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Die Bundesrepublik -eine heimliche Großmacht? Zur Diskussion über die Grundlagen bundesrepublikanischer Außenpolitik | APuZ 26/1979 | bpb.de

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APuZ 26/1979 Artikel 1 Die Bundesrepublik -eine heimliche Großmacht? Zur Diskussion über die Grundlagen bundesrepublikanischer Außenpolitik Das Ringen zwischen Ost und West um Sicherheit. SALT, MBFR und die Optionen der westlichen Politik

Die Bundesrepublik -eine heimliche Großmacht? Zur Diskussion über die Grundlagen bundesrepublikanischer Außenpolitik

Ernst-Otto Czempiel

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Aufsatz überprüft die Grundlagen bundesrepublikanischer Außenpolitik und kommt zu dem Schluß, daß sich die Ziele dieser Politik und ihre Grundorientierungen nicht geändert haben; andererseits hat sich der Kontext dieser Außenpolitik entscheidend gewandelt. Die Bundesrepublik ist von einem „abhängigen Provisorium" zu einer unabhängigen mittleren europäischen Macht geworden. Ihr Handlungsspielraum hat sich vergrößert. Daß die Bundesrepublik diesen Handlungsspielraum ausschöpft, darf nicht mit einer Veränderung ihrer Grundeinstellungen und ihrer Ziele verwechselt werden. Die NATO und die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten ist für die Bundesrepublik auf dem Gebiet der Verteidigung und der Entspannung unerläßlich. Ihre Sicherheit kann nur atlantisch, nicht europäisch definiert werden, weil die Bundesrepublik sich sonst von den Vereinigten Staaten abkoppeln würde. Auf der anderen Seite besitzt die Bundesrepublik ein besonderes Interesse an der Entspannung, da sie die Wiedervereinigung anstreben muß und unmittelbarer Anrainer Osteuropas, ist. Dieses Interesse wahrzunehmen, kann nicht als Alleingang, als „Selbst-Finnlandisierung" oder gar als Neuauflage einer Rapallo-Politik verstanden werden. In der Wirtschafts-und Weltpolitik ist die Bundesrepublik auf die Europäische Gemeinschaft angewiesen. Der Fortgang der Westintegration, die Intensivierung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft, zählt daher zu den Grundlagen westdeutscher Außenpolitik. Andererseits zeigt sich, daß die Bundesrepublik keine ausreichenden Mittel entwickelt hat, mit denen sie ihre unverändert auf die Zusammenarbeit innerhalb des westlichen Lagers gerichteten Ziele besser instrumentalisieren könnte. Aber auch in den anderen EG-und NATO-Staaten ist für den gebotenen Multilateralismus bisher kein wirksames Konzept entwickelt worden-. Es besteht immer wieder die Gefahr, daß ein pragmatischnationaler Rückzug in den Unilateralismus die eindeutig multilateral orientierten Ziele verfehlt. Die Entwicklung eines solchen Konzeptes multilateraler Verfahrensweisen ist daher — nicht zuletzt wegen der spezifischen Position der Bundesrepublik innerhalb von EG und NATO — von dringlicher Notwendigkeit.

I. Geänderte Ziele oder veränderte Umwelt?

1. Die Kritik von außen und innen

Die bundesrepublikanische Außenpolitik ist erneut ins Gerede gekommen. Inzwischen kann man auch in den Vereinigten Staaten besorgte Fragen hören, ob Bonn einen neuen Kurs steuere oder — besser gesagt — zu den alten Kursen deutscher Europapolitik zurückkehre. Solche Fragen lassen sich nicht einfach abtun. Es ist zwar erkennbar, daß wir es hier mit einem Reflex der innerdeutschen Polemik zu tun haben, deren Themen im Ausland aufgegriffen und nunmehr in die Bundesrepublik zurückgespielt werden. Man kann sich auch nicht mit dem Gedanken zufriedengeben, daß die inneren Widersprüche dieser Kritik sie ad absurdum führen werden. Das ist zwar logisch richtig; doch Politik hat ihre eigene Logik. Historische Reminiszenz gilt hier mehr als sachlich-inhaltliche Stringenz. Die Kritik zielt genau darauf ab, zwei solcher geschichlichen Erfahrungen zu Bewertungsmaßstäben gegenwärtiger bundesrepublikanischer Außenpolitik zu machen. Man könnte sie sinnfällig als den „Geist der Wilhelmstraße" und den „Geist von Rapallo" bezeichnen. Die beiden Begriffe werden nirgendwo verwandt; sie sind aber im Hintergrund deutlich zu sehen. Sie versinnbildlichen die beiden Sorgen, die gegen Bonn geltend gemacht werden: Einerseits scheint die Bundesrepublik die Entspannung mit der Sowjetunion zu weit treiben zu wollen. Breschnjews Besuch in Bonn, eine gewisse Zurückhaltung der Bundesregierung hinsichtlich einer ungeprüften nuklearen Aufrüstung in Mitteleuropa, die Kritik an der Menschenrechts-Kampagne des amerikanischen Präsidenten Carter und das Beharren auf einer Kontinuität der Entspannungspolitik — dies alles wird zusammengezogen und zugespitzt in dem polemischen Vorwurf, die Bundesrepublik finnlandisiere sich selbst. Den Begriff hat der amerikanische Sicherheitsberater Brzezinski aufgebracht,, der amerikanische Publizist Borchgrave hat ihn verbreitet. Wie weit dieser semantische Spuk schon gediehen ist, läßt sich daran ablesen, daß ernst zu nehmende CDU-Politiker jedenfalls privat die Frage stellen, welchen Grad des sowjetischen Einflusses in Bonn der Westen hinzunehmen geneigt sei. Daß Begriffe ihr Eigenleben entwik-INHALT I. Geänderte Ziele oder veränderte Umwelt?

1. Die Kritik von außen und innen 2. Kontinuität der Ziele, aber Veränderung der Bedingungen 3. Der Anachronismus der Mittel II. Zusammenarbeit für Verteidigung und Entspannung 1. NATO statt Bigemonie 2. Atlantische statt europäische Sicherheit 3. Entspannung als Funktion des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses III. Allein in der Wohlstands-und Weltpolitik?

1. Bilateral in der Europäischen-Gemeinschaft? 2. Unilateral mit Hilfe der EG?

IV. Integrationswünsche von Politik und Gesellschaft 1. Programme der Parteien 2. Interessen von Bürokratie und Management 3. Dispositionen der Gesellschaft V. Die Notwendigkeit eines Konzepts des Multilateralismus kein und die Realität nicht wiedergeben, sondern beeinflussen — diese Erfahrung hat man offensichtlich nicht nur links, sondern nunmehr auch rechts gemacht.

Dabei macht es, wie gesagt, nichts, daß die zweite Sorge das genaue Gegenteil der ersten darstellt. Sie gilt den politischen Versuchungen, in die die Bundesrepublik auf Grund ihrer wirtschaftlichen, militärischen und politischen Stärke geführt werden könnte. In Frankreich ist sie, vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums, schon seit langem zu hören. Erst im März sah sich der französische Staatspräsident Giscard d'Estaing erneut veranlaßt, ihr zu widersprechen. In den USA hatte die westdeutsche Stärke 1974 zu dem aufsehenerregenden Vorschlag geführt, die amerikanisch-westdeutsche Zusammenarbeit in eine „Bigemonie" zu verwandeln und mit ihr den Karren des Westens wieder flottzumachen

Inzwischen hat die deutsche Machtfülle auch in den Vereinigten Staaten einen nicht mehr so positiven Eindruck hinterlassen, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der unverhohlenen Kritik Bonns an der Außenpolitik Präsident Carters. Jedenfalls sieht man in den Vereinigten Staaten sehr deutlich, daß die Bundesrepublik das Zeug zu einer Weltführungsmacht besitzt, und man registriert, daß seit dem Präsidententreffen in Guadeloupe im Januar 1979 Bundeskanzler Schmidt sich anscheinend offen zu einer Übernahme einer solchen Rolle bereiterklärt hat Das reimt sich zwar nun gar nicht auf die Selbst-Finnlandisierung, wohl aber auf etwas anderes: den Gaullismus. Von dem französischen General und Staatschef mit seinem Namen zu Ansehen gebracht, verbirgt sich dahinter eine Politik, die die nationale Unabhängigkeit und Selbständigkeit, die Machtfülle und die Eh-re des eigenen Nationalstaates zum obersten Ziel erhebt. Für die Bundesrepublik heißt das, daß die traditionelle Politik der Westintegration zurückgestellt würde zugunsten einer stärkeren Betonung von Wiedervereinigung und nationaler Unabhängigkeit.

Es sieht so aus, als strebe die westdeutsche Außenpolitik von der Bonner Adenauerallee zurück in die Berliner Wilhelmstraße.

Wie alte Geister haben auch die hier beschworenen die Funktion, daß sie Wirkung erzeugen, obwohl sie gar nicht existieren. Der Effekt zeigt sich weniger in der Bundesrepublik, wo die Herkunft der Geister aus der parteipolitischen Auseinandersetzung voll einsichtig, ihr Eindruck dementsprechend nicht so groß ist. Im Ausland wird diese Herkunft aber häufig genug übersehen oder doch mißinterpretiert. Vorurteile können so zu Urteilen aufgewertet und dann in die Bundesrepublik reimportiert werden, wo sie nunmehr als politische Fakten gelten. Es ist daher keineswegs überflüssig, die Frage nach den Grundlagen der bundesrepublikanischen Außenpolitik neu zu stellen und neu zu beantworten.

2. Kontinuität der Ziele, aber Veränderung der Bedingungen

Charakteristisch für diese beiden kritischen Vorwürfe ist, daß es weder in der Politik noch in der Rhetorik der Bundesrepublik den geringsten Anhaltspunkt für sie gibt. Die bundesrepublikanische Außenpolitik ist unverändert atlantisch, europäisch und kooperativ ausgerichtet. Ihre Entspannungsund Ost-Politik unterscheidet sich nur darin von der der westeuropäischen Partner, daß sie noch stärker zu den Vereinigten Staaten als dem Garanten westdeutscher und Westberliner Sicherheit hingewendet ist und den europäischen Zusammenhalt eher noch deutlicher betont. Die Bundesrepublik gehört zu denjenigen NATO-Mitgliedern, die ihr Verteidigungsbudget 1979 um die geplanten Prozent anheben und nicht — wie etwa Kanada, Dänemark oder Holland — kürzen werden 3). Die Bundesrepublik gehört zu den aktivsten Befürwortern einer Direktwahl des Europäischen Parlaments; Bundeskanzler Schmidt kann für sich in Anspruch nehmen, der Vater des neuen Europäischen Währungssystems zu sein. An der Orientierung und der Zielsetzung der bundesrepublikanischen Außenpolitik hat sich in den letzten zehn Jahren nichts geändert.

Jedoch: Umwelt und Kontext der westdeutschen Außenpolitik haben sich geändert. Die Entspannung ist seit 1972 zum herrschenden Muster des Ost-West-Konflikts geworden. An die Stelle der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation ist eine partielle Kooperation der beiden Supermächte getreten. Dementsprechend haben sich Funktion und Stellenwert der westlichen Militärallianz geändert. Als Folge des Vietnam-Krieges und der Inflation hat sich die amerikanische Führungsposition in der Welt und in Westeuropa abgeschwächt; dieser Effekt wurde durch den wirtschaftlichen Aufschwung Westeuropas seit dem Beginn der siebziger Jahre noch verstärkt. Die Ölkrise von 1973 hat die wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik deutlicher hervortreten lassen als je zuvor. Diese Ereignisketten haben bewirkt, daß die Bundesrepublik aus einem abhängigen Provisorium zu einem potenten Partner geworden ist; sie hat die Position der Dependenz verlassen und sich zu einem wichtigen Knotenpunkt innerhalb des westlichen Interdependenzgefüges entwickelt

Dabei ist zweierlei zutage getreten: erstens die vergrößerte Handlungsfreiheit der Bundesrepublik und zweitens die Tatsache, daß die vielbeschworene Atlantische Gemeinschaft ebenso wie die Europäische Gemeinschaft keine Gemeinschaften im funktionalen Sinne des Wortes sind. Ihre Entscheidungsprozesse weisen sie als Staatenbünde aus, und die Bundesrepublik sieht sich demzufolge 'in die Lage versetzt, sich auf der Grundlage ihrer gewachsenen Handlungsfreiheit zu diesen Bünden zu verhalten. Die anderen Partner befanden sich in dieser Lage schon immer; bei der Bundesrepublik ist sie relativ neu und fällt deswegen aus. Daß die Mitarbeit in der NATO und in der Europäischen Gemeinschaft nicht automatisch, sondern jeweils aufgrund der Entscheidungen der (faktisch) souveränen Teilnehmer erfolgt, ist keine Erfindung Bonns, sondern eine Strukturfolge der beiden Organisationen. Wenn sie nun gerade am Beispiel der Bundesrepublik grell beleuchtet wird, so hat dies, wie erwähnt, zunächst politische Ursachen. Aufschlußreich für die Entstehung der Ängste, die sich um die bundesrepublikanische Außenpolitik ranken, ist das große Maß an Bewegungsfreiheit, über das alle EG-und NATO-Partner — also auch die Bundesrepublik — verfügen. Dieses Maß stimmt, leider. Nicht einmal die Europäische Gemeinschaft, geschweige denn die NATO, hat bisher vermocht, die Entscheidungsfreiheit der Partnerstaaten einzuschränken oder einzugrenzen. Das gemeinsame Interesse, das sich in der Gründung dieser Organisationen ausdrückt, hat nicht dazu geführt, daß die Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Das fast durchweg herrschende Einstimmigkeitsprinzip zeigt, daß die gemeinsamen Interessen eben nicht gemeinsam, sondern jeweils nur kooperativ durch die einzelnen Staaten verwirklicht werden.

An dieser Kooperation hat es die Bundesrepublik bisher nirgendwo fehlen lassen. Sie kann immer noch als der Musterknabe der NATO und mit gewissen Einschränkungen auch als der der EG gelten. Aber natürlich haben ihre Entscheidungen mehr Gewicht als früher, hat die Bundesrepublik mehr Interessen, mehr Gesichtspunkte und mehr Ansprüche geltend zu machen, als dies früher der Fall war. Die gewachsene Machtfülle der Bundesrepublik macht nun die Bedeutung ihrer Handlungsfreiheit sichtbar. In der Tat wäre die Bundesrepublik, wenn auch in bestimmten Grenzen, stark genug, eine gaullistische Politik zu führen. Die sozialliberale Koalition ist aber an einer solchen Politik nicht interessiert — und es zählt zu den politischen Ironien der Gegenwart, daß die Koalition gerade von denen am schärfsten kritisiert wird, die stets im gaullistischen und eben nicht im atlantischen Lager gestanden haben.

Dürfte die Haltlosigkeit solcher Vorwürfe auch erwiesen sein — sie haben den Vorteil, auf ein Strukturproblem der westlichen Gemeinschaft aufmerksam zu machen: Es liegt in dem Widerspruch zwischen gemeinsamer Zielsetzung und unilateraler Ausführung. Von den Interessen her aufeinander zugeordnet und angewiesen, werden die westlichen Staaten durch die verwendeten Entscheidungsprozeduren immer wieder vereinzelt. Dieser funktionale Anachronismus stellt das Kernproblem der westlichen Gemeinschaft, vor allem der Europäischen Gemeinschaft, dar; er bildet auch das Kernproblem der bundesrepublikanischen Außenpolitik. Ihre Ziele sind identisch geblieben, wie ihre Interessen auch. Ihre Handlungsfreiheit aber hat sich ganz erheblich vergrößert und damit auch das Maß der Vereinzelung, aus dem heraus sie die gemeinsamen Ziele zu verwirklichen sucht. Es handelt sich dabei, wie erwähnt, nicht um ein bundesrepublikanisches, sondern um ein Problem aller westlichen Staaten. Es läßt sich aber am Fall der Bundesrepublik besonders deutlich sichtbar machen.

3. Der Anachronismus der Mittel

Im Prinzip hat die funktionalistische Theorie mit ihrer Annahme recht, daß kontinuierlich gemeinsame Interessen zu gemeinsamer Entscheidungsfindung führen. Die Praxis zeigt jedoch, daß es sich hier nicht um eine Automatik handelt, sondern daß die Politik durchaus imstande ist, der funktionalen Logik Widerstand zu leisten. Trotz dichter Interdependenz und weitgehender Interessenkonvergenz haben die EG-Partner das Prinzip der Einstimmigkeit nicht aufgegeben. Sie verwirklichen nach wie vor ihre gemeinsamen Interessen unilateral, jeder für sich, so, als sei die Europäische Gemeinschaft nichts anderes als die Katholische Liga von 1609. Das liegt nicht nur an einem veralteten Souveränitätsbegriff; es liegt auch daran, daß es zwischen dem Unilateralismus einerseits und der reinen Mehrheitsentscheidung andererseits keine Zwischenstufen gibt. Gerade sie aber wä-* ren erforderlich, um einer Interessenkonvergenz Rechnung zu tragen, wie sie in der Europäischen Gemeinschaft und auch in der NATO vorliegt. Sie ist eben noch nicht so total, daß eine Mehrheitsentscheidung gerechtfertigt wäre. Sie ist aber schon groß genug, um das Einstimmigkeitsprinzip, den Unilateralismus, als hoffnungslos veraltet auszuweisen. Was fehlt, ist eine dem Multilateralismus angemessene Entscheidungsprozedur.

Zunächst muß noch einmal klargestellt werden, daß Unilateralismus nichts mit Nationalismus zu tun hat. Letzterer bezieht sich auf die Zielsetzung, die eben ausschließlich auf die Macht und das Wohlergehen der eigenen Nation gerichtet sind. Unilateralismus hinge-gen bezeichnet die Art und Weise, in der Entscheidungen getroffen werden, nämlich allein. Jeder Staat beschließt für sich, wie und wie weit er kooperieren will. Bei einer Integration entscheidet die Mehrheit aller Staaten bindend auch für diejenigen, die dagegen gestimmt haben. Der dazwischen liegende, für die Situation in Europa geeignete Modus des Multilateralismus ist weder theoretisch noch praktisch entwickelt worden. Dies kann hier auch nicht geleistet, sondern nur gefordert werden. Wichtige Bestandteile eines sol-chen Konzepts würden in der Forderung lie-gen, daß keine Entscheidung mehr allein, sondern stets im Kontext der Gemeinschaft getroffen wird. Dabei wird man auf Einstimmigkeit vorab nicht verzichten können. Wenn alle Entscheidungen im Verbund und dann einstimmig getroffen werden müssen, so ergibt sich daraus als politische Folgerung, daß der Diskussionsprozeß auf allen Ebenen und intensiv vorangetrieben werden muß, bis Einstimmigkeit herrscht. Im Luxemburger Kompromiß der EG von 1964 ist ein solches Verfahren vorgezeichnet worden, freilich mit dem Mangel, daß nur die wenigsten Entscheidungen einer solchen Prozedur unterworfen werden. Relevanter ist schon der Hinweis auf die Tradition afrikanischer Entscheidungsbildung, die überhaupt keine Mehrheitsentscheidungen kennt, sondern nur die Einstimmigkeit aufgrund langer Verhandlungen.

Wie immer dies im einzelnen aussehen mag: die Forderung nach Entwicklung einer multilateralen Entscheidungsprozedur muß gestellt werden. Nur sie würde dem Grad der Gemeinsamkeit in der NATO wie — vor allem — in der EG gerecht; nur sie würde die westlichen Staaten und damit auch die Bundesrepublik von der Sorge befreien, daß der Widerspruch zwischen gemeinsamen Interessen und vereinzelter Entscheidung immer wieder zugunsten der letzteren aufgelöst wird. Freilich handelt es sich dabei um eine hypothetische Sorge. Wie sich im einzelnen zeigen läßt, hat die Bundesrepublik die Handlungsfreiheit und den Unilateralismus stets dazu benutzt, um die gemeinsamen Ziele der westlichen Gemeinschaft zu verwirklichen.

III. Zusammenarbeit für Verteidigung und Entspannung

1. NATO statt Bigemonie

Nach wie vor ist es ein Axiom der westdeutschen Außenpolitik, „daß das Atlantische Bündnis, in dem Amerika die wichtigste Rolle spielt, die unverzichtbare Grundlage ist für die gemeinsame Sicherheits-und Verteidigungspolitik" Daß die Sicherheit der Bundesrepublik latent bedroht ist, steht für Bonn außer Frage; zwar hat sich das Bild der Sowjetunion inzwischen etwas differenziert. Ihre militärische Agression gilt als der Ausnahmefall, als der , worst case', der möglich, aber nicht wahrscheinlich ist. Vielmehr benutzt die Sowjetunion ihr großes und zunehmendes Militärpotential dazu, ihren Besitzstand und Einflußbereich in Mitteleuropa zu sichern und, wenn möglich, ihren Einfluß nach Westen auszudehnen, die USA aus Westeuropa zu verdrängen Auf diese doppelte Bedrohung reagiert die NATO, indem sie mit ihrer Abschreckungsfunktion den andauernden Aggressionsverzicht der Sowjetunion sicherstellt und mit ihrer eigenen militärischen Stärke die Sowjetunion daran hindert, ihr militärisches Potential politisch auszunutzen. Beide Funktionen sind ohne die Vereinigten Staaten nicht zu erfüllen. Nur die USA verfügen über das zureichende nukleare Abschrek-kungspotential, nur sie können auf der strategischen Ebene die Sicherheit Westeuropas gewährleisten. Weder die französische noch die britische Militärmacht ist dazu imstande. Die politische Handlungsund Bewegungs-freiheit der Bundesrepublik ist auf den nuklearen Schutz durch die Vereinigten Staaten angewiesen. Jenseits aller (wichtigeren) Gemeinsamkeiten zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa setzt dieses militärische Datum eine Orientierungsmarke, die für jede Konzeption verbindlich ist.

Für die Bundesrepublik kommen weitere Da-ten hinzu. Die Freiheit West-Berlins und seiner Verbindung zu der Bundesrepublik hängt ausschließlich von der Bereitschaft der Vereinigten Staaten ab, dort militärisch präsent zu bleiben und politisch die Sicherheit und Freiheit West-Berlins gegenüber der Sowjetunion zu gewährleisten. Das Berlin-Abkommen vom 3. September 1971 war nicht nur hinsichtlich seiner Genese, sondern ist für seine Dauer und für seine Verwirklichung ausschließlich von den Vereinigten Staaten abhängig Darüber hinaus ist die Bundesrepublik auf die Präsenz amerikanischer Truppen in Westdeutschland insofern angewiesen, als nur die sich darin ausdrückende Interventionsbereitschaft der USA die Grenze zur Bundesrepublik konventionelle und lo-kale auch gegen Kriege absichert. Für das erste Basisinteresse jeder politischen Einheit, die Gewährleistung ihrer physischen Sicherheit, ist die Bundesrepublik eindeutig auf die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten angewiesen.

Es gibt keine Alternative. Natürlich wären theoretisch die westeuropäischen Staaten imstande, ein Militärpotential in der Größenordnung einer der beiden Supermächte zu erzeugen und bereitzustellen. Die materiellen, technologischen und finanziellen Möglichkeiten dazu wären durchaus gegeben. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß die Existenz einer solchen europäischen Streitmacht das NATO-Bündnis von dem Kardinalproblem der Entscheidung über den Atomwaffeneinsatz befreien und das amerikanisch-europäische Verhältnis langfristig entlasten würde So-gar der vertragliche Rahmen einer solchen europäischen militärischen Streitmacht steht bereits zur Verfügung: in Form der Westeuropäischen Union, deren Organe nach wie vor regelmäßig zusammentreten und -arbeiten. Im Vertrag von 1954 ist die automatische Beistandsverpflichtung der Mitglieder enthalten, zu denen außer den ursprünglichen sechs Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft noch Großbritannien zählt.

Im Gegensatz zu diesem Verteidigungsvertrag stellt die Eurogroup eine Untergruppe der NATO dar, die sich ausschließlich mit Fragen der Rüstungsstandardisierung, der Struktur und der Ausbildung der europäischen Streitkräfte befaßt. Hat die Eurogroup den Vorteil, alle EG-Staaten (außer Frank-reich) zusammenzufassen, also die Wirtschaftsgemeinschaft militärisch zu komplementieren, so stellt sie praktisch nur eine Arbeitsgemeinschaft innerhalb der NATO dar. Mit Recht hat sie es vermieden, sich als eine mögliche Alternative zum westlichen Bündnis zu begreifen.

Auch die Westeuropäische Union hat von einem solchen Konzept von Anfang an Abstand genommen. Sie könnte zwar ohne weiteres um die beiden noch fehlenden EG-Staaten erweitert und damit zum Verteidigungsbündnis der Europäischen Gemeinschaft gemacht werden. Damit sind aber die Probleme nicht gelöst. Eine europäische Streitmacht, will si ernst genommen werden, müßte eine integrierte Struktur, einen gemeinsamen Oberbefehl aufweisen, der ohne Vereinheitlichung der politischen Entscheidungsprozesse nicht denkbar ist. An einer solchen Konstruktion und der damit einhergehenden Verminderung der Handlungsfreiheit sind weder Großbritannien noch Frankreich (und auf Dauer vermutlich auch nicht die Bundesrepublik) interessiert. Eine solche europäische Streitmacht würde auch die Bundesrepublik an der Einsatzentscheidung über die Nuklearwaffen beteiligen — eine Entwicklung, die die westeuropäischen Staaten, die USA und die Sowjetunion bisher sorgsam vermieden haben. Eben weil sich die Sorgen aller Nachbarn verstärken würden, kann auch der Bundesrepublik an einer solchen Beteiligung nicht gelegen sein. Für sie ist und bleibt das Atlantische Bündnis die Gruppierung, in der die militärische Verteidigung zu organisieren ist.

Die erhöhte Handlungsfreiheit der Bundesrepublik hat daran nichts geändert, wohl aber für einige Anpassungsschwierigkeitenge-sorgt. Den Vereinigten Staaten ist es verständlicherweise nicht leichtgefallen, den Wandel Bonns vom abhängigen Kleinstaat zum kooperationswilligen Partner jederzeit taktisch voll zu berücksichtigen In Bonn haben die einsamen Entscheidungen der USA bei den SALT-Verhandlungen, im Fall der Neutronen-Bombe oder die teilweise bis zur Pression geratenen Ansprüche in der leidigen Offset-Angelegenheit unnütze Verstimmungen hervorgerufen In Washington andererseits hat die streckenweise beckmesseri-sehe Demonstration des bundesrepublikanischen Machtzuwachses, etwa bei der Benutzung deutscher Häfen und Flughäfen für amerikanische Israel-Lieferungen, verständlicherweise Erstaunen ausgelöst. Werden durch solche Stilfehler die amerikanischdeutschen Beziehungen gelegentlich „aufgerauht" gibt es Meinungsverschiedenheiten bei der Durchsetzung der Menschenrechte, bei der Einschätzung des Proliferations-Risikos aufgrund des Exports von Kernenergieanlagen, gibt es Antipathien zwischen Entscheidungsträgern, kurz, gibt es „Irritationen", wie Bundeskanzler Schmidt im März 1979 diese Divergenzen nannte — die Bündnisbeziehung wird davon nicht berührt. Vielmehr handelt es sich um unausbleibliche, unproblematische Meinungsverschiedenheiten zwischen Partnern, die sich ihrer Gemeinsamkeit in der Allianz bewußt sind. Deren Bedeutung für die Sicherheit der Bundesrepublik hat Willy Brandt vor der Amerikanischen Handelskammer am 20. Juli 1978 nochmals bilanziert: „Je unzerreißbarer die Bande des gemeinsamen militärischen Risikos sind, um so größer wird unsere Sicherheit. Alles, was uns im Risiko voneinander abkoppeln könnte, wäre weniger Sicherheit, zuerst für uns, schnell für alle. Ich denke, die Bilanz ist eindeutig. . . Die Allianz ist für Europa und für Amerika, für jeden von uns unentbehrlich geworden"

2. Atlantische statt europäische Sicherheit Brandt hat hier keine Allgemeinplätze von sich gegeben. Vielmehr gibt es mehrere, wenngleich untereinander verschiedenartige Versuche, die Vereinigten Staaten von Europa und die Bundesrepublik von allen beiden abzukoppeln.

Sie sind auch nicht gerade neu.

Sie suchen sich aber stets neue Problemformen, in denen sie sich präsentieren können.

Eine davon ist der Vorschlag eines amerikanisch-deutschen Bilateralismus, die andere die Suche nach einer euro-strategischen Parität. Die Bundesregierung wandte sich 1978 dezidiert und erfolgreich dagegen, daß die Neutronenwaffe ausschließlich auf deutschem Boden stationiert und die Bundesrepublik da-mit mehr noch als bisher zum Kernwaffenträger der Vereinigten Staaten gemacht werden würde Sie stand damit gegen die Militärs, die hinter die Verbesserung ihres Waffenarsenals jede politische Argumentation zurücktreten lassen; gegen manche Westeuropäer, die der Bundesrepublik gern das nukleare Risiko zuschieben möchten, und schließlich ge-gen eine Reihe bundesdeutscher Stimmen, die um diesen Preis gern die deutsche militärische Macht verstärkt hätten. Die Bundesregierung sah jedoch sehr genau, daß auf diese Weise die atlantische Sicherheit zu einer spezifisch amerikanisch-deutschen Sicherheit geworden wäre; genauer: zu einer Absicherung der amerikanischen Strategie, wobei die Bundesrepublik sehr rasch das exklusive Op-fer sowjetischer Pressionen hätte werden können.

Bei der Beantwortung der sowjetischen Grauzonenwaffen verhält es sich nicht sehr viel anders. Die Bundesregierung schätzt deren Bedeutung nicht minder wichtig ein als die anderen NATO-Partner Wiederum aber will sie sich nicht dazu verleiten lassen, der SS-20 und dem Backfire-Bomber — die hier nur stellvertretend für die insgesamt verbesserte nukleare Kapazität der Sowjetunion im Mittelstreckenbereich stehen — nur eine Antwort auf bundesdeutschem Boden entgegenzustellen. Sie wendet sich dagegen, daß nur die in der Bundesrepublik stationierten, regional gebundenen Kernwaffen modernisiert werden, weil auch dies eine bundesrepublikanische Sonderstellung im Bündnis und zu den Vereinigten Staaten bewirken würde. Sie vertritt statt dessen den „Grundsatz der sicherheitspolitischen Einheit des Bündnisgebietes" Diese Einheit umfaßt die Vereinigten Staaten und Westeuropa; von daher kann es keine eigene westeuropäische Sicherheit, kann es demzufolge auch keine euro-strategische Parität mit der Sowjetunion geben. Sie anzustreben dient nur scheinbar der Sicherheit. In der Praxis bewirkt es die Herauslösung einer westeuropäischen Sicherheit aus der atlantischen Sicherheit und damit jedenfalls perspektivisch die Ablösung Westeuropas vom amerikanischen Nuklearschutz.

Die Bundesregierung vertritt damit nicht nur das Gegenteil dessen, was ihr ihre Kritiker unterstellen, nämlich einen Alleingang mit der Sowjetunion oder gar die Annäherung an Moskau 17). Sie vertritt auch das Gegenteil dessen, was viele dieser Kritiker, jedenfalls in der Bundesrepublik, möchten: die Stärkung der westdeutschen Handlungsfreiheit durch Stärkung des westdeutschen Militärpotentials. Bundesregierung und sozialliberale Koalition verhalten sich dezidiert n Sie vertritt auch das Gegenteil dessen, was viele dieser Kritiker, jedenfalls in der Bundesrepublik, möchten: die Stärkung der westdeutschen Handlungsfreiheit durch Stärkung des westdeutschen Militärpotentials. Bundesregierung und sozialliberale Koalition verhalten sich dezidiert nichtgaullistisch; sie treten für ein Verteidigungskonzept im ungeschmälerten Rahmen der NATO-Allianz ein, verweigern sich auch hier den Lockungen, die in einer stärkeren Betonung der amerikanisch-deutschen Achse liegen könnten. Sie wissen sich in dieser Auffassung im übrigen einig mit dem amerikanischen Präsidenten Carter und seinem Außenminister Vance, der am 9. Dezember 1978 in einer Rede in London die Bedeutung der NATO-Integrität hervorgehoben hatte

Auch die Rüstungskontroll-und Abrüstungspolitik betreibt die Bundesregierung als integralen Bestandteil der Bündnispolitik Sie trat, wie die Regierung Carter, für einen Abschluß des SALT-II-Vertrages ein, was gleichfalls nicht alle ihre konservativen Kritiker für sich in Anspruch nehmen können. Ob Modernisierung der Rüstung und Sicherheit oder Rüstungskontrolle und Entspannung zur Disskussion stehen — stets zeigt sich die Bundesregierung als Anwalt atlantischer Solidarität. Das ist freilich nicht mehr nur die Rollen des Waffenträgers. Hier zeigt sich naturgemäß die gewachsene Bedeutung der Bundesrepublik, Sie führt eine selbständige Bündnispolitik, die auch den bilateralen Kontakt zu den Staaten des Warschauer Paktes miteinschließt Mit diesem Unilateralismus im Vorgehen, den sie mit allen anderen NATO-Partnern teilt, festigt sie die atlantische Einheit.

3. Entspannung als Funktion des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses Die Entspannungsund Ostpolitik der Bundesrepublik wird durch die gleiche Interessenlage bestimmt. Mehr noch: Diese Politik kann überhaupt nur als abhängige Funktion des Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geführt werden. Konrad Adenauer versuchte über mehrere Jahre hin vergeblich, die Ostpolitik der Bundesrepublik aus dem Entspannungstrend des internationalen Systems herauszuhalten: Er scheiterte. Die sogenannte „Ostpolitik" unter Bundeskanzler Brandt führte die Bundesrepublik in diesen Trend zurück. Oder allgemeiner ausgedrückt: Die Ostpolitik der Bundesrepublik schwingt, wenngleich mit gewissen Zeitverzögerungen, im gleichen Rhythmus wie die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Sich antizyklisch zu verhalten, ist der Bundesrepublik nicht möglich. Bundeskanzler Helmut Schmidt sieht die historische Rolle seines Vorgängers Willy Brandt mit Recht darin, daß er gerade noch rechtzeitig, nämlich „ehe die Großmächte sich über unseren deutschen Kopf hinweg geeinigt hätten, die deutsche Ostpolitik realisiert und vertraglich abgesichert hat" 21).

Wie unsere Ost-und Entspannungspolitik vom Zustand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen abhängig ist, so ist sie auch auf die Zustimmung der europäischen Partner angewiesen.

Eine unilaterale Politik Bonns — ganz zu schweigen etwa von einer „nationalen" — gibt, es hier nicht. Andererseits gibt es keine einheitliche, nach Zielen und Mitteln definierte oder gar koordinierte Politik der Neun zusammen mit den Vereinigten Staaten. Die europäische politische Zusammenarbeit (EPZ) beschränkt sich notwendigerweise in der Ost-

und Entspannungspolitik auf große Leitlinien.

In diesem „konzeptionellen Synkretismus" hat sie sich jedoch relativ gut bewährt 22). Die Neun haben die bei der KSZE in Helsinki eingeführte Praxis, gemeinsame Standpunkte zu entwickeln und vorzutragen, beibehalten und ausgebaut. Sie haben auch in Belgrad kooperiert, wobei stets institutionalisierte Füh-lungsnahmen mit den Vereinigten Staaten erfolgten Berücksichtigt man die Infor-malität der EPZ und die große Bandbreite der dort repräsentierten Interessen, so muß die gemeinsame Sprache der Neun in Entspannungsfragen entsprechend hoch bewertet werden. Daß die Konzertierung von Sprache und Aktion für jeden der europäischen Staaten eine Notwendigkeit darstellt, zeigt schon der Größenvergleich zur Sowjetunion. Kein westeuropäisches Land, und schon gar nicht die Bundesrepublik, könnte Moskau unilateral gegenübertreten. Gerade der Versuch, auch über individuelle Interessen mit den osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion zu verhandeln, setzt die feste Verankerung im Kollektiv der Neun voraus.

Für alle Bundesregierungen seit Adenauer galt dies als Axiom. Die bundesdeutsche Ost-und Entspannungspolitik muß mit den Verbündeten abgestimmt sein und darf die Sicherheit Westeuropas, der Bundesrepublik und West-Berlins nicht gefährden Abgesehen von der Identifikation mit dem Westen — über die weiter unten zu sprechen sein wird —, verbietet diese Interessenlage jeden bundesdeutschen Alleingang.

Relevant vielmehr ist der Versuch der Bundesregierung, auf der Basis des Grundkonsenses mit Mitgliedern der EG und den Vereinigten Staaten die Entspannungspolitik, und darin die Ostpolitik, darin wiederum die Politik gegenüber der DDR zu entfalten. Entspannungspolitik kann, da es kein integriertes Gremium gibt und der Europäische Rat nur eine lockere Konferenz der Regierungschefs darstellt, notwendigerweise wiederum nur eine unilaterale Politik sein. Sie könnte aber hier den Anschein auch einer inhaltlichen Berechtigung haben, insofern die Bundesrepublik aufgrund ihrer geographischen Lage und aufgrund der deutschen Teilung spezifische Interessen besitzt, für die sozialliberale Koalition sind diese Interessen unabdingbar mit der Entspannungspolitik verknüpft. Sie enthält nicht nur die „Hoffnung auf eine Wende unseres nationalen Schicksals" sie birgt darüber hinaus die Möglichkeit zu verstärkten Kontakten mit den sozialistischen Län-dem im Vorfeld der Sowjetunion. Sie entspricht vor allem dem Selbstverständnis der sozialliberalen Koalition in der gleichen Weise, wie die Politik der Stärke dem des Kabinetts Adenauer zugeordnet werden muß. Die sozialliberale Koalition macht mit der Zwei-Pfeiler-Theorie ernst, die eine zureichende Verteidigung mit einer zunehmenden Entspannung verbindet. Die Entspannung hat die innerdeutschen Kontakte vermehrt, zahlreichen Familien aus den osteuropäischen Staaten den Übertritt in die Bundesrepublik ermöglicht, die Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten vermehrt, und zwar sowohl politisch als auch wirtschaftlich, und schließlich auch der Sowjetunion den Vorwand zu einer aggressiv-isolationistischen Politik genommen.

Es ist unvermeidlich, daß eine solche Politik auf die Kritik derer stößt, die die Entspannung mit der Sowjetunion nicht wollen Dazu zählen auch Teile der CDU, die sich zu den Kernstücken der Ostpolitik, zum Gewaltverzichtsvertrag mit Moskau, zur Berlin-Regelung und zum Grundlagenvertrag mit der DDR weder zustimmend noch ablehnend äußern wollten Der Partei fällt es schwer, sich auf den veränderten Kontext der Entspannung einzustellen.

Dieser Kontext ist sicherlich sehr viel schwieriger zu handhaben als der der Konfrontation des Kalten Krieges. Da unter ihren Auspizien die Atlantische Gemeinschaft und die EG entstanden waren, kann der Gedanke naheliegen, daß die Entspannung beides gefährde. Er findet sich bestätigt durch die Differenzierung, Nuancierungen und Meinungsunterschiede, die seitdem das westliche Feld kennzeichnen. Sie bieten selbstverständlich der Sowjetunion manchen Ansatzpunkt zu einer Diversionstaktik. Moskau versucht über den Bilateralismus mit den Vereinigten Staaten, die traditionellen Beziehungen zu Frankreich, die KPs und die Abrüstungskomitees die Entspannung dazu auszunutzen, den Zusammenhalt der westlichen Welt aufzusplittern. Vornehmstes Ziel dabei ist offensichtlich die Bundesrepublik, in der Moskau und Ost-Berlin auf die einzige noch linientreue kommunistische Partei zählen können. Die Sorge ist verständlich, daß die Sowjetunion aus der Entspannung taktische Vorteile ziehen könnte Die Konsequenz daraus kann jedoch nicht heißen, zur Spannungspolitik zurückzukehren, sondern die Solidität und den Zusammenhalt des Westens in den veränderten Kontext der Entspannung einzubringen.

Hier liegt der eigentlich neuralgische Punkt. Wenn der Unilateralismus über das unvermeidliche, die Komplexität westlicher Positionen widerspiegelnde und insofern unschädliche Maß hinaus gesteigert wird, zerfällt der Zusammenhalt des Westens, nimmt in seiner Vereinzelung jeder Staat Schaden. Das ist kein bundesrepublikanisches, sondern ein Problem aller westeuropäischen Staaten. An die Adresse der Bundesrepublik muß jedoch die Frage gerichtet werden, ob sie die Ost-und Entspannungspolitik, in der sie zweifellos spezifische deutsche Interessen zu realisieren versucht, kombiniert hat mit einer Politik in der EG, die nicht unbedingt auf die Eliminierung des Unilateralismus, wohl aber auf seine Einbindung in ein zunehmend stärker ausgestaltetes Gebäude der Zusammenarbeit ausgerichtet war.

Diese Frage stellt sich für die Bundesrepublik speziell deswegen, weil sie als einziger der westeuropäischen Staaten an Bewegungsfreiheit zugenommen hat. Für das Frankreich de Gaulles oder für Großbritannien standen die Eigenständigkeit ihrer Ostpolitik ohnehin nie in Frage. Bundeskanzler Brandt hatte der europäischen Zusammenarbeit gleich zu Beginn seiner Ostpolitik Rechnung getragen, indem er eine aktive Westpolitik zu ihrer Voraussetzung erhob Zu fragen ist dementsprechend, ob die sozialliberale Bundesregierung die zehn Jahre, die seitdem vergangen sind, dazu benutzt hat, diese Basis zu verstärken.

Eine Bilanz ist nicht einfach und nicht eindeutig. Nimmt man den Besuch des General-sekretärs der KPdSU, Breschnjew, im Mai 1978 als Testfall, so zeigt sich, daß die Bundesregierung hier wie in anderen Fällen ihrer Ost-politik „enge, um nicht zu sagen engste Fühlung mit unseren Partnern" im Westen hält Weit davon entfernt, als westeuropäische Vormacht aufzutreten, hat die Bundesregierung die Sowjetunion zu überzeugen versucht, daß der Fortgang der europäischen Integration nicht gegen die Entspannung in Europa gerichtet ist. Bonn versteht und präsentiert sich gegenüber der Sowjetunion als integrierter Teil der EG und der Atlantischen Gemeinschaft.

Dieses Selbstverständnis wird der Bundesregierung, nimmt man die Kritik der Opposition zum Maßstab, nicht bestritten Der Verdacht richtet sich gegen die Partei, gegen den Fraktionschef, den Bundesgeschäftsführer und die „Linke", denen zugleich nationale und ideologische Motive für eine Annäherung an Moskau unterschoben werden. Abgesehen von der ebenso verfehlten wie unzulässigen Personalisierung verkennt das Argument zweierlei: Erstens haben gerade die Konservativen der Bundesregierung angelastet, daß sie das Ziel der Wiedervereinigung nicht groß genug schriebe. Zweitens gibt es keinen schärferen ideologischen Gegensatz als den zwischen entschiedenen Sozialdemokraten und Sowjetkommunisten. Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, daß der Vater des Verdachts in der Absicht zu suchen ist, einen politischen Keil in die Sozialdemokratische Partei zu schlagen.

Auf der anderen Seite ist das mit dem Begriff der Wiedervereinigung veraltet umschriebene Programm sicherlich eines derjenigen Spezialprobleme, um dessen Lösung im Rahmen der Entspannung die Bundesrepublik sich kümmern muß. Es ist jedoch nicht das einzige. Die Bundesrepublik ist diejenige große mitteleuropäische Macht, die unmittelbar an den Ostblock grenzt. An dieser geographischen Lage kann sie nichts ändern. Sie ist gezwungen, im Rahmen der Entspannung Kontakte mit ihren Grenznachbarn zu unterhalten, auch mit der Sowjetunion. Daraus auf eine Tendenz zur Selbst-Finnlandisierung zu schließen, ist höchst problematisch. Das Verdikt unterschlägt sämtliche politischen Entscheidungen, sämtliche ihnen zugrunde liegenden Interessen und nicht zuletzt die gewandelte Struktur der westdeutschen Gesellschaft mit ihren Folgen für außerpolitisches Verhalten.

Realiter betreibt die Bundesrepublik eine Ostpolitik, die sich zur Entspannungspolitik des Westens verhält wie die Berlin-Politik zum Vier-Mächte-Abkommen von 1971. In diesem Abkommen hatten die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bestimmte Grundregeln festgelegt, die dann zur freien Ausgestaltung den beiden deutschen Staaten überlassen wurden. Sie hat bisher keinen Anlaß zu Besorgnissen gegeben. In der Entspan-nungspolitik verhält es sich nicht anders. Ihr Rahmen wird durch das amerikanisch-sowjetische Verhältnis vorgegeben, innerhalb dessen die Bundesrepublik sich bei der Ausgestaltung von Spezialproblemen frei bewegen kann. Angesichts der vergrößerten Handlungsfreiheit der Bundesrepublik ist eine andere Arbeitsteilung gar nicht denkbar. Warum sollte sie Anlaß zur Besorgnis geben?

Auch hier liegt das eigentliche Problem ganz woanders. Es liegt nicht in den Personen, sondern — wiederum — in den Prozessen. Die Bundesrepublik muß ihre regionalspezifischen Interessen allein verwirklichen, obwohl sie dazu, trotz aller gewachsenen Handlungsfreiheit, kräftemäßig gar nicht in der Lage ist. DDR und Wiedervereinigung sind auch nur scheinbar das alleinige Problem der Bundesrepublik; im Grunde handelt es sich um ein europäisches Problem, das von den europäischen Staaten gelöst werden müßte. In jedem Fall kann die Bundesrepublik die Ostpolitik selbst in diesen spezifischen Bereichen nicht allein führen, weil es sich, infolge der in Westeuropa herrschenden Interdependenz, bereits zumindest um ein westeuropäisches Problem handelt.

Ist der Unilateralismus der Bundesrepublik hier also allianzpolitisch und entspannungspolitisch unproblematisch, so erweist er sich verfahrensmäßig als Anachronismus. Funktional gesehen, dürfte die Ost-und Entspannungspolitik eigentlich nur als EG-Politik geführt werden.

Dieser Kontext existiert jedoch nicht. Erneut zeigen sich hier die Folgen der Verspätung, mit der die Europäische Gemeinschaft hinter der Entwicklung der wirtschaftlichen Interdependenz hinterherhinkt. Bonn muß unilateral handeln, weil es den multilateralen Kontext nicht gibt. Dabei würde allein ein solcher Kontext alle Verdächtigungen ä la Rapallo von vornherein beseitigen; er würde vor allem die Erfolgschancen erheblich vergrößern.

Daß es diesen Kontext nicht gibt, kann nicht der Bundesrepublik angelastet werden. Alle westeuropäischen Staaten sind daran beteiligt und davon betroffen. Freilich muß die Frage, warum es diesen Kontext nicht gibt, auch an die Adresse Bonns gestellt werden. Sie bezieht sich nicht nur auf die Ost-und Entspannungspolitik, sondern ebenso auf die Wohlstandspolitik, in gewissem Ausmaß sogar auf seine Weltpolitik.

III. Allein in der Wohlstands-und Weltpolitik?

1. Bilateral in der Europäischen Gemeinschaft?

Handelspolitisch hängt die Bundesrepublik von Westeuropa, währungspolitisch von den Vereinigten Staaten ab. Ihre Wohlstandspolitik ist daher eingebettet in das Spannungsverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der EG. Sofern es sich bei der Zusammenarbeit mit der EG oder mit den Vereinigten Staaten überhaupt um Alternativen handelt, hat sich die Bundesrepublik eindeutig für die Europäische Gemeinschaft entschieden. Sie hat nicht nur allen Versuchungen zu einer wirtschaftlichen „Bigemonie" widerstanden; sie hat auf der Gipfelkonferenz des Europäischen Rates in Bremen, August 1978, maßgeblich dazu beigetragen, daß die Gemeinschaft einen Schritt nach vorn auf eine Währungsunion hin getan hat. Die Abkoppelung vom Dollar, die Umgestaltung der monetären Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa von der Hegemonie zur Kooperation ist damit wenigstens perspektivisch in Sicht gerückt.

Die Option für die Europäische Gemeinschaft liegt in der Tradition, der Situation und den Interessen Westdeutschlands begründet. Sie darf nicht als Alternative zur amerikanisch-europäischen Zusammenarbeit mißverstanden werden. Die amerikanisch-europäischen Probleme sind temporärer Art, beruhen auf den notwendigen Anpassungen der Vereinigten Staaten an die relative wirtschaftliche Machtverschiebung zwischen ihnen und den Europäern, bezeichnet durch den Niedergang des Dollars.

In diesem Ubergangsstadium besteht durchaus die Möglichkeit, der amerikanischen Tendenz, mit den westeuropäischen Staaten bilateral zu verhandeln, nachzugeben. Statt dessen die Kooperation mit den europäischen Partnern zu stärken und mit ihnen gemeinsam die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten zu führen — dies ist die europäische Option. Sie sagt freilich noch nichts darüber aus, ob sie unilateral oder integrativ gehandhabt wird. Die Bundesrepublik ist gegenwärtig der wirtschaftlich stärkste Teil der Europäischen Gemeinschaft. Sie könnte diese Position dazu benutzen, „Zahlmeister" und „Schrittmacher" Europas zu sein also integrierend zu wirken. Sie könnte gleichermaßen versucht sein, in Europa die Position einzunehmen, die vordem die Vereinigten Staaten innehatten: die des Hegemon.

Die Politik der Bundesrepublik ist uneinheitlich und undeutlich. Einerseits kann sie gel-tend machen, keinen außergewöhnlichen wirtschaftlichen Druck auf ihre Partner auszuüben. Viele bundesdeutsche Interessen: an einer gemeinsamen Energiepolitik, an der Reform der Agrarpolitik und an der Direktwahl zum Europäischen Parlament, sind bisher nicht oder nur spät erfüllt worden. Der Bundesrepublik ist es noch nicht einmal gelungen, das Jet-Projekt nach Westdeutschland zu ziehen; es ging nach Großbritannien. Auf der anderen Seite mußte selbst Bundeskanzler Schmidt zugeben, daß angesichts ihrer wirtschaftlichen Stärke manche Bundesrepu-blikaner „Machtgelüste verspüren, weil sie glauben, Hebel in der Hand zu halten" Seine eigene Position grenzte Schmidt nach beiden Seiten ab. Die Bundesrepublik brauche weder „Minderwertigkeitskomplexe zu kultivieren, noch ... in den Fehler neureicher Attitüden (zu) verfallen" Er hat damit das Losungswort des gemäßigten Unilateralismus ausgegeben.

Die Bundesrepublik nutzt ihre wirtschaftliche Stärke nicht zu einer hegemonialen Position aus, setzt sie aber auch nicht zugunsten der westeuropäischen Integration ein. Die Folge ist jener undeutliche Zustand, in der die Bundesrepublik zwar der Zahlmeister Europas ist, insofern sie 5 Prozent des EG-Haushalts finanziert, aber nicht der Schrittmacher der europäischen Integration sein will — ein Zustand, in dem die Bundesrepublik ihre wirtschaftliche Macht nicht direkt anwendet, es aber hinnimmt, daß sie indirekt kräftig gespürt wird. Es kann offenbleiben, ob die Bundesrepublik eine „economie dominante" im Sinne Perroux'darstellt 36). Sicher ist, daß die Bundesrepublik mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt in Westeuropa wirtschaftliche Daten setzt, die für die anderen EG-Partner maßgebend und unkorrigierbar sind. Sogar der Präsident der Bundesbank muß einräumen, daß die westdeutsche Stabilität nicht nur eine Stütze und ein Ansporn für die Welt darstellt, sondern auch „eine Herausforderung und gelegentlich ein Ärgernis"

In Frankreich wird daher schon offen vom DM-Imperialismus gesprochen, zumindest von der politischen Hegemonie der Bundesrepublik, die das „Modell Deutschland" ihren EG-Partnern oktroyieren wolle Mögen in solchen Einschätzungen auch psychologische Elemente, Reminiszenzen an vergangene Überlegenheiten und Besorgnisse über die Zukunft mitschwingen — es ist unbestreitbar, daß die deutsche Stabilitätspolitik angesichts der in der Europäischen Gemeinschaft bereits gegebenen Verflechtung den wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Handlungsspielraum ihrer Nachbarländer beeinflußt

Wirtschaftlich ist die Bundesrepublik, ob sie will oder nicht, ein Schrittmacher in Europa. Sie kann die Frage, wohin sie ihre Schritte lenkt, nicht übergehen. Da sie bisher nicht eindeutig und ausschließlich auf Europa zugegangen ist, hat sie zweierlei offengelegt. Erstens: Ihre Handlungen sind weniger europäisch als ihre Reden. Zweitens: Sie bevorzugt den Unilateralismus gegenüber der Zunahme der Integration. In jedem Fall hat sie bis zum EWS kein Beispiel dafür gegeben, wie sich multilaterale Prozeduren einrichten und verstärken lassen.

Die Bundesrepublik hat zwar ihre wirtschaftliche Macht durchaus schon eingesetzt, um ihren Partnern zu helfen. Sie hat dabei auch die multilateralen Institutionen benutzt, jedoch den Bilateralismus entschieden bevorzugt. Sie ist sich zwar bewußt, daß sie nicht eine Insel des Wohlstands inmitten eines Meeres von wirtschaftlichen Problemen sein kann, hat aber bisher keine organisiert multilateralen Anstrengungen unternommen, um die Insel zu verbreitern oder das Meer aufzufüllen.

Es geht hier nicht um die Frage, ob eine sol-che Politik durch Ankurbelung der westdeutschen Konjunktur oder durch Beseitigung der Inflation bei den westeuropäischen Partnern besser zu erreichen wäre. Es geht darum, daß die Bundesrepublik bei jeder Strategievarian-te helfen muß, und zwar multilateral über die Europäische Gemeinschaft. Die Bundesrepublik weiß, daß sie nicht nur finanzielle Mit-tel, sondern gegebenenfalls auch Teile ihrer sozialpolitischen und reformpolitischen Handlungsfreiheit in eine solche europäische Strategie einbringen muß; daß sie den anderen Partnern helfen muß, nachzuziehen, und daß sie entsprechend lange warten muß. Sie weiß, daß sie Partnerschaft nicht nur bereden, sondern auch bezahlen muß 40). Es reicht nicht aus, die anderen EG-Staaten aufzufordern, „unverzüglich die dringenden innereuropäischen Probleme, insbesondere Arbeitslosigkeit, wirksam zu bekämpfen" Man muß durch die eigene Wirtschafts-, Fi Es reicht nicht aus, die anderen EG-Staaten aufzufordern, „unverzüglich die dringenden innereuropäischen Probleme, insbesondere Arbeitslosigkeit, wirksam zu bekämpfen" 41). Man muß durch die eigene Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik dazu beitragen, daß die Voraussetzungen für eine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den anderen Staaten geschaffen werden können.

Eine solche Hilfe kann nicht bilateral, sondern muß multilateral, kann nicht von der Bundesrepublik selbst, sondern muß über die europäischen Institutionen verteilt werden. Nur auf diese Weise läßt sich der Anschein einer westdeutschen Hegemonie vermeiden, nur auf diese Weise schlägt Unilateralismus in Multilateralismus um, werden Präzedenzen geschaffen und Verhaltensweisen eingeschliffen, die die Europäische Gemeinschaft näher zusammenführen. Einen entschlossenen Schritt in diese Richtung hat die Bundesrepublik erst auf dem Bremer Treffen des Europäischen Rates im August 1978 gemacht, wo ein " europäischer Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit beschlossen wurde. Die deutschen Währungsreserven werden seine wichtigste Basis sein, aber eben nicht sich ausschließlich in bundesdeutscher, sondern in der Hand der EG befinden.

Damit werden nicht alle Probleme der europäischen Zusammenarbeit gelöst, aber einige wichtige von ihnen auf den richtigen Lösungsweg gebracht. Der Europäische Währungsfonds, kommt er in den nächsten Jahren zustande, wird ein multilaterales Institut sein, nicht mehr unilateral, aber auch noch nicht integrativ zu betreiben. Schon in seiner ersten Phase enthält das ECU-System eine „Pflicht zur Konsultation", wenn die Währungsparitäten zu sehr voneinander abweichen 42). Obwohl im Endeffekt die Entscheidungsfreiheit der Mitgliedsländer nicht aufgehoben wird, wird sie doch in das Kollektiv der Neun hineingestellt und insofern begrenzt.

Es handelt sich nicht mehr um ein zwischenstaatliches System, wenngleich es wohl übertrieben ist, mit dem Präsidenten dei Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Jenkins, schon von einem „Gemeinschaftssystem" zu sprechen 43).

Auf dem Währungsgebiet zumindest ist erkennbar, daß die Bundesrepublik ihr bevorzugtes bilaterales Verfahren in der Europäischen Gemeinschaft aufzugeben bereit ist, jedenfalls soweit es sich um europäische Probleme handelt. In der Weltpolitik, auch wenn sie durch die EG und mit ihr betrieben wird, hat Bonn den Unilateralismus beibehalten.

2. Unilateral mit Hilfe der EG? .

Diese Feststellung kann freilich nur sehr behutsam getroffen werden. Zunächst ist eine integrierte oder auch nur koordinierte Weltpolitik der Neun nicht zu erkennen, ungeachtet aller Erfolge der EPZ’). In der bundesrepublikanischen Weltpolitik kann die Europäische Gemeinschaft dementsprechend nur eine selektive Rolle spielen.

Gegenüber den AKP-Staaten ) * tritt die Bundesrepublik weitgehend vollständig als EG-Mitglied auf; nur über die stark koordinierte Politik in der Lome-Konvention und ihrer Vorgänger war die von Frankreich verlangte Mitarbeit an der Aufarbeitung des europäischen Kolonialbesitzes in Afrika zu leisten, ohne darunter zu leiden. Als EG-Mitglied konnte und kann die Bundesrepublik in Weltregionen auftreten, wo sie bisher nicht präsent war und vielleicht als westdeutscher Nationalstaat nicht willkommen wäre. Platte sich Bonn getreu seiner Devise, weltpolitisch ein Zwerg zu bleiben, früher global zurückgehalten, so bietet die Europäische Gemeinschaft einen willkommenen Kontext der Vermittlung und Verbrämung einer zunehmend als dringlich, jedenfalls als unvermeidlich empfundenen westdeutschen Präsenz. Der euro-arabische Dialog erlaubt die Wiederherstellung der traditionellen deutsch-arabischen Beziehungen, ohne die deutsch-israelischen zu beschädigen, über die EG kann sich Bonn • auch in Asien, beispielsweise bei den ASEAN-Staaten einfinden, zu denen von der Tradition her Westdeutschland wenig Zugang besaß. Die Europäische Gemeinschaft wirkt hier als Tor zur Welt, als die . offene Tür'bundesrepublikanischer Weltpolitik. Es ist nicht die einzige, aber eine wichtige. Durch sie kann die Bundesrepublik von den Verbindungslinien profitieren, die die europäische Welt seit langem mit den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas verbinden. Um so leichter fällt es Bonn, die traditionell kontinentale Orientierung Deutschlands zu überwinden.

Die Europäische Gemeinschaft kann die deutsche Weltpolitik nicht nur vermitteln, sie kann sie auch verstärken. Die Südafrika-Politik der Bundesrepublik läßt sich besser legitimieren, wenn sie einen europäischen , code of conduct’ vorzuweisen hat.

Freilich wird eine solche instrumentelle Benutzung die Europäischen Gemeinschaft für eine unilateral definierte Weltpolitik sehr schnell durchsichtig, wenn sie. nur Vorteile für die Bundesrepublik, nicht auch für die anderen EG-Staaten bringt. Auch hier wiederum ist es nicht der Unilateralismus als solcher, der kritisch zu Buche schlägt, sondern seine Relation zu einer multilateralen Politik. Die Bilanz fällt für die Bundesrepublik nicht immer und nicht überall günstig aus. Ihre sehr stark konservative Politik gegenüber den Entwicklungsländern und deren Einzel-forderungen im Rahmen der neuen Weltwirtschaftsordnung hat ihr ebenso Kritik eingetragen wie ihre Weigerung, ihre Exportinteressen im Energiegeschäft den sicherheitspolitischen Interessen der westlichen Welt unterzuordnen. Der Verdacht bleibt nicht aus, als würde die Rolle moralisch-politischer Absicherung deutscher Weltpolitik, die bis zum Vietnam-Krieg die Amerikaner, danach die Franzosen gespielt haben, von selten Bonns nunmehr der EG zugedacht.

Die Bundesrepublik befindet sich hier wirklich in einer Zwickmühle. Einerseits ist sie wirtschaftlich, und also auch politisch, eine Weltmacht (nur militärisch eine -Regional macht), andererseits würde eine deutsche Weltpolitik bei den anderen Staaten düstere Erinnerungen hervorrufen, unter denen die an das Wilhelminische Reich bereits genügten. Bonn ist also gezwungen, eine weltpolitische Rolle zu spielen, ohne sie spielen zu können.

Aus diesem Dilemma gibt es zwei Auswege: nämlich, Weltpolitik als europäische Politik zu betreiben oder die europäische Politik zur Weltpolitik zu benutzen. Der erste Ausweg führt in den Multilateralismus und zur Verstärkung der europäischen Integration; der zweite führt in den Unilateralismus und zur Vernachlässigung der EG. Der erste Ausweg steht natürlich nur theoretisch zur Verfügung. In der Weltpolitik sind die Interdependenzen der westeuropäischen Staaten untereinander sehr viel schwächer ausgeprägt als ihre Konkurrenz. Es gibt historisch wie politisch unterschiedliche Interessen, Verbindungen, Rücksichten. Eine Ausnahme bildet der Handelssektor, auf dem die EG weltweit aktiv ist. Die Europäische Politische Zusammenarbeit hinkt demgegenüber entschieden nach. Ihr auf die Beine zu helfen, stünde der bundesdeutschen Politik gut an. Freilich ist die Aufgabe delikat, weil sich die anderen europäischen Staaten vermutlich nur sehr ungern in ihre weltpolitischen Karten schauen lassen wollen.

Nicht nur undelikat, sondern geradezu gefährlich aber ist die Alternative einer sich entwickelnden, unilateral betriebenen deutschen Weltpolitik. Auch wenn sie, woran analytisch nicht zu zweifeln ist, wie bisher friedlich und kooperativ verliefe, würde sie bei den westeuropäischen Partnern Besorgnisse und Ängste vor der deutschen Größe und Machtfülle auslösen. Sie lassen sich nur vermeiden, wenn diese Weltpolitik multilateralisiert wird. Die Bundesrepublik muß den mühsamen Weg beschreiten, die Konsultation mit den anderen Staaten zu vertiefen, Schrittmacher multilateraler Weltpolitik der EG-Partner zu werden. Sie muß die Bedingungen, unter denen sich der Multilateralismus verwirklichen läßt, außenpolitisch erst herstellen. Innenpolitisch sind die Voraussetzungen dafür günstig. Zwar haben die politischen Parteien sich bisher weder an einer Theorie des Multilateralismus noch an einer solchen der Integration versucht. Die konzeptuellen Defizite sind hier beträchtlich. Auf der anderen Seite zeigt eine Besichtigung der Bürokratie und der gesellschaftlichen Entwicklung im allgemeinen, daß in der Bundesrepublik nicht nur nach wie vor eine beträchtliche, sondern eine zunehmende Bereitschaft besteht, die unilaterale Machtpolitik zu vernachlässigen und sich mehr denn je als Teil Europas und als Träger einer auf Frieden gerichteten Politik zu verstehen. Die westdeutsche Gesellschaft würde, soziostrukturell gesehen, eine auf die Herstellung des Multilateralismus gerichtete Politik voll mittragen.

IV. Integrationswünsche von Politik und Gesellschaft

1. Programme der Parteien In einem politisch akuten und relevanten Sinn gibt es keine Anforderungen nach der Intensivierung der westeuropäischen Integration. Es gibt Vorstellungen der großen politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen; sie sind auch durchweg ausgearbeitet und detailliert. Sie spielen jedoch anscheinend für das politische Verhalten dieser Gruppen keine Rolle; sie besitzen lediglich die Funktion eines Reserverades. Es dreht sich, wann immer die Aufmerksamkeit sich auf Europa richtet. Es hebt sofort vom Boden der Realitäten ab, sowie Politik als konkretes, aktuelles Geschäft betrieben wird. Man wird die einschlägigen Parteiprogramme deswegen nicht zu den politischen Sonntagsreden zählen dürfen. Sie reflektieren vielmehr die durchgängige rationale politische Auffassung, daß der westeuropäische Staat mittlerer Größe allein nicht mehr handlungsfähig ist, daß Westeuropa auf ideologischem, gesellschaftlichem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet so interdependent geworden ist, daß die Beziehungen der europäischen Staaten untereinander eine andere, höhere Qualität aufweisen müssen als die zwischen ihnen und ihrer Umwelt. Die daraus abgeleitete Forderung nach der europäischen Integration muß daher durchaus als real eingeschätzt werden. Sie ist aber insofern nur latent, als niemand weiß, wie sie verwirklicht werden kann. Das Kardinalproblem Europas liegt nicht in seiner Zielsetzung, sondern in den Strategien zu ihrer Verwirklichung. Die Struktur dieses Europa bleibt ebenso im dunkeln wie die konkreten Entscheidungen, mit denen sie heraufgeführt werden könnte. Die Rationalität der europäischen Integration scheitert an der Blindheit der integrativen Prozesse. Als Folge dessen bleibt die Integration verbal und die Politik unilateral.

Die Programmatik der drei großen Parteien unterscheidet sich weniger in dem Grad ihres Engagements für die europäische Einigung als vielmehr in unterschiedlichen Anforderungen ihrer binnenstrukturellen Ausgestaltung. Die Sozialdemokratische Partei, die in den ersten Nachkriegsjahren den politischen Akzent auf die Wiedervereinigung gelegt hatte 44), hat im Zusammenhang mit dem Godesberger Programm die europäische Einigung zu einem Primärziel erklärt. Seitdem hat sie sich um eine aktive Förderung der westlichen Integration bemüht. Die Ölkrise verminderte den Enthusiasmus etwas, weil sie allzu deutlich die Vitalität des Unilateralismus in beinahe allen europäischen Staaten erkennen ließ. Dennoch hat die SPD die hat im Zusammenhang mit dem Godesberger Programm die europäische Einigung zu einem Primärziel erklärt. Seitdem hat sie sich um eine aktive Förderung der westlichen Integration bemüht. Die Ölkrise verminderte den Enthusiasmus etwas, weil sie allzu deutlich die Vitalität des Unilateralismus in beinahe allen europäischen Staaten erkennen ließ. Dennoch hat die SPD die Forderung nach einem Fortgang der europäischen Einigung unvermindert weiter erhoben und sich insbesondere für die Wirtschafts-und Währungsunion eingesetzt 45).

Die SPD weiß sich bei dieser Programmatik im Einklang mit ihrer Tradition, in der die Forderung nach Überwindung des Nationalismus, der für so viele Kriege in Europa verantwortlich zu machen ist, stets eine große Rolle gespielt hat. Die Partei vertraut dementsprechend der europäischen Einigung zwei Ziele an: die Herbeiführung einer europäischen Friedensordnung, „die allen Europäern die Angst vor einem möglichen Krieg. . . nehmen kann", und die Herstellung „der sozialen Demokratie .. ., der Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit" 46). Dieses allgemeine Programm hat die Partei zusammen mit den anderen sozialdemokratischen Parteien in der Europäischen Gemeinschaft in ihrer Wahlplattform vom 6. Juni 1977 in Einzelforderungen übersetzt 47). Sie fordert ein Europa der Vollbeschäftigung, der Wirtschaftsdemokratie, der verbesserten sozialen Sicherheit und entsprechender Lebens-und Arbeitsbedingungen — ein Europa, das die Entspannung im Ost-West-Konflikt und die Solidarität im Nord-Süd-Konflikt realisiert.

Zu der entscheidenden Frage der Realisierung dieser Forderungen enthält das Programm jedoch nichts bzw. die nur sehr allgemeine Forderung nach einer entsprechenden Zusammenarbeit der politischen und gesellschaftlichen Gruppen. Angesichts der beträchtlichen Disparität der Sozialstruktur und der gesellschaftspolitischen Konzeptionen, die in Westeuropa herrschen, besitzt ein solches Programm vorwiegend deklamatorischen Wert.

Das gleiche Schema ist bei den anderen Parteien sichtbar: CDU und FDP treten engagiert für die europäische Einigung ein, haben sich mit ihren ideologischen Partnern in den EG-Staaten zu europäischen Zusammenschlüssen verbunden. Sie unterscheiden sich selbstver-ständlich hinsichtlich der Präferenzen für die Binnenstruktur dieses Europa. Die CDU legt den Akzent mehr auf die Freiheit und das wirtschaftliche Wachstum die FDP versucht beides mit der Forderung nach Chancengleichheit und sozialem Ausgleich zu verbinden Einen praktisch-politischen Weg zur Realisierung dieser Forderungen zeigen auch diese Parteien nicht.

Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund vermag ihn nicht zu weisen. Er ist zwar zu Op-fern für die europäische Integration bereit, falls sie nicht einseitig gefordert werden und tatsächlich dem Ziel der vollen Integration dienen Er arbeitet mit dem 1973 gegründeten Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) zusammmen, dessen erster Vorsitzender der DGB-Chef Vetter war. Wie der EGB hoch über den Wassern der Politik seiner Mitgliedsverbände schwebt, so ist auch das Europaprogramm des DGB nicht konkret mit der Praxis der bundesrepublikanischen Gewerkschaften verbunden. Sie richtet sich vielmehr nach wie vor in erster Linie auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit aus

Parteien und Gewerkschaften, so muß man sagen, sind zur Integration bereit und an ihr interessiert. Sie beschreiten jedoch weder noch wissen sie den Weg, der dorthin führt.

Schwerer wiegt, daß sie auf die Suche nach diesem Weg so gut wie keine Energie verwenden.

Sie richten sich auf die Bundesrepublik, in der die Nahziele zu verwirklichen sind. Der Unilateralismus ist kein Nationalismus, er ist eine Praxis faute de mieux.

2. Interessen von Bürokratie und Management Blickt man auf die Ministerialbürokratie und auf die Manager der Wirtschaft, also auf jene ökonomisch-politische Kooperationsstruktur, in der die meisten europa-praktischen Entscheidungen fallen, so ergibt sich ein schärfer konturiertes Bild. Werner Feld hat jedenfalls bei den von ihm befragten Bürokraten einen deutlichen Widerstand gegen die politische Union festgestellt bei den deutschen übrigens stärker als bei anderen europä sehen Ministerialen. Sie befürchten Karriereeinbußen. Hingegen haben gerade die deutschen Beamten eine Verstärkung der wirtschaftlichen Kooperation bis hin zur Wirtschaftsunion stark befürwortet Da aber eine Wirtschaftsunion de facto eine wirtschaftspolitische Union sein muß, geht man wohl nicht fehl in der Annahme, daß der Widerstand, zumindest das Desinteresse der Bürokraten dort einsetzt, wo Kooperation in Organisation umschlägt. Die Beamten würden zwar keinen Widerstand leisten, sie werden einen solchen Umschlag aber auch nicht fördern. „They are not so much guilty for treason as they are of anomy."

Welche Forderungen stellen die Manager? Die deutschen Manger sind, vornehmlich in den oberen Rängen, weniger integrationsfreudig als die anderer europäischer Staaten. Auf der anderen Seite würden sich diejenigen, die der Integration zuneigen, stärker engagieren als ihre europäischen Partner Das Engagement für Europa nimmt (ebenso wie die Orientierung zur SPD) zu, je niedriger der Rang ist, in dem sich der Manager befindet. Generell gilt, daß die Mehrheit unter ihnen durchweg eine Konstruktion befürwortet, in der eine integrierte Struktur mit einer wirklichen Entscheidungskompetenz ausgestattet ist. Auf dem Gebiet der militärischen Sicherheit würden sogar die meisten die Entscheidungskompetenz integrieren. Nur auf ihrem eigenen Gebiet, dem der Wirtschaft, sind sie stärker zurückhaltend, befürworten sie in ihrer Mehrzahl gemischt national-integrierte Kompetenzstrukturen. Wichtig ist, daß die Beibehaltung nationalstaatlicher Entscheidungskompetenz nur von einer verschwindend kleinen Minderheit gefordert wird.

Auch die Manager also sind nicht gegen eine Zunahme der europäischen Integration. Sie würden sich ihr nicht entgegenstellen, wenn sie käme. Sie würden sie aber auch nicht heraufführen; erstens, weil dies nicht in ihrer Macht steht, und zweitens, weil ihre unmittelbaren Interessen davon nicht profitieren.

Sie haben sich im „Europa der Chefetagen"

eingerichtet — warum sollten sie für ein Brüsseler Europa arbeiten? Auch bei ihnen zeigt sich also, daß ihr Unilateralismus nicht aus Notwendigkeit und Überzeugung, schon gar nicht aus einer nationalen Orientierung stammt. Er stellt vielmehr eine bequeme und handhabbare Praxis dar, die aufzugeben nie-mand zögern, für deren Aufgabe sich aber kaum jemand engagieren würde.

3. Dispositionen der Gesellschaft Die Dispositionen der Öffentlichkeit, ihre Attitüden, lassen sich verständlicherweise nur schwer feststellen und noch schwerer beurteilen. Meinungsumfragen, zumal sie — jedenfalls in der Bundesrepublik — sich nur selten und unsystematisch mit internationalen Fragen beschäftigen, haben einen fragwürdigen Wert. Mit dieser Einschränkung kann gesagt werden, daß das Engagement der Öffentlichkeit für die europäische Integration kontinuierlich zugenommen hat. Noch 1965 lag einer Mehrheit die deutsche Wiedervereinigung näher als die europäische Integration. Seit den siebziger Jahren jedoch sind beinahe drei Viertel der westdeutschen Bevölkerung für eine Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften bis hin zu den Vereinigten Staaten von Europa Fast die Hälfte, nämlich 41 Prozent, bevorzugt die europäische Einigung gegenüber dem Bündnis mit den USA, ist also sehr viel stärker europäisch als atlantisch orientiert Diese Option darf nicht als Mißachtung oder Unterschätzung der NATO interpretiert werden. 71 Prozent der westdeutschen Bevölkerung waren 1971 für eine weitere Mitgliedschaft, in der richtigen Erkenntnis, daß das gegenwärtige Europa seine Sicherheit nicht zu gewährleisten vermag. Auf der anderen Seite wird die kontinuierliche Unterstützung der atlantischen Zusammenarbeit im Rahmen der NATO flankiert mit einem auffallend konstanten Interesse für Neutralität. 1951 hatten sich 48 Prozent, 1965 noch 42 Prozent für eine solche Position Westdeutschlands ausgesprochen; 1975 waren es immerhin noch 36 Prozent Genesis und Bedeutung dieses Interesses ist schwer einzuschätzen. Es dürfte am ehesten auf den Wunsch zurückzuführen sein, aus dem Großmächte-Konflikt auszuscheren, eine weltpolitische Randposition einzunehmen. An einer erneuten deutschen Führungsposition besteht so gut wie kein Bedarf. Die befragten Deutschen waren mehrheitlich der Meinung, daß die Bundesrepublik außenpolitisch nichts zu sagen habe; nur ein Drittel meldete einen Führungsanspruch für die Bundesrepublik innerhalb der EG an

In der Breite der westdeutschen Gesellschaft kommt, wie die Analysen der Bundestagswahl von 1976 zeigen, eine neue Tendenz hinzu. Mit dem gewachsenen Wohlstand der postindustriellen Gesellschaft in der Bundesrepublik wandelt sich das Wertsystem von der Betonung materieller zur Bevorzugung nicht-materieller Werte. Selbstverwirklichung wird wichtiger als die Aufrechterhaltung der tradierten Sozialstruktur; Teilnahme und Teilhabe überwiegen das Interesse an Ruhe und Ordnung; das Verständnis und die Toleranz-bereitschaft für Minderheiten vergrößern sich anstelle der Betonung der Sicherheit der eigenen Gruppe nach innen und außen Die Anhänger einer solchen „Neuen Politik" treten seit den sechziger Jahren deutlich in Erscheinung, grenzen sich ab von den Befürwortern der „Alten Politik", die sich am Wertesystem der vormaterialistischen Gesellschaft orientierten. Zwar zählt die Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung noch immer zu der letzteren Gruppe. Sie wird aber abnehmen in dem Maße, in dem sich die Industrialisierung durchsetzt. Von den Anhängern der „Neuen Politik" unterstützten interessanterweise drei Viertel die Sozialdemokratische Partei während ihr nur 37, 5 Prozent der Hüter der „Alten Ordnung" ihre Stimme gaben.

V. Die Notwendigkeit eines Konzepts des Multilateralismus

Das Umfeld der bundesrepublikanischen Gesellschaft zwingt also die Entscheidungsträger nicht dazu, den Unilateralismus aufzugeben. Die Versuchung, diese einfache und bewährte Praxis nicht aufzugeben, ist demzufolge groß. Auf der anderen Seite würde das Umfeld die Entscheidungsträger aber ermutigen, unilaterale Praktiken durch multilaterale zu ersetzen. Es fordert sie, wenn auch nur schweigend, heraus, ein neues, den veränderten Bedingungen angemessenes Konzept außenpolitischen Verhaltens zu entwickeln.

Dergleichen fällt sicherlich nicht leicht. Andererseits würde ein solches Konzept nur die Erfahrungen zu verarbeiten haben, die die Bundesrepublik — wie alle anderen europäischen Staaten — in der EG bereits gemacht hat. Sie wären zu ergänzen, indem das Konzept Formen multilateralen Verfahrens ersinnen müßte, die stärker als bisher die Mitte zwischen Entscheidungsfreiheit und Mehrheitsbeschluß innehalten. Diese Mitte wird nicht in jedem Sachbereich gleich sein, sie wird auch die unterschiedlichen Relevanzen und Sensitivitäten zu berücksichtigen haben. Entscheidend ist, daß sie den Kompromiß als adäquaten Ausdruck der in Westeuropa herrschenden Bedingungen institutionalisiert, daß sie den Alleingang ausscheidet.

Hinter der Entwicklung eines» solchen Konzepts steht natürlich die weitergehende Forderung nach einer neuen, integrativen Theorie der auswärtigen Politik. In ihr müßte die Gewinnoptimierung nicht mehr auf den eigenen Herrschaftsbereich begrenzt sein, sondern kontinuierlich auf die von der Außenpolitik Betroffenen erweitert werden. Vorab aber hat die Entwicklung einer solchen Theorie durchaus als akademisches Problem zu gelten. Die unmittelbare Aufgabe lautet, ein Konzept des Multilateralismus zu entwickeln, das ein den Bedingungen, Strukturen und Interessen angemessenes Verhalten formuliert und anleitet. Damit würde nicht nur den Versuchungen einer falschen, sondern auch den Verdächtigungen der richtigen Politik vorgebeugt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. C. Fred Bergsten, Die amerikanische Europa-Politik angesichts der Stagnation des gemeinsamen Marktes. Ein Plädoyer für Konzentration auf die Bundesrepublik, in: Europa-Archiv 29, 4, 1974, S. 115 ff.

  2. International Herald Tribune, 19. 3. 1979.

  3. Vgl. die Kritik des Abgeordneten Les Aspin und des Senators Nunn, International Herald Tribune, 13. 3. 1979.

  4. Zum historischen Verlauf dieser Entwicklung vgl. E. -O. Czempiel, Die Bundesrepublik und Amerika: Von der Okkupation zur Kooperation, in: Manfred Knapp (Hrsg.), Die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit 1945, Frankfurt 1975, S. 132 ff.

  5. Dazu noch immer grundlegend David Mitrany, A Working Peace System, Chicago 1969.

  6. Helmut Schmidt, Kontinuität und Konzentration, Bonn-Bad Godesberg 19762, S. 49.

  7. Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 1975/76: Zur Sicherung der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, Bonn 1976, S. 14.

  8. Vgl. die historische Entwicklung des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin, in: Presse-und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3. September 1971, Hamburg 1971, S. 114 ff.

  9. Dazu Ernst-Otto-Czempiel, Organizing the Euro-American System, in: ders. und Dankwart A. Rüstow (eds.), The Euro-American System. Econo-mic and Political Relations Between North America and Western Europe, Frankfurt and Boulder 1976, S. 206 ff.

  10. Vgl. dazu Dieter Dettke, Allianz im Wandel. Amerikanisch-europäische Sicherheitsbeziehungen im Zeichen des Bilateralismus der Supermächte, Frankfurt 1976, passim.

  11. Vgl. dazu Eugene J. McCarthy, Look, No Allies, in: Foreign Policy 30, Frühjahr 1978, S. 3 ff.

  12. Manfred Knapp, Politische und wirtschaftliche Interdependenzen im Verhältnis USA—(Bundesrepublik) Deutschland 1945— 1975, in: ders. u. a., Die USA und Deutschland 1918— 1975, München 1978, S. 153 ff.

  13. Willy Brandt, Europa und die Vereinigten Staaten: Die unentbehrliche Allianz. Rede vor der American Chamber of Commerce in Germany, Düsseldorf 1978, Bonn.

  14. Vgl. Lothar Ruehl, Die Nichtentscheidung über die „Neutronenwaffe" — ein Beispiel verfehlter Bündnispolitik, in: Europa-Archiv 34, 5, 1979, S. 147.

  15. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP sowie auch der Fraktion der CDU/CSU zum Problemkreis der Friedenssicherung und der Rüstungskontrolle (Drucksachen 8/2195 und 8/2312, Bonn 1979, Nr. 51).

  16. Ebd., Nr. 54.

  17. Im Frühjahr 1979 lief, ausgehend von den Vereinigten Staaten, insbesondere von einem Artikel von Evans & Nowak in der International Herald Tribune vom 21. 3., geradezu eine Kampagne der Verdächtigungen gegen die Bundesregierung. Vgl. die Antwort der Bundesregierung darauf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 3. 1979 und 24. 3. 1979. .

  18. Secretary of State Cyrus Vance: The US-Euro-pean Partnership. Speech before the Royal Institute for International Affairs, London, 9. 12. 1978.

  19. Antwort der Bundesregierung (Anm. 15), Nr . 37.

  20. Ebd., Nr. 43.

  21. Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 8, 1977: Europäische Union, S. 9.

  22. Erklärung der Bundesregierung zur Lage der Nation vor dem Deutschen Bundestag, abgedruckt in: Bulletin 13, 30. 1. 1976, S. 136.

  23. Helmut Schmidt (Anm. 6), S. 237.

  24. Zu diesem Zusammenhang in den USA vgl. Ernst-Otto Czempiel, Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Entspannung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B " 3>im, S. 3 ff.

  25. Christian Hacke, Die Ost-und Deutschlandpolitik der CDU/CSU. Wege und Irrwege der Opposition seit 1969, Köln 1975.

  26. Vgl. die — im übrigen stets differenzierte — Argumentation von Alois Mertes, MdB, CDU/CSU, in: Deutschland-Union-Dienst, 11. 8. 1978.

  27. Dazu Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960— 1975, Hamburg 1976.

  28. Bundeskanzler Schmidt vor dem Deutschen Bundestag, 8. Wahlperiode, 90. Sitzung, 11. 5. 1978, S. 7064.

  29. Oppositionsführer Kohl, ebd., S. 7067 ff.

  30. Dazu J. Robert Schaetzel, Ein Bündnis geht aus den Fugen. Amerika und die Europäische Gemeinschaft, Düsseldorf 1977.

  31. Klaus Otto Nass, Der „Zahlmeister" als Schrittmacher? Die Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft, in: Europa-Archiv 31, 10, 1976, S. 325 ff.

  32. Helmut Schmidt (Anm. 6), S. 144.

  33. Ebd.

  34. Die These wird bestritten von Joachim Hütter, Die Stellung der Bundesrepublik Deutschland in Westeuropa. Hegemonie durch wirtschaftliche Dominanz?, in: Integration 3, 1978, S. 103 ff.

  35. Otmar Emminger, Die internationale Bedeutung der deutschen Stabilitätspolitik, in: Europa-Archiv 32, 15, 1977, S. 509 ff.

  36. Frieder Schlupp, Das deutsche Modell und seine europäischen Folgen, in: EG-Magazin 5, 1978, S. 8 ff.

  37. Michael Kreile, Die Bundesrepublik Deutschland — Eine „economie dominante" in West-europa?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/1978, S. 3 ff.

  38. So der Beschluß des Hamburger Parteitages der SPD, November 1977, in: SPD: Dokumente zur Europapolitik, Bonn o. J., S. 7.

  39. Europäische Politische Zusammenarbeit (vereinbarte regelmäßige Konsultationen der Außenminister der Gemeinschaft).

  40. Vgl. Rudolf Hrbek, Die SPD — Deutschland und Europa, Bonn 1972.

  41. Vgl. das Programm der (christlich-demokratischen) Europäischen Volkspantei vom März 1978, in: CDU-Dokumentation 8, Bonn 1978.

  42. Europäische Liberale Demokraten: Thesen des Wahlprogramms, Bonn 1977, S. 16.

  43. Ludwig Rosenberg, Die Westpolitik der deutschen Gewerkschaften, in: U. Borsdorf u. a. (Hrsg.), Gewerkschaftliche Politik: Reform aus Solidarität, Köln 1977, S. 553 ff.

  44. Michael Kreile (Anm. 39), S. 3 ff.

  45. Werner J. Feld und John K. Wildgen, National Administrative Elites and European Integration, Saboteurs at Work?, in: Journal of Common Market Studies 13, 1975, S. 264.

  46. Ebd., S. 249.

  47. Werner J. Feld, Political and Administrative Elite Attitudes in the European Community, 1975, mimeo, S. 23.

  48. Karl P. Sauvant und Bernhard Mennis, Corporate Internationalization and German Enterprise: A Social Profile of German Managers and Their Attitudes Regarding the European Community and Future Company Strategies, Unversity of Pennsylvania, 1973, S. 44.

  49. E. Noelle-Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 19. 68— 1973, Allensbach 1974, S. 211. Die Daten der öffentlichen Meinung verdanke ich der Mitarbeit von Herrn Werner Damm.

  50. Dies., Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, München 1976, S. 285.

  51. Ebd., S. 279.

  52. Ebd., S. 293, 287.

  53. Kai Hildebrandt und Russel J. Dalton, Die Neue Politik. Politischer Wandel oder Schönwetter-Politik?, in: Politische Vierteljahresschrift 18, 2/3, November 1977, S. 237 ff.

  54. Ebd., S. 247.

Weitere Inhalte

Ernst-Otto Czempiel, geb. 1927, Dr. phil.; Professor für Auswärtige Politik und Internationale Politik an der Universität Frankfurt. Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedensund Konfliktforschung, Frankfurt. Neuere Buchpublikationen: Friedenspolitik im südlichen Afrika. Eine Strategie für die Bundesrepublik, Mainz und München 1976; (zusammen mit Dankwart Rüstow): The Euro-American System, Frankfurt und Boulder 1976; Südafrika in der Politik der USA, Mainz und München 1977; Amerikanische Außenpolitik, Stuttgart 1979.