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Wo steht China -Wohin bewegt sich China? Überlegungen zum Modernisierungskurs der neuen politischen Führung Chinas | APuZ 8/1979 | bpb.de

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APuZ 8/1979 Artikel 1 Die chinesische Außenpolitik seit dem Tode Mao Tse-tungs Wo steht China -Wohin bewegt sich China? Überlegungen zum Modernisierungskurs der neuen politischen Führung Chinas ASEAN -die Gemeinschaft der südostasiatischen Nationen

Wo steht China -Wohin bewegt sich China? Überlegungen zum Modernisierungskurs der neuen politischen Führung Chinas

Dieter Senghaas

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Zusammenfassung

Die neue politische Führung Chinas hat nach dem Tode Tschou En-Lais und Mao Tse-tungs neue Akzente gesetzt, die ein Abrücken von kulturrevolutionärer Programmatik vermuten lassen. Nachdruck wird auf die vier Modernisierungen gelegt, die China bis zur Jahrhundertwende zu einer führenden Industriemacht machen sollen: die Modernisierung von Landwirtschaft, Industrie, Militär und von Wissenschaft und Technologie. Der Beitrag untersucht kurz die erfolgten inhaltlichen Akzentverschiebungen, um in einer ersten Interpretation die Frage zu beantworten, ob eine solche Reorientierung chinesischer Entwicklungspolitik einen Bruch mit dem überkommenen Entwicklungsweg Chinas der vergangenen dreißig Jahren darstellt — oder nicht. Betont werden die Mehrgleisigkeit chinesischer Entwicklung nach 1949 und die Fragwürdigkeit einer Interpretation, die das „chinesische Entwicklungsmodell" allein auf eine der beiden wesentlichen Komponenten des chinesischen Entwicklungsweges, die Erschließung des ländlichen Raumes, zurückführt, ohne die zweite Komponente, den systematischen Aufbau eines schwerindustriellen modernen Sektors, zu berücksichtigen. Obgleich eingehende Analysen der chinesischen Gesellschaftsstruktur — und hier insbesondere der Klassenstruktur — nicht verfügbar sind, so ist doch zu vermuten, daß auch beim jetzt verfolgten Entwicklungskurs erhebliche politische Konfliktpotentiale angelegt sind. Diese ergeben sich u. a. aus der Kluft zwischen enormen Kapitalerfordernissen für die Durchführung des Modernisierungskurses und den Versprechungen der neuen Führung, der neue Kurs würde bald zu einer Steigerung des Lebensstandards führen. Angesichts des erreichten Entwicklungsstandes Chinas hält der Autor den neuen Kurs für überfällig.

Seit 1976, dem Todesjahr Tschou En-Iais und Mao Tse-tungs, ist in China viel in Bewegung geraten. Das Land, das trotz inzwischen freizügiger Reisemöglichkeiten in vielen Bereichen noch abgekapselt ist, gibt Reisenden aus dem Ausland und auswärtigen Beobachtern erneut Rätsel auf. Und vielleicht durchschauen auch viele Chinesen die um sie herum sich abspielenden Vorgänge nicht. Auf der Oberfläche erscheint die Atmosphäre in China heute euphorisch. Die „Viererbande", die seit zwei Jahren mit Schimpf und Schande bedacht wird, ist ausgebootet, und der Beginn eines neuen, zukunftsweisenden politischen und ökonomischen Kurses zeichnet sich ab. Doch wie tief reicht die allenthalben geäußerte Erleichterung über das Ende der Sabotageakte der Viererbande? Ist die Befürchtung so ungerechtfertigt, daß die Auseinandersetzung mit der Viererbande durch die neue Führung auch den Beginn einer, wenngleich vorsichtigen Entmaoisierung Chinas einleitet? Folgt dem von Mao inszenierten „Großen Sprung nach vorne" und der „Großen Proletarischen Kulturrevolution" nunmehr ein von der neuen Führung bewußt inszenierter „Großer Sprung zurück", wie ernst zu nehmende Kommentatoren im Westen befürchten? Und falls es tatsächlich zu einem Sieg über die „revolutionäre Linie“, für die Mao Tse-tung einstand, kommt, würde ein solcher Kurswechsel problemlos von wichtigen Teilen der Bevölkerung angenommen? Oder sind die vier Modernisierungen — die Modernisierung von Landwirtschaft, Industrie, Militär, Wissenschaft und Technologie —, die die Führung, Tschou En-lai folgend, heute zum Inbegriff ihrer politischen und ökonomischen Zielsetzungen gemacht hat, möglicherweise Ausdruck eines „Neuen Gro-ßen Sprunges nach vorne", der als konsequente Fortsetzung des seit 1949 verfolgten Entwicklungsweges interpretiert werden kann?

Keine dieser Fragen kann mit Gewißheit beantwortet werden. Sicher ist nur, daß China sich heute erneut — wie mehrfach nach 1949 — in einer entscheidenden Umbruch-phase befindet, deren tieferliegende bewegende soziale Kräfte keineswegs leicht benennbar sind, weder durch Ausländer noch vermutlich durch viele Chinesen selbst. Unschwer sind zwei Jahre nach 1976 die Zielsetzungen der neuen politischen Führung zu benennen, doch die Erfolgschancen der vier Modernisierungen und der Stellenwert des Modernisierungskurses im Hinblick auf den überkommenen Entwicklungsweg Chinas nach 1949 sind nur vorläufig abschätzbar.

Reorientierung der Entwicklungsstrategie Liest man die Dokumente, die in den vergangenen zwei Jahren den politischen Willen der neuen Führung zum Ausdruck brachten, so sind tiefgreifende Akzentverschiebungen gegenüber den Dokumenten aus der Zeit der Kulturrevolution nach 1967 unübersehbar. Allerdings bleibt bei einer solchen Inhalts-analyse offen, inwieweit die in den Dokumenten der Kulturrevolution genannten Zielsetzungen in Teilbereichen bzw. insgesamt die chinesische Wirklichkeit wirklich strukturiert und geprägt haben, bzw. inwieweit die darin artikulierten kulturrevolutionären Zielsetzungen in weiten Teilen Chinas rhetorischer über-bau geblieben sind? Wäre letzteres der Fall, so wäre der Bruch zwischen der heutigen Führung und den nach 1966 handelnden politischen Kräften weit weniger tief, als eine idealtypische Gegenüberstellung der politischen Programmatik der Jahre nach 1966 und nach 1976 unterstellen muß. Mit diesem Vorbehalt soll die Frage beantwortet werden, hinsichtlich welcher Zielsetzungen durch die neue Führung eine programmatische Reorientierung erfolgte. Zusammenfassend und in aller Kürze seien folgende wesentliche Punkte genannt: 1. In den Äußerungen der neuen Führung wird deutlich und ohne Einschränkung die Erhöhung der Leistungsfähigkeit der chinesischen Wirtschaft in den Mittelpunkt gestellt. Das wirtschaftliche Wachstum soll erhöht und die Ergebnisse der Ertragssteigerung sollen schnell verwirklicht werden. Die Diktion der neuen Führung ist ökonomistisch; in ihr findet sich jene Reflexion nicht wieder, die, wie in Maos Schriften und in Dokumenten der Kulturrevolution, nach dem Zusammenhang von Produktionssteigerung und politisch-institutionellem Rahmen, also von Produktivkraftentfaltung und Produktionsverhältnissen fragt. 2. Von dieser Prämisse ausgehend, sind die Akzente im einzelnen konsequent. Betont werden Zielsetzungen und Werte wie leistungsorientiertes Arbeiten, einschließlich der Akzentuierung von Prämien und der Einführung, neben dem Zeitlohn, des Stücklohnes sowie der Herausbildung differenzierter Löhne über das bisherige Achtstufensystem hinaus. Betont werden die Rolle von Leitungsverantwortung, Direktoriatsverwaltung, Autorität und Hierarchie; weiterhin Ordnung, Disziplin und Effektivität — all dies in deutlichem Gegensatz zu den offen proklamierten Zielsetzungen der Kulturrevolution wie Selbstbestimmung, partizipatorische Führung, Aufforderung zur Kritik an überkommenen Autoritäten im Großen und im Kleinen. War die „Politik der Massenlinie" vielleicht niemals repräsentativ für die chinesische Wirklichkeit insgesamt, wenngleich sie in Teilbereichen große Bedeutung hatte, so finden sich nunmehr kaum Hinweise mehr auf die schöpferische Rolle der Eigeninitiative von Arbeitern, Bauern und Intelligenzlern; kaum Hinweise mehr auf das Vertrauen in die Eigen-kräfte experimentierfreudiger Menschen bei der Lösung kleiner und großer Probleme. Ordnung, Disziplin — und damit inbegriffen: Reglementierung — markieren den organistori-sehen Rahmen, innerhalb dessen die neuen Zielsetzungen sich verwirklichen lassen sollen. 3. Damit hängt eng die Betonung von Fach-expertise, wirtschaftlicher und technologischer Kompetenz, die führende Rolle von Fachpersonal und Kadern zusammen. Während im Er-ziehungsund Wissenschaftsbereich seit Beginn der Kulturrevolution autoritäre Strukturen eher abgebaut worden sind, werden nunmehr eine Reakademisierung, eine scharfe Auslese der Besten, Prüfungen als Eingangs-, Zwischen-und Endhürden von Berufskarrieren, Spezialwissen, wenn erforderlich auch ohne politische Bewußtseinsbildung, propagiert. Damit wird der Neutralität von Wissenschaft und Technologie das Wort geredet; der in der Kulturrevolution betonte Klassencharakter beider wird verneint. Gültig ist, was greifbar, erfahr-

überprüfbar Der Philosophie, bar, ist.der Theorie und dem Ideologischen werden Empirizismus und Pragmatismus entgegengestellt.

Höhere wirtschaftliche Erträge auf Grund einer wissenschaftlich und technologisch begründeten Leistungssteigerung der Ökonomie als Fortschritt dem Wege zum werden auf Sozialismus verstanden — ganz im Gegensatz zur Theorie Mao Tse-tungs, in der — zumindest in der Regel — den Veränderungen in den Produktionsverhältnissen (und damit auch der politischen Bewußtseinsbildung) ein gewisses, wenn auch pragmatisch gehandhabter Vorrang vor Steigerungen der Wirtschaftskraft zudiktiert wurde. Es kann deshalb nicht überraschen, daß in den neueren offiziellen Dokumenten Chinas zwar immer noch die Rede von Klassenkampf ist, jedoch erscheint dieser in der politischen Sphäre angesiedelt, die bewußt von der durch Sachgesetzlichkeiten bestimmten Ökonomie abgetrennt gesehen wird. Die für den Maoismus und eine materialistische Theorie kennzeichnende Dialektik von überbau und Unterbau, von Politik und Ökonomie, von Bewußtseinsbildung und Gesellschaftsstruktur wird, ähnlich wie schon in den Dokumenten des großen früheren Gegenspielers Mao Tse-tungs, nämlich Liu Shao-ch'is, verneint.

4. Der Liuismus der neuen Führung zeigt sich auch im politisch-administrativen Bereich. Große Aufmerksamkeit gilt der Stärkung der Partei-, Staats-und Kadermaschinerie. Partizipatorische Organisationsmuster vom Typ basisdemokratischer Ausschüsse und Revolutionskomitees werden entweder beseitigt oder ihrer ursprünglichen Substanz entkleidet. Viele der Revolutionskomitees sinken zu bloßen Verwaltungsorganen ab — oder sind inzwischen abgeschafft. Angestrebt wird eine Re-zentralisierung und die administrative Gliederung Chinas in sechs Großregionen.

Das Bild, das die neue Führung vom China der Zukunft vermittelt, zeigt dieses Land weit mehr industrialisiert, zentralisierter, disziplinierter und in sich stärker gegliedert, nach außen militärisch mächtiger, hinsichtlich seiner politischen, wirtschaftlichen und militärischen Führung fähiger und effizienter, als es für das China der Jahre nach 1966 angeblich der Fall war. Wie ist die hier kurz umrissene Reorientierung, die inzwischen konkrete Folgewirkungen in China zeitigt, zu interpretieren? Wie läßt sie sich in das überkommene Muster des chinesischen Entwicklungsweges nach 1949 einfügen? Stellt sie einen Bruch mit diesem Entwicklungsweg dar, oder läßt sie sich in diesen Entwicklungsweg ähnlich jenen überkommenen Etappen einfügen, die — obgleich höchst widersprüchlich — zur Herausbildung einer einigermaßen lebens-und leistungsfähigen Wirtschaft beigetragen haben?

Der neue Kurs im Rahmen des überkommenen Entwicklungsweges Der Erfolg des chinesischen Entwicklungsweges nach 1949 wird heute von fachkundigen Beobachtern kaum noch bestritten. Oft wird Chinas Entwicklung als musterhaft für die Dritte Welt überhaupt empfohlen. Worin besteht Mitte der 70er Jahre die solide Grundlage der Wirtschaft Chinas, auf der — trotz aller politischen und naturbedingten Wechselfälle der vergangenen Jahre — auch die neue Führung aufbauen kann?

Nach 30 Jahren eigenständiger Entwicklung besteht die Stärke der chinesischen Wirtschaft darin, daß ihre Leistungsfähigkeit die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse von mehr als 800 Millionen Menschen einigermaßen zu garantieren imstande ist. Zwar ist der durchschnittliche Lebensstandard der Masse der Menschen noch relativ niedrig, aber man übertreibt wohl nicht, wenn man behauptet, daß es heute in China kein Massenelend gibt, das für den Rest der Dritten Welt so typisch ist. Der Terminologie der Weltbank folgend, existiert in China relative Armut, jedoch nicht absolute Armut. Und daß dies für mehr als 800 Millionen Menschen gilt und nicht nur für einen kleinen Prozentsatz der chinesischen Bevölkerung, ist angesichts des noch vor wenigen Jahrzehnten bestehenden Elends in China und angesichts der damaligen chronischen Anfälligkeit gegenüber Naturkatastrophen eine ungewöhnliche Leistung. Bemerkenswert ist auch, daß es China gelungen ist, eine in sich vielfältig gegliederte und vollständige, also kohärente Ökonomie aufzubauen. In ihr sind sämtliche Bausteine einer lebensfähigen Ökonomie anzutreffen: Schwerindustrie, Produktionsgüterindustrie, Forschungs-und Entwicklungszentren, Leichtindustrie — und insbesondere eine Landwirtschaft auf solider Grundlage, in der noch ein erhebliches Ausmaß an Entwicklungspotential (und damit an Output-Steigerung) steckt.

Von Anfang an war Chinas Ökonomie — übertrieben formuliert — zweigeteilt. Zum einen wurde unmittelbar nach 1949, dem sowjetischen Modell folgend, die Grundlage für einen schwerindustriellen Kern gelegt, von dem die späteren Etappen der chinesischen Entwicklung auch dann noch zehrten, als es zum tiefen Bruch mit der Sowjetunion am Ende der 50er Jahre kam: Die stilisierenden Darstellungen des chinesischen Entwicklungsmodells widersprechend, spielte dieser schwer-industrielle, staatlich zentral gelenkte Industriekern auch in jenen Phasen der Entwicklung eine Rolle, in denen in der politischen Rhetorik anderen Bausteinen chinesischer Ökonomie (wie beispielsweise der Landwirtschaft und der lokalen Industrie) Vorrang eingeräumt wurde. Insofern steht die neue Führung, deren Modernisierungsprogramm eine Forcierung dieses staatlich zentral gelenkten Industriekerns bedeutet, in voller Kontinuität mit jener Entwicklung, die 1949 einsetzte, mit dem Großen Sprung nach vorne kurzfristig abgeschwächt wurde und nach 1961, nunmehr allerdings auf eigenen Beinen gehend, sich fortsetzte — eine Entwicklung, die auch während der Kulturrevolution keineswegs unterbrochen wurde und die seit Beginn der 70er Jahre durch den Ankauf großer ausländischer Industrieanlagen zusätzlich stimuliert werden sollte.

Obwohl dieser schwerindustrielle Kern und die auf ihn zugerichteten technologischen Kapazitäten das Rückgrat der chinesischen Entwicklung darstellen, wäre die ökonomische Leistung der chinesischen Wirtschaft jedoch nicht denkbar ohne die institutionelle, ökonomische und infrastrukturelle Umgestaltung des ländlichen Raumes, in dem in den vergangenen 30 Jahren mehr als drei Viertel der Bevölkerung Chinas lebte. Man hat oft diese Umgestaltung des ländlichen Raumes auf der Grundlage von Volkskommunen und agrarnaher Industrieentwicklung als Inbegriff des „chinesischen Entwicklungsmodells" interpretiert. Eine solche Interpretation ist jedoch nur dann richtig, wenn diese Komponente chinesischer Entwicklung gleichzeitig mit der durchgängig sich entfaltenden Schwerindustrialisierung gesehen wird. Die Dynamisierung des ländlichen Raumes während des Großen Sprunges nach vorne und der Großen proletarischen Kulturrevolution und insbesondere der Aufbau der lokalen Industrien nach 1967 waren Notmaßnahmen, ohne die bei einer Fortsetzung des Entwicklungsweges sowjetischen Typs aus China ein sozialistisches Brasilien geworden wäre, also ein Land mit hochdynamischen Wachstumspolen bei einer gleichzeitigen Marginalisierung des ländlichen Raumes. Durch die massenhafte Mobilisierung vorhandener Arbeitskräfte wurden jene Infrastrukturen im ländlichen Raum aufgebaut (Be-und Entwässerungsanlagen, Terrassierung, erste Schritte der Mechanisierung, Elektrifizierung, Düngereinsatz, Aufbau eines praxisnahen Erziehungs-und Gesundheitssystems), deren Existenz die Grundlage für die inzwischen zu beobachtenden Leistungssteigerungen chinesischer Landwirtschaft ist. Es ist seit Jahren nicht zu übersehen, daß beide Komponenten chinesischer Wirtschaft, die in alten und neuen städtischen Zentren lokalisierte Schwer-und zum Teil auch Konsumgüterindustrie und die Fülle zentral angeleiteter, jedoch dezentral sich entfaltender Wirtschaftskreisläufe auf der Ebene von Volkskommunen und darunter, sich aufeinander zubewegen. Auf der einen Seite heißt dies, daß die Anforderungen des ländlichen Raumes an Zulieferungen aus der Schwer-und Produktionsgüterindustrie in dem Maße wachsen, in dem im ländlichen Raum jene eigenen Entwicklungspotentiale mobilisiert sind, auf denen eine bedürfnisnahe agro-industrielle Entwicklung auf Kommuneebene möglich wurde, deren weitere Dynamisierung jedoch eine verstärkte Rückkoppelung mit dem „moderneren" Sektor der chinesischen Wirtschaft erforderlich macht. Zum anderen ist nicht auszuschließen — und es gibt Berichte darüber —, daß die an Selbst-genügsamkeit und Autarkie orientierte Kommunen, in denen eine Fülle von Agrarund Industrieprodukten aus eigener Kraft erzeugt worden sind, wenigstens zum Teil natürliche Ressourcen (wie die Produkte kleiner Bergwerke und dergleichen) erschöpfen, was ebenfalls einen Zwang zur Rückkoppelung mit anderen, in der Regel auf höherer Ebene angesiedelten Produktionsstätten erforderlich macht.

Es ist ganz natürlich und ein Zeichen sinnvoller Entwicklung, wenn über die Zeit betrachtet die Konsolidierung und Dynamisierung des ländlichen Raumes zu einer Revision der überkommenen Volkskommune-Philosophie führt und bisher kaum bekannte Formen von Spezialisierung und Arbeitsteilung zwischen Kommunen in regionalen Zusammenhängen erforderlich werden, um zum einen möglichen Engpässen auf Grund von Ressourcenknappheit aus dem Wege zu gehen und um zum anderen jene zusätzlichen Produktivitätssteigerungen zu ermöglichen, die sich auf gegebener Grundlage anbieten, ohne daß sie im überkommenen Rahmen durchgeführt werden können. Die Klagen über die schlechte Qualität des lokal produzierten Düngers, die Berichte über die Reparaturanfälligkeit lokal produzierter Maschinen (insbesondere von Pumpen), die wenig effiziente Nutzung lokaler Ressourcen in der ländlichen Industrie — diese Problembereiche werden akut, sobald der überkommene Rahmen in der Tendenz eher zum Hindernis für eine weitergehende Produktivkraftentfaltung wird und nicht mehr wie in der großen Aufschwungphase nach 1958 und insbesondere nach 1967 selbst den unerläßlichen Rahmen für die Mobilisierung brachliegender menschlicher und natürlicher Ressourcen abgibt. Eine Stärkung der „modernen" Komponente chinesischer Wirtschaft wird demzufolge heute nicht in einer Brasilianisierung Chinas münden, sondern zu einer Stärkung des ländlichen Raumes führen — eine Stärkung, die, auch allem Augenschein zufolge, überfällig ist, denn diesem ländlichen Raum mangelt es an ertrag-steigernden Inputs und Mechanisierung.

Die Dynamik chinesischer Entwicklung führt also dazu, daß quasi-autarke und selbstgenügsame autozentrierte Wirtschaftsbereiche, die sich letztlich bisher nur locker zu verschiedenen Regionalwirtschaften zusammengefügt haben, zu neuen Wirtschaftseinheiten auf höherer Ebene zusammenschmelzen, was langfristig gesehen das überkommene Bild einer alles produzierenden Volkskommune, die auf eigenen Kräften aufbaut und gegebenenfalls auf sich selbst zurückfallen kann, unrealistisch macht.

Das überkommene Bild ist nicht falsch, und ihm entsprechen in der Wirklichkeit handfeste Institutionen und Organisationen. Doch wird sich in den kommenden Jahren immer mehr herausstellen, daß es phasenspezifisch zu verorten ist. Die quasi-autarke Volkskommune ist ein institutionelles Mittel in einer ersten Aufschwungphase zur Dynamisierung des ländlichen Raumes. Und manche Elemente der Volkskommune dieser ersten Etappe werden im Laufe weiterer Entwicklung überrollt und von einem bestimmten Punkt an der Vergangenheit angehören. Dazu gehörten die Produktion einer Fülle von einfachen landwirtschaftlichen Maschinen mit eigenen Ressourcen und aus eigenen Kräften und höchstwahrscheinlich auch manche in den vergangenen Jahren von westlichen Ökologen euphorisch begrüßte Nutzung natürlicher ökologischer Kreisläufe anstelle von modernen Inputs. Auch wird höchstwahrscheinlich die die heutige Volkskommune kennzeichnende Koexistenz verschiedener technologischer Niveaus, die in den vergangenen Jahren von zentraler Bedeutung war, langfristig keinen Bestand haben, weil im Maße einer überfälligen Standardisierung und Spezialisierung als Grundlage von höherer Effektivität veraltete Instrumentarien und Technologien überwunden und zugrunde gehen werden. Dies wird sicher ein schwieriger Prozeß sein, der in den hochertragsreichen Regionen schneller vonstatten geht als in den bleibenden Problemgebieten Chinas; aber es handelt sich um einen Trend, der um so mehr unaufhaltsam sein wird, je größer die Leistungssteigerungen der Landwirtschaft sein sollen und tatsächlich auch sind.

Die hier umschriebene Entwicklung zeichnet sich erst in ersten Umrissen ab. Sie ist ein folgerichtiger weiterer Schritt einer im Grunde soliden ökonomischen Struktur, die sich im Laufe von zwei bis drei Jahrzehnten auf höchst wechselvolle Weise herausgebildet hat. Modernisierung meint heute in China die weitere und verstärkte Dynamisierung der Ökonomie in allen Teilen, ausgehend von relativ kohärenten Strukturen, deren Dynamisierung höhere Stufen von Arbeitsteilung, Spezialisierung und Standardisierung — und damit von Effektivität — beinhaltet. Hätte die Landwirtchaft Chinas nicht jenes Maß an infrastruktureller Umstrukturierung erfahren, würde Modernisierung in China nichts anderes als in peripher-kapitalistischen Ländern bedeuten, nämlich die Akzentuierung der Zerklüftung sozio-ökonomischer Strukturen zum Nutzen der Wachstumspole und zum Schaden des ländlichen Raumes. China gehört zu den wenigen Entwicklungsländern, in denen die Kluft zwischen Stadt und Land sowie zwischen Industrie und Landwirtschaft in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht gewachsen, sondern einigermaßen stabil gehalten werden konnte, trotz unterschiedlicher Entwicklungsrhythmen in den urbanen Zentren und auf dem Lande.

Wird der heute forciert verfolgte Modernisierungskurs zur Preisgabe zentraler Errungenschaften des chinesischen Entwicklungsweges führen? Ist der Modernisierungskurs im Rahmen des bisher verfolgten Entwicklungsweges politisch, sozial und technologisch verkraftbar?

Lassen sich seine Folgewirkungen absorbieren, ohne daß der überkommene Rahmen gesprengt wird?

Neue Konfliktpotentiale und neue Chancen auf dem chinesischen Entwicklungsweg Jeder Modernisierungskurs von der eingangs geschilderten Art akzentuiert auch unter sozialistischen Bedingungen die in jeder Gesellschaft mehr oder weniger ausgeprägten Unterschiede, beispielsweise jene zwischen Stadt und Land, zwischen Kopf-und Handarbeit sowie zwischen Industrie und Landwirtschaft. Es stellt sich also die Frage, inwieweit ein solcher technokratisch inszenierter Modernisierungskurs, bei dem Modernisierungsimperative zentraler Instanzen politisch-institutionellen Vorrang vor lokalen Bedürfnisartikulationen haben, in China heute dergestalt absorbierbar ist, daß die genannten drei großen Unterschiede sich nicht dramatisieren.

China hat heute gegenüber allen peripher-kapitalistischen Entwicklungsländern den großen Vorzug, daß dieser Modernisierungskurs an einer Struktur der chinesischen Ökonomie ansetzen kann, deren Modernisierung nicht zu Erscheinungen wie Marginalität führen muß. Wie schon oben betont, hat China die Fähigkeit, den eigenen, seit 1949 aufgebauten modernen Sektor der Schwer-und Produktionsgüterindustrie und die agro-industriellen Großkomplexe aus eigener Kraft und mit Hilfe fremder Technologie beschleunigt weiterzuentwickeln; es hat darüber hinaus im Unterschied zu anderen Ländern der Dritten Welt die Möglichkeit, die Früchte solcher Modernisierung des modernen Sektors in jene ländlichen Räume zu transferieren, in denen heute immer noch die Masse der Menschen in China lebt. Diesen ländlichen Räumen kommen dabei die bewundernswerten Aufbauleistungen seit den 50er Jahren zugute. Der ländliche Raum Chinas, institutionell durchstrukturiert von Volkskommunen und ihren Unterorganisationen, den Produktionsbrigaden und Produktionsgruppen, verfügt heute über mühsam erworbene und systematisch aufgebaute Kompetenzen der ländlichen Bevölkerung, die gewiß noch nicht auf der Höhe der durch den Modernisierungskurs erforderlich werdenden Expertise (z. B. beim Einsatz und der Reparatur neuer Maschinen) sind, die aber von der erreichten Grundlage aus — wie mir scheint — unschwer in relativ wenigen Jahren mobilisierbar sind. Es ist zwar eine Sache, durch massenhafte Mobilisierung brachliegender und unterbeschäftigter Arbeitskraft große infrastrukturelle Arbeiten zu inszenieren, wie dies nach 1958 und nach 1967 der Fall war; es ist etwas anderes, lokal nicht mehr vollständig herstellbare Maschinen, fremdes Saatgut und aus zentralen Produktionsstätten stammende Dünger-und Pflanzenschutzmittel und dergleichen angemessen und wohldosiert zu nutzen. Doch besteht gerade die Stärke des ländlichen Raumes China darin, daß in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwar mit höchst einfachen Mitteln, doch lernintensiv Vorläufer solcher neueren Agrarinputs lokal auf experimentellem Wege produziert worden sind, die eine solide ausbaubare Expertise geschaffen haben. Bei verstärkter Rückkoppelung zwischen den verfügbaren lokalen Kompetenzen und den neuen Inputs aus den eher zentral gesteuerten großindustriellen Wachstumspolen dürften erwartbare Anfangsschwierigkeiten in Kürze sich überwinden lassen.

Die eigentlichen Schwierigkeiten liegen also nicht in der Unfähigkeit, neue Technologie-transfers im ländlichen Raum zu absorbieren; sie liegen möglicherweise in einer mangelnden institutioneilen Flexibilität zwischen den bisherigen und neuen großindustriellen Wachstumspolen auf der einen Seite und dem ländlichen Raum auf der anderen Seite. Hier wird ein neues Netz für wechselseitige Beziehungen erforderlich, das dann in Gefahr steht, ineffizient zu werden, wenn es — wie zunächst unumgänglich — zentralistisch strukturiert bleibt. Angesichts der relativen Autarkie und Selbstgenügsamkeit weiter Teile des ländlichen Raumes Chinas sind die Austausch-kanäle zwischen Wachstumspolen und ländlichem Raum weit weniger flexibel eingeübt, als es sicherlich für eine erfolgreiche Verwirklichung des Modernisierungskurses gerade auch zum Nutzen des ländlichen Raumes erforderlich sein wird. Will die neue Führung überkommene Errungenschaften des chinesischen Entwicklungsweges nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, so wird sie nicht umhin kommen, diesem Beziehungsgefüge besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ob solche Aufmerksamkeit existiert, wird sich sehr bald in der Standortverteilung neuer Industriezentren, im Ausbau des Kommunikations-und Transportsystems (welches noch auf einer relativ dürftigen Basis sich befindet), im Aufbau dezentraler Erziehungsinstitutionen für landwirtschaftsnahes technisches Wissen, in der Einrichtung von denzentralen Ersatzteil-lagern usf. dokumentieren.

Im großen und ganzen sollte die genannte Problematik ohne Schwierigkeiten bewältigbar sein, da es im Modernisierungskurs ja nicht nur darum geht, daß von großindustriellen Wachstumspolen neue Inputs in den ländlichen Raum transferiert werden, sondern auch darum, daß der ländliche Raum sich auf solche hervorgehobenen Wachstumspole zubewegt. Bei entsprechenden Anreizen besitzt der ländliche Raum — die stadtnahen und hochertragsreichen Regionen sicher mehr als andere — sämtliche Voraussetzungen, die ein Ergebnis einer zwanzigjährigen Erschließungs-und Umstrukturierungspolitik in der Landwirtschaft sind.

Lassen sich die genannten Schwierigkeiten mit einiger Wahrscheinlichkeit bewältigen, so sind ernstere Schwierigkeiten, möglicherweise sogar ein politisches Konfliktpotential, an anderer Stelle zu vermuten. Art und Ausmaß des Modernisierungskurses, wie er von der neuen chinesischen Führung ins Auge gefaßt wird, übersetzen sich zumindest in einer ersten Phase in den Aufbau und Aufkauf von Groß-projekten, deren soziale und wirtschaftliche Nützlichkeit in den kommenden Jahren noch nicht unmittelbar spürbar sein wird. Der Kapitalaufwand läßt sich allein schon auf Grund jener Daten ahnen, die über die internationalen Industrie-und Technologieaufkäufe der Chinesen in den vergangenen Jahren bekannt geworden sind. Es stellt sich also die Frage, wie die neue chinesische Führung jene zusätzlichen erheblichen Akkumulationserfordernisse mit dem Versprechen in Einklang bringt, der Modernisierungskurs würde zu einer spürbaren Verbesserung des durchschnittlichen Lebensstandards führen und daß, wer mehr arbeite, mehr belohnt werde, wer weniger arbeite, weniger belohnt werde und wer nicht arbeite, nicht belohnt würde. Wie wird die chinesische Führung die Durststrecke zwischen dem heute und in den kommenden Jahren erforderlichen Akkumulationsaufwand und jener späteren Zeit überwinden, in der dann auf der Grundlage einer höheren Leistungsfähigkeit der Ökonomie insgesamt alte und neue Konsumbedürfnisse der Masse der Menschen sich befriedigen lassen? Es hat den Anschein, als ob die im Modernisierungskurs angelegte Spannung zwischen erheblichen Akkumulationserfordernissen und einer nur phasenverschoben denkbaren Konsumbefriedigung durch die Betonung von Werten wie Ordnung, Disziplin, Effektivität, Leistung, Leitungsverantwortung und dergleichen durch die neue Führung in Griff gebracht werden soll. Ob dies gelingt und ob Arbeitsmotivation nach 30 Jahren eines soliden, wenn auch äußerst bescheidenen Lebensstandards ohne mittelbare zusätzliche Vergünstigungen sich aufrechterhalten oder gar sich steigern läßt, sind offene Fragen. Von außen wird man in den kommenden Jahren nur insofern etwas darüber in Erfahrung bringen können, als eine Verhärtung des politischen Regimes, d. h.der Übergang von autoritären zu autoritär-repressiven Strukturen ein deutliches Indiz dafür wäre, daß es der neuen Führung nicht gelungen ist, jene Disziplinierung von Arbeitern und Bauern zu bewerkstelligen, ohne die die für den Modernisierungskurs erforderliche zusätzliche Akkumulation nicht denkbar ist. Dabei dürfte im ländlichen Raum das größere latente Verweigerungspotential bestehen, das dann virulent würde, wenn der heute durchaus unterstellbare Enthusiasmus für die neue Führung (und gegen die Viererbande) in offene Verweigerung überschlägt, sofern handfeste und unmittelbare Erfolge des Modernisierungskurses für die Masse der betroffenen Menschen ausbleiben. Ob der neuen politischen Führung bewußt ist, daß ein Modernisierungskurs, wie der von ihr inszenierte, zu ungleichgewichtigem Wachstum führt, das die Ursache politischer Krisen werden kann, ist auch eine offene Frage. Das genannte Problem wird noch dadurch verschärft, daß, neben der Modernisierung von Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technologie aus Gründen innenpolitischer Machterhaltung der Modernisierung des Militärapparates eine hohe Priorität zugewiesen wird. Ungeachtet der Frage, ob eine Modernisierung des Militärs aus geopolitischen und militärstrategischen Gründen objektiv erforderlich ist, ist doch unbezweifelbar, daß diese Modernisierung, wie überall auf der Welt, wo moderne Militärtechnologie eingeführt wird, erhebliche Summen verschlingt, die für eine weitere Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie nicht zur Verfügung stehen und damit, von einem entwicklungspolitischen Standpunkt her gesehen, als eine gigantische Verschwendung betrachtet werden müssen.

Ob andere Teile der chinesischen Bevölkerung durch den Modernisierungskurs der neuen Führung aus programmatisch-ideologischen Gründen in eine Verweigerungshaltung und in Opposition getrieben werden, darüber können nur einige Vermutungen angestellt werden. Daß nicht alle Studenten den Bruch mit der 'kulturrevolutionären Linie kritiklos akzeptieren, kann unterstellt werden. Auch ist zu fragen, wie die Millionen von jungen Menschen, die während der Kulturrevolution aufs Land gingen oder aufs Land geschickt wurden, den neuen Kurs verkrafteten, der sie um ihre Karriere bringt, da ihre Praxiserfahrung nunmehr weit weniger hoch eingestuft wird als intellektuelle Fähigkeiten, die man eher ausbauen konnte, wenn man seinerzeit den Führern der Kulturrevolution nicht folgte und als Stadt-kind in städtischen Zentren seinen Studien nachging. Wie werden all jene reagieren, die weiterhin Anhänger einer kulturrevolutionären Linie sind, ohne die durch die Viererbande begangenen offensichtlichen Fehler wiederholen zu wollen? Die gegenwärtige Führung schwankt in ihrer Kritik an der revolutionären Linie der vergangenen zehn Jahre insofern, als sie einerseits zwar eindeutig die „Herrschaft der Viererbande", d. h. in etwa die Zeit zwischen 1974 und 1976, kritisiert, andererseits jedoch nicht davor zurückschreckt, auch die Errungenschaften der Kulturrevolution nach 1967 kritisch ins Visier zu nehmen. Sollte letztere Perspektive zur vorherrschenden Sprachregelung werden, könnte es nicht ausbleiben, daß in einem solchen Schritt auch der Beginn einer Entmaoisierung Chinas begründet wäre. Andererseits würde ein solcher Schritt einen tiefen Einbruch in die Legitimität der jetzigen Führung verursachen, so daß nicht anzunehmen ist, daß es zu einer offenen Entmaoisierung kommt. Im Augenblick zeichnet sich eher eine Rollenteilung zwischen den beiden zentralen Führungsgestalten Hua Kuofeng und Deng Xiaoping ab, wobei der erstere einen gegenüber der kulturrevolutionären Linie modernisierteren, der letztere einen eindeutig harten Gegenkurs steuert. Ob der moderierte Kurs nur nach außen hin als legi-timatorisches Beiwerk zum härteren Gegen-kurs rhetorisch artikuliert wird, oder ob beide Kurse gleichermaßen Ausdruck real existierender politischer und sozialer Kräfte sind, ist eine Frage, die auch langjährig versierte China-Beobachter nicht zu beantworten vermögen.

Ohnehin bleibt die politische Szenerie mit vielen Rätseln behaftet. Dies hängt damit zusammen, daß auch in China eine einigermaßen wirklichkeitsnahe Analyse über die eigene Gesellschaft oder gar schon eine Klassen-analyse nicht existieren. Insofern die Existenz von Klassen angesprochen wird, wird auf frühe Werke Maos zurückgegriffen, deren klassenanalytische Aussagen keiner Wirklichkeit mehr im heutigen China entsprechen: Was z. B. soll der Hinweis in der neuen Verfassung von 1978 auf die erforderliche Bestrafung der „neu entstandenen bürgerlichen Elemente" — eine Klausel, „die der Realität des Klassenkampfes in unserem Lande entspricht"? Der dazu auf dem V. Nationalen Volkskongreß der VR China gegebene Kommentar ist nicht sehr aufschlußreich. Dort heißt es: „Dies bezieht sich auf diejenigen, die der sozialistischen Revolution Widerstand entgegensetzen, den sozialistischen Aufbau untergraben, das sozialistische Volkseigentum in ernstem Maße schädigen, gesellschaftliches Eigentum veruntreuen und gegen das Strafgesetz verstoßen. Viele Veruntreuer, Diebe, Spekulanten, Betrüger, Mörder, Brandstifter, Rowdies, Schläger, Plünderer und andere üble Elemente, die Gesetz und Disziplin ernstlich verletzt und die sozialistische Ordnung gefährdet haben, gehören zu diesen neu entstandenen bürgerlichen Elementen ... Obwohl zahlenmäßig gering, bilden diese neuen bürgerlichen Elemente im Verein mit den alten, noch nicht umerzogenen Grundherren, Großbauern, Konterrevolutionären, üblen Elementen und bürgerlichen Elementen den gefährlichsten Teil der kapitalistischen Kräfte in Stadt und Land."

Der Mangel an eigener wirklichkeitsnaher Klassenanalyse durch chinesische Institutionen selbst und die Unmöglichkeit, die im mangelnden Zugang zu relevanter Empirie begründet ist, eine solche Klassenanalyse von außen betreiben zu wollen, führen zwangsläufig dazu, hinsichtlich der politischen Realisationschancen des Modernisierungskurses im Dunkeln tappen zu müssen. Deshalb ist es auch äußerst voreilig, zum gegenwärtigen Zeitpunkt diesen Modernisierungskurs als Ausdruck von Restauration und Revisionismus etikettieren zu wollen. Gemessen an der kulturrevolutionären Linie ist die Programmatik der neuen Führung restaurativ und revisionistisch. Und von der Kulturrevolution her gesehen muß der neue Kurs als ein „Großer Sprung nach rückwärts" erscheinen. Alle eingangs erwähnten programmatischen Details weisen in eine solche Richtung. Doch die Entwicklung Chinas seit 1949 ist nicht identisch mit der Kulturrevolution, und es ist ein grundlegender Fehler, das chinesische „Entwicklungsmodell" mit jenen programmatischen Äußerungen und jener Wirklichkeit exklusiv zu identifizieren, die den Geist und die praktische Politik der Kultur-revolution bestimmten. Zum chinesischen Entwicklungsweg gehört von Anfang an der Aufbau eines modernen großindustriellen Sektors, der die Zentren der Schwerindustrie, der Produktionsgüterindustrie und der modernen Agro-Industrie-Komplexe umfaßt. Zum chinesischen Entwicklungsweg gehört auch die programmatische Entthronisation dieses Sektors und die Inszenierung von Umstrukturierungs-und Aufbaumaßnahmen im ländlichen Raum zum Nutzen der Masse der Menschen, die dort leben. Dies hat nichts daran geändert, daß auch nach solcher politischer Reorientierung der moderne Sektor mit hohen, relativ stetigen Wachstumsraten Schritt für Schritt ausgebaut worden ist, gerade auch nach dem Bruch mit dem sowjetischen Modell und dem Abzug der sowjetischen Experten Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre. Auch während der Kulturrevolution kam es zu keinem Einbruch in den Investitionsströmen und den Wachstumsraten des modernen Sektors. Was immer die Kulturrevolution an großen Leistungen vollbrachte, wie z. B. die Erschließung des ländlichen Raumes für einfache und durchaus komplexe Industrieanlagen, geschah in Ergänzung zu jenen Entwicklungen im modernen Sektor, die von den Wellenschlägen der Kulturrevolution kurzfristig sicher nicht unberührt, doch über die Jahre hin gesehen relativ unbeeinflußt geblieben sind. Mit Blick auf die programmatischen Linienkämpfe zwischen Maoismus und Liuismus könnte man also formulieren (und die folgende Aussage wurde an anderer Stelle in historisch-systematischer Analyse eingehend belegt), daß der chinesische Entwicklungsweg seit 1949 in unterschiedlichen Etappen mit unterschiedlicher Gewichtung immer schon in zwei Dimensionen sich entfaltete: hinsichtlich der stetigen Entwicklung eines modernen Sektors und hinsichtlich der später einsetzenden und wechselvolleren Entwicklung des ländlichen Raumes; und es läßt sich behaupten, daß diese Doppelgleisigkeit gerade für die Zeit nach 1967 bis auf den heutigen Tag typisch war

Insofern stellt der Modernisierungskurs der neuen politischen Führung keinen Bruch mit dem überkommenen chinesischen Entwicklungsweg dar. Er steht in Kontinuität mit jener Akzentsetzung von 1949— 1957, die in Ermangelung an Alternativen zum weiteren Ausbau eines schwerindustriellen Sektors in China geführt hat; er steht in Kontinuität mit jener „liuistischen Phase" nach 1961, die nur scheinbar mit Beginn der Kulturrevolution unterbrochen wurde, während sie, ohne politisch-programmatisch repräsentiert zu sein, auch während der Kulturrevolution weiterwirkte; und schließlich steht der gegenwärtige Modernisie-rungskurs in deutlicher Kontinuität mit jenen Entscheidungen von Anfang der 70er Jahre, die zum Import großindustrieller Anlagen geführt haben, die in diesem Jahr ihre Produktionsarbeiten allmählich aufzunehmen fähig sind. Die damaligen Großeinkäufe wurden offensichtlich von der alten politischen Führung in der klaren Erkenntnis getätigt, daß gewisse Entwicklungspotentiale sowohl im modernen Sektor als auch im ländlichen Raum ohne zusätzliche qualifiziertere Inputs sich nicht weiterentwickeln lassen — und daß insbesondere die ländliche Entwicklung ohne Einsatz neuer Inputs an Produktions-und Produktivitätsgrenzen stoßen wird, die in dem Maße problematisch sind, in dem die Bevölkerungszu-wachsratO nur um weniges geringer ist als die durchschnittliche Zuwachsrate der Agrarproduktion.

Gerade die Tatsache, daß im unmittelbaren Nachgang zur Kulturrevolution und in Jahren, in denen die erstaunlichen wirtschaftlichen Ergebnisse der Kulturrevolution sich unmißverständlich dokumentierten, die alte politische Führung, wenn auch weniger spektakulär als die heutige Führung, auf Modernisierungskurs ging, deutet, meiner Ansicht nach, unmißverständlich darauf hin, daß der Modernisierungskurs auf objektive Probleme in der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft anspricht — und es sich nicht (nur) darum handelt, daß erneut eine in der Tendenz liuistische Linie im ideologisch innerparteilichen Machtkampf die Oberhand gewann und nunmehr zur Durchsetzung ihres eigenen Programms aus rein ideologischen Gründen übergeht. Eine solche Argumentation verkennt die Komplexität des überkommenen Entwicklungsweges Chinas, und sie ist auch dann nicht überzeugend, wenn sie mit Verdikt-Etiketten einer vermeintlich rein marxistischen Lehre wie „Revisionismus", „Restauration" belegt wird

Der heute China verfolgte Modernisierungskurs wird zwar von der politischen Führung technokratisch inszeniert, doch ist unwahrscheinlich, daß er sich ohne Widersprüche und politische Krisen ohne weiteres in die Tat umsetzen läßt. Die Wachstumsziele sind, das läßt sich heute schon eindeutig sagen, zumindest hinsichtlich der landwirtschaftlichen Produk-tion zu hoch gesteckt. Demgegenüber scheint es wahrscheinlicher, daß die Wachstumsziele der Industrie sich tatsächlich erreichen lassen. Werden ausreichende Ressourcen noch zur Verfügung stehen, um die für die weitere Verknüpfung von Landwirtschaft und Industrie auf höherer Ebene erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen aufzubauen, insbesondere hinsichtlich des Transportwesens? Und werden trotz solcher überfälliger Vorhaben für den kollektiven Konsum (wie Straßenbau und dergleichen) auch noch Ressourcen vorhanden sein, um eine auffällige Schwachstelle chinesischer Gesellschaft zu beseitigen, nämlich Ressourcen für den privat zu nutzenden Wohnungsbau und für Altbausanierungen, die insbesondere in großen Städten überfällig scheinen?

Und — schließlich und endlich — wird es der politischen Führung und dem Parteiapparat gelingen, einen eher zentralistisch angelegten Führungskurs mit soviel institutioneller Flexibilität auszustatten, daß sich die aus der Entwicklung der Sowjetunion bekannten Folgewirkungen eines zentralistischen Modernisierungskurs in China nicht wiederholen werden?

Vom Konzept autozentrierter Entwicklung her gesehen ist China spätestens seit Übernahme der Macht durch die jetzigen Nachfolger Maos und Tschou En-lais in eine neue Entwicklungsphase eingetreten, die zunächst keinen grundlegenden mit dem überkommenen - Ent wicklungsweg Chinas bedeutet China folgt in diesen Jahren fast beispielhaft dem Programm dissoziativer Politik, das — wie schon Friedrich List formulierte — nach einer Phase der Abkopplung, die der Konsolidierung interner kohärenter Wirtschaftsstrukturen galt, eine Wiederöffnung nach außen mit dem Ziel selektiver Kooperation mit durchaus produktiveren Ökonomien vorsieht

China wird auf absehbare Zeit Rohstoffe und Konsumgüter einfachen Verarbeitungsgrades exportieren müssen, um Fabrikanlagen und Technologien kaufen zu können. Denn durch dieses Austauschgefüge wird die chinesische Wirtschaft nicht einseitig auf eine ungleiche Arbeitsteilung festgelegt, sondern nachweislich dazu befähigt, den einmal begonnenen autozentrierten Entwicklungsweg erneut zu dynamisieren — und damit Stufen höherer intrasektorieller und intersektorieller Verflechtungen und Stufen höherer Leistungsfähigkeit und Produktivität zum Nutzen der eigenen Menschen zu erreichen. Daß dabei höchstwahrscheinlich die relativ egalitären Gesellschaftsstrukturen sich in Richtung auf eine Akzentuierung von in Maßen bleibender Ungleichheit verschieben werden, wird der Preis des Modernisierungskurses sein, zu dem es im einzelnen sicher Alternativen gibt (insbesondere was die Aufrüstung angeht), nicht jedoch, wie aufgezeigt werden sollte, zum Kurs der neuen Führung als solchem

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe hierzu die umfassende Monographie von Ulrich Menzel, Theorie und Praxis des chinesischen Entwicklungsmodells. Ein Beitrag zum Konzept autozentrierter Entwicklung. Mit einem Vorwort von Dieter Senghaas, Opladen 1978.

  2. Siehe hierzu neuerdings die bedenkenswerte, doch leider zu stilisierend verfahrende Interpretation von Charles Bettelheim, Questions sur la Chine apres la mort de Mao Tsetung, Paris 1978.

  3. Zur Erläuterung dieses Konzepts siehe Dieter Senghaas, Gibt es eine entwicklungspolitische Alternative für die Dritte Welt?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 7/78, S. 3— 18.

  4. Zur Erläuterung des Inhalts dissoziativer Entwicklungspolitik siehe Dieter Senghaas, Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation, Frankfurt 19782.

  5. Daß autozentrierte Entwicklung auf dissoziativer Grundlage nicht nur in einem Land der Größenordnung Chinas praktisch durchführbar ist, sondern in unterschiedlichsten Zusammenhängen, wird in den beiden folgenden Monographien über Albanien und Nordkorea erläutert: Rosemarie Juttka-Reisse, Agrarpolitik und Kimilsungismus. Ein Beitrag zum Konzept autozentrierter Entwicklung. Mit einem Vorwort von Dieter Senghaas, Meisenheim a. Gl. (Transfines Bd. 10) 1978 (i. E.); Wolfgang Ruß, Der Entwicklungsweg Albaniens. Ein Beitrag zum Konzept autozentrierter Entwicklung. Mit einem Vorwort von Dieter Senghaas, Meisenheim a. Gl. (Transfines Bd. 11) 1979 (i. E.).

Weitere Inhalte

Dieter Senghaas, Dr. phil., geb. 1940; Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Abschreckung und Frieden, Frankfurt 19793; Rüstung und Militarismus, Frankfurt 1972; Aggressivität und kollektive Gewalt, Stuttgart 19722; Aufrüstung durch Rüstungskontrolle, Stuttgart 1972; Gewalt — Konflikt — Frieden, Hamburg 1974; Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik, Frankfurt 19782. Herausgeber und Mitherausgeber zahlreicher Sammelwerke.