; da die USPD mit ihrem Stimmenanteil jedoch völlig abfiel, ergab sich die Notwendigkeit einer Koalitionsregierung mit Zentrum und Liberalen. Dies war jene parteipolitische Konstellation, die schon am Ende des Kaiserreichs die politische Verantwortung getragen hatte. Die Revolution schien an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein.

Man wird die Enttäuschung über das Nichterlangen sozialistischer Mehrheiten in weiten Teilen der Arbeiterschaft sicherlich hoch veranschlagen müssen, gerade auch auf dem Hintergrund der sich in der Rätebewegung artikulierenden politischen Bedürfnisse. Erfahrbar wurde die Tendenzwende der Revolution vor allem aber im kommunalen Bereich. Hier war — wie geschildert — die Einflußnahme der Räte am stärksten gewesen, und hier hatten sie am nachdrücklichsten ihr Recht, Vor-reiter revolutionärer Veränderung zu sein, geltend gemacht. Die Entscheidung für die Nationalversammlung war auch eine Entscheidung für die nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht zu wählenden Stadtverordnetenversammlungen. Diese Wahlen fanden Anfang März 1919 statt und brachten eine Ver-stetigung des bürgerlichen Trends. Die Kräfte, die sich in der Kriegsniederlage bewährt zu haben glaubten, sahen sich in der Gründungsphase der Weimarer Republik um ihre politische Gestaltungschance gebracht. Legalistisch hielten Arbeiter-und Soldatenräte den Amts-weg ein und erkundigten sich bei den Ministerialbehörden nach ihrem weiteren Schicksal. Die Behörden sahen in den Räten die Gefahr spartakistischer Anarchie, unfähig — und auch nicht mehr willens —, jene Entwicklung zu akzeptieren, die jenseits der Radikalisierung lag. Ein Bescheid des Preußischen Ministeriums des Innern an den Arbeiterrat in Ratingen vom 24. Mai 1919 betreffend das Kontrollrecht des Arbeiterrats bei -der Stadtverwaltung: „Der Beurteilung sind nicht die früheren, unter anderen Umständen erlassenen Anweisungen, sondern die gegenwärtigen Verhältnisse zugrunde zu legen. Nachdem die Stadtverordnetenversammlung aufgrund des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts neugewählt worden und damit eine wesentliche Änderung gegenüber dem früheren Zustande eingetreten ist, könnte die Notwendigkeit einer Kontrolle der städtischen Verwaltung durch den Arbeiterrat nur in Übereinstimmung mit dieser in erster Linie zur Ausübung der Kontrolle berufenen und geeigneten Stadtverordnetenversammlung anerkannt werden. Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich nicht nur aus dem Selbstverwaltungsrecht der Kommunen, sondern auch aus der tatsächlichen Entwicklung, in deren Verlauf eine Reihe von Arbeiterräten nach den Neuwahlen der Stadtverordnetenversammlung von sich aus ihre Tätigkeit eingestellt haben."

Es gilt die Resignation zu sehen, die mit der Radikalisierung der Rätebewegung einher-ging. Die obersten politischen Instanzen versäumten es, gesellschaftliche Spontaneität für eine Neugestaltung der Gesellschaft zu nutzen. Auch der von Mommsen für das Frühjahr 1919 richtig beobachtete „syndikalistische Einschlag“ in den Aktionen der Arbeiterschaft hängt mit der Tatsache zusammen, daß es — im Unterschied zur Anfangsphase der Revolution — für gesellschaftlich breit gelagerte politische und soziale Bedürfnisse keine Anlaufstelle mehr zu geben schien.

Während der Rhythmus der politischen Entwicklung in den Revolutionsmonaten von Wahlterminen und Wahlvorgängen bestimmt wurde, gab es für die sozialökonomische Entwicklung eine zentrale Weichenstellung: das schon in der Endphase des Krieges vorbereitete Zusammenwirken von Unternehmern und Gewerkschaften. Es schöpfte ebenso revolutionäre Dynamik ab, wie es auf Seiten der extremen Linken politischen Aktionismus freisetzte. Inhaltlich war die am 4. Dezember 1918 gegründete Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) durch das zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden am 15. November geschlossene Abkommen vorweggenommen Folgendes-wurde vereinbart: Anerkennung der Gewerkschaften als „berufene Vertretung der Arbeiterschaft"; Unzulässigkeit einet „Beschränkung der Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen"; Kriegsheimkehrer sollten ein Recht auf die „Arbeitsstelle" haben, „die sie vor dem Kriege innehatten"; das „Höchstmaß der täglichen regelmäßigen Arbeitszeit" wurde unter Ausschluß von „Verdienstschmälerungen" „für alle Betriebe auf 8 Stunden festgesetzt".

Diese „Vereinbarung" erlangte durch ihre Veröffentlichung im Reichsanzeiger’ am 18. November 1918 Rechtsqualität. Zentralen gewerkschaftlichen Forderungen der Vorkriegszeit war Rechnung getragen worden, doch Sozialisierung als Begriff und Sache blieb hintangestellt. Nur Betriebsräte wurden durch eine Verordnung des Vollzugsrates vom 23. November 1918 institutionalisiert, blieben aber auf die „Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter und Angestellten" beschränkt

Wenn auch z. B. die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919 im Zusammenhang mit der ausgebliebenen Sozialisierung zu sehen sind, obwohl Sozialisierung hier durchaus auf jene „Erwartungen höchst unmittelbarer Art“ (Mommsen) bezogen werden muß, die in „eigenen, konkreten Erfahrungen" (Brüggemeier) der Bergarbeiter wurzelten — Arbeitsbedingungen waren hier das Entscheidende —, so hat andererseits die Selbstrechtfertigung der Gewerkschaften doch auch ein Stück historischer Wahrheit für sich. Am 4. Januar 1919 hieß es im , Corres-pondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands': „Gewaltige Ereignisse des letzten Jahres sind in einen verhältnismäßig kleinen Zeitraum hineingepreßt worden. Drei Dinge sind es, die das deutsche Volk am dringendsten braucht: Frieden, Freiheit und Brot." War diese Position eigentlich so unrealistisch, wenn man sich vor Augen führt, daß z. B. in Berlin der Preis von 1 kg Roggenbrot von 29 Pfennigen (Papier-pfennigen) im Jahre 1914 auf 60 Pfennige (Papierpfennige) im Jahre 1919, der von 1 kg Rindfleisch von 176 auf 589 Pfennige (Papier-pfennige) anstieg?

Die Bedürfnissituation der damaligen Zeit muß, stärker als das bisher geschehen ist, zum Maßstab des politischen Handelns in dieser Zeit gemacht werden, freilich nicht in apologetischer, sondern unter Einbeziehung ihrer politischen Seite in kritischer Absicht. In diesem Zusammenhang wird man auch die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften zitieren müssen. Die Zahl der Mitglieder in den Freien Gewerkschaften stieg von rund 1, 2 Millionen im Jahre 1917 auf rund 7, 3 Millionen im Jahre 1919 und erreichte 1920 mit rund 8 Millionen ihren höchsten Stand in der Geschichte der Weimarer Republik

VI. Bedürfnissituation und Revolutionsweg

Wenn Jürgen Kocka die „strukturgeschichtlichen Bedingungen" der deutschen Revolution 1918/19 in der Unfähigkeit des Staates gesehen hat, die „durch den Krieg verschärften Klassenspannungen" zu meistern und „Ökonomie und Gesellschaft zu organisieren und zu integrieren“, so hat das Versanden dieser Revolution, d. h. ihre „fortschreitende Zurücknahme" (Rürup) sicherlich seinen Grund auch in der Fähigkeit des Staates, Handlungsstrategien aus gesellschaftlichen Bedürfnissen heraus zu entwickeln und auf diese zu beziehen Dem Staat und den ihn tragenden politischen und gesellschaftlichen Gruppen ist im Revolutionsgeschehen eine soziale Sensibilität sicherlich nicht abzusprechen. Auch Kuczynskis . Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus'kommt um diesen Befund nicht herum. Zwei Zitate aus dieser Darstellung: „Bei aller Bescheidenheit gegenüber den Erfolgen der Novemberrevolution, bei allem Zorn auf uns selber, die wir dem Fortschritt keine breite Gasse offenhalten konnten, bei aller unserer Wut auf die damals immer wieder siegreiche Reaktion, dürfen wir daher nicht so weit gehen, gewisse Erfolge nicht anerkennen zu wollen. Das ist um so notwendiger, als uns sonst jedes Verständnis für den ideologischen und organisatorischen Einfluß, den die Verräter der Rechten auf die Mehrheit der Arbeiterklasse in den Jahren bis 1932 ausübten, fehlen müßte.“ Und an anderer Stelle: „Die gesellschaftliche Sphäre um die Arbeiterklasse war durch die Revolution ... eine andere geworden.“

In erinnerter Erfahrung eines Bergmanns spiegelt sich, was das konkret bedeutete: „ 44 Jahre lang bin ich als Hüttenmann tätig gewesen und habe nur in den letzten Jahren nach 1920 die Vergünstigung eines Urlaubs kennengelernt. Selbst zu meiner Hochzeit durfte ich nur einen Tag der Arbeit fernbleiben, länger feiern war keineswegs möglich. Der Begriff irgendwelcher Wohlfahrtseinrichtung, die es heute gibt, war uns Arbeitern überhaupt nicht bekannt. Erst nach der Revolution von 1918 konnte der Arbeiter seine Meinung freier äußern."

Die Sonde an Alltagsprobleme gelegt zu haben, macht die Überlegenheit der von der Mehrheitssozialdemokratie gestellten, wenn auch aufgrund mangelnden Selbstbewußtseins nur unzureichend geführten Revolutionsregierung gegenüber militanten Kritikern im linken Parteienspektrum (USPD und KPD) aus. Es wäre freilich zu einfach, diesen jegliches Gespür für die Nöte der Alltagswirklichkeit in jener Zeitspanne absprechen zu wollen. Doch — das zeigt z. B. das Schicksal der . Neunerkommission'im Ruhrgebiet — die radikale Linke nahm Bedürfnisse nur unter dem Aspekt wahr, ob sie der eigenen Schlagkraft nützten; sie nahm sie nicht ernst

Auf der anderen Seite wurde zwar politisches Handeln an Bedürfnissen orientiert, es blieb aber die politische Sicherstellung von Bedürfnisbefriedigung aus. Auch 1918 ließen sich soziale und ökonomische Bedürfnisse nicht folgenlos von den „Produktions-, Aneignungs-und Austauschverhältnissen und den mit ihnen verknüpften Interessenstrukturen" (Lüdtke) isolieren. Ludwig Preller hat den Weg der Sozialpolitik in der Weimarer Republik nach-gezeichnet, ein Weg, der von den „sozialpolitischen Regelungen" der Revolutionszeit 1918 bis 1920 über den „neuen sozialpolitischen Anlauf" der Jahre 1920 bis 1923, die Phase der „Sozialpolitik in der Schwebe“ (1924/25) bis zum „Abbau der Sozialpolitik" (1928 bis 1933) führte Es ist die Frage, ob dieser Weg, der wichtige Lebensadern der Weimarer Demokratie durchschnitt, auch dann so verlaufen wäre, wenn man das Kontrollpotential der frühen Rätebewegung genutzt hätte. Vielleicht wäre dies die gesellschaftliche Rückversicherung der politischen Demokratie gewesen.

Carl von Ossietzky gedachte 1928 der deutschen Revolution als einer „verspielten Revolution". Sie sei nur ein „kurzes pathetisches Emporrecken" gewesen, dem allzu schnell ein „Niedersinken in die Alltäglichkeit" gefolgt sei Auf diese (Alltäglichkeit'sollte hier hingewiesen und das . pathetische Emporrekken‘ in ihrem Licht gesehen werden. Denn auch für diese Revolution gilt in hohem Maße, was Jacob Burckhardt den „Krisen unserer Zeit" attestierte: „Sie sind vorwiegend bedingt durch die tägliche, nicht exzeptionelle, daher je nach Umständen aufregende oder abstumpfende Wirkung von Presse und Verkehr; sie haben einen zu jeder Stunde ökonomischen Charakter."

Berichtigung

Wegen eines technischen Versehens fehlte in der Zusammenfassung des Beitrages von Hartmut und Thilo Castner in B 44/78 eine Zeile im 2. Absatz. Richtig muß es heißen: Bei der Ursachenerforschung dieser „Faschismusanfälligkeit" von Teilen der Schuljugend wird nachgewiesen, daß neben einer mißglückten Entnazifizierung auch die Politische Bildung nach 1945 für diese Entwicklung verantwortlich zeichnet, weil sie die Erziehung zur Demokratie nicht nachhaltig genug mit einem offensiven Konzept gegen die nationalsozialistische Ideologie gekoppelt hat. Ferner stellen die Autoren Indizien, Fragen und Hypothesen zusammen, die andeuten, daß unter Umständen die massiv um sich greifende Konsumerziehung, die extensive Verwöhnung von Kindern im familiären Bereich und die gesellschaftlich gebilligte Verherrlichung von Gewalt und Grausamkeit bei jungen Menschen „Ich-Schwäche" begünstigen, die ihrerseits faschistoide Wertmuster und Traditionen im Sinne eines Vorbildschemas und psychischen Halts nach sich ziehen kann. Es wird auch nicht verschwiegen, daß massenhafte Jugendarbeitslosigkeit und unsichere Zukunftsaussichten Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise der Weimarer Republik und deren Nährbodenfunktion für die faschistische Mentalität wachrufen müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. über geschichtliches Studium, Darmstadt 1962, S. 116— 140 (Die geschichtlichen Krisen); vgl. Theodor Schieder, Die historischen Krisen im Geschichtsdenken Jacob Burckhardts, in: ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962, S. 129— 162.

  2. Burckhardt, S. 127.

  3. Ebd., S. 129.

  4. Vgl. die umfangreiche Literaturzusammenstellung bei Georg P. Meyer, Bibliographie zur deutschen Revolution 1918/19, Göttingen 1977 (Arbeitsbücher zur modernen Geschichte; Bd. 5); hier vor allem die Kapitel . Soziale Bewegungen 1918/19'(S. 66— 71); . Wirtschaftsund Sozialverfassung'(S. 128— 131); . Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik'(S. 132— 135); auch die jüngste Arbeit, Wolfgang J. Mommsens Studie über „Die deutsche Revolution 1918— 1920. Politische Revolution und soziale Protestbewegung", in: Geschichte und Gesellschaft, 4. Jg., 1978, S. 362— 391, beschäftigt sich nicht explizit mit dem Revolutionsalltag. Dennoch wird die Problematik berührt, wenn Mommsen zwischen „revolutionären Bewegungen primär politischen Zuschnitts" zu Beginn der Revolution und „sozialen Protestbewegungen syndider kalistischen Zuschnitts" im Frühjahr und Sommer 1919 differenziert (vgl. S. 374 f.). Die „Zweite Welle" der Revolution wurde von Bedürfnissen angestoßen, die Bedürfnisse des Alltags breiter Arbeitermassen waren: Arbeitszeit-, Lohn-und Subsistenzforderungen.

  5. Zum Zusammenhang von verlorenen Kriegen und Rätebewegungen vgl. die Bemerkungen von Lutz Niethammer, Aktivität und Grenzen der Antifa-Ausschüsse 1945. Das Beispiel Stuttgart, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 22, 1975, S. 297— 331.

  6. Vgl. Meyer, S. 158— 161 (Rezeptionsgeschichte der Revolution).

  7. Vgl. Reinhard Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968; ders., Einleitung zu: ders. (Hrsg.), Arbeiter-und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Studien zur Geschichte der Revolution 1918/19, Wuppertal 1975, S. 7— 38.

  8. Zur sozialgeschichtlichen Grundrichtung moderner deutscher Geschichtswissenschaft vgl. Jürgen

  9. Vgl. die bei Meyer genannten Forschungen von Rürup und Eberhard Kolb; besonders Eberhard Kolb (Hrsg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972; Gerald D. Feldman, Eberhard Kolb, Reinhard Rürup, Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917— 1920), in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 13, 1972, S. 85— 105; Karl Dietrich Erdmann, Die Weimarer Republik, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 4, 1, Stuttgart 1973’, S. 145— 197.

  10. Rürup, Arbeiter-und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, S. 15 f.

  11. Burckhardt, S. 125.

  12. Zum Perspektivenreichtum eines solchen Verfahrens vgl. Georg P. Meyer, Revolutionstheorien heute. Ein kritischer Überblick in historischer Absicht, in: H. -U. Wehler (Hrsg.), 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, Göttingen 1976, S. 122— 176 (Geschichte und Gesellschaft: Sonderheft; 2).

  13. Vgl. Elmar Weingarten, Fritz Sack, Jim Schenkeln (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt 1976; Thomas Leithäuser, Kapitalistische Produktion und Vergesellschaftung des Alltags, in: ders. und Walter R. Heinz (Hrsg.), Produktion, Arbeit, Sozialisation, Frankfurt 1976, S. 48— 68; Alf Lüdtke, Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnissituation, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marx-sehen Theorie 11, Frankfurt 1978, S. 311— 350.

  14. Vgl. Lüdtke, S. 314 f.; vgl. auch das Themen-heft der . Sozialwissenschaftlichen Informationen für Unterricht und Studium', 6. Jg., H. 4, Oktober 1977, über „Bedürfnisse, Erfahrung und Verhalten"; hier besonders die mustergültige Studie von Franz Brüggemeier, Bedürfnisse, gesellschaftliche Erfahrung und politisches Verhalten: Das Beispiel der Bergarbeiter im nördlichen Ruhrgebiet gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 152— 159.

  15. Rosa Luxemburg, Internationalismus und Klassenkampf, Neuwied und Berlin 1971, S. 215, zitiert nach: Kurt Lenk, Theorien der Revolution, München 1973, S. 156.

  16. Vgl. Knut Borchardt, Wachstum und Wechsel-lagen 1914— 1970, in: Wolfgang Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts-und Sozial-geschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 685 ff., besonders S. 696— 703.

  17. Vgl. Hans Mottek, Walter Becker, Alfred Schröter, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3, Berlin (Ost) 1974, S. 230.

  18. Vgl. Borchardt, S. 696; dazu: Dietmar Petzina, Werner Abeishauser, Anselm Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. III, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914— 1945, München 1978, S. 61 (Index der Industrieproduktion 1913— 1944).

  19. Vgl. Feldman, Kolb, Rürup, Massenbewegungen der Arbeiterschaft, S. 94 f.

  20. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf, Nr. 15279, B. 1.

  21. Vgl. Meyer, Bibliographie, S. 163— 186 (Regionale und lokale Darstellungen); Rürup (Hrsg.), Arbeiter-und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet; Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven (Hrsg.), Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19, Düsseldorf 1976 (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland, Bd. II).

  22. Rürup, Probleme der Revolution, S. 24 f.

  23. Zitiert nach: Gerhard A. Ritter und Susanne Miller (Hrsg.), Die deutsche Revolution 1918 bis 1919. Dokumente, Frankfurt 1968, S. 96 f.

  24. Verordnung über Erwerbslosenfürsorge vom 13. 11. 1918, in: Ritter u. Miller, S. 222 f.

  25. Ebd., S. 227 f.

  26. Ebd., S. 228 f.

  27. Bericht des Volksbeauftragten Dittmann auf dem Rätekongreß über die Tätigkeit der Regierung, 16. 12. 1918, in: ebd., S. 204— 206.

  28. Vgl. Gerald D. Feldman, Wirtschafts-und sozialpolitische Probleme der deutschen Demobilmachung 1918/19, in: Hans Mommsen u. a. (Hrsg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 618— 636; ders., Economic and Social Problems of the German Demobilization 1918/19, in: Journal of Modern History, Bd. 47, 1975, S. 1— 47.

  29. Koeth über die . Aufgaben und die Organe'seines Amtes, in: Ritter u. Miller, S. 206— 210.

  30. Ebd., S. 208

  31. Vgl. Rürup, Arbeiter-und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, S. 16.

  32. Koeth, zitiert nach Ritter u. Miller, S. 209 f.

  33. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf, Nr. 15279.

  34. Der Landrat des Landkreises Essen an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf, vom 30. November 1918, in: ebd.

  35. Ebd.

  36. Ebd., Bl. 14.

  37. Ebd., Bl. 130.

  38. Ebd., Bl. 33.

  39. Kolb u. Schönhoven (Hrsg.), Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg, S. 372.

  40. Ebd., S. 369.

  41. Ebd., S. 365.

  42. Ebd.

  43. Ebd., S. 372.

  44. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf, Nr. 15279, Bl. 276.

  45. Ebd., Bl. 118 f.

  46. Feldman, Kolb, Rürup, Massenbewegungen der Arbeiterschaft, S. 98 f.

  47. Zur anders gelagerten Entwicklung im Ruhrgebiet vgl. Peter von Oertzen, Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 6, 1958, S. 231— 262.

  48. Vgl.den Bericht des Regierungspräsidenten an das Ministerium des Innern vom 18. Januar 1919, in: Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf, Nr. 15096, Bl. 13 f.

  49. Zitiert nach Ritter u. Miller, S. 306— 312.

  50. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf, Nr. 15279, Bl. 381.

  51. Beide Dokümente in: Ritter u. Miller, S. 214— 218.

  52. Vgl. ebd., S. 218— 219; zum Stellenwert des Betriebsrätegesetzes vom 4. 2. 1920 in der „Sozialpolitik der Weimarer Republik“ vgl. Albin Gladen, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Wiesbaden 1974, S. 91— 103.

  53. Zitiert nach Ritter u. Miller, S. 222.

  54. Vgl. Petzina u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 83 f.

  55. Vgl. Gladen, S. 93.

  56. Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914— 1918, Göttingen 1973, S. 136.

  57. Jürgen Kuczynski, Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1917/18 bis 1932/33, Berlin (Ost) 1966, S. 151.

  58. Ebd., S. 160 f.

  59. W. Jonas, Erlebnisberichte der Mansfeld-Kumpel, Berlin 1957, S. 209, zitiert nach: Kuczyns-ki, S. 160.

  60. Vgl. Lüdtke, Alltagswirklichkeit, S. 340 f.

  61. Vgl. Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949.

  62. Carl von Ossietzky, Deutschland ist ... (6. 11. 1928), in: B. Frei (Hrsg.), Carl von Ossietzky. Rechenschaft. Publizistik aus den Jahren 1913— 1933, Frankfurt 1972, S. 99 f.; zitiert nach: Meyer, Bibliographie, S. 7.

  63. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 139.

Weitere Inhalte

Dirk Blasius, Dr. phil., geb. 1941; Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Köln und Berlin; Habilitation für Mittlere und Neuere Geschichte 1974 in Düsseldorf; seit 1974 Wissenschaftlicher Rat und Professor für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Essen — Gesamthochschule. Veröffentlichungen u. a.: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozial-geschichte Preußens im Vormärz, Göttingen 1976; Lorenz v. Stein. Geschichts-und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven (zus. mit E. Pankoke), Darmstadt 1977; Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978; Aufsätze zu Methodenproblemen der Geschichtswissenschaft, zur politischen Ideengeschichte, zur Sozialgeschichte des Rechts und der Medizin.