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III. Entfaltung der Person | APuZ 7/1979 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7/1979 Artikel 1 I. Das Grundsatzprogramm der CDU II. Grundwerte als Maßstab und Orientierung III. Entfaltung der Person IV. Soziale Marktwirtschaft V. Der Staat VI. Deutschland in der Welt

III. Entfaltung der Person

Emil Nutz

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Die Aussagen des Kapitels „Entfaltung der Person" stellen auf fundamentale menschliche Lebensbezüge ab: auf Bindung und Partnerschaft in der Ehe, auf die natürliche Erziehungsgemeinschaft, die Eltern und Kinder mit Rechten und Pflichten verbindet, auf die sozialen Pflichten familiärer Solidarität, auf den persönlichkeitsprägenden Auftrag von Bildung und Erziehung, auf die schöpferische Entfaltung in der Begegnung mit Kunst und Kultur, auf die Selbstverwirklichung im Wechsel von Arbeit und Muße und auf die Bedeutung, die menschenwürdigem Wohnen und menschenwürdiger Wohnumwelt im individuellen und sozialen Wohlbefinden der Menschen zukommt.

Daß gerade diese Thematik an der Spitze aller spezifischen Sachaussagen des Grundsatz-programms ihren Platz gefunden hat, ist in der geistigen Konzeption des gesamten Programms begründet. Darauf hat Heiner Geißler bei dessen Beratung auf dem 26. Bundesparteitag der CDU ausdrücklich hingewiesen: „Unser personales Verständnis vom Menschen ist Schlüssel für das unverwechselbare Profil des Programms, für seine Unterschiedlichkeit von den Programmen anderer Parteien. Heute, wo der Konsens über die geistigen Prinzipien dieser Verfassung (i. e.: des Grundgesetzes) brüchig geworden ist, ist die Christlich Demokratische Union aufgerufen, die Philosophie personaler Freiheit und Verantwortung des Menschen wieder zu bewahren und für die Zukunft zu erneuern. Aus diesem Grund sind wir im Aufbau des Grundsatzprogramms dem Grundgesetz gefolgt und haben in sich durchaus schlüssige Wünsche, unsere Aussagen zur Außenpolitik und zum Staat oder zur sozialen Marktwirtschaft an früherer Stelle im Programm zu behandeln, nicht berücksichtigt."

Diese Parallelität der Systematik von Grundgesetz und Grundsatzprogramm der CDU findet ihre Begründung in gemeinsamen Wert-entscheidungen, die das Menschenbild und das Verhältnis von Mensch und Staat betreffen. Hatte die Lehre Hegels von der vollkommenen Verwirklichung des objektiven Geistes in der Gestalt des Staates in den letzten zwei Jahrhunderten gerade in Deutschland das Staatsverständnis maßgebend geprägt, so bedeutete das Grundgesetz demgegenüber einen geistigen Neubeginn: die Rückbesinnung auf eine 2000jährige Tradition politischer Philosophie des Abendlandes, aus dem Menschenbild eine humane Form für Staat und Gesellschaft zu entwerfen Geißler hat diesen Sachverhalt auf dem Ludwigshafener Parteitag als die Korrektur einer langen ideengeschichtlichen Fehlentwicklung charakterisiert, die im Bewußtsein christlichen Menschenverständnisses erfolgte

Daß das Grundgesetz in diesem Sinne ein Neubeginn war, läßt sich auch verfassungsgeschichtlich belegen: In der Reichsverfassung von 1871 finden Grundrechte überhaupt keine Erwähnung. In der Verfassung der Weimarer Republik steht die Organisation der staatlichen Ordnung an erster Stelle; erst danach folgt die Garantie individueller Grundrechte. Aber auch diese werden nur formal garantiert; eine materielle Garantie von Grundrechten analog der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes kannte die Weimarer Verfassung nicht.

Familie Seit Jahren bereits steht die Familie im Mittelpunkt einer tiefgreifenden geistigen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, bei der es langfristig um den Bestand einer humanen und freiheitlichen Ordnung geht. Welche Gefahren etwa aus der Familienpolitik von SPD und FDP, verdeutlicht am Zweiten Familienbericht der Bundesregierung, drohen, hat der rheinland-pfälzische Minister für Soziales, Gesundheit und Sport, Georg Gölter, bereits auf dem Grundsatzforum der CDU in Berlin umrissen: „Es ist jedoch völlig ausgeschlossen, die Familie einseitig an ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit zu messen. Die Grundrechte unseres Grundgesetzes sind mit solchen, letztlich im Totalitarismus endenden Vorstellungen nicht vereinbar." Die Folge einer derartigen Politik ist ein zunehmender Einbruch des Staates in private Freiheitsräume durch Gesetze und Gesetzentwürfe die die Rechtsordnung von vornherein auf die gestörte Familie, die gestörte Ehe, das gestörte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern hinordnen, statt von der intakten, erziehungsfähigen Familie als dem Normalfall auszugehen und das Erfordernis staatlichen Eingreifens als Ausnahmesituation zu verstehen. Die Maßstäbe, die für die Gegenposition der CDU in dieser Auseinandersetzung gelten, werden in dem Programm der CDU „Der Weg in eine gesicherte Zukunft" vom 12. Juni 1978 so definiert: „Ziel der CDU ist es, die Familie als grundgesetzlich geschützten Freiheitsraum privater Lebensgestaltung zu stärken, statt sie für die Gesellschaft total verfügbar zu machen. Nicht die Familie hat ihre fortwährende gesellschaftliche Nützlichkeit zu beweisen, sondern die gesellschaftlichen Einflüsse sind vom Staat darauf zu überprüfen, ob sie die Familie beeinträchtigen."

Die gleichen Maßstäbe gelten auch für das Grundsatzprogramm der CDU; es war ein besonderes Anliegen des Ludwigshafener Partei-tages, bei seinen Aussagen zu diesem Thema unveräußerliche Wertentscheidungen und Normen mit aktuellen Forderungen für eine konstruktive, sozialgerechte Familienpolitik zu verbinden

Ehe und Familie gelten im Grundsatzprogramm der CDU als Fundament unserer Gesellschaft und unseres Staates. Die Ehe wird als eine Gemeinschaft verstanden, die auf Lebenszeit und Partnerschaft angelegt ist. Mit dieser Aussage ist keineswegs beabsichtigt, Respekt und mitmenschliche Solidarität gegenüber Geschiedenen einzuschränken; wohl aber soll das eigentliche Ziel jeder Eheschließung hervorgehoben werden. Zugleich bedeutet Ehe aber auch Partnerschaft: Die Verpflichtung von Mann und Frau, sich gegenseitig in ihrem Wert anzuerkennen, füreinander verantwortlich zu sein und ihre Aufgaben in Familie, Erziehung der Kinder, Beruf, Gesellschaft und Freizeit gleichberechtigt zu vereinbaren.

In der Familie sieht das Grundsatzprogramm der CDU die erste und wichtigste Erziehungsgemeinschaft für das Kind. Deshalb hält es die CDU für eine hervorragende und vordringliche Aufgabe staatlicher Politik, soziale Geiechtigkeit für die Familie zu gewährleisten, statt sie unerträglichen wirtschaftlichen Belastungen und der Gefahr sozialen Abstiegs auszusetzen. Weil Kinder in den ersten Lebensjahren besondere Zuwendung brauchen und diese in der Regel den Verzicht eines Elternteils auf die Ausübung eines Berufes erfordert, wird erneut die Forderung nach einem Erziehungsgeld und nach rentensteigender Berücksichtigung von Erziehungsjahren wiederholt. Wo die Leistungsfähigkeit der Familie durch Kinderreichtum, behinderte Kinder oder die Sorge für ältere oder pflegebedürftige Angehörige besonders herausgefordert wird, muß nach Auffassung der CDU besondere Hilfe und Förderung vorgesehen werden (Ziff. 37). Durch staatlichen Familienlastenausgleich ist das Erwerbseinkommen zu einem sozialgerechten Familieneinkommen zu ergänzen (Ziff. 38).

Die CDU ist die Partei des Elternrechts; dies erweist auch das Grundsatzprogramm, das sich eindeutig zum Elternrecht wie auch zu den elterlichen Sorgepflichten, die sich aus diesem Recht ergeben, bekennt. Der Anspruch des Kindes, seinem jeweiligen Entwicklungsstadium entsprechend ernst genommen zu werden, wird dabei keineswegs übersehen. Das Programm betont die Aufgabe des Staates, die erzieherischen Kräfte der Familie zu stärken und entsprechende Bildungsund Beratungsangebote zu fördern. Eingriffe, mit denen das Erziehungsrecht eingeschränkt oder entzogen wird, sollen nur letzte Mittel sein, um Gefahr und Schaden vom Kind abzuwenden.

Die Forderungen des Grundsatzprogramms der CDU zur Familienpolitik wollen auch als Beitrag zur Überwindung des Bevölkerungsrückgangs verstanden sein, der die Funktionsfähigkeit des Generationsvertrages bedroht. Auch dieses Ziel ist jedoch weder allein mit wirtschaftlichen Hilfen noch mit moralischen Appellen zu erreichen. Worauf es für eine wirksame Familienpolitik ankommt, hat Helmut Kohl 1976 vor dem Familienbund der Deutschen Katholiken so formuliert: „Wir verstehen unter Familienpolitik natürlich mehr als Kindergeldpolitik. Die Zukunft unseres Volkes ist abhängig von einer Änderung des Bewußtseins und der moralischen Einstellung der Gesellschaft gegenüber den Zukunftsaufgaben . .. Nur dadurch können wir etwas erreichen, daß wir eine Veränderung der Gesellschaft selbst vornehmen, indem wir familien-und kinderfreundliche Entwicklungen fördern."

Jugendpolitik Die CDU fordert in ihrem Grundsatzprogramm von Staat und Gesellschaft, daß sie das Vertrauen und das Engagement der Jugend rechtfertigen und ihr die Möglichkeit geben, sich gesellschaftlich und politisch ohne Bevormundung und Reglementierung zu entfalten. Besondere Förderungswürdigkeit mißt die CDU der sozialen und politischen Tätigkeit in der verbandlichen und offenen Jugendarbeit bei, insbesondere dem Einsatz für die Gemeinschaft in sozialen Diensten, in der Entwicklungshilfe sowie bei der Mitwirkung von einzelnen und Gruppen im Bereich der Hilfen für Behinderte, Umsiedler, alte Menschen, Sucht-und Drogengefährdete und Jugendliche in Strafanstalten. Die pädagogische und soziale Verantwortung des Staates besteht nach Auffassung der CDU in erster Linie darin, dieses Engagement zu ermutigen und zu fördern, statt durch Ausweitung staatlicher Zuständigkeiten und Überschätzung staatlicher Leistungsfähigkeit die Bereitschaft des einzelnen zu solidarischem und verantwortlichem Handeln zu ersticken.

Gerade für den Weg des Jugendlichen gilt: Verantwortung will gelernt sein, muß sich in der Praxis bewähren können. Mit der eigenständigen jugendpolitischen Aussage ihres Grundsatzprogramms hat die CDU in knapper Form bestätigt, was sie an Forderungen und Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels bereits in ihrem Programm zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend und in ihren jugendpolitischen Leitsätzen formuliert hat.

Erziehung, Bildung und Kultur Heinrich Koppler hat in seiner Einleitung zum Entfaltungskapitel des Grundsatzprogramms auf zwei tragende Gedanken dieses Abschnitts hingewiesen: auf den Vorrang der Erziehung vor der Wissensvermittlung und auf die hervorragende Bedeutung der individuellen — nicht institutioneilen — pädagogischen Verantwortung. Beide Grundgedanken haben gemeinsam, daß sie die humane Dimension und den personalen Bezug von Erziehung, Bildung und Kultur in den Vordergrund stellen, vom Menschenbild des Programms und von den individuellen Belangen des Kindes, des jungen Menschen und des bildungsbereiten Erwachsenen ausgehend.

Dabei knüpft das Programm weder an den Begabungsoptimismus der technokratischen Bildungsreform an, noch wird versucht, an dessen Stelle einen „naiven und eindimensionalen Entfaltungsoptimismus" (Werner Remmers) zu setzen. Auch dem bildungsorganisatorischen Perfektionismus der sechziger Jahre wird eine Absage erteilt. Wohl enthält das Programm Maßstäbe für eine sachgerechte, an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientierte Gliederung des Bildungsangebotes. Schulorganisatorische Details dagegen wird man vergeblich suchen.

Im Mittelpunkt der bildungsund kulturpolitischen Aussagen des Grundsatzprogramms steht der Mensch. Wertentscheidungen und Tugenden, Erziehungsziele und Bildungsinhalte, die hier vorgegeben werden, sind an den Menschen adressiert. Sie sollen zur Entfaltung seiner Persönlichkeit beitragen, nicht aber funktionsfähige Glieder eines Kollektivs formen: Nur der einzelne vermag sein Leben in verantworteter Freiheit zu gestalten (Ziff. 41), das Bewußtsein seiner Würde und Freiheit zu erwerben, Pflichten zu erfüllen und Rechte zu gebrauchen, Toleranz und Mitmenschlichkeit zu üben und sich zum Grundkonsens im Wertbewußtsein und über die Formen des menschlichen Miteinanders zu bekennen (Ziff. 42). Nur der einzelne vermag einen religiösen und ethischen Standpunkt zu finden, sich zur Übernahme von Verantwortung in der Gemeinschaft zu entscheiden, sich der Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen (Ziff. 42/43).

Während die Schulpraxis sozialdemokratisch regierter Länder Geschichtsbewußtsein und Geschichtskenntnis aus dem Unterricht ver-bannt, sieht die CDU eine wichtige Aufgabe personaler Erziehung in einem Geschichtsunterricht, der Urteilsfähigkeit begründet, die Widerstandsfähigkeit gegen ideologische Verführung stärkt und Toleranz erleichtert. Die Begegnung mit Kunst und Kultur schließlich, die Erschließung der schöpferischen Kräfte des Menschen, seines Reichtums an Ideen, seiner Gestaltungskraft und seines Sinnes für Schönheit sind darauf angelegt, eine Dimension personaler Entfaltung und Selbstverwirklichung zu eröffnen, die nur dem einzelnen Menschen unmittelbar zugänglich ist und sich ihrem Wesen nach der Verfügbarkeit durch Kollektivierung und Organisation entzieht (Ziff. 45).

Die Grundwertentscheidungen des Programms stellen diese Ziele personaler Erziehung, die „den geschlossenen Kreis des bloßen Funktionierens überschreiten" (Werner Remmers) ebenso unter den Vorbehalt der Freiheit wie die bildungspolitischen Forderungen, in denen Zweckgebundenheit betont wird. Dies gilt vor allem für die bessere Abstimmung von Bildungsangebot und Anforderungen der Berufswelt, die für sachlich unerläßlich gehalten wird, aber auf keinen Fall zu einer administrativen Lenkung der Jugendlichen entarten soll (Ziff. 48).

Im personalen Verständnis von Erziehung und Bildung muß das Elternrecht zwangsläufig einen besonderen Rang einnehmen. Es ist den Rechten des Staates vorgegeben und daher für den Staat nicht beliebig verfügbar, schließt aber gerade daher eine besonders hohe erzieherische Verantwortung der Eltern ein. Aus diesem Grund hält die CDU auch den pädagogischen Auftrag der Schule nur in Partnerschaft von Eltern und Lehrern für realisierbar. Ihr Zusammenwirken und das Maß an Zuwendung, Führung und Vertrauen, das der Schüler daraus erfährt, sind für die Schule unerläßliche Voraussetzungen, ihr pädagogisches Ziel zu erreichen. Deshalb fordert die CDU eine Lehrerbildung, die erzieherische Verantwortung fördert und zu personaler Erziehung befähigt (Ziff. 47), und ein Bildungsangebot, das die Wahlmöglichkeit der Eltern innerhalb eines angemessenen Angebotes unterschiedlicher Bildungsgänge und zwischen öffentlichen und freien Trägern des Bildungswesens gewährleistet (Ziff. 121).

Personale Erziehung und Bildung haben zugleich eine soziale Dimension. Das GrundsatzProgramm macht dies bei den Wertentscheidungen und Tugenden deutlich, die Erziehung und Bildung vermitteln sollen, so bei den Aussagen zu Leistung und Leistungsbereitschaft als Voraussetzungen der Solidarität, zu Toleranz und Mitmenschlichkeit, zum Grund-konsens im zwischenmenschlichen Umgang und im Wertbewußtsein und zur Bejahung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates.

Wesentlich für die soziale Perspektive dieses Kapitels ist die Aussage zur Chancengerechtigkeit. Bildungspolitik muß im sozialen Rechtsstaat von der grundlegenden Rechts-gleichheit aller Menschen ausgehen und zugleich die Unterschiede ihrer Anlagen und Fähigkeiten berücksichtigen. Dieses und nichts anderes meint Chancengerechtigkeit; der Begriffsstreit um die Alternative „Chancengleichheit" ist bereits im Grundwertekapitel (Ziff. 28) vorentschieden worden. Praktisch bedeutet die Forderung nach Chancengerechtigkeit für das Programm der CDU: Gleichwertigkeit von berufspraktisch und theoretisch angelegter Bildung, verstärkte Förderung der beruflichen Bildung, mehr Berufsberatung und bessere Orientierung des Ausbildungsangebotes an späteren Berufschancen, unverminderte Chancen auch für die Jugendlichen geburtenstarker Jahrgänge, mehr berufliche Alternativen zur Hochschulausbildung, gerechte finanzielle Entlastung der Ausbildungsbetriebe, Sicherung der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit des einzelnen durch ein umfassendes Angebot beruflicher und politischer Fort-und Weiterbildung (Ziff. 48; Ziff. 42, 2. Absatz).

Die Diskussion in der Öffentlichkeit um eine wertorientierte Bildungspolitik, um die Abkehr von einer technokratischen Bildungsreform und die Rückgewinnung des Erzieherischen hat im Scheitern einer utopischen sozialistischen Bildungspolitik und in der Auseinandersetzung mit den Lehrplänen und Rahmenrichtlinien in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die auf sozialistische Gesellschaftsveränderung angelegt waren, in der ersten Hälfte der siebziger Jahre ihren Ausgang genommen. Sie ist politisch und literarisch von führenden Politikern der CDU und CSU wie Hanna Renate Laurien, Wolfgang Brüggemann, Wilhelm Hahn, Hans Maier und Bernhard Vogel bestritten worden Was das Grundsatzprogramm der CDU zur Erziehung, Bildung und Kultur zu sagen hat, ist das Fazit der damals in Gang gesetzten Diskussion. Es ist ein Fazit, das — wie das Koop-Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen gezeigt hat — weit über die Grenzen parteipolitischer Sympathie für die CDU hinaus in der Bevölkerung konsens-und politisch mehrheitsfähig ist. Die CDU versteht dieses Fazit daher mit Recht auch als Angebot an alle demokratischen Kräfte in der Politik, zu mehr Gemeinsamkeit in Erziehung und Bildung zurückzufinden.

Arbeit und Freizeit Die CDU kann für sich in Anspruch nehmen, seit der Stunde des Neubeginns und dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg die Partei zu sein, deren Politik für Vollbeschäftigung und Überwindung der Arbeitslosigkeit steht. Aber auch in diesem Bewußtsein wurde sie vor und auf dem Ludwigshafener Programmparteitag konfrontiert mit der Tatsache, daß unter der politischen Verantwortung von SPD und FDP seit Jahren mehr als 1 Million Menschen in der Bundesrepublik arbeitslos und damit zutiefst in ihrer persönlichen Existenz betroffen sind. Ihr moralischer Anspruch, „mit den eigenen Händen, mit dem eigenen Kopf ihr Brot zu verdienen" (Norbert Blüm) muß gerade von einer Partei anerkannt werden, die sich christlich-sozialer Tradition verpflichtet weiß. Daher ist es naheliegend, daß die Diskussion um den Begriff „Recht auf Arbeit" zum die Schlagzeilen beherrschenden Thema dieses Parteitags wurde, und daß zugleich andere, als Alternativen zu überkommenen sozialistischen Denkschablonen wichtige Aussagen zu Arbeit und Freizeit dadurch in der Parteitagsdiskussion und in der Öffentlichkeit unangemessen in den Hintergrund gerieten.

Der Bundesvorstand der CDU hatte in seinem Programmentwurf den Begriff „Freiheitsrecht auf Arbeit" gewählt, um zu verdeutlichen, daß es sich hier um einen sozialethischen Anspruch und nicht um positives, einklagbares Recht handele. Dennoch begegnete auch dieser Begriff in den Diskussionen des Parteitages einem erheblichen Mißtrauen. Befürchtet wurde die Verfälschung des Begriffes durch den politischen Gegner, der für die sozialistische Praxis der Verwaltung des Mangels daraus eine zusätzliche Legitimation herleiten könnte. Aber auch auf ein weitergehendes politisches Bedenken wies der Vorsitzende des Wirtschaftsrates der CDU, Philipp von Bismarck, hin: daß der Begriff „Recht auf Arbeit" bei aller Würdigung seiner sozial-ethischen Tradition die Gefahr in sich trage, Verantwortung für die Vollbeschäftigung einseitig zu Lasten der Arbeitgeber zu verteilen. Dies liege um so näher, betonte Bismarck, als man in der zurückliegenden Zeit den Tarifpartnern einseitig die Verantwortung für Vollbeschäftigung verbal abgenommen habe.

Der lange Zeitraum, von dem Bismarck hier sprach, erschwerte sicher auch dem Parteitag der CDU bei diesem Thema die Rückbesinnung auf die eigene Programmtradition. Für die Programmparteitage der CDU in Berlin 1968, in Düsseldorf 1971 und auch in Hamburg 1973 waren Begriffe wie Arbeitslosigkeit und Recht auf Arbeit tagespolitische Fremd-worte; das Arbeitsmarktproblem jener Zeit hieß Mangel an Arbeitskräften. Dagegen hatte die CDU in ihren Düsseldorfer Leitsätzen über Wirtschaftspolitik, Landwirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Wohnungsbau vom 15. Juli 1949, mit denen in der Parteiprogrammatik der CDU die Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft fiel, zum Recht auf Arbeit eine unmißverständliche Aussage getroffen: „ 1. Das Recht auf Arbeit: Jeder Mensch hat ein natürliches Recht auf Arbeit. Es muß möglichst durch eine auf Vollbeschäftigung zielende Wirtschaftspolitik verwirklicht werden. Die Politik der Vollbeschäftigung darf jedoch nicht dazu führen, daß sie unter dem Deckmantel eines programmierten Rechts auf Arbeit sich in eine Pflicht zur Arbeit verwandelt, welche nur mit Aufhebung der freien Berufswahl und des freien Arbeitsplatzwechsels und schließlich nur mit Dienstverpflichtungen durchzuführen ist."

An diese Programmaussage knüpfte auch Helmut Kohl an, als er den Ludwigshafener Parteitag beschwor, angesichts der persönlichen Situation von Hunderttausenden arbeitsloser Menschen, angesichts der Fragen, die den Politikern vor den Fabriktoren gestellt werden und angesichts der Programmtradition der CDU und ihrer europäischen Schwesterparteien die Pflicht zur politischen Kontinuität höher zu werten als die Furcht vor Fehlinterpretationen durch den politischen Gegner. Erst dieses leidenschaftliche persönliche Engagement des Parteivorsitzenden bewog die Mehrheit der Delegierten, der Formulierung der Vorstandsvorlage „Freiheitsrecht auf Arbeit" zuzustimmen.

Die Aussagen des Grundsatzprogramms der CDU zum Thema „Arbeit und Freizeit" erschöpfen sich aber nicht im Bekenntnis zum Freiheitsrecht auf Arbeit. Für die Programmatik einer christlichen Partei sind die Wertungen nicht weniger wichtig, mit denen ein christlich-humanistisches Verständnis von Arbeit und Freizeit gegen marxistische Denkschablonen abgegrenzt wird. Norbert Blüm hat dies in einem Diskussionsbeitrag deutlich gemacht und hervorgehoben, — daß Arbeit im Verständnis der CDU nicht lediglich Erwerbsarbeit ist (Ziff. 55) und daß damit eine kapitalistisch-marxistische Verengung, Arbeit nur auf Lohnarbeit und Erwerbstätigkeit zu beschränken, korrigiert und etwa die Arbeit einer Mutter nach anderen — christlich-humanen — Maßstäben gemessen wird; — daß auch Unternehmer und Selbständige in diesem Kapitel — von altmarxistischen Schablonen befreit — nicht als Ausbeuter erscheinen, sondern als Menschen, die in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nur andere Arbeit leisten als der Arbeitnehmer, aber eben auch Arbeit; — daß Arbeit in diesem Grundsatzprogramm textlich in Zusammenhang steht mit Freizeit, aber auch mit Bildung und Erziehung, und daß das Programm damit einem humanen Grundverständnis folgt, das Bildung wie Arbeit als kulturelle Formen der Selbstverwirklichung ansieht.

Allein die qualitative und quantitative Entwicklung von Arbeitszeit und Freizeit von der Jahrhundertwende bis in unsere Tage macht deutlich, daß die Situation des — ganz gleich in welcher Funktion — arbeitenden Menschen mit Begriffen und Denkschablonen aus der Anfangsphase der Industrialisierung nicht mehr zu beschreiben ist. Hier liegt die Rückständigkeit derer, die heute in Politik und Arbeitswelt Zukunftsprobleme mit den Schlagworten und mit den Lösungsperspektiven des Marxismus bewältigen wollen. Die Aussagen des Grundsatzprogramms der CDU zur Entfaltung des Menschen in Bildung und Erziehung, in Arbeit und Freizeit offenbaren dagegen die Perspektive einer christlich-humanistischen Kulturtradition, die in den verschiedenen Lebenssituationen dem Menschen der Industriegesellschaft und des nach-industriellen Zeitalters eine Antwort auf die Probleme seiner Zeit, nicht zuletzt auf die Frage nach sinnvollen Formen seiner Selbstverwirklichung zu geben vermag. Die CDU hat damit nicht nur ein zeitgerechtes, sondern auch das humanere Konzept. Es in praktische Politik umzusetzen heißt zuallererst, das Bewußtsein der Menschen zu verändern und die verstaubten Denkschablonen des Marxismus und des Klassenkampfes zu überwinden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Protokoll, S. 117.

  2. Protokoll, S. 116.

  3. Protokoll, S. 117.

  4. Grundsatzforum, S. 81.

  5. Vgl. dazu Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge (Gesetzentwurf der Bundesregierung), BT-Drs. 7/2060 vom 2. 5. 1974; Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge (Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, FDP), BT-Drs. 8/111 vom 10. 2. 1977; Entwurf eines Sozialgesetzbuches (SGB) — Jugendhilfe — (Gesetzentwurf der Bundesregierung), BR-Drs. 517/78 vom 9. 11. 1978.

  6. CDU (Hrsg.), Der Weg in eine gesicherte Zukunft — Programm zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend vom 12. Juni 1978, Bonn 1978, S. 11.

  7. Vgl. Heinrich Koppler, Einleitungsrede zu Kapitel III, in: Protokoll, S. 170.

  8. Helmut Kohl, Freiheitliche Lebenschancen für die Familien. Rede vor dem Familienbund der Deutschen Katholiken, Landesverband Bayern, am 16. Mai 1976 in Bamberg, Bonn o. Jg., S. 8.

  9. CDU, Der Weg in eine gesicherte Zukunft, S. 18 ff.

  10. CDU (Hrsg.), Jugendpolitische Leitsätze der CDU, Bonn 1976.

  11. Grundsatzforum, S. 101.

  12. Grundsatzforum, S. 102.

  13. Vgl. dazu u. a.: Wolfgang Brüggemann, Auf dem Weg zu einer anderen Republik? Richtlinien für den politischen Unterricht in NRW, Sonder-

  14. Protokoll, S. 205.

  15. Protokoll, S. 204 f.

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Emil Nutz, geb. 1938, kath. -theologisches und rechtswissenschaftliches Studium in Trier, Freiburg und Bonn, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Studentenschaften 1964/65; seit 1972 Leiter der Gruppe Bildung und Jugend der CDU-Bundesgeschäftsstelle.