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Plädoyer für den Beruf | APuZ 48/1979 | bpb.de

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APuZ 48/1979 Plädoyer für den Beruf Berufswahltheorien Ansätze zu einem emanzipatorischen Modell Berufliche Vollzeitschulen in der bildungspolitischen Diskussion

Plädoyer für den Beruf

Reinhard Crusius/Manfred Wilke

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In unserer Gesellschaft zeichnet sich eine Entwicklung ab, berufliche Ausbildung, beruflichen Status und beruflichen Inhalt der Arbeit im traditionellen Verständnis immer mehr nur einer kleinen Gruppe, zumeist akademisch Gebildeter, zuzugestehen und zuzusichern. Für den Rest der Beschäftigten wird nur noch von Qualifikation in ihren jeweiligen Abstufungen gesprochen. Das führt — vor allem für die Gewerkschaften — zu Orientierungslosigkeit und in der staatlichen Arbeitsmarkt-und Berufsbildungspolitik zu großen Widersprüchen. In der Tendenz führt es zu einer Zerstörung und Abwertung der beruflichen Bil-dung und des Anspruchs auf sie. Eine gewerkschaftliche Strategie braucht — entsprechend der Kapitalrentabilität als oberster Leitmaxime unternehmerischen Handelns — eine Handlungslinie, welche die berufliche Position der Gewerkschaftsmitglieder einbezieht und die gewerkschaftlichen Teilpolitiken verbinden hilft. In ihrem „Plädoyer für den Beruf" glauben die Verfasser, diesen Nenner gefunden zu haben — wenn auch einen auf den ersten Blick nicht „zeitgemäßen“. Berufsausbildung und Berufsarbeit sind für die Mehrheit der abhängig Beschäftigten immer noch soziale Orientierungen und reale soziale Organisations-und Strukturelemente, z. B. am Arbeitsmarkt. In dieser Tradition stecken viele positive Inhalte, vor allem aber positive Handlungsmotive, deren aktuelle Bedeutung bzw. Neubestimmung angesichts der Gefahren der neueren Entwicklungen im Beschäftigungssystem es zu untersuchen gilt Das Ersatzwort für Beruf: „Qualifikation" ist ein technokratischer Begriff, der verdrängt, daß es hier um mehr geht als um deckungsgleiche Profile im Bildungs-und Beschäftigungssystem. Dieser Kunstbegriff täuscht eine Scheinrationalität vor, er ist weniger sperrig als der Berufsbegriff, vor allem für Planer und Theoretiker, aber er blendet entscheidende Dimensionen von menschlicher Arbeit und von Bildungsprozessen aus. Diese Ansprüche und ihre materielle Einlösung sind aber für die Gewerkschaften unverzichtbar. Auf ihnen beruht die Durchsetzungskraft ihrer Politik, ihre „Marktmacht" sowie ihre Lebensfähigkeit als Organisation. Die Ersetzung des Berufsbegriffes durch den Qualifikationsbegriff bedeutet im Bereich von Berufsbildung und Arbeitsmarkt tendenziell die Ersetzung von Politik durch Verwaltung. Die Aufgabe beruflicher Strukturierung des Arbeitsvermögens bedeutet für die Mehrheit eine tendenzielle Nivellierung nach unten und steigende Austauschbarkeit

I. Beruf als Privileg?

In der letzten Zeit sind in der Bundesrepublik zwei Ereignisse unabhängig voneinander diskutiert worden, die ein bezeichnendes Schlag-licht auf aktuelle berufspolitische Entwicklungen werfen:

Der Streik der Schriftsetzer gegen ihre Hinwegrationalisierung durch den technischen Fortschritt hat in der öffentlichen Diskussion einen Prozeß bewußt gemacht, der seit Jahren im Gang ist: In der Produktion, im Dienstleistungsbereich und in der Verwaltung werden qualifizierte Arbeitsplätze wegrationalisiert. Das Motto dieser Rationalisierungspolitik könnte lauten: „Kollege Maschine, übernehmen Sie!"

Erst als eine ganze Berufsgruppe von diesem Prozeß bedroht war und gegen die angeblich unaufhaltsamen Folgen des technischen Fortschritts streikte, um ihre Arbeitsplatzinteressen und die Rationalisierungspolitik der Unternehmer in ein Verhältnis zu bringen, das beide Interessen berücksichtigt, wurde dieser technische Fortschritt Anlaß zum öffentlichen Ärgernis. Zum Ärgernis wurde aber nicht der „technische Fortschritt", sondern der Streik der Schriftsetzer. Ihnen wurde „Berufsegoismus“ vorgeworfen, der sie veranlaßt habe, sich dem „technischen Fortschritt in den Weg zu stellen".

Zur gleichen Zeit wurde durch das Hochschulrahmengesetz der Besitzstand eines privilegierten Berufsstandes festgeschrieben: der der deutschen Professoren. Hier hat der Gesetzgeber einem Berufsstand eine weitgehende Kontrolle über seine Arbeitsbedingungen, Nachwuchsrekrutierung, Arbeitsinhalte und generell über die Institution eingeräumt, die ihn beschäftigt. Die erneute Privilegierung der Professoren in der Universität durch die staatliche Hochschulgesetzgebung fand kein so negatives Echo, wie es der Streik der Setzer ausgelöst hat. Die radikale Standespolitik der Professoren fand kaum Kritik.

Dieser Aufsatz versucht, Leerfelder der aktuellen Berufsbildungsdiskussion zu bezeichnen, die u. E. für die weitere Entwicklung der Gestaltung von Bildung und Arbeit in dieser Gesellschaft gefährlich werden können. Wir versuchen dabei vor allem, die modische Qualifikationsdebatte „gegen den Strich zu bürsten". Deshalb schien es uns geraten, diese Thesen mit Kollegen zu diskutieren und uns dabei der Einsicht zu versichern, daß wir nicht alleine das Problem so sehen und nicht alleine der Meinung sind, daß eine neue, vom Berufsbegriff ausgehende Akzentuierung der Berufsbildungs-und Arbeitsmarktdiskussion notwendig ist. An dieser Diskussion beteiligten sich: Prof. Dr. B. Lutz, Dr. J. Asendorf-Krings, Dipl. -Soz. M. v. Behr, Dipl. -Soz. J. Drexel und Dipl. -Soz. C. Nuber vom ISFMünchen; Prof. Dr.

W. Voigt und Prof. Dr. S. Braun von der Universität Bremen, Prof. Dr. T. Pirker, FU Berlin; Prof. Dr. W.

Tempert und Dr. W. Thomssen von MPI für Bildungsforschung, Berlin, sowie Prof. Dr. F. Edding, Berlin.

Beruf als Privileg einer elitären Minderheit? Die erfolgreiche Berufs-oder Standespolitik der Professoren ist kein Einzelfall. Es sei nur erinnert an die der Ärzte, Anwälte, Gymnasiallehrer und Spitzenbeamten.

Bildungspolitiker, Bildungsökonomen, Wirtschafts-und Verbandsfunktionäre, also alles Mitglieder von privilegierten Berufen dieser Gesellschaft, verkünden der Masse der Jugendlichen seit Jahren: Für ihre Berufswünsche seien die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes maßgebend; es wäre unsinnig, wenn sie „Modeberufen" nachhingen; die Lehrstellensorgen von Jugendlichen würden dadurch verursacht, daß viele Jugendliche nicht mehr bereit wären, sich die Finger schmutzig zu machen; ja, sie seien durch Leistungsabfall und durch „Lernbehinderung" selbst verschuldet; jeder, der arbeiten wolle, könne dies auch tun. Kurzum, an der Jugendarbeitslosigkeit seien weniger die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes und der staatlichen Berufsbildungspolitik „schuld", sondern eher die in der Person des Jugendlichen liegenden persönlichen „Mängel".

Für die „gehobenen Stände" dagegen formulierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) in einer Eigenanzeige für ihren „Laufbahnberater" den Berufsanspruch ihres Publikums unzweideutig: „Beruf drückt aus, was ei-3 ner heute ist, fachlich und sozial, zeigt eine bestimmte Zielrichtung für morgen und ist Ausdruck einer aus Begabung und Talenten folgenden Logik; . Beruf wird so zu einer verantwortungsvollen, langfristigen Planung .. (FAZ vom 7. 2. 1979).

Zwei Tendenzen sind aus all dem abzuleiten: 1. Für eine elitäre Minderheit wird ganz selbstverständlich eine gediegene Berufsausbildung (in der Regel akademisches Studium) gefordert, sowie die Garantie eines gesicherten Berufsstatus, Autonomie in der Arbeit und entsprechende materielle Privilegien.

2. All dies gilt nicht für die Mehrheit der Arbeiter und Angestellten. Diese sehen sich zunehmend einem technischen und propagandistischen Angriff auf den Berufsstatus ihrer Arbeit ausgesetzt; von ihnen wird erwartet, daß sie sich in die „Unabänderlichkeiten" der technologischen und konjunkturellen Entwicklung schicken. Der Anspruch von Facharbeitern und Angestellten auf eine gute Berufsausbildung für ihre Kinder und eine halbwegs befriedigende Arbeit für sie selber wird in der Öffentlichkeit allzu oft als Träumerei und als Hängen an überholten Handwerksidealen ab-qualifiziert. Ihr Kampf gegen die Entwertung beruflicher Fähigkeiten wird ebenfalls allzu oft als bloße „Maschinenstürmerei" diffamiert. Der Zusammenhang von technologischem Fortschritt, Wirtschaftswachstum und Massenwohlstand hat im öffentlichen Bewußtsein den Charakter eines unumstößlichen Dogmas, dessen Aufrechterhaltung die Rationalisierungspolitik der Unternehmer und damit persönliche Opfer von einzelnen abhängig Beschäftigten auf den unteren Etagen der Arbeitsplatzpyramide notwendig machen.

Die gewerkschaftliche Tarifpolitik konzentrierte sich nach dem Massenelend der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre und den Folgen von Hitlers Krieg notwendigerweise auf die Hebung des Massenwohlstands durch eine aktive Lohnpolitik. In der Phase der Vollbeschäftigung waren Rationalisierungsopfer unter den Arbeitenden für die Gewerkschaftspolitik nur ein Gegenstand individuellen Schutzes. Sie glaubten, mit Rationalisierungsschutzabkommen und Umschulungsmaßnahmen den Folgen unternehmerischer Rationalisierungspolitik für die abhängig Beschäftigten wirksam entgegentreten zu können. Auf dem Gebiet der Berufsausbildung forderten die Gewerkschaften teilweise selber die Auflösung von traditionellen Facharbeiterberufen, indem sie mit ihrer Zustimmung zur Stufenausbildung den Unternehmern neue Dequalifizierungs-und Selektionsmechanismen in die Hand gaben.

Der Streik der Schriftsetzer hat nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Gewerkschaften daran erinnert, daß für viele Facharbeiter der berufliche Charakter ihrer Arbeit ein Anspruch ist, auf den sie individuell und kollektiv nicht ohne weiteres verzichten wollen. Noch sollte Beruf kein Privileg sein!

II. Widersprüche aktueller Berufsbildungs-und Arbeitsmarktpolitik

Die gewerkschaftliche Berufsbildungs-und Arbeitsmarktpolitik sieht sich heute mit einer Reihe von grundlegenden Widersprüchen konfrontiert, die eine politische Orientierung von Funktionären und Mitgliedern zunehmend erschweren und damit eine aktive Gewerkschaftspolitik auf diesem Gebiet lähmen: — Seit Jahren reden die Bildungspolitiker von Chancengleichheit im Bildungssystem, und die Bildungsstatistiker sind immer ganz stolz, wenn sie wieder ein paar Prozent mehr „Arbeiterkinder" auf Gymnasien und Universitäten zählen können. Aber diesen Erfolgen der Bildungsreform stehen ihre Opfer gegenüber, von denen vorzugsweise nicht gesprochen wird: Die Gastarbeiterkinder, die Schar der Abbrecher, die wachsende Zahl der Sonder-schüler und der sogenannten „Lernbehinderten" und „Bildungsverzichter". Mit diesen zynischen Begriffen umschreibt die Bildungsstatistik all die Jugendlichen, die den Sinn und Zweck staatlich verordneten Lernens nicht einsehen können, weil jede reelle Bildungschance ihnen geraubt ist — oder die gar erst keine materielle Bildungsmöglichkeit erhalten.

— Seit Jahren wird staatlicherseits von der Berufsausbildung als der „Bildungsaufgabe Nr. 1" geredet — aber die Chance der Jugendlichen, eine gute Lehrstelle zu finden, ist nur nach einem gnadenlosen Konkurrenzkampf unter den Jugendlichen möglich, bei dem immer mehr Jugendliche auf der Strecke bleiben, für die der Eintritt in das Arbeitsleben der Eintritt in die Arbeitslosigkeit bedeutet — sofort nach der Schule oder nach einer sogenannten „Lehre". — Seit Jahren sprechen die Bildungspolitiker ron der Überwindung der Barrieren zwischen illgemeiner und beruflicher Bildung — aber ler Zweite Bildungsweg wurde in den letzten Jahren eingeschränkt und die Schranken zwischen akademischer und beruflicher Bildung werden heute wieder höher. Selbst die arbeits. osen Akademiker illustrieren unsere Ausgangsthese: Ihre Arbeitslosigkeit verursacht mehr öffentliche Aufmerksamkeit, als die von Hunderttausenden arbeitsloser und völlig fehl ausgebildeter Jugendlicher auf den unteren Etagen des Bildungs-und Beschäftigungssystems je hervorrufen könnte.

— Seit Jahren scheitert die Berufsbildungsreform angeblich am Geld, aber gleichzeitig gibt der Staat unkoordiniert und größtenteils erfolglos Milliardenbeträge für Ad-hoc-Programme aus. Viele dieser Programme finanzieren nur die Ausbildung der Arbeitslosen von morgen. Sie dienen dem Zweck, die Jugendarbeitslosigkeit kurzfristig statistisch zu beseitigen.

— Seit Jahren herrscht unter allen Verantwortlichen für die „Deutsche Wirtschaft“ Übereinstimmung über die Bedeutung des Facharbeiters für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft auf dem Weltmarkt; ja, man spricht sogar von drohendem Facharbeitermangel — aber noch nie war die Gefahr so groß wie heute, daß dieser Facharbeiter auf dem Altar von technischem Fortschritt, Wirtschaftswachstum und einzelbetrieblich gesteuertem Lehrstellenangebot geopfert wird.

— Seit Jahren reden Wissenschaftler und Politiker über „Humanisierung der Arbeit“, »emanzipatorische Erziehung", „Erziehung zur politischen Handlungskompetenz" — aber gleichzeitig entfernen sich die Lernbedingungen in den Schulen und Betrieben immer mehr von dem, was wir heute über soziales, ja sogar über „effektives" Lernen wissen. Angst, Konkurrenz und Duckmäusertum sind von der Schule bis über die Gesellenprüfung hinaus heute die eigentlich wirklich existierenden Lerninhalte.

— Seit Jahren fordern konservative Politiker zu Recht die Aufwertung der beruflichen Bildung — aber praktisch heißt das in der „Erziehungspolitik für die niederen Stände" nur, bei den Kindern der „unteren Volksklassen keine überzogenen Ansprüche zu wecken". Das wird deutlich, wenn die Forderung nach Anhebung der Qualität der beruflichen Ausbildung für alle Jugendlichen von konservativen Bildungspolitikern und Verbandssprechern der Unternehmerverbände als „Überqualifikation" denunziert wird.

(In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich auf einen abweichenden Diskussionsbeitrag des Soziologen Helmut Schelsky hingewiesen, der bereits 1973 in einer Rede vor dem CSU-Parteitag eine Politik der Stärkung der „Selbständigkeit der Person" in der Arbeitswelt gefordert hat, die der Sache nach ebenfalls ein „Plädoyer für den Beruf" war. Es war wohl der Ort, an dem Schelsky seine Gedanken entwikkelt hat, der eine breitere Diskussion gerade in den Gewerkschaften unverdientermaßen verhindert hat.)

— Seit Jahren wird eine sogenannte „aktive Beschäftigungspolitik" mit Milliarden-Summen betrieben — aber „unter der Hand" gerät das fast alles zu personaleinsparenden Rationalisierungsmaßnahmen der Großindustrie. Eine qualifizierte Arbeitsplätze schaffende Mittelstandsförderung z. B. kommt als Infrastrukturpolitik in diesen Programmen nicht vor, eine immer dringender werdende Alternative zur „Großtechnologie" ebensowenig.

Bei den Versuchen, diese Probleme der Bildungs-und Arbeitsmarktpolitik zu lösen, spielen die Gewerkschaften als aktiv gestaltende politische Kraft keine allzu große Rolle. Mit Forderungsprogrammen an die staatliche Politik versuchen sie, Einfluß zu nehmen auf den Gang der Dinge. Aber zwischen diesen Forderungsprogrammen und der praktischen staatlichen Politik klafft ein Widerspruch, der nicht die Frage nach den Grenzen gewerkschaftlicher Macht aufwirft, wie dies die geradezu absurde „Gewerkschaftsstaatsdebatte" in den letzten Jahren getan hat, sondern im Gegenteil die Frage nach den Möglichkeiten verstärkter praktischer Gewerkschaftspolitik stellt.

Aber es ist nicht nur eine Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Politik, um die es hier geht, sondern auch die des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses ihrer Bildungs-und Arbeitsmarktpolitik. Es scheint den Gewerkschaften ein unvereinheitlichendes interessenbezogenes Kriterium für ihr Tun in diesen beiden Bereichen zu fehlen, wie es die Unternehmer und ihre Verbände mit der Rentabilität des Kapitals besitzen. Ob der Anspruch aller Lohnabhängigen auf qualifizierte Ausbildung und Arbeit und damit auf Mitbestimmung bei der Gestaltung ihrer Arbeitsplätze und ihrer Arbeitsbedingungen ein solches Kriterium für die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften sein kann, ist unser Thema.

III. Einsichten und Probleme gewerkschaftlicher Berufsbildungspolitik

Lehrstellenmangel, Konkurrenz um gute Lehrstellen und politische Apathie der Jugendlichen sind für die Gewerkschaften organisationspolitisch besonders bei der Gewerkschaftsjugend spürbar. Es ist deshalb nur allzu verständlich, wenn gerade verantwortliche Funktionäre aus dem Bereich der Gewerkschaftsjugend und der gewerkschaftlichen Bildungspolitik die von uns skizzierten Widersprüchlichkeiten deutlich ansprechen und eine Neuorientierung der gewerkschaftlichen Politik in diesem Bereich diskutieren.

Der damalige DGB-Bundesjugendsekretär Walter Haas hat auf der 10. DGB-Bundesjugendkonferenz im Dezember 1977 in Frankfurt in seiner Rede zum Geschäftsbericht ein düsteres Bild der Lage der arbeitenden Jugend und des Zustandes gewerkschaftlicher Jugendpolitik gezeichnet In der Zeitschrift „deutsche jugend" wurde sein Lagebericht so zusammengefaßt:

„Die Jugendvertreter fordern in Resolutionen das Arbeitsministerium auf, doch endlich weitere Ausnahmeregelungen im Jugendarbeitsschutzgesetz zuzulassen. Eltern beschimpfen die Gewerkschaften, weil Unternehmer die Auflösung der Ausbildungsverträge ihrer Kinder mit . unzumutbaren Forderungen der Gewerkschaften'begründen. Gewerkschaftsvertreter in Berufsbildungsausschüssen der Kammer stimmen den Anträgen der Arbeitgeber-seite auf Kurzausbildung zu. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von aktiven Gewerkschaftern begrüßt die Ausweitung von Ausbildungsplätzen im Handwerk vorbehaltlos, ohne Ausbildungsbedingungen, Qualität der Ausbildung und Chancen für die Weiterbeschäftigung in der Zukunft zu berücksichtigen. Die zentralen Probleme der Gewerkschaftsjugend: . Qualität der Ausbildung und der Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz sowie Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten im Berufsbereich'durchzusetzen, werden leider auch innergewerkschaftlich als , nur jugendspezifische'Dinge abgetan. In einer Situation, die durch verschlechterte Berufschancen für den einzelnen, durch stärkere Konkurrenz unter den Jugendlichen und durch steigende, von Arbeitgebern geschürte Angst um Arbeits-und Ausbildungsplätze gekennzeichnet ist, muß sich die Gewerkschaftsjugend um eine situationsadäquate Orientierung ihrer Arbeit bemühen." Bei der „situationsadäquaten Orientierung" muß die Gewerkschaftsjugend berücksichtigen, daß es sich bei der heutigen Situation der arbeitenden Jugend nicht „nur" um Lehrstellen-und Arbeitsplatzsorgen handelt, sondern daß es hier um die Lebensperspektive und die Lebenssituation dieser Jugendlichen geht Die Gewerkschaftsjugend ist mit dafür verantwortlich, der arbeitenden Jugend Sinn-und Orientierungshilfe in unserer arbeitsteiligen kapitalistischen Industriegesellschaft zu vermitteln. Die Jugendlichen brauchen eine Verhaltensorientierung vor allem gegenüber folgenden Problemen:

— Welche Ansprüche an Ausbildung, an Arbeitsbedingungen, Arbeitsinhalte und Arbeitssicherheit kann ich anmelden? Stehen mir überhaupt solche Ansprüche zu? Habe auch ich als Arbeitender Anspruch auf öffentliche Achtung meiner Arbeit? Wer hilft mir und meinen Kolleginnen und Kollegen, diese Achtung öffentlich durchzusetzen?

— Wovon hängt die Sicherheit meines Arbeitsplatzes ab und was kann ich individuell und kollektiv tun, um diese Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen?

— Wie sieht die Hierarchie in den Betrieben aus? Wo ist mein Arbeitsplatz zu verorten? Welche Pflichten habe ich am Arbeitsplatz und wie sehen meine individuellen und kollektiven Rechte aus, um meine Interessen am Arbeitsplatz wahrzunehmen?

— Zunehmende Technisierung, Entberuflichung und Streß sind einige Schlagworte, mit denen die aktuelle Entwicklung der Arbeitswelt charakterisiert wird. Muß ich all dies hinnehmen, gehorsam erleiden und ertragen — oder gibt es individuelle und kollektive Möglichkeiten, als abhängig Beschäftigter auf die Gestaltung der Entwicklung der Arbeitswelt Einfluß zu nehmen?

— Wie können die Arbeitenden durch selbst-gewählten Arbeitswechsel und durch Nutzung von Weiterbildungsmöglichkeiten ihren Berufsweg im Sinne ihrer Interessen und Bedürfnisse gestalten?

— Viele Angestellte und Beamte betreiben durch unangebrachte Perfektion eine zunehmende Bürokratisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche; damit verbunden ist eine wachsende Verunselbständigung des einzelnen. Wie kann für alle Arbeitenden individuell und kollektiv ihr Anspruch auf Selbstbestimmung ihres Lebens durchgesetzt werden? All diese Entwicklungen stehen in gegenseitiger Abhängigkeit mit dem fachlichen Können, dem beruflichen Charakter der Arbeit und der Ausbildung einer persönlichen Fähigkeit bei den Jugendlichen, in ihren eigenen Angelegenheiten aktiv werden zu können. Gewerkschaftliche Jugend-und Berufsbildungspolitik hat also in keinem Falle nur mit der bloßen fachlichen Ausbildung der Jugendlichen zu tun. Als Antwort auf die Probleme gewerkschaftlicher Jugend-und Berufsbildungspolitik fordert Ulrich Mignon (Vorstandsverwaltung der IG-Metall) eine gewerkschaftliche Bildungsoffensive:

„Eine Bildungsoffensive der Gewerkschaften kann nicht durch Beschluß von Gewerkschaftsvorständen ausgelöst werden. Sie ist keine Angelegenheit, die auf Konferenzen oder Klausurtagungen beschlossen wird. Voraussetzung einer neuen Bildungsoffensive ist es: aufzuklären und Problembewußtsein zu schaffen, die Frage der beruflichen Bildung in den gesamtgesellschaftlichen und gewerkschaftspolitischen Zusammenhang zu stellen, unsere Forderungen zu verknüpfen mit der Humanisierung der Arbeit, mit unseren Zielen in der Sozialpolitik, mit unserem Kampf um die paritätische Mitbestimmung im betrieblichen und überbetrieblichen Bereich, mit unseren Strategien zur materiellen Verbesserung der Situation aller Arbeitnehmer. Dafür müssen wir selbst die Voraussetzungen schaffen. Das bedeutet, nicht andere, sondern sich selbst zu fordern. Das bedeutet zähe Kleinarbeit jeder Kollegin und jedes Kollegen. Das bedeutet tagtägliches Ringen um Verbündete."

Ulrich Mignon hat die gewerkschaftliche Bildungspolitik in den Zusammenhang der allgemeinen gewerkschaftlichen Politik gestellt und die Überwindung der gewerkschaftlichen Ressortgrenzen gefordert, die auf den Vorstandsebenen als Mitbestimmungs-, Berufsbildungs-, Tarifpolitik-und Sozialpolitikabteilungen für all diese gewerkschaftlichen Teilpolitiken zuständig sind. Eine wichtige Frage an ein solches Konzept ist die, ob es — entsprechend den Kriterien der Kapitalrentabilität für die Unternehmer und ihre Verbände — für die gewerkschaftlichen Teilpolitiken einen gemeinsamen Nenner gibt, der eine inhaltliche Verknüpfung von gewerkschaftlicher Berufsbildungs-, Bildungs-, Jugend-, Arbeitsplatz-und Arbeitsmarktpolitik ermöglicht.

Unsere Antwort ist ein „Plädoyer für den Beruf".

IV. Plädoyer für den Beruf

Wir plädieren für die „Wiederentdeckung" des Berufs als dem interessenbezogenen Kriterium für das individuelle und kollektive Handeln der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften, das in allen angesprochenen Bereichen dem Rentabilitätsprinzip des Kapitals entgegengesetzt werden kann.

Wir tragen dieses Plädoyer in eine wissenschaftliche und politische Diskussion hinein, in der man sich mit einem solchen „Plädoyer für den Beruf" der nostalgischen Träumerei verdächtig macht. In dieser Diskussion gibt es eine breite Übereinstimmung darüber, daß die Entwicklung von Technik und Arbeitsorganisation „Beruf" im klassischen Sinn des Begriffs (das heißt der lebenslang ausgeübte Handwerksberuf) längst auf den oft beschworenen »Müllhaufen der Geschichte" geworfen hat. Unsere Zeit, in der Maschinen menschliche Arbeit ersetzen, scheint eher der Abwertung, aber nicht der Aufwertung menschlicher Arbeit das Wort zu reden.

Wer aber in unserer Kultur vom Beruf spricht, der spricht von der öffentlichen Anerkennung von Arbeit und von der Identifikation der Arbeitenden mit ihrer Arbeit. Es geht also nicht um die Konservierung klassischer Berufe oder gar der jetzigen Formen der Berufsausbildung, sondern um ein neues, anderes Verhältnis zur Arbeit, um eine andere Bewertung und damit um eine andere soziale Wertskala. „Beruf" kann dafür der Schlüsselbegriff sein.

Ein Plädoyer für den Beruf in einer Einheitsgewerkschaft, die gleichermaßen Arbeiter, Angestellte, Beamte, Gastarbeiter, Einheimische, Jugendliche, Erwachsene und Frauen vertritt, sieht sich aber der Frage konfrontiert, ob für all diese abhängig Arbeitenden der Beruf wirklich ein gemeinsames, interessenbezogenes Orientierungs-und Handlungskriterium sein kann.

Wenn wir dennoch ein „Plädoyer für den Beruf" in die gewerkschaftliche Diskussion einbringen, so gründet sich das vor allem auf folgende Tatbestände: Trotz aller negativen Entwicklungen in der Arbeitswelt, die zu der offenkundigen Zersetzung von Berufsstrukturen geführt haben, sprechen Arbeiter, Angestellte und Beamte weiterhin vom „Beruf". Noch immer identifizieren sie sich sozial mit ihrem erlernten oder ausgeübten Beruf. Mit ihrem Beruf begründen sie ihre materiellen Ansprüche, ihr Selbstbewußtsein und ihre betrieblichen Rechte.

Begriffe sind auch soziale Wirklichkeit, in ihnen wird sie gedacht und erlebt. Auch wenn die politischen und wissenschaftlichen Kunst-sprachen diese Wirklichkeit ignorieren und heute vorzugsweise von Qualifikation statt Beruf sprechen, so fragt sich, ob den Gewerkschaften als Verbänden der abhängig Beschäftigten Sprache und Selbstverständnis der Arbeitenden gleichgültig sein kann, werden doch aus diesem Selbstverständnis und mit dieser Sprache die Interessen formuliert, die die Gewerkschaften in Politik umsetzen.

Prüfen wir deshalb zunächst, was der umgangssprachliche Berufsbegriff an Inhalten benennt, die für eine gewerkschaftliche Bildungs-und Arbeitsmarktpolitik von Bedeutung sein könnten:

Der umgangssprachliche Berufsbegriff

Die Grundfrage ist, ob in den umgangssprachlichen Vorstellungen von Beruf Inhalte stekken, die unter den Bedingungen industrieller Arbeitsorganisation erhaltenswert sind oder die zurückgewonnen werden können und sollten.

Gibt es hier Inhalte, die für eine gewerkschaftliche Politik ein interessenbezogenes Orientierungs-und Handlungskriterium darstellen, das es mit der Qualität der Rentabilität des Kapitals der Unternehmer aufnehmen kann?

Die Zählebigkeit des umgangssprachlichen Berufsbegriffs hat sicher etwas mit seiner religiösen und handwerklichen Tradition zu tun. In der religiösen Tradition des Wortes Beruf steckt eine Antwort auf jene Frage, die sich irgendwann ein jeder einmal stellt und die für den einzelnen nicht wirklich beantwortbar ist: Warum muß gerade ich diese Arbeit tun, die ich tue? Mit der Berufung des Menschen in seinen jeweiligen Dienst in der Welt durch Gott war diese Frage für den einzelnen und die Gesellschaft beantwortet. Er hatte sich in die Arbeit zu fügen. Aus diesem Fügen entstand jene dauerhafte Identifikation mit der Arbeit, jenes disziplinierte Arbeitsverhalten, das für die Tradition der Berufsarbeit so typisch ist.

Nach wie vor hat diese Arbeitsauffassung für unsere Gesellschaft Gültigkeit, wenn auch so-genannteSachzwänge der „technisch-wissenschaftlichen“ Arbeitsorganisation die Rolle der religiösen Begründungen für Arbeitsteilung und Arbeitshierarchie übernommen haben. In diesen religiösen „Erinnerungen" steckt aber auch das Moment der Gleichbewertung, des gleichen Anspruchs aller an Sinnerfüllung durch die Arbeit und in der Arbeit.

Mit seiner Berufsbezeichnung teilt man nicht nur mit, was man ungefähr arbeitet, sondern man gibt auch Auskunft über sein soziales Ich, über die ungefähre Höhe des Einkommens, die Berufsentwicklung, die soziale Anerkennung der Arbeit, den Handlungsspielraum in der Arbeit, die Arbeitsplatzsicherheit und die Arbeitsbelastung. Aber nicht nur über die Umstände der eigenen Arbeit gibt die Berufsbezeichnung Auskunft, sondern auch, wie die Freizeit verbracht wird, welche Schule die Kinder besuchen, wo man wohnt und mit wem man verkehrt.

Im Berufsbegriff der Umgangssprache sind also viele subjektive und emotionale Elemente enthalten, wie zum Beispiel Berufsstolz, Berufszufriedenheit und allgemein die Genugtuung, eine Arbeit zu tun, in der man seine persönliche Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen kann und die öffentlich anerkannt ist. Wenn wir den Psychologen und Arbeitsmedizinern glauben dürfen, hat Arbeitszufriedenheit und ganz besonders Arbeitsleid unmittelbare gesundheitliche Folgen. Wir wissen, daß Arbeit krank machen kann, wir wissen aber auch, daß viele Menschen in der Arbeit Lebens-und Schaffensfreude erfahren. Ohne es statistisch nachweisen zu können, glauben wir, daß man davon ausgehen kann, daß die Chance derjenigen größer ist, so etwas wie Arbeitszufriedenheit zu erleben, die ihre Arbeit noch als Beruf verstehen können.

Man kann gegen diese Ansichten über die Bedeutung des Berufs einwenden, dies sei im Bewußtsein der Arbeitenden allenfalls nur noch eine historische Erinnerung, ja bestenfalls ein kritischer Anspruch an ihre Arbeit, der mit ihren realen Arbeitsbedingungen kaum noch etwas zu tun hat. Wir können uns aber alle auch fragen, ob diese Erinnerung an sinnvolle, sozial anerkannte Berufsarbeit nicht auch eine Möglichkeit bietet für die praktische Berufs-politik, die ja nur eine Politik mit den Betroffenen und der Betroffenen sein kann! Wir müssen also die Fragen beantworten, ob wir diese menschlichen Aspekte der Berufsarbeit für richtig und tendenziell erreichbar halten. Unser „Plädoyer für den Beruf" gründet auf der gewerkschaftspolitischen Bejahung beider Fragen.

Die überkommenen Berufsbezeichnungen haben auf dem Arbeitsmarkt für Arbeitsplatzanbieter und Arbeitsplatznachfrager gleichermaßen eine Steuerungsfunktion. Dies gilt auch für unser Berufsausbildungssystem. Die „anerkannten Lehrberufe" steuern hier die Nachfrage der Jugendlichen nach Lehrstellen. Bei dieser Lehrstellenwahl sind die subjektiven und emotionalen Ansprüche des einzelnen Jugendlichen an seinen Wunschberuf wichtig. Hierbei dürfte das öffentlich anerkannte Bild dieses Berufes eine größere Rolle spielen als die Arbeitswirklichkeit.

Beruf hat in der Umgangssprache aber nicht nur die Bedeutung von Identifikation mit der Arbeit, sondern Beruf war von jeher auch ein Abgrenzungsbegriff. Neben dem Wort „Berufsstolz" kennt unsere Sprache auch den Berufsdünkel. Berufsgruppen wie die Drucker, Maurer, Schmiede und Holzarbeiter gehören zu den Pionieren der deutschen Gewerkschaftsbewegung, aber es soll doch nicht vergessen werden, daß das Wort . Arbeiter" im vorigen Jahrhundert unter den Arbeitenden ein Schimpfwort für Tagelöhner und ungelernte Fabrikarbeiter war. Auch diese Tradition des Berufsbegriffs ist noch immer lebendig; hier genügt es, an das Gastarbeiterproblem zu erinnern.

Die über die Berufe vermittelte Wertungshierarchie von Arbeit auch und gerade durch die Arbeitenden war schon immer ein Problem für gewerkschaftliche Politik; die Berufung von Gruppen von Lohnabhängigen auf ihren Beruf hatte deshalb in den deutschen Gewerkschaften den Geruch von egoistischen Gruppeninteressen. Berufspolitik wurde mit Standespolitik gleichgesetzt. Gerade diese Tradition des Berufsbegriffs in der Umgangssprache war und ist eine ernsthafte Herausforderung besonders für die Politik einer Einheitsgewerkschaft. Wer eine gewerkschaftliche Berufspolitik fordert, kann nicht nachdrücklich genug darauf bestehen, daß sie damit beginnt, daß sie jegliche Diskriminierung und Verächtlichmachung von Arbeitenden unmißverständlich öffentlich bekämpft und gerade in den eigenen Reihen das Bewußtsein von der Solidargemeinschaft der Arbeitenden propagiert. Dies gilt aber nur dann, wenn auch die real bestehenden Unterschiede unter den Arbeitenden benannt und diskutiert und genau diese Unterschiede zum Gegenstand gewerkschaftlicher Politik gemacht werden. Das Plädoyerfür den Berufist gewerkschaftlich nur vertretbar als Plädoyer für alle, als Forderung nach Berufsausbildung und Berufsarbeit für alle.

Sieht man von der Abgrenzungsdimension des Berufsbegriffs in der Umgangssprache einmal ab, so drückt das Berufsverständnis der Arbeit in der Umgangssprache immer noch die Ansprüche der Lohnabhängigen auf das aus, was die Facharbeiter gerne „gute Arbeit" nennen, und das bedeutet annehmbare Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherheit, Autonomie in der Arbeit und auch die soziale Achtung ihrer Person und ihrer Arbeit.

All dies sind wichtige Vorgaben für eine gewerkschaftliche Arbeitsmarkt-und Bildungspolitik.

Beruf und Arbeitsmarkt

An dieser Stelle soll noch einmal auf die Bedeutung des Berufs für die Steuerung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt eingegangen werden. Bei der Berufswahlentscheidung der Jugendlichen haben die vorgefundenen Berufe eine steuernde Funktion. Diese Berufe sind aber nicht nur für die Nachwuchsrekrutierung des Berufsbildungssystems wichtig, sondern sie bilden auch die Grundlage für die unternehmerische Analyse von Arbeitsanforderungen und für die Arbeitsplatzpolitik. Berufe gehören immer noch zu den „Bausteinen" der arbeitsteiligen betrieblichen Arbeitsorganisation.

Die betrieblichen und staatlichen Personalplaner fragen also am Arbeitsmarkt bestimmte Berufe nach. Sie verlassen sich darauf, daß diese Berufsangehörigen bestimmte Kenntnisse und fachliche Fertigkeiten mitbringen, die es ihnen erlauben, die geforderte Arbeit zu bewältigen. Die fachlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten, die der Arbeitende mit dem Erlernen seines Berufes erworben hat, sind die Grundlage für seine Ansprüche auf die Höhe seiner Entlohnung, seiner Arbeitsbedingungen und seines Anspruchs auf Respektierung seiner Person durch Vorgesetzte und Kollegen.

Dieser durch Berufe strukturierte Arbeitsmarkt verschafft den Arbeitskraftanbietern eine wichtige Marktmacht in Form ihrer beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Lohnabhängigen sind deshalb nicht nur auf das Arbeitsplatzangebot der Unternehmer angewiesen, sondern diese sind in der betrieblichen Arbeitsorganisation auch auf das Können und die Fertigkeiten derjenigen angewiesen, die mit ihrer Arbeit diese Arbeitsorgani9 sation erst „zum Leben" erwecken. Das Berufs-prinzip erinnert die unternehmerischen beziehungsweise staatlichen . Arbeitskraftverwerter'daran, daß das Funktionieren „der Wirtschaft" und „des Staates" Ergebnis menschlicher Arbeit in mannigfacher Form ist.

Qualifikation statt Beruf — eine verhängnisvolle Alternative

Die betriebliche Arbeitskräftepolitik, besonders in der Großindustrie, reagiert auf das Berufsverständnis der Arbeitenden auf zweierlei Weise:

1. Arbeitsidentifikation und Arbeitsdisziplin werden benutzt, um Stammbelegschaften aufzubauen und über die Befriedigung materieller Bedürfnisse und die Garantie einer relativen Arbeitsplatzsicherheit diese Stammbelegschaften an das eigene Unternehmen zu binden.

2. Dem Anspruch der Arbeitenden auf Mitbestimmung in der Arbeitsorganisation, auf Autonomie in der Arbeit und Selbstbestimmung über den Arbeitsvollzug wird mittels betrieblicher Rationalisierungspolitik entgegengetreten, die diesen Anspruch praktisch unterhöhlt. Das Erfordernis der Rentabilität des Kapitals zwingt die Unternehmer beziehungsweise das Management dazu, den Versuch zu unternehmen, sich in der Arbeitsorganisation von den Fähigkeiten und Kenntnissen der Arbeitenden unabhängig zu machen und sie ebenso disponibel wie die von ihnen gekauften Maschinen einsetzen zu können.

Dieser Trend unternehmerischer Personalpolitik wurde in den letzten Jahren immer bewußter unterstützt von einer staatlichen Bildungspolitik, die den . Output'des Bildungssystems möglichst mit der Nachfrage des Beschäftigungssystems synchron schalten wollte. Unternehmerische Nachwuchsrekrutierung, d. h. Lehrstellenangebote, und staatliche Bildungspolitik stützten sich dabei zunehmend auf die Ergebnisse ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Qualifikationsforschung. Qualifikation ist scheinbar ein Begriff, mit dem die Wissenschaftler endlich die Unschärfen des überkommenen Berufsbegriffs zu überwinden glaubten. Erst dieser Begriff schien eine exakte Messung der Qualifikationsanforderungen der Arbeitsorganisation zu ermöglichen. Erst jetzt schienen die Veränderungen der Anforderungen der Produktionsorganisation an die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Arbeitenden exakt meßbar zu sein. Somit wurden Daten verfügbar, aus denen man dann die Anforderungsprofile abzuleiten glaubte, an die das Bildungssystem und speziell die Berufsbildung sich anzupassen hätten.

Die prognostischen Versprechungen für die nachfrageorientierte Bildungspolitik hat die Qualifikationsforschung bis auf den heutigen Tag nicht einzulösen vermocht. Dieses Urteil gilt nicht nur für kapitalistische Gesellschaften, in denen der Arbeitskräftebedarf Ergebnis einzelbetrieblicher Entscheidungen ist, die wiederum abhängig sind vom Konjunkturverlauf der Wirtschaftsentwicklung, das heißt also eine Prognostizierbarkeit des Arbeitskräftebedarfs über Jahre hinweg strukturell fast unmöglich machen. Auch in den Gesellschaften des „realen Sozialismus", in denen die Arbeitskräfte über Jahre hinweg verplant werden, erweist es sich als unmöglich, den . Output'des Bildungssystems deckungsgleich mit der Nachfrage des Beschäftigungssystems zu planen.

Folgenschwerer als das prognostische Versprechen der Qualifikationsforschung ist für die gewerkschaftliche Arbeitsmarkt-und Bildungspolitik die Zielsetzung dieser Qualifikationspolitik selbst. Dies wird bereits deutlich, wenn wir uns dem Inhalt des Qualifikationsbegriffs zuwenden:

„Qualifikation“ ist Bestandteil der wissenschaftlichen und politischen Kunstsprache. „Qualifikation“ ist frei von jeglicher umgangssprachlichen Nebenbedeutung. Der Kreis der Verwender des Qualifikationsbegriffs ist beschränkt auf die Bildungsökonomen, Soziologen, die verschiedenen Bildungsplaner und -verwalten, die Arbeitsmarktverwalter und die Personalplaner. Den Gewerkschaftsmitgliedern muß dieser Begriff erst einmal „übersetzt werden", bevor eine Expertendiskussion für sie überhaupt etwas bedeuten kann. Qualifikation gehört zu den Begriffen, die „systemneutral" sind. In Ost und West bezeichnet Qualifikation gleichermaßen Befähigung, Eignung, Ausbildung; qualifizieren heißt jemanden befähigen, ausbilden, weiterbilden, seine Befähigung erhöhen, seine berufliche Leistungsfähigkeit steigern usw. Das alles sind Beschreibungen dessen, was einer zu tun hat oder was mit ihm getan werden soll.

Der Qualitätsunterschied dieses Begriffs zum Berufsbegriff ist der, daß im Berufsbegriff der einzelne zur Gesellschaft in Beziehung gesetzt wird, und zwar in einer Art und Weise, die mit seinem eigenen Leben zu tun hat, mit seiner Person, und die über bestimmte Lebensbedingungen Auskunft gibt. Dieser Sachverhalt wird beim Qualifikationsbegriff ausgeblendet. In der Qualifikationsdebatte interessieren Menschen nur insoweit, wie sie als Träger von Qualifikationsbündeln für die Erfüllung einer bestimmten Arbeitsfunktion erforderlich sind. Die „Träger von Qualifikationsbündeln“, die qualifiziert sind, bestimmte Arbeitsfunktionen auszufüllen, sollen nach dem Willen der „Profilfestleger" auch auf die Definition der Qualifikationsprofile und die Festlegung der Arbeitsfunktionen in der Arbeitsorganisation keinen Einfluß haben. Ihre menschlichen Ansprüche sind eher „disfunktional", da das Funktionieren der geplanten Arbeitsfunktionen voraussetzt, daß Mensch und Maschine beziehungsweise Arbeitsanforderungen und Arbeitsvermögen wie geplant reibungslos funktionieren.

Die technokratische Verwendung des Qualifikationsbegriffs erweist sich auch darin, daß die Qualifikationsexperten sicher sein können, daß nur „qualifizierte Minderheiten" ihren Debatten folgen können und somit die Mehrheit der Arbeitenden nicht erfährt, wie, von wem und warum ihre Arbeits-und Lebensbedingungen und die Bildungswege ihrer Kinder verplant und kanalisiert werden.

Qualifikation ist ein Planungs-und Herrschaftsbegriff. Er begründet bereits, daß die Mehrheit in ihrer Arbeit sich nach dem von der Minderheit gesteuerten technischen Produktionsapparat und der von ihr ausgeformten Arbeitsteilung zu richten hat und daß die menschliche Arbeit, die all dies geschaffen hat, sich auch in Zukunft nach den Bedürfnissen der angeblich wertneutralen, zwangsweise „fortschreitenden“ Technologie zu richten habe und nicht umgekehrt.

Qualifikationsplanung schließt bereits begrifflich eine aktive Mitbestimmung oder gar Mitwirkung der Betroffenen an der Gestaltung ihrer Lern-und Arbeitswelt aus. Qualifikationsplanung zementiert die Unterschiede zwischen den „Wissenden“ und „Unwissenden". Bislang haben die gewerkschaftlichen Arbeitsmarkt-und Bildungspolitiker allzu leichtfertig die Qualifikationsdiskussion und -politik mitgemacht, ohne recht die Konsequenzen dieser Politik gerade auch für die Gewerkschaften als Organisation zu diskutieren.

V. Beruf und Gewerkschaft

Welche Bedeutung hat nun der Beruf für Organisation und Politik der Gewerkschaften?

Nach allem, was wir wissen, sind die Gewerkschaften in Deutschland von Facharbeitern gegründet worden. Bis zum heutigen Tag rekrutieren sich die ehrenamtlichen Gewerkschaftsaktivisten im Betrieb, die Vertrauensleute und Betriebsräte, vorzugsweise aus den Facharbeitern und qualifizierten Angestellten. Allein dieser Tatbestand verweist nachdrücklich auf den Zusammenhang von fachlicher Kompetenz des Berufs und dem Selbstbewußtsein des einzelnen Lohnabhängigen, sich als Gewerkschafter aktiv um die Vertretung seiner und seiner Kollegen Interessen zu kümmern. Im Zusammenhang mit der Einrichtung einer Abteilung „Berufliche Bildung" beim Bundesvorstand des DGB (Britische Zone) ist die Bedeutung des Berufs für die Gewerkschaftspolitik auch bewußt so formuliert worden. Im 1949 vorgelegten Geschäftsbericht des DGB (Britische Zone) heißt es:

Den Gewerkschaften steht die Lösung großer und wichtiger Aufgaben bevor. In der Erledigung dieser Aufgaben dürfen keine Rangordnungen aufkommen... Eine gute Berufsausbildung ist die Grundlage auch für die Ausübung der wirtschaftlichen Mitbestimmung und zugleich für den sozialen Wohlstand für den Arbeitnehmer. Nur der Tüchtige, Berufs-, Fach-und Branchenkundige und dazu gewerkschaftlich geschulte Arbeitnehmer ist in der-Lage, betriebs-und volkswirtschaftliche Zusammenhänge zu übersehen und an verantwortlicher Stelle Entscheidungen von Bedeutung zu treffen. Nur der beruflich gut ausgebildete Arbeitnehmer mit guten fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten hat die Möglichkeit, dem wirtschaftlichen Druck der Unternehmer standzuhalten und für die Realisierung gewerkschaftlicher Tarifforderungen rückhaltslos einzutreten. In diesem Sinne ist Berufspolitik auch zugleich Gewerkschaftspolitik im besten Sinne des Wortes. Im Rahmen der gewerkschaftlichen Bildungsaufgabe nimmt darum die Berufsausbildung einen bedeutenden Raum ein."

Beruf hat auch heute für die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit am Arbeitsmarkt eine große inhaltliche Bedeutung: Beruf, das ist das „Pfund, mit dem Gewerkschaftspolitik wuchern kann". Das fachlich begründete und materiell einlösbare berufliche Selbstverständnis der Arbeitenden ist die Grundlage für Ansprüche und entsprechende gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten.

Um einige Momente des beruflichen Selbstverständnisses anzudeuten, muß zunächst auf die Berufbezogenheit der Bildung und Ausbildung als zentraler Voraussetzung für die Entfaltung dieses beruflichen Selbstverständnisses verwiesen werden. Die Berufsbezogenheit der Bildung und Ausbildung erlaubt die Entwicklung an Lebens-und Berufsperspektiven und vermittelt Kriterien, die die Entscheidung über den Berufseintritt und folgende Berufs-veränderungen sowie deren nachträgliche kritische Überprüfung und Änderung oder die Wiederentwicklung von Fähigkeiten und Kenntnissen steuern. Als typisches, eben nicht beliebiges Bündel von Fähigkeiten und arbeitsinhaltlichen Erfahrungen schränkt die berufliche Qualifikation die beliebige Austauschbarkeit des Arbeitenden ein, schafft sie die Basis für Bedürfnisse und Ansprüche und damit die Voraussetzung für die Bildung von Gewerkschaften und Berufsverbänden. Die Selektionsmechanismen des Systems der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, vor allem der vertikalen Arbeitsteilung, werden um so nachdrücklicher greifen, je weniger die in das Arbeitsleben Eintretenden berufliche Qualifikationen anzubieten haben und berufliche Ansprüche stellen können.

Das Selbstverständnis der Arbeitenden über zumutbare und unzumutbare Arbeit, über ihre Ansprüche an die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung für die Arbeit wird also ganz wesentlich durch die Form der Berufsausbildung überliefert und begründet. Diese Ansprüche sind Voraussetzung der gewerkschaftlichen Verbandsbildung und der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, sie machen beides überhaupt erst möglich. Die mit der Qualifikationspolitik betriebene Politik der Entberuflichung richtet sich genau gegen diese individuellen und kollektiven Widerstände der abhängig Beschäftigten gegen die flexible Personalplanung auf den unteren Etagen des Beschäftigungssystems. Auf diesem Hintergrund wird auch die Berufsbildungspolitik in ihrer Bedeutung für die Gewerkschaften überhaupt erst richtig deutlich.

Seit einem Jahrzehnt wird nun von einer Reihe von Qualifikationsforschern und Bildungspolitikern die Forderung erhoben, den Grad an „Beruflichkeit" der Erstausbildung im dualen System zugunsten generellerer Bildungsinhalte zu reduzieren, um auf diese Weise den Jugendlichen ein möglichst breites Einsatzfeld offenzuhalten. Angesichts der Unvorhersehbarkeit der Entwicklung der Berufs-strukturen und der zukünftigen Arbeitsanforderungen und angesichts des hohen Risikos von Deckungsungleichheit zwischen Bildungssystem und Beschäftigungsstruktur sei erhöhte Flexibilität der ins Erwerbsleben eintretenden Arbeitskräfte die einzige vernünftige bildungspolitische Strategie.

Dieser — auf den ersten Blick sehr einleuchtenden — These ist zu widersprechen. Ihr gegenüber ist festzustellen, — daß die unzureichende „Beruflichkeit" in der Ausbildung des Arbeitskräftenachwuchses, das heißt die unzureichende Beherrschung der zentralen praktischen Aufgaben eines Berufsfeldes, die Betriebe zusätzlich zu ihren eigenen Strategien in dieser Richtung zu einer Veränderung ihrer Arbeitsorganisation in Richtung auf vertiefte Arbeitsteilung, verstärkte Aufgabenzersplitterung und verschärfte hierarchische und/oder funktionale Überwachung des Arbeitsvollzugs zwingt: — daß infolgedessen ein nicht zu hoch zu veranschlagendes Maß an berufspraktischen Fertigkeiten bei allen am Arbeitsmarkt verfügbaren Arbeitskräften notwendig ist, damit die Betriebe — freiwillig oder unter dem Druck der gewerkschaftlichen Politik — Formen der Arbeitsorganisation aufrechterhalten oder neu schaffen, die für die Arbeitenden ausreichende Chancen für eine menschenwürdige Arbeit und für Lernen in der Arbeit und damit für die Erhaltung und Erweiterung der beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten im Arbeitsalltag eröffnet;

— daß deshalb eine berufspraktische Ausbildung in — allerdings im Gegensatz zu den meisten heutigen Lehrberufen — ausreichend breit angelegten Berufen (Grundberufen) eine sehr viel höhere Anpassungsfähigkeit der Beschäftigten an den wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandel sichert als eine Entberuflichungsstrategie, bei der ein Wechsel von Arbeitsplatz und Betrieb nur mit einem mehr oder minder vollständigen Verlust der bisher erworbenen betriebsspezifischen Qualifikationen möglich ist.

Würde sich also im Bildungssystem die Flexibilität auf Kosten der Beruflichkeit durchsetzen, so würde dies über kurz oder lang zu einer noch stärkeren Verbreitung von Formen der Arbeitsorganisation führen, die ihrerseits Lernen in der Arbeit allenfalls in stark betriebs-spezifischer Form zu lassen, ansonsten jedoch eine starke Vermehrung der Jedermann-Arbeitsplätze ohne spezifische fachliche Anforderungen fördern und damit Mobilität nur noch auf niedrigster Qualifikationsebene zulassen. Besonders in Zeiten tendenzieller Arbeitslosigkeit und labiler Arbeitsmarktlagen ist die berufliche Strukturierung des Arbeitsmarktes das eigentliche Handlungspotential der Gewerkschaften. Ist diese berufliche Strukturierung des Arbeitsmarktes einmal vernichtet oder weitgehend eingeschränkt dann ist eine Situation vorstellbar, in der ein Millionenheer von Arbeitslosen (anders als heute, wo die Arbeitslosen aufgrund der beruflichen Struktur der Arbeitsplätze nur beschränkt als „industrielle Reservearmee" fungieren können) voll als Druckmittel auf die Arbeitenden eingesetzt werden kann. Wo bleibt in einer solchen Situation die gewerkschaftliche Macht? Wie können Gewerkschaften in einer solchen Situation noch streiken, wenn alle Streikenden im Handumdrehen ersetzt werden können?

Die Macht der Gewerkschaften lag und liegt nicht nur in der Verweigerung der Arbeitskraft, sondern auch in der Verweigerung der beruflichen, nicht einfach austauschbaren Arbeitskraft. Wer deshalb den Gewerkschaften, unter welchem Etikett auch immer, eine Politik der Entberuflichung oder des Hinnehmens einer solchen Politik einreden will, empfiehlt ihnen das aufzugeben, was ihre wirkliche Stärke ist. Es ist fast eine Ironie der Geschichte, daß heute die Gewerkschaften aufgerufen sind, das von den Unternehmern einst zu ihrem Nutzen installierte hochgradig organisierte und verrechtlichte System beruflicher Ausbildung und beruflicher Arbeit in seinen qualitativ entscheidenden Strukturmerkmalen und Qualitätsnormen zu verteidigen, wo die Unternehmer in breiter Front beginnen, diese Normen und Strukturen als Fessel ihrer Arbeitskräftepolitik zu begreifen und auszuhöhlen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Manfred Wilke, Dr. rer. pol., geb. 1941, Lehre und Arbeit als Einzelhandelskaufmann, Studium an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (Sozialwirt grad.), Weiterstudium an der Hamburger Universität, WissenschaftlicherAssistent an der TU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Kritik des Berufsbildungsgesetzes, Bochum und Bonn 1970. Berufsausbildung — Reformpolitik in der Sackgasse? (R. Crusius, W. Lem-pert, M. Wilke — Hg.), Reinbek 1974; Reinbek 1975; Ernstfall Lehre (R. Crusius, M. Wilke u. a.), Weinheim 1975; Lehrlingshandbuch (R. Crusius u. a.), Reinbek 1977; Betriebsräte in der Weimarer Republik, 2 Bde. (R. Crusius, G. Schiefelbein, M. Wilke), Berlin 1978; Die Funktionäre (M. Wilke), München 1979. Zahlreiche Aufsätze und Rundfunkbeiträge.