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Staat und Religion in Israel | APuZ 10/1979 | bpb.de

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APuZ 10/1979 Artikel 1 Das Wiedererstarken des Islams als Faktor sozialer Umwälzungen Staat und Religion in Israel Ist Israel ein theokratischer Staat? Zionismus und religiöse Tradition

Staat und Religion in Israel

Uri Sahm

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Archaische Religionsgesetze und modernste Technologie prallen in Israel aufeinander; die Verflechtung zwischen Religion und Politik ist für Außenstehende kaum überschaubar; die Vielzahl sich kreuzender politischer und wirtschaftlicher Interessen, eine Fülle von aus der Diaspora übernommenen Traditionen und eine komplizierte Rechtslage in der parlamentarischen Demokratie Israels erschweren das Verständnis. Nach einer Bestandsaufnahme der wichtigsten Strömungen unter den israelischen Juden, die eine Charakterisierung einzelner jüdischer Sekten und Gemeinschaften einschließt, versucht der Autor Prognosen über die Zukunft der jüdischen Religion im Staate Israel zu stellen. Im Zentrum steht die Frage, welche Rolle voraussehbare Auseinandersetzungen um die Religion bei einem Nachlassen des äußeren Drucks auf Israel spielen könnten. Es geht dabei vor allem darum, die Diskrepanzen zwischen einem durch ein 2 000jähriges Exil geprägten Judentum und den Notwendigkeiten des Alltagslebens in einem eigenen, modernen Staat zu einem Ausgleich zu bringen.

Am 10. Dezember 1976 empfingen israelische Politiker und Militärs die ersten drei Exemplare einer neuen Generation amerikanischer Kampfflugzeuge. Es war ein Freitag Nachmittag, wenige Minuten vor Beginn des Sabbat. Ministerpräsident Jitzchak Rabin und sein Stabschef Motta Gur hielten Reden. Sie sprachen von einem neuen und stärkeren Israel. Die meisten Anwesenden hatten es nicht eilig; sie hielten sich nicht an das biblische Gebot:

„Ihr sollt kein Feuer anzünden in allen euren Wohnsitzen am Sabbat". Ein frommer Jude hingegen fährt von Freitag (Sonnenuntergang) bis Samstag (Sonnenuntergang) nicht einmal Auto — denn im Auto entsteht ja ein Zündfunke —, raucht nicht, schaltet kein Licht ein und stellt seine Sabbatmahlzeit schon am Freitag auf eine Wärmeplatte. Einem geladenen Reporter der religiösen Zeitung „Hazofe" hatte die Armee ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt, damit er bei einer Verzögerung der Feier auf dem Militärflughafen nicht die Strafe Gottes auf sich ziehen möge und rechtzeitig nach Hause gelangen könne.

Das „sündige" Verhalten des Ministerpräsidenten, in der Öffentlichkeit und bei offiziellem Anlaß ein Gottesgebot zu übertreten, konnte die ultraorthodoxe Thora-Front-Partei nicht verwinden; sie stellte einen Mißtrauensantrag in der Knesset. Die weniger orthodoxen, aber dennoch frommen Koalitionspartner der Arbeiterpartei konnten diesmal nicht mit ihr stimmen, denn sie wären ihren eigenen Grundsätzen untreu geworden.

Jitzchak Rabin stürzte, seine Partei war disqualifiziert, und am 17. Mai 1977 errang Menachem Begin, 29 Jahre lang Oppositionsführer, einen überraschenden Wahlsieg. Vergleichbare Vorgänge hat es seit der Staats-gründung Israels 1948 wiederholt gegeben.

An dem Widerstand religiöser Kreise scheiterten bisher alle Versuche, dem Staat Israel eine Verfassung -zu geben. „Kann der jüdische Staat Israel eine andere Konstitution als die Thora haben?" fragen sich orthodoxe Juden, die in Israel eine Neuauflage des alten Israel sehen wollen und nicht einen „Staat wie alle anderen". Die Thora, das sind die fünf Bücher Moses, in denen das jüdische Religionsgesetz festgelegt wurde. Spätere Rechtsgelehrte zogen immer neue „Zäune" um die Ver-und Gebote. Bis in alle Einzelheiten regeln die Talmudtraktate und Rabbinischen Weisungen aus dem Altertum und der Neuzeit das tägliche Leben frommer Juden. Die Gesetzestreue habe das jüdische Volk in seinem zweitausend Jahre währenden Exil überleben lassen, und Gesetzestreue könne als einzige den ausgeprägten jüdischen Charakter des Staates Israel erhalten — so argumentieren geschichtsbewußte Anhänger der religiösen Parteien, deren Stimmenanteil im Parlament „das Zünglein an der Waage" ausmacht.

Auch schon vor Rabin waren israelische Ministerpräsidenten über die feingesponnenen Gesetzeszäune der Orthodoxie gestolpert. David Ben Gurion sah sich 1952 in der Minderheit, weil die orthodoxe Agudath-Israel-Partei die 'Regierungskoalition verließ. Damit wollte sie gegen die Einrichtung eines sozialen Ersatzdienstes für fromme Mädchen protestieren, denen die Militärpflicht erlassen werden sollte. 1958 führte die banalste und zugleich wesentlichste Frage in Israel zu einer weiteren Kabinettskrise; der damalige Innenminister Israel Bar-Jehuda fragte: „Wer ist Jude?" und löste damit eine erregte Diskussion aus, die im Grunde schon seit der Zeit der Aufklärung im Gange und bis heute nicht abgeschlossen ist.

Wer ist Jude?

Historiker, Psychologen, „Rassenkundler", Theologen und Soziologen versuchten immer wieder, die „Juden" und das „Judentum" in ein wissenschaftlich haltbares Begriffssystem zu zwängen. Bis zum Aufkommen des Zionis-mus war das vor allem ein „Problem" der Nicht-Juden, die sich aus verschiedensten Gründen mit der Existenz des jüdischen Volkes nicht abfinden konnten. Theologen bereitete die Gegenwart von Juden in unmittelbaB rer Nachbarschaft erhebliche Schwierigkeiten bei der Bibelauslegung (insbesondere des Neuen Testaments). Der Jude Karl Marx sprach seinen Volksgenossen das Selbstverständnis ab, ein „Volk" zu sein; in seinem Traktat „Die Judenfrage" (Paris 1844) verurteilt. er die jüdische Religion als „Leibesegoismus" und verwerfliches ökonomisches Prinzip, von dem die Gesellschaft sich zu emanzipieren habe.

Hitler verstand die Juden als eine „Schädlingsrasse", für die, eine „Endlösung" gefunden werden müsse; er „emanzipierte" die Gesellschaft vom Judentum gründlichst. Es ist müßig, alle jene Theorien aufzuzählen, die sich die Auflösung, die Vernichtung oder einfach die geistige Auslöschung des Judentums zum Ziel gesetzt haben. Im Judentum selbst entfachte sich eine Diskussion um das „Wesen des Judentums" mit der zunehmenden Säkularisierungsbewegung, als deren Auslöser Moses Mendelssohn gilt. Es waren eher philosophische Auseinandersetzungen, ohne unmittelbare praktische Auswirkungen. Erst mit dem Aufkommen des Zionismus wurden die Juden zu Taten herausgefordert. Da sie nun von einem „Volk" zu einer „Nation" geworden waren — wenigstens begrifflich —, verlangten sie entsprechend dem Zeitgeist nun auch ihren Nationalstaat. Das alte Land Israel bot sich an. Aber erst mit dem perfektionierten Völkermord durch die Nationalsozialisten kam die Staatsidee zur Ausführung. Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ins Leben gerufen. Dieser Schritt war seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch römische Legionäre unter Titus der einschneidendste Akt in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Die alte Frage „Wer ist Jude?" mußten Juden nun aus einem ganz praktischen Grund beantworten. Gemäß der Unabhängigkeitserklärung steht der Staat Israel „der jüdischen Immigration und Sammlung der Exilierten" offen. Die Paßbeamten brauchten genaue Anweisungen, wer als Jude gelten kann und deshalb das Recht besitzt, in den jüdischen Staat einzuwandern. Bis 1958 erhielt jeder, der sich als Jude ausgab, ohne weitere Nachforschungen einen Personalausweis.

Für die Israelis wurde jedoch das Verständnis des Undefinierten Begriffs „Jude" zu weit gespannt, als Bruder Daniel, ein getaufter Jude und Mönch im Heiligen Land, auf seinem Recht bestand, die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, gilt jeder als Jude, der eine jüdische Mutter besitzt oder zum Judentum übergetreten ist. Bruder Daniel hatte eine jüdische Mutter. An seiner Geltung als Jude änderte nach dem Religionsgesetz auch sein Übertritt zum christlichen Glauben nichts.

Im jüdischen Staat Israel konnte aber das seit jeher praktizierte Prinzip der ethnischen Zugehörigkeit, auf das sich Bruder Daniel berief, nicht mehr seine volle Gültigkeit behalten. (Im Mittelalter ermöglichte das Jude-sein-durch-Abstammung nach Zwangstaufen eine relativ leichte Rückkehr in den Schoß der jüdischen Gemeinde.) In Israel sollte möglichst eine Einheit von Kultur, Religion und ethnischer Zugehörigkeit geschaffen werden. Die Aufnahme eines „christlichen Juden" in den Kreis der „Rückkehrberechtigten" (laut Unabhängigkeitsurkunde und gemäß des von arabischer Seite so umstrittenen „Rückkehrergesetzes" von 1950) paßte nicht in die Intention der Staatsgründer, eben einen jüdischen Staat schaffen zu wollen. Was aber nun „ein jüdischer Staat" genau sei, wurde in der Vergangenheit wie in der Gegenwart in den politischen Debatten der Knesset ausgeklammert, obgleich fast täglich kleine, nebensächliche Streitereien zwischen Religiösen und Verfechtern eines säkularen Israel im Gange sind. Immerhin steht soviel fest: Wenn Herzl in seinem Buch verlangt, daß die Priester in ihren Tempeln bleiben sollen, so sah er damit eine ausdrückliche Trennung von Kirche und Staat vor. Wenn er jedoch von einem Judenstaat sprach und wenn auch die Unabhängigkeitserklärung — die mangels einer Verfassung bis heute das wichtigste staatslegitimierende Dokument Israels geblieben ist — ausdrücklich die „Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina, genannt , Medinat Israel'", erwähnt, so ist damit gleichzeitig Volk, Nation, ethnische Gemeinschaft, Kultur und Religion gemeint. Alle Versuche, das Judesein auf ein einziges Element zu reduzieren und alle anderen Aspekte abzustreiten, hatten für die Juden meist tragische Folgen. Mittelalterliche Christen stritten den Juden das Recht auf eine eigene Religion ab, arabische Staaten verweigern den Juden das Recht, eine Nation zu sein, und in kommunistischen Ländern wird der jüdischen Gemeinschaft die eigene Kultur in Frage gestellt.

Heute jedoch wird normalerweise die Existenz einer jüdischen Religion akzeptiert, hebräische oder jiddische Literatur als Teil der „jüdischen Kultur" aufgefaßt, und wären die Juden keine Nation, so gäbe es heute keinen Nationalstaat Israel.

Im Fall des Bruders Daniel endete die öffentliche Diskussion mit einem Beschluß des obersten Gerichtshofs, der das Gesuch nach automatischer Naturalisierung aufgrund des Rückkehrergesetzes abwies. Die Knesset schob weiteren Einwanderungswünschen dieser Art einen Riegel vor, indem sie das Rückkehrergesetz durch einen kleinen, aber entscheidenden Zusatz erweiterte: „Für dieses Gesetz bedeutet Jude’ — wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertierte und keiner anderen Religion angehört." (1970)

Damit wurden in Israel das Abstammungsprinzip (das keinesfalls mit der nationalsozialistischen Rassentheorie verwechselt werden darf) und die religiöse Zugehörigkeit zum jüdischen Volk für bindend erklärt. „Judentum" wird durch den Zusatz von 1970 gerade nicht als „Rasse" verstanden, ein Begriff, der der hebräischen Sprache — auf Menschen bezogen — fremd ist.

Dagegen wird jedem israelischen Bürger die ethnische Zugehörigkeit in den Personalausweis eingetragen. Die offizielle Begründung dafür war die Existenz einer „fünften Kolonne" im eigenen Lande: der arabischen Bevölkerung. Im traditionsbewußten Nahen Osten gab es bei dieser Maßnahme kaum Schwierigkeiten, denn jeder gehörte irgendeinem „Volksstamm" an. Hier spielen biblische Vorstellungen, die sich teils durch die fast unveränderte hebräische Sprache und teils durch die Geschichte des Orients und des Islams erhalten haben, eine Rolle. Ein gutes Beispiel dafür ist die Urkunde, die jeder Proselyt (jeder, der zum Judentum übertritt) auszufüllen hat. Man nimmt nicht etwa einen anderen „Glauben" an, sondern man begibt sich von der einen „Gemeinschaft" (Edah) in die andere. Eine andere Übersetzung des Wortes „Edah" wäre auch „Landsmannschaft" oder „Bevölkerungsgruppe

Bei europäischen Beobachtern führen die Auswirkungen solcher Denkweisen meist zu Mißverständnissen-und gelegentlich gar zu Befremden. Israel-Besucher kommen voreilig zum Schluß, der jüdische Staat sei eine archaische Theokratie, nur weil das Zusammenspiel von „Kirche" und Staat in Israel ganz anders geartet ist, als man es im christlichen Abendland gewöhnt ist.

Stellung der Religionsgemeinschaften in Israel

Die Prinzipien, nach denen sich die Stellung der Religionsgemeinschaften in Israel bestimmt, gehen auf Regelungen aus der türkisch-ottomanischen Herrschaft über Palästina zurück. Entsprechend dem bis heute in den meisten nahöstlichen Ländern üblichen „Milletsystem" *) wird jeder vom Staat anerkannten Religionsgemeinschaft freie Hand in der Ausübung des Personenstandsrechts gelassen. Eheschließung, Scheidung und Begräbnis fallen ausschließlich in die Zuständigkeit von Geistlichen der jeweiligen Konfessionen. Deshalb unterscheiden sich nicht nur die Riten, sondern auch die Bedingungen, unter denen z. B. Heiratswilligen die Eheschließung gewährt wird. Ein Moslem kann sich von seiner Frau scheiden lassen, indem er ihr dreimal einen dafür vorgeschriebenen Satz verkündet; ein Katholik kann sich in der Regel überhaupt nicht scheiden lassen; im Judentum wieder-um gelten Scheidungsgesetze, die seit dem Altertum kaum verändert wurden. Alle genannten Möglichkeiten werden von den israelischen Staatbehörden im nachhinein anerkannt; zivile Standesämter gibt es nicht. Für den Staat Israel hat dieser Usus in der Handhabung des Personenstandsrechts große Vorteile. Er kann sich jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften enthalten. Dadurch wird viel Konfliktstoff abgebaut bzw. es entsteht erst gar keiner. Gerade auf so gefühlsempfindlichen Gebieten wie Religion, Moral und gesellschaftliche Traditionen könnten ahnungslose jüdische Beamte Andersgläubige erheblich verletzen und internationale Proteste provozieren. Nachteile dieser Regelung ergeben sich vor allem innerhalb des jüdischen Sektors und bei „interreligiösen" Grenzfällen.

Wenn ein Christ eine Jüdin heiraten will (oder umgekehrt) kommt es zu Kompetenz-streitigkeiten zwischen dem Rabbiner und dem Pfarrer. Als Auswege in solchen Situationen — die zwar relativ selten vorkommen, aber Israel immer wieder den Vorwurf eintragen, eine „Theokratie" zu sein — gelten der Flug nach Zypern, wo es Standesämter gibt, oder der Religionswechsel eines Partners.

Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst lösen archaische Sitten und Heiratsverbote politischen Zwist zwischen Anhängern einer Säkularisierung Israels und dem orthodoxen Establishment aus.

Dies hat sowohl in der Knesset wie auch in den Massenmedien wiederholt zu erregten Diskussionen geführt; dazu einige Beispiele: Wer mit Nachnamen Katz oder Cohen heißt, wird dem biblischen Priestergeschlecht zugerechnet. Den Reinheitsgesetzen zufolge, die Gott Moses auf dem Berg Sinai gegeben hat, dürfen Nachkommen dieser „Kaste" nur „Jungfrauen" ehelichen. Wenn also Herr Cohen eine Witwe oder eine geschiedene Frau unter den Hochzeitsbaldachin führen will, legen die Rabbiner ihr Veto ein.

Ein anderer Fall betrifft die sogenannte Mamserim. Das sind außereheliche Kinder einer verheirateten Frau; bei dieser Definition wird meist Ehebruch assoziiert. Viel schlimmer ist es, wenn der Gatte jahrelang als verschollen gilt, die Frau sich wieder verheiratet und nun Kinder bekommt. Wenn der ehemalige Mann doch noch zurückkehrt, wird die zweite Ehe für ungültig erklärt, und den Kindern der zweiten Ehe hängt für immer ein Makel an. Die Halacha, das Religionsgesetz, verbietet, sie durch Heirat in die „Gemeinde Israels" aufzunehmen.

Unter den Befürwortern der Säkularisierung Israels bestehen im wesentlichen zwei Haupt-strömungen. Die kleinere Gruppe verlangt eine generelle Trennung von Religion und Staat. Den Rabbinern soll alle Macht genommen und die rabbinischen Gerichtshöfe sollen aufgelöst werden. Nur wer freiwillig in die Synagoge geht, für den soll der Rabbiner auch weiterhin „Anti" -Autorität sein. Unter dem Namen „Kanaaniter" vertraten vor allem im Lande geborene Israelis die Auffassung, daß die vom Exil geformte jüdische Religion in dem neuerstandenen Staat Israel keine bestimmende mehr sie Funktion haben dürfe; forderten die Wiederbelebung biblischer Ideale. Die Philosophie der „Kanaaniter" hat insofern eine gewisse Logik, als tatsächlich viele mittelalterliche und auch talmudische Gesetze im Hinblick auf die Existenz eines jüdischen Staates nicht mehr zeitgemäß sind. Diese Gesetze wurden erst nach dem Fall Jerusalems im Jahre 70 geschaffen und sollten ursprünglich ein überleben des Judentums in der Verstreuung gewährleisten. Die zweite Richtung ist eher praxisorientiert und wird im heutigen Israel vor allem von der Parlamentarierin Schulamit Alloni vertreten. Ihr geht es in erster Linie um die Aufhebung vpn Ungerechtigkeiten und erniedrigenden Zeremonien. So müßte prinzipiell auch heute noch eine kinderlose Witwe den Bruder ihres verstorbenen Mannes heiraten, damit dessen Name fortlebt. Nur durch gegenseitiges Bespucken und Werfen eines Schuhs vor Rabbinern als Zeugen kann sich die Frau von dieser Pflicht freimachen. Schulamit Alloni, eine gelernte Rechtsanwältin, versucht auch durch die Einführung standesamtlicher Trauungen das rabbinische Heiratsrecht zu umgehen. Bisher machen diese Aktionen nur Schlagzeilen auf den letzten Seiten der Zeitungen, etwa unter der Rubrik „Zu guter Letzt". Vom Innenministerium, das in Israel auch die Funktion eines Einwohnermeldeamtes hat, werden sie jedoch nicht anerkannt. Es sollte in diesem Rahmen vielleicht auch die Lehre von Professor Jeschajahu Leibowitsch erwähnt werden: In seiner vielgelesenen hebräischen Aufsatzsammlung „Judentum, jüdisches Volk und Staat Israel" setzt sich dieser gesetzestreue Jude mit Anachronismen der israelischen Orthodoxie auseinander:

Die Befolgung der strengen Religionsgesetze sei das wirkliche Geheimnis der Überlebenskraft des jüdischen Volkes, behauptet Professor Leibowitsch. Die Halacha sei im zweitausendjährigen Exil das einzige Bindeglied zwischen den Juden gewesen. Dabei hätten sich die 613 von Gott auf dem Berg Sinai offenbarten Ver-und Gebote als außerordentlich variationsfähig erwiesen. Den Rabbinern sei es gelungen, die Religionsgesetze den jeweils wechselnden äußeren Umständen anzupassen, ohne deren Inhalte aufzugeben. Der Beweis dafür sei die stete innere Erneuerung des Judentums. Wenn die rabbinischen Autoritäten nur überkommene Traditionen konserviert hätten, wäre • das Volk Israel schon längst untergegangen. Jede Generation habe die archaischen Gesetze einer Überprüfung unterzogen und durch neue Interpretationen den vormals unbekannten Bedingungen neuer Gesellschaftsformen und fremder Kulturen angepaßt.

Ungeachtet der christlichen, mohammedanischen oder heidnischen Landesfürsten überstanden Juden schwere Verfolgungen, Inquisitionen, sie hätten aber auch „goldene Zeitalter" erlebt, in denen sie teilweise die Ge-schicke mittelalterlicher und moderner Groß-mächte entscheidend mitbestimmten. Sie hätten es fertiggebracht, Tausende Kilometer voneinander entfernt zu leben und dennoch eine relativ einheitliche Identität zu bewahren. Von Verknöcherung könne dabei keine Rede sein. Vielmehr hätten jüdsche Denker mit eminentem Einfluß auf die nicht-jüdische Philosophie gleichzeitig auch zu den wichtigsten Schriftgelehrten und Interpretatoren der Halacha gegehört. Das Religionsgesetz sei folglich in der Vergangenheit kein Hemmschuh, sondern eher ein Sprungsbrett für revolutionierende Gedankengänge gewesen.

Mit der Gründung des Staates Israel sei für die jüdische Orthodoxie eine völlig neue Situation entstanden. Aber anstatt die Gelegenheit für durchgreifende Gesetzesreformen, zu nutzen, erwiesen sich die Rabbiner in den heimatlichen Gefilden des verheißenen Landes als besonders fortschrittsfeindlich, klagt Professor Leibowitsch. „Jetzt gilt es, den Ballast von zweitausendjährigem Leben in der Diaspora abzuwerfen und die jüdische Religion wieder an eine staatliche Existenz im gelobten Lande zu gewöhnen." Leibowitsch schlägt vor, einen „Sanhedrin" einzuberufen. Ein solcher Ältestenrat von 70 anerkannten Schriftgelehrten hätte die Macht, echte Änderungen in der Halacha vorzunehmen. Demgegenüber konnten bisher einzelne Rabbiner bestenfalls durch spitzfindige Talmudexegesen aufkommende Zusammenstöße zwischen moderner Technologie und biblichem Recht lösen. Im Staat Israel versuche die Orthodoxie mit aller Gewalt, Diasporamentalität zu verankern. So erhalte sie ihre Macht und mache sich unentbehrlich bei der Überwachung und Ausführung der komplizierten, unzeitgemäßen und für ein Leben im eigenen Staat ungeeigneten Gesetze. „Es geht nicht an", schreibt Leibowitsch, „daß im jüdischen Staat Israel der religiöse Jude nur auf Kosten der . Sünden'unfrommer Juden seinen Glauben regelgetreu ausüben könne." So verlange der orthodoxe Jude selbstverständlich ununterbrochene Wasser-und Stromversorgung auch am Sabbat!

Professor Leibowitsch betrachtet diese doppelzüngige Politik der Orthodoxie als eine Heuchelei, die das Weiterbestehen des Judentums ausgerechnet im Staate Israel ernsthaft in Frage stellen könne. „Säkulare" Juden fühlten sich abgestoßen und von den Religiösen für ihre Zwecke ausgebeutet. Elektrischen Strom zu liefern und die Sicherheit des Landes zu gewähren, das erlaubten die Frommen ihren „ketzerischen" Mitbürgern, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Erholung an den Strand zu fahren, das lassen sie wegen „Entweihung" am heiligen Sabbat keinesfalls zu. Ohne tiefgreifende Modernisierung des Gesetzes, so befürchtet Leibowitsch, könne der Anteil jener, die der Religion den Rükken zukehren und in ihrem Judentum überhaupt keinen Sinn mehr sehen, bald zu einer Auflösung der jüdischen Religion — besonders in Israel — führen, übrig bliebe dann nur noch die gemeinsame Abstammung.

Diese verschiedenartigen Versuche, sich von der jüdischen Orthodoxie zu distanzieren, sind in der israelischen Gesellschaft bisher nur Randerscheinungen. Bei Zusammenstößen zwischen Anhängern der antireligiösen Richtung und frommen Juden geht es meist nur um Detailfragen des Zusammenlebens, ohne daß die wirklichen Probleme von der Basis her aufgegriffen würden. So demonstrieren Ultraorthodoxe gegen Kinos, in denen Sexfilme gezeigt werden, gegen die Buskooperative, die auch am Sabbat ihre Busse über die Landstraßen rollen läßt, oder gegen die Leichensezierung, da nach jüdischer Vorstellung am Tag der Wiederauferstehung der Tote mit allen Gliedmaßen zu einem neuen Leben erwachen soll.

Die Antireligiösen versuchen immer wieder, Straßensperren, mit denen Fromme ihre Stadtviertel gegen den Autoverkehr am Sabbat abriegeln, niederzureißen. Vor einem Jahr endete ein solcher Versuch tödlich. Nach einigen Wochen und Monaten erregter Diskussion über die Frage der Berechtigung, Durchgangsstraßen (die mit öffentlichen Mitteln finanziert wurden) für den allgemeinen Verkehr zu sperren, bzw. über das Recht auf freie Religionsausübung (von Seiten der Frommen) verlief der Streit im Sande. Ganze Wohngebiete werden auch heute weiter abgesperrt, und auch in Zukunft genügt der geringste Anlaß, um wieder nicht-fromme Bürger gegen die Barrikaden der Frommen anrennen zu lassen.

Solange aber der Druck von außen, die Kriegs-gefahr, die schwierige Wirtschaftslage und andere interne politische Konflikte die Aufmerksamkeit beanspruchen, kommt es nur sporadisch zu Auseinandersetzungen über die gegenwärtige und zukünftige Rolle der jüdischen Religion im Staate Israel.

Die Orthodoxie

Die einzige in Israel voll anerkannte jüdische Gemeinschaft wird Orthodoxie genannt. Zwei andere, vor allem in Amerika beheimatete Richtungen, das Reformjudentum und die Conservatives, werden zwar stillschweigend geduldet, aber außer einigen wenigen Synagogen besitzen sie nichts. Das bedarf der Erläuterung: Das amerikanische Judentum verteilt sich jeweils zu etwa einem Drittel auf die „Orthodoxie", die „Conservatives" und die „Reformists". Die beiden letzteren haben viele „archaische" Grundsätze der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes, aufgegeben. Sie versuchten, der Religion mehr geistige Inhalte zu geben und „Äußerlichkeiten", wie koscheres Essen, Sabbatruhe im striktesten Sinne und Einhalten aller Formalitäten bei der Konversion, in den Hintergrund zu drängen.

Bei der Orthodoxie hingegen werden diese „Äußerlichkeiten" als unverzichtbare Befehle Gottes betrachtet, deren genaue Befolgung einem abstrakt-geistigen Religionsinhalt gleichkommt. Jede Abweichung oder gar der Verzicht auf diese althergebrachten Traditionen werden von der Orthodoxie als Ketzerei betrachtet. Geschichtliche Entwicklungen führten dazu, daß im Lande Israel noch lange vor der Staatsgründung nur die jüdische Orthodoxie Fuß faßte. Einmal an der Macht — sei es auf religiösem Sektor über rabbinische Gerichtshöfe und Rabbinate, sei es auf politischem Gebiet über die orthodox-religiösen Parteien—, konnte die Orthodoxie den Staat Israel mit Erfolg gegen ein Eindringen anderer jüdischer „Konfessionen" abriegeln. Die kleinen Reform-gemeinschaften in Israel sind die „Ausnahme, die die Regel bestätigen". Die orthodoxen Parteien, von der strengen Richtung der Agudat Israel bis hin zur gemäßigten Nationalreligiösen Partei, sorgen für die Einhaltung orthodoxer Regeln auch auf der staatlichen Ebene.

Die Methode der Conservatives oder der Reformists in Amerika, ganz einfach unbequeme Gesetzes zu streichen, betrachten selbst reformanstrebende Geister innerhalb der Orthodoxie als unannehmbar.

Das orthodoxe Establishment erlaubt reformierten Rabbinern weder Hochzeiten und Scheidungen noch Übertritte zum jüdischen Glauben zu vollziehen. Die Orthodoxen werfen den Reformierten und den Konservativen vor, nicht alle Regeln der jüdischen Traditionen einzuhalten; infolgedessen könne gemäß der Halacha ein Übertritt zum Judentum unter der Leitung eines nicht-orthodoxen Rabbiners keine Gültigkeit besitzen. Der Vorsitzende der Jerusalemer Reformgemeinde war der auch in Deutschland bekannte jüdische Theologe Schalom Ben Chorin, dessen Lehre und Bücher (z. B. „Mein Bruder Jesus") in Israel so gut wie keine Verbreitung gefunden haben. Fast das gleiche gilt übrigens auch für Martin Buber, dessen Schriften in Deutschland sehr viel bekannter und beliebter sind als in Israel. Der Konflikt zwischen Orthodoxie und den liberalen (oder auch „progressiveren") jüdischen Gemeinschaften spielt innerhalb Israels nur eine geringe Rolle. Viel eher fällt er bei der Beziehung zwischen dem jüdischen Staat und der mächtigen amerikanischen Judenheit ins Gewicht. So waren nicht-orthodoxe Lobbyisten im amerikanischen Kongreß verständlicherweise über das Koalitionsabkommen zwischen Menachem Begins Likkud-Partei und den religiösen Parteien verärgert. Einer der wichtigsten Punkte ist die Absprache, die orthodoxe Konversion zur alleinigen, in Israel gültigen Möglichkeit des Religionswechsels durch Staatsgesetz zu verankern. Die Bemühungen israelischer Ministerpräsidenten, Reformrabbiner aus Amerika zu umwerben und gleichzeitig auf die orthodoxen Koalitionspartner Rücksicht zu nehmen, sind deshalb oft ein Balanceakt.

Die Orthodoxen lassen keine „Modernisierungen" zu, wie sie etwa von amerikanischen Juden eingeführt wurden. In Israel werden die Frauen in der Synagoge weiterhin auf die Empore hinter einen Vorhang verbannt; sie könnten die Männer von ihren frommen Gedanken abbringen, lautet die überlieferte Begründung. Das Verbot, am Sabbat Feuer zu machen, läßt sich auf die Mühsal in biblischen Zeiten zurückführen, mit Feuerstein und Flachs eine Flamme zu entfachen. Im modernen Zeitalter, so argumentieren Anhänger des Reform-judentums, kann der Knopfdruck auf den Lichtschalter nicht mehr als „Arbeit" bezeichnet werden. Die Orthodoxie läßt aber keine Kompromisse dieser Art zu und wehrt sich bis heute, die göttlichen Gebote für ungültig zu erklären. (Ausnahmen bilden Notfälle; als solche gelten Landesverteidigung oder Lebensgefahr.) So ist es in Amerika schwer, am Sabbat neben „progressiven" Synagogen einen Parkplatz zu finden, während im überwiegend orthodoxen Israel die Straßen neben Synagogen polizeilich abgesperrt werden. Am Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, fährt niemand Auto; wer es trotzdem tut, riskiert die Zertrümmerung der Scheiben durch Steinwürfe.

Innerhalb der israelischen Orthodoxie besteht allerdings keine Einheit und auch keine Eintracht. Das Judentum kennt keine Art Papst und im Grunde auch keine Hierarchie. Jeder Rabbiner ist sein „eigener Papst", aber eben nur innerhalb eines gesetzten Rahmens, der durch die Bibel und die wichtigsten mittelalterlichen Gesetzesinterpretatoren festgelegt wurde. Bei tagesaktuellen Problemen, etwa bei der Einführung technischer Neuerungen, die ein frommer Jude nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis seines Rabbiners benutzen will, gibt es weitreichende Unterschiede in den Urteilen der Rabbiner. Vor allem weichen die Meinungen des aschkenasischen (deutsch/westeuropäischen) Oberrabbiners und des sephardischen (spanisch/orientalischen) Oberrabbiners oft voneinander ab. Die Institution eines Oberrabbiners wurde 1879 vom türkischen Sultan geschaffen. Der „Erste von Zion" — so der offizielle Titel — repräsentierte gegenüber der Hohen Pforte die mehrheitlich aus sephardischen (orientalischen) Juden bestehende jüdische Gemeinschaft im Heiligen Land.

Erst 1921 wurde auch für die europäischen Juden das Amt eines Oberrabbiners geschaffen, diesmal auf Veranlassung des britischen High Commissioners. Was ursprünglich der Repräsentation nach außen gegolten hatte, entwickelte sich zur höchsten innerjüdischen Instanz im Lande. Wegen des so ganz verschiedenartigen kulturellen und geographischen Hintergrundes konnten Kompetenz-streitigkeiten und Zwiste zwischen den beiden geistigen und administrativen Führern der jüdischen Gemeinschaft nicht ausbleiben. Sie dauern an bis zum heutigen Tag.

Bemühungen, nur noch einen Oberrabbiner für alle Juden Israels zu wählen, scheiterten. Es wurde vorgeschlagen, wechselweise einen Sepharden und einen Aschkenasen in dieses hohe Amt zu bestellen und jeweils den anderen zum Vorsitzenden des obersten rabbinischen Gerichts zu machen. Aber das gegenseitige Mißtrauen sitzt zu tief, als daß eine solche Regelung funktionieren könnte.

Die Sepharden, die inzwischen etwa 60 0/0 der Bevölkerung stellen und zweiundvierzig Jahre vor den Aschkenasen einen Oberrabbiner hatten, leiten daraus Vorrechte ab. Die Aschkenasen, die in der Regierung, im Parlament und in sämtlichen anderen Institutionen Israels überrepräsentiert sind, verstehen ihren Vorteil zu nutzen. Bekanntlich ist die soziale Zäsur in Israel nahezu identisch mit der zwischen den beiden großen jüdischen Gruppen. Die orientalischen Sepharden stellen — im großen gesehen — das relativ einflußlose Proletariat, während die europäischen Aschkenasen einflußreiche Führungspositionen im Staat besetzt halten.

Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Oberrabbinern haben ganz praktische Konsequenzen. Beide Rabbiner sind ermächtigt, Hotels, Keltereien, Fleischereibetrieben, Restaurants und Lebensmittelherstellern durch Urkunden zu bestätigen, daß Produkte und Dienstleistungen die Religionsgesetze nicht verletzen. Da ein großer Teil der Israel-Touristen wohlhabende fromme jüdische Amerikaner sind und in Israel selbst sogenannte „Säkuläre" darauf achten, daß eine gekaufte Wurst kein Schweinefleisch enthält, haben diese „Koscher-Urkunden" eine eminente wirtschaftliche Bedeutung. Zum einen sind sie für die verantwortlichen Rabbiner und auch für das Oberrabbinat eine sichere Einkommensquelle. Zum anderen können es sich nur wenige Restaurants erlauben, auf fromme jüdische Kundschaft zu verzichten. (Eine Ausnahme bilden solche, wo z. B. „weißes Fleisch" — die feine Umschreibung für Schweinesteaks — angeboten wird.)

Vor etwa zwei Jahren verteilte Oberrabbiner Schlomo Goren Koscher-Urkunden an ein Luxusrestaurant in Tel Aviv, das auf seiner Speisekarte auch sündhaft teure französische Importweine anbot. „Wer die Regeln der Thora einhält, wird diese Weine nicht bestellen", ließ der Sprecher des umstrittenen aschkenasischen Oberrabbiners damals verkünden. Einem anderen Restaurant dagegen, das billige Weine eines in Israel produzierenden römisch-katholischen Trappistenklosters anbot, wurde die Konzession entzogen. „Ahnungslose Juden könnten irrtümlich den unkoscheren Meßwein dieser Gojim (Nicht-Juden) kosten, und so eine Sünde begehen", lautete in diesem Fall die Presseerklärung. In einem anderen Fall war es wieder der aschkenasische Oberrabbiner Schlomo Goren, der mit seinen wenig konsequenten Entscheidungen in allen israelischen Tageszeitungen Schlagzeilen machte. Er brachte ein Hotel um dessen Existenz, weil es christliche Pilgergruppen aufnahm, deren Gesänge von Goren als „missionarische Tätigkeit" ausgelegt wurden — Grund genug, die Herberge für fromme jüdische Gäste zu sperren. Es gibt auch Fälle, wo Protektion, persönliche Beziehungen und handfeste wirtschaftliche Interessen nicht so ganz koscheren Waren zu dem entscheidenen Stempel mit der Unterschrift eines der Oberrabbiner verhalfen. Wenn nun der andere Oberrabbiner berechtigten Protest anbrachte, entfachte dies in der Presse Diskussionen über den „Widersinn" der doppelten Besetzung des „Datikan" (so verbindet der Volksmund das Hebräische Wort für fromm — „Dat" — mit dem Sitz des katholischen Papstes).

Die Orthodoxie hat im Staat Israel eine viel einflußreichere Position, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Im folgenden werden einige Beispiele für die Machtentfaltung der Orthodoxie genannt: — Die Überwachung der Lebensmittelherstellung, sämtlicher Gastbetriebe und anderer Institutionen, deren Funktion irgendwie mit den Forderungen der jüdischen Religionsgesetze zusammenhängt, fällt unter die Zuständigkeit der Rabbiner. Die Firmen müssen an die religiösen Behörden finanzielle Abgaben entrichten; wie schon, gesagt, stehen hier zweifelhaften „Interpretationen" Tor und Tür offen. — Um jedem frommen Juden Zugang zu jeder israelischen Institution zu verschaffen, darf durch Parlamentsbeschluß in der Armee, in den Universitäten und in Schulen ausschließlich nur koscheres Essen gereicht werden. Folglich finanziert der Steuerzahler festangestellte Beamte, deren Aufgabe es ist, Köche und Küchen ständig zu überwachen. In jeder noch so kleinen Armee-Einheit gibt es zwei fromme Aufpasser, die ihren Pflichtdienst mit dieser Tätigkeit verbringen. Manchmal sind sie die einzigen im ganzen Camp, die Wert auf koscheres Essen legen. Die doppelte Besetzung soll urlaubsbedingte Ausfälle verhindern. Da Israel die Zahl seiner militärischen Einheiten nicht publiziert, können hier keine statistischen Angaben gemacht werden; sicher ist jedoch, daß der Aufwand an Personal und Unterhaltskosten in keinem angemessenen Verhältnis zum Ergebnis steht. — Die spezielle Lebensweise frommer Juden verlangt geschlossene Wohngebiete. Am Sabbat fühlt sich der orthodoxe Jude in seinen Gefühlen verletzt, wenn Autos durch seine Straße fahren oder der Nachbar öffentlich raucht und Radio hört. Ganz von selbst entstanden so in Israel Ortsbezirke, deren Bewohner nicht nur einer sozialen Schicht angehören, sondern vor allem aus weltanschaulich-religiösen Gründen eine Einheit bilden. Prinzipiell wäre nichts daran auszusetzen, nur haben auch in diesem Fall fromme Leute eine viel bessere Position als der weltliche Normalbürger. Wegen des gesellschaftlichen und organisatorischen Zusammenhalts religiöser Gruppen haben Nichtfromme kaum die Möglichkeit, in ein frommes Viertel zu ziehen. Entweder wird ihnen durch überhöhte Preise und kaum annehmbare Auflagen der Kauf einer Wohnung vergrämt oder aber im nachhinein das Leben schwergemacht (z. B. durch Sperrung der Straße). Der Zuzug von wenigen religiösen Familien in Wohnblocks, deren Bewohner weltliche Juden sind, kann dazu führen, daß viele Eigentümer und Mieter fortziehen und die Grundstückspreise sinken. Die Intoleranz frommer Israelis beschleunigt diesen Polarisierungsprozeß und vertieft die ohnehin nur schwer überbrückbaren Gegensätze zwischen gesetzestreuen Juden und religiös indifferenten Bürgern des Judenstaats. — Das israelische Schulsystem kennt im jüdischen Sektor zwei parallele Zweige: religiöse und nicht-religiöse Schulen. Daneben gibt es noch eine ganze Reihe von Privatschulen und Schulgruppen — vor allem religiöser Kreise. Diese werden auch vom Staat anerkannt, obwohl sie sich nicht nach den Studienplänen des Kultusministeriums richten. Religiöse Organisationen, besonders in Amerika, unterstützen mit großzügigen Spenden die Errichtung von Kindergärten und eigenen Schulen, so daß ein deutliches Überangebot an religiösen Schulen besteht. Etwa ein Drittel aller jüdisch-israelischen Kinder besucht religiös orientierte Erziehungsinstitutionen, obwohl kaum mehr als lO°/o der Bevölkerung als „fromm" zu bezeichnen sind.

— Studenten von sogenannten „Jeshivot", religiösen Hochschulen, werden vom Militärdienst zurückgestellt, solange sie in einer solchen Lehranstalt eingeschrieben sind. Die jüdische Hochachtung vor Gelehrsamkeit ermöglicht ein lebenslanges Studium an solchen „Talmudschulen"; aus ihnen gehen fast alle Rabbiner hervor. In einem Teil dieser von den säkularen Universitäten völlig unabhängigen „Theologischen Fakultäten" macht sich seit einigen Jahren ein starker Nationalismus breit. Mit religiös-mystischen Argumenten verteidigen die Studenten das Recht der Juden auf das gesamte Gebiet des von Gott gelobten Landes. Für diese Gruppen richtete die Armee Sonderbataillone ein, in denen der Militärdienst mit dem Talmudstudium verbunden wird. Diese hochmotivierten Jugendlichen gelten als besonders gute Soldaten.

Orthodoxie und Politik

Die Israelische Orthodoxie ist hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Staat Israel außerordentlich heterogen. Die Skala reicht von völliger Ablehnung des jüdischen Staates auf dem Boden des Heiligen Landes bis hin zu einer rechtsextrem-chauvinistischen Orientierung.

Naturei Carta („Hüter der Mauern") ist eine winzige Gruppe von Ultra-Orthodoxen. Etwa 200 Familien dieser „Sekte" leben in dem ghettoähnlichen Viertel Mea Schearim im Herzen Jerusalems. Für sie ist der heutige Staat Israel im Heiligen Land eine Inkarnation der Ketzerei und Gotteslästerung. David Ben Gurion, der Staatsgründer, habe mit seinem Werk „dem lieben Gott ins Handwerk gepfuscht"; ein jüdischer Staat dürfe erst durch den Messias errichtet werden, nicht aber durch sündige Menschen, überdies sei in diesem Staat die Thora, das Gottesgesetz, noch nicht einmal zur Verfassung erhoben worden.

Die Naturei-Carta-Leute haben trotz ihrer geringen Zahl ein nicht ganz unbedenkliches politisches Gewicht. Sie enthalten sich zwar jeder aktiven Einmischung in das innenpolitische Geschehen in Israel, versuchen aber von Zeit zu Zeit, eine eigene „Außen" -Politik zu machen. So sollen ihre Rabbiner von Kurt Waldheim verlangt haben, in die UNO als Beobachter aufgenommen zu werden, wie dies vor einigen Jahren der PLO gewährt worden ist. Meldungen über die Aufnahme von Kontakten mit Yassir Arrafat, dem Anführer der PLO, haben sich zwar als Zeitungsenten herausgestellt, Telegramme an König Hussein hingegen wurden bestätigt. Darin wurde der jordanische Herrscher dringend ersucht, doch das Heilige Land „aus der Hand der ketzerischen Juden zu befreien". Erst in jüngster Zeit baten sie den König um sein Einverständnis, die Klagemauer besuchen zu dürfen. Da die seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 bestehende Naturei Carta die israelische Flerrschaft über die Altstadt Jerusalem nicht anerkennt, vermieden sie bisher den Gang zu der geheiligten Westmauer des alten Tempelbezirks. In einer Darstellung zum Thema „Religion in Israel" schreibt der israelische Generalkonsul in Zürich, Gavriel Gavrieli, in der Jüdischen Rundschau vom 11. Mai 1978: „ . . daß deren militante Aktionen zur Verhütung der 'Sabbatentweihung eigentlich richtig sind ..." Nach Meinung dieses offiziellen Vertreters der israelischen Regierung „rütteln sie am Gewissen", weil sie „religiös über-konsequent" sind. Das ist ein bemerkenswertes Zugeständnis gegenüber einer ausgeprägt antizionistischen Gruppe!

Ganz in der Nähe der Naturei Carta stehen die Anhänger der Agudath-Israel-Partei. Ursprünglich waren sie antizionistisch eingestellt. Selbst heute, da sie eine der Mini-Parteien in der Knesset stellen und sogar Begins Regierungskoalition beigetreten sind, enthalten sie sich der aktiven Mitsprache. Ihre Parlamentarier sind einem „Rat der Weisen"

— einer Versammlung von greisen Schriftgeiehrten — unterworfen. Regierungsverantwortung dürfen die Abgeordneten nicht übernehmen. Sie müssen gemäß dem rein theokratischen System ihrer Partei nur dafür sorgen, daß der Staat Israel ein frommeres Gepräge erhält. Um ihre Vorstellungen von einem „jüdischen Staat im Lande Israel" durchzusetzen, zwangen sie Menachem Begin durch das Koalitionsabkommen, sich für eine Freistellung religiöser Mädchen von der Armee („Sie könnten in schlechte Gesellschaft geraten und außerhalb der elterlichen Aufsicht ihre Keuschheit verlieren"), für die Unterstützung des parteieigenen Schulsystems u. ä. einzusetzen. Als Gegengabe sind sie bereit, in anderen außen-und innenpolitischen Fragen diskussionslos mit der Koalition zu stimmen. Diese Partei widersetzte sich seit der Staats-gründung allen Bestrebungen, Israel eine „weltliche Verfassung" zu geben, da die Thora die einzig gültige Grundordnung des Landes sein müsse. Dagegen sträubt sich die säkulare Mehrheit, die den Staat lieber ohne eine Verfassung beläßt, als daß sie ihn in eine reine Theokratie verwandelt.

Der größere Bruder unter den religiösen Parteien ist das Mafdal — die national-religiöse Partei. Sie war seit jeher das „Zünglein an der Waage" bei Regierungsbildungen — daher auch ihr überproportionaler Einfluß. Unter Menachem Begin stellt sie den Polizei-und Innenminister (Dr. Joseph Burg), den Erziehungsminister (Sebulon Hammer) und den Religionsminister (Aahron Abu Chazeira). Allgemein gelten die Mitglieder dieser Partei als „Falken". Sie setzen sich für die Beibehaltung der besetzten Gebiete unter israelischer Herrschaft ein, weil das „Erbe der Väter" dies verlange. Gottesverheißungen spielen bei vielen von ihnen die Rolle von Parteiprogrammpunkten. Weniger bekannt ist jedoch die Tatsache, daß es gerade unter religiösen Juden vehemente Gegner der „GroßIsrael-Politik" gibt. Sie wollen den jüdischen Charakter des Staates Israel bewahrt wissen und fürchten sich vor einer arabischen Mehrheit. Durch Eingliederung der besetzten (bzw. „befreiten") Gebiete würde die arabische Bevölkerung in wenigen Jahren die Mehrheit bilden. Entweder müßte Israel dann auf seine parlamentarische Demokratie verzichten oder aber aufhören, ein jüdischer Staat zu sein. Die Demokratie bewahren, das demographische Dilemma lösen und gleichzeitig „Judäa und Samarien" (= West Bank, Cisjordanien) behalten, dafür hat bisher niemand eine Patentlösung gefunden.

Obgleich keine organisierte Partei, kann als straff geführte Organisation in diesem Rahmen auch Gusch-Emunim („Block der Gläubigen") genannt werden. Es handelt sich um die inzwischen weltbekannt gewordenen illegalen „Siedler". Äußerlich unterscheiden sie sich von den Frommen der Agudath-Israel-Partei nur durch die Kopfbedeckung, überhaupt sagt in Israel der Hut fast alles über die politische Gesinnung aus: die Leute von Mea Schearim, Naturei Carta, und andere Ultraorthodoxe tragen große runde schwarze Hüte. Am Sabbat laufen sie auch bei 40 Grad Hitze mit wunderbar gepflegten, echten Pelzhüten herum, die alten Zarenkronen nicht unähnlich sind. Sie sind das „Kleidungserbe" Polens und Rußlands aus dem letzten Jahrhundert. Die Agudath-Israel trägt schwarze randlose Kappen als Parteizeichen, und bei der Gusch-Emunim ist inzwischen die „Kipa-Seruga", das zweifarbig (meist von der Freundin) gestickte Käppchen, zum Symbol einer ganzen Weltanschauung geworden.

Gusch-Emunim entstand 1974, wenige Monate nach dem Yom-Kippur-Krieg, der in Israel traumatische Wirkungen auslöste. Es begann mit Demonstrationen gegen Kissingers Druck auf Israel, sich vom Suezkanal und von den Golanhöhen zurückzuziehen. Die ungewöhnlich aktive Bewegung war schließlich sogar bereit, gegen das eigene Militär vorzugehen, wenn es darum ging, „altjüdische" Erde in den besetzt-befreiten Gebieten wieder mit Juden zu besiedeln. „Kein Teil des Landes Israel darf je wieder verlassen werden", lautet der Leitspruch dieser jüdischmessianischen Idealisten und Superpatrioten. Der Islam fordert — nur mit umgekehrten Vorzeichen — im Grunde genau das gleiche: Kein Stück Land, das jemals Gläubigen des Propheten Mohammed gehört hat, darf wieder an Ungläubige zurückgegeben werden. Genau an diesem Punkt scheiterten bisher auch alle Friedensbemühungen, da beide Seiten von „heiliger Erde" sprechen und dem Gegner die Legitimation streitig machen, die gleiche Erde ebenfalls für heilig zu halten.

Für Gusch-Emunim ist der Staat Israel bereits die Erfüllung messianischer Prophezeiungen; jetzt gilt es nur noch, die biblischen Vorhersagen in die Tat umzusetzen. Da Gott auf jeden Fall ihr Tun gutheißen muß — er habe es ja schließlich den Juden befohlen —, sind die Anhänger dieser Bewegung realitätsbezogenen Argumenten kaum zugänglich. Demographische Wahrscheinlichkeitsrechnungen über eine arabische Mehrheit im jüdischen Staat schlagen sie als Schwarzmalerei in den Wind. Neben den religiösen Postulaten beziehen sie auch militärstrategische Überlegungen zur Verteidigung ihres Standpunktes ein: Israel in den Grenzen von 1967 sei nicht zu verteidigen, und Tel Aviv liege in einem nur 15 km breiten Flaschenhals; niemand könne deshalb einen Rückzug verantworten.

Bei Gusch-Emunim handelt es sich um eine fanatische Gruppe, die große Ausstrahlungskraft auf weite Teile der Bevölkerung besitzt. Die Siedler haben sich den Namen gemacht, die „besseren Patrioten" und dazu auch noch „bessere Juden" zu sein. Gerade auf Jugendliche, die ihre eigene Identifikation als „Juden“ nicht mit Inhalt füllen können, übt diese Bewegung Faszination aus. Sie gibt dem unbestimmten Begriff „Jude" einen neuen Sinn und verbindet ihn noch mit allgemein positiv anerkannten Werten wie „Heimatliebe" und Treue zum Staat Israel.

Deutschen Ohren werden solche Begriffe eher befremdlich klingen. Es sei deshalb hier an den überspitzten Nationalismus in fast allen neugegründeten Staaten erinnert und nicht zuletzt auch an den arabischen Nationalismus (vor allem der palästinensischen Gruppen), zu dem die Juden fast notwendigerweise ein Gegengewicht schaffen müssen. Es sei auch daran erinnert, daß kaum ein anderes Land so traumatische Erfahrungen mit dem Nationalismus und der Heimatliebe gemacht hat wie Deutschland; die Distanz zu solchen Werten muß aber in unserer Viel-Staaten-Welt eher als untypisch bezeichnet werden.

Die Religion — eine integrative Kraft?

Der Zionismus hat den Staat Israel hervorgebracht. Ohne den Nationalgedanken des vorigen Jahrhunderts wäre weder die Balfour-Deklaration von 1917 noch die Staatsgründung 1948 zustande gekommen. Zion-gerichteter Messianismus trieb im Laufe der Jahrhunderte Juden aus aller Welt immer wieder an, in das Gelobte Land zu reisen. Sie wären aber niemals auf die Idee gekommen, wie Theodor Herzl mit irdischen Herrschern im Kreml, an der Hohen Pforte oder in Berlin über die Errichtung eines „normalen" Staates zu verhandeln. In ihren Gebeten drücken die Juden ihre Sehnsucht nach Zion aus, aber niemals wäre daraus ein „Zionismus" entstanden, wenn nicht europäisch-nationales Denken den Anstoß dazu gegeben hätte.

Herzl, der Autor des „Judenstaat" (1895), hatte von seiner Religion keine Ahnung. Trotzdem hätte seine politisch gedachte Bewegung unter den jüdischen Massen keinen Widerhall finden können, wenn sie nicht religiöse Emotionen miteinbezogen hätte.

Gerade die Ambivalenz, von religiösen Gefühlen getragen zu sein und von politischen Rücksichten geleitet zu werden, garantierte dem Zionismus Erfolg innerhalb des Judentums. Mit der Staatsgründung Israels entstand eine völlig neue Situation wechselseitiger Abhängigkeit: Das Judentum kann heute nicht mehr ohne den Staat Israel existieren — sagt eine weitverbreitete Theorie —, und der Staat kann nicht auf politische und finanzielle Unterstützung der Juden in der Diaspora verzichten — dafür bedarf es keiner Beweise. Andererseits haben innerhalb Israels die Unkenntnis der Verhältnisse im Ausland, das eigene Nationalbewußtsein und die autonome Dynamik des Staates unter seinen Bürgern ein Selbstbewußtsein entstehen lassen, das leicht zu einem Bruch zwischen Israelis und Diasporajuden führen kann. Der Israeli könnte schließlich auf seine jüdische Identität verzichten, da er mit dem Staat und allen damit verbundenen Problemen eine „Ersatzreligion" schaffen konnte, der Diasporajude dagegen nicht. Die komplizierte außenpolitische Lage um Israel verhinderte bislang ernsthaftere Differenzen zwischen dem israelischen Nationaljudentum und den Diasporagemeinden. Wegen der krisenhaften Situation wurden auch nicht die im Exil entstandenen Anschauungen und Lebens-gewohnheiten über Bord geworfen, obwohl sie sich teilweise in der eigenstaatlichen Existenz überlebt haben. Durch die verantwortlichen Rabbiner wurden aus dem Diasporaleben stammende Traditionen bewahrt, da sie allein eine weltweite Einheit des Judentums garantieren können.

Solange die Kriegsgefahr anhält, werden auch innerhalb Israels die Widersprüche zwischen Staat und jüdischer Religion nur sporadisch zutage treten. Aufbrechende Diskussionen um so elementare Fragen wie „Wer ist Jude?" werden immer wieder von aktuellen Anlässen politischer Art überlagert und gestoppt. Obwohl die Probleme latent weiterschwelen, werden sie tunlichst nicht aufgegriffen. Interessen der Regierungskoalition, der Rabbinate oder anderer religiös ausgerichteter Gruppen verhindern ein wirkliches Aufflammen der zu erwartenden Auseinandersetzungen.

Sobald der „Friede ausbrechen wird" — wie man in Israel sagt —, kann aber die religiöse Frage nicht mehr ausgeklammert werden. Falls das Judentum für alle Israelis weiterhin seine geistige Bedeutung behalten will, muß die Orthodoxie zur weltlichen Bevölkerung Brücken schlagen. Anachronistische Sitten aus der Diaspora wirken auf die stolzen, im eigenen Staat geborenen Israelis eher abstoßend. Der heute praktizierte, oben dargestellte Weg, weiten Bevölkerungskreisen einen frommen Lebenswandel aufzuzwingen, wird dann noch vehementer bekämpft werden, als das bisher schon geschehen ist. Die Gegensätze zwischen Frommen und Nichtfrommen sind zu tief und haben so einschneidende Auswirkungen im täglichen Leben, als daß sie von den Nicht-frommen goutiert werden könnten. Nur äußerste Disziplin auf beiden Seiten könnte bei einem plötzlichen Übergang vom Krieg zum Frieden Zusammenstöße verhindern.

Solange die jüdische Religion in Israel von der Mehrheit der Israelis mit politischer Interessenvertretung, unzeitgemäßem Traditionalismus oder gar unseriösen Praktiken identifiziert wird, hat sie kaum eine Chance, eine integrative Kraft zu werden. Es grenzt jedoch an Prophetie, wollte man schon jetzt den Weg beschreiben, den ein so essentieller Bestandteil Israels nach einem Friedensschluß nehmen könnte. Wegen der Brisanz der religiösen Frage gibt es nur wenige ernsthafte Versuche, über den tagespolitischen Horizont hinwegzuschauen.

Die Selbstverständlichkeit, Jude zu sein

Für den jungen Israeli bedeutet das „Judesein" keine besondere Herausforderung. Vom Antisemitismus fühlt er sich nicht direkt betroffen, und fremde Religionen erlebt er nur ganz entfernt am Rande. Es kommt vor, daß der Jugendliche in Tel Aviv nur im Geschichtsunterricht erfährt, was eigentlich Islam und Christentum bedeuten, denn seine andersgläubigen arabischen Mitbürger identifiziert er zunächst als Araber und nicht als Christen oder Moslems. Da die unmittelbare Umgebung des jungen israelischen Juden von niemandem direkt angefochten wird, muß er sich auch gegen nichts direkt verteidigen;

Judentums, die Werte seines falls er sich dieser überhaupt bewußt ist, werden nicht, wie etwa im christlichen Europa des Mittelalters, durch Schutzbriefe und Sonderbestimmungen gesellschaftlich stigmatisiert. Der Beschneidungsakt zum Beispiel ist für diesen Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit und inzwischen zu einer normalen Familienfeier geworden. Man tut es, „weil es so Sitte ist". Aber man zerbricht sich nicht den Kopf darüber. Außer bei Feiern (vor allem beim Osterfest,, an dem es nur ungesäuertes Mazzebrot gibt) manifestiert sich die religiöse Tradition in vielen anderen Bereichen. So steht in der Schule der Bibelunterricht an erster Stelle; er gilt als eines der wichtigsten Abiturfächer, wird aber keineswegs mit dem Glauben in Verbindung gebracht: Die Bibel ist nicht nur ein geschichtliches Dokument, sondern beschreibt die Geographie des Landes und ist Grundlage für den Grammatikunterricht. Ihre Sprache klingt zwar aus heutiger Sicht etwas „altfränkisch", aber sie ist im Grunde das gleiche Hebräisch, das man auch auf der Straße hört. Da die Landschaft den biblischen Erzählungen völlig entspricht, entsteht zwischen dem aus der Bibel lernenden Israeli und der „Heiligen Schrift" ein Verhältnis, das auch vielen Israel-Touristen bekannt ist: Das Buch verliert den Nimbus des Religiösen und wird zu einem nützlichen Handbuch.

So widerfährt dem Israeli genau das Gegenteil von dem, was Bibelzirkel im fernen Ausland bezwecken: Anstatt durch Lektüre des Gottesbuches den Glauben zu stärken, führt in Israel das schulische Studium der Bibel zu Ernüchterung und Indifferenz gegenüber religiösen Werten.

Die hebräische Sprache enthält eine Unmenge Biblizismen und talmudische Redensarten. Daß sie aber zweitausend Jahre hindurch nur für den liturgischen Gebrauch herangezogen wurden, ist dem modernen Israeli nicht bewußt, wenn er gerade eine Liebeserklärung abgibt, auf dem Markt einkaufen geht oder über den Taxifahrer schimpft.

Selbstverständlich vermittelt die Sprache gewisse Denkmuster, die man auch Mentalität nennen könnte: Der Israeli ist zwangsläufig als näher der biblischen Anschauungen viel fromme amerikanische Jude, der Hebräisch lediglich zum Beten benutzt.

Aber es fragt sich, ob der religiös indifferente Israeli jüdischer ist als der religiös indifferente deutsche Jugendliche christlich ist, dem das „christliche Abendland", die von Luthers Bibelübersetzung entscheidend mitgeformte deutsche Sprache und die zumindest formal christliche Gesellschaft seiner Umgebung auch einen religiös geprägten Hintergrund mitgegeben haben. In der Diaspora mußte der Jude ständig seine Religion und seine Lebensweise gegen Angriffe verteidigen: Mal wurde er physisch angegriffen, mal drohte seiner Religion auf schleichendem Wege, etwa durch Aufklärung und Emanzipation, Gefahr. In Israel hingegen gilt das Judentum als so normal, daß es viel von seiner zu besonderem Engagement herausfordernden Wirkung verloren hat. So besteht die Möglichkeit, daß mit der Zeit das Judentum in Israel stark verwässert. Die Mehrheit der Bevölkerung weiß heute schon kaum mehr etwas mit dem Begriff „Jude" anzufangen und bezeichnet sich selbst eher als „Israeli". Das schließt die nationale Zugehörigkeit ein, bedeutet aber gleichzeitig einen Lebenswandel, der einem erst bei Fahrten in arabische Dörfer oder bei Reisen ins Ausland als jüdisch bewußt wird. Bei der Frage nach der „integrativen Kraft der jüdischen Religion" muß die vorherrschende „Ungläubigheit" der jungen Israelis mitberücksichtigt werden. Das Judentum ist für die meisten kein Glaube mehr, wenn er auch eine Unsumme von praktischen Verhaltensformen regelt.

So kann es sein, daß die Frage nach der Religion in Israel auf die Dauer irrelevant wird, vor allem, wenn die organisierte Orthodoxie auf eine kleine Gruppe unzeitgemäß lebender Sekten zusammenschrumpfen sollte.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ulrich W. (Uri) Sahm, geb. 1950 in Bonn; Schulbesuch in verschiedenen Ländern Europas; Studium der Theologie, Judaistik und der Hebräischen Literatur in Bonn, Köln und Jerusalem; seit 1971 wissenschaftliche und feuilletonistische Veröffentlichungen in israelischen Zeitungen und deutschen Zeitschriften; deutscher Korrespondent in Israel für die Tribüne, das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, die Hannoversche Allgemeine, die Mainzer Allgemeine, den Tages-spiegel (Berlin), den Evangelischen Pressedienst und die Katholische Nachrichten-Agentur.