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Neo-Nationalismus in Großbritannien Erklärungsansätze und Ursachenanalyse | APuZ 12/1980 | bpb.de

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APuZ 12/1980 Artikel 1 Frankreich — „Vielvölkerstaat" vor dem Zerfall? Neo-Nationalismus in Großbritannien Erklärungsansätze und Ursachenanalyse Regionalismen in Spanien

Neo-Nationalismus in Großbritannien Erklärungsansätze und Ursachenanalyse

Rainer-Olaf Schultze

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Zusammenfassung

In den Referenden vom 1. März 1979 scheiterte mit der Devolution-Gesetzgebung die institutionelle Reform der britischen Politik, in der insbesondere die Labour-Regierungen Wilson und Callaghan ihren Antwortversuch auf die regionalistische Herausforderung Großbritanniens durch den wiedererwachten schottischen wie walisischen Nationalismus gesehen hatten. Bei der Unterhauswahl vom 3. Mai 1979 mußten die nationalistischen Parteien beträchtliche Stimmen-und Mandatseinbußen hinnehmen — und zugleich vollzog sich der Regierungswechsel vom Labour-Minderheitskabinett zur Tory-Mehrheitsregierung. Durch Referenden und Unterhauswahl verlor das Regionalismusproblem an tagespolitischer Aktualität, durch den politischen Machtwechsel schienen zudem die zuvor von allen Seiten geäußerten Befürchtungen vor langfristigen Funktionsstörungen der britischen Politik und die Angst vor der Unregierbarkeit des Landes widerlegt. Beide Ereignisse bedeuten indessen nur eine zeitweilige und vordergründig-aktuelle Rückkehr zur Normalität der — von Zentralismus und Zweiparteiensystem maßgeblich bestimmten — politischen Kultur Großbritanniens. Der vorliegende Beitrag versucht dies im einzelnen zu begründen, indem er einige der gesellschaftsstrukturellen Bedingungen erörtert, die die Multinationalität Großbritanniens ausmachen und — in Auseinandersetzung mit den vier wichtigsten Antwortversuchen — einige der strukturellen Gründe darlegt, die in den sechziger Jahren die „Renaissance" des politischen Nationalismus in Schottland und Wales gestatteten. Es geht folglich weniger um eine historisch-chronologische Deskription der nationalistischen Bewegungen. Dargestellt werden vielmehr die langfristig wirksamen Strukturen und die zugrunde liegenden „gesellschaftsgeschichtlichen" Bedingungen, zu denen die historische Sonderrolle Großbritanniens als Vorreiter in den Prozessen der Industrialisierung und der kolonialen Expansion ebenso zu zählen ist wie eine Reihe wichtiger Strukturveränderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Erst durch sie konnte der auch in der Vergangenheit stets latent Vorhandene Nationalismus Ende der sechziger Jahre aktualisiert werden und zu einer ernst zu nehmenden Kraft aufsteigen.

I. Einleitung

Großbritannien ist eine multinationale Gesellschaft -Diese Vorstellung ist uns nicht sonderlich vertraut. Im Gegenteil: Das Land galt in der Vergangenheit als eine der wenigen Gesellschaften ohne regionale Sonderentwicklungen, ohne ethnisch-kulturelle Fragmentierungen oder Konflikte Man unterstellte nationale Homogenität, ging aus von der weitgehenden Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit sozialer Probleme in den verschiedenen Landesteilen der Insel und ordnete bis in die jüngste Zeit hinein die Vielfalt der sozio-kulturellen Konflikte zumeist der vermeintlich eindeutigen Polarisierung der britischen Gesellschaft entlang dem , Klassen-Cleavage'(-Gegensatz) zu bzw. unter.

Die Existenz englischer, schottischer, walisischer, irischer Identitäten ließ sich jedoch nicht länger leugnen, seit im Laufe der 60er Jahre einerseits die Integrationskraft der über das koloniale Weltreich vermittelten britischen Identität stark nachließ, andererseits die innerbritischen Unterschiede, die ungleichen Entwicklungsbedingungen in den drei Landesteilen, die asymmetrische Machtverteilung etc. zunehmend stärker ins Bewußtsein der Öffentlichkeit traten. Mit dem neuerlichen Aufkommen der Nationalismen in Großbritannien, mit dem Wiedereintritt dieser Nationalismen in die britische Politik (u. a. Bürgerkrieg in Nordirland, Wahlerfolge der schottischen und walisischen nationalisti-sehen Parteien) setzte zugleich in der Geschichtsbetrachtung eine Umorientierung ein, indem man sich mit der britischen Geschichte nicht mehr einseitig aus der Sicht des britisch-englischen Zentrums beschäftigte; statt dessen begann man, die sozio-historische Entwicklung Großbritanniens und seiner drei Landesteile aus dem Blickwinkel der Peripherie heraus zu untersuchen

Im Mittelpunkt der Analysen stand dabei immer auch die Frage, warum der zuvor lange Zeit nur latent vorhandene schottische und walisische Nationalismus gerade in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu einem drängenden Problem der britischen Gesellschaft, ja zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft wurde.

In der Auseinandersetzung mit den vier wichtigsten Antwortversuchen, die je unterschiedliche Aspekte besonders betonen, von unterschiedlicher Erklärungskraft sind und die für sich allein genommen leicht in die Irre führen können, will der nachfolgende Beitrag die wesentlichsten strukturellen Gründe darlegen, die in den 60er Jahren die „Renaissance" des politischen Nationalismus in Schottland und in Wales ermöglichten. Es geht folglich weniger um eine historisch-chronologische Deskription der nationalistischen Bewegungen in Großbritannien seit den 60er Jahren; das Ziel des Beitrages liegt vielmehr in der Darstellung langfristig wirksamer Strukturen und zugleich in der Erörterung, welche der Ursachen spezifisch britischer Natur und welche das Ergebnis allgemeinerer Wandlungstendenzen in industriell-kapitalistischen Gesellschaften sind.

II. Erklärungsansätze des Regionalismus

Regionalismus als Protestbewegung Der konventionellste Versuch einer Antwort liegt in der Interpretation der nationalistischen Strömungen als Protestbewegungen, der Wahlerfolge der nationalistischen Parteien, der Scottish National Party (SNP) und von Plaid Cymru als Protestwahl In dieser Einschätzung werden zwei Phänomene sicherlich zutreffend erfaßt: Zum ersten liegt in der Perspektive des Protestes der Vertrauensverlust, den Konservative und Labour seit 1964 haben hinnehmen müssen. Er geht einher mit einer beträchtlichen Wahlenthaltung und steigenden Stimmen-und Mandatszahlen der kleineren Parteien. Die Legitimationskraft des Zweiparteiensystems und des britischen Modells parlamentarisch-alternierender Regierungsweise schwindet selbst in Großbritannien zunehmend dahin. An diesem langfristigen Entwicklungstrend ändern auch das Scheitern der Devolution-Referenda, die Stimmenverluste der nationalistischen Parteien, der Regierungswechsel von der Labour Party zu den Tories nach der Unterhauswahl vom Mai 1979 nichts. In der nur vordergründigen Rückkehr zur Normalität der politischen Kultur im Jahre 1979 äußert sich vielmehr das Spezifikum der britischen Gegenwartspolitik, die geringe Problemlösungskapazität eines zur Selbstblockade tendierenden politischen Systems bei gleichzeitigem hohen Maß an Bestandsfähigkeit Zum zweiten werden durch eine solche Interpretation die Leistungsdefizite von Regierungen und Parteien sichtbar. Der britische Wähler ist mit den angebotenen Problemlösungen von Labour-(1964— 1970 und 1974— 1979) und Tory-Regierungen (1970— 1974 und seit Mai 1979) nicht mehr zufrieden.

Der Erklärungswert dieses Ansatzes ist dennoch nur gering. Die Kurzformel vom Protest-verhalten verschleiert zudem mehr als sie erhellt Sie stellt die Wahl von Alternativen zum Status quo, die Entscheidung zugunsten von nicht-etablierten Parteien mit Forderungen nach unkonventionellen politischen Lösungen, nach grundlegenden Reformen im politisch-institutionellen Gefüge etc. von vornherein als negativ hin. Die jeweils bestehenden Strukturen: die Tradition der absoluten Parlamentssouveränität, der zentralistische Staatsaufbau, das Zweiparteiensystem werden zum Maßstab einer Pro oder Contra-Entscheidüng gemacht. Des weiteren bleibt unklar, wogegen sich der Protest im einzelnen richtet. Die These vom Protest basiert schließlich auf der zunehmend strittigeren Annahme, daß in der Wählerschaft feste Loyalitäten zugunsten von Konservativen und Labour bestehen, die als langfristig stabil angesehen werden. Ein Votum für die SNP bedeutet in dieser Sicht folglich eine nur zeitweilige Abweichung des Wählers von seiner eigentlichen Parteiidentifikation. Die Protesthypothese interpretiert damit eine solche Wahlentscheidung nicht nur negativ, sondern sie schließt zugleich die Möglichkeit aus, daß sich in dem abweichenden Verhalten langfristig wirksame, neue politische Einstellungsmuster und Parteipräferenzen zeigen könnten, die vom soziopolitischen Wandel oder neuen Wertvorstellungen in der Wählerschaft ausgelöst worden sind.

Regionalismus als Folge relativer Ungleichheit Die These von der „relativen Deprivation" als auslösendem Element für regionalistische Bewegungen beruht auf zwei Ausgangsüberlegungen: Sie besagt zum einen, daß es nicht die unterprivilegierten Schichten einer Gesellschaft sind, von denen in aller Regel kämpferische Forderungen nach sozialer Veränderung erwartet werden können, sondern daß hierzu ein gewisses, wenn auch relativ ungleiches Maß an individuellem Wohlstand wie an politischem Bewußtsein vorhanden sein muß, kurz: daß also nicht die absolut ärmsten, sondern die relativ benachteiligsten Menschen am ehesten politisch aufbegehren.

Die zweite Annahme ist, daß es weniger auf die objektiven Verhältnisse von Ausbeutung, Unterprivilegierung, sozio-ökonomischer Benachteiligung als vielmehr auf die individuelle Betroffenheit wie Überzeugung von der eigenen Benachteiligung ankommt. Zu den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen der relativen Deprivation muß das subjektive Bewußtsein von der individuellen Benachteiligung hinzutreten. Die Art und Weise, wie die Benachteiligung empfunden wird, wie und in welchem Umfang die tatsächlichen Bedingungen von den individuellen Erwartungen abweichen, sind in diesem Erklärungsversuch die maßgeblichen Faktoren, die politische Aktion auslösen. Die subjektive Betroffenheit von der relativen Benachteiligung bleibt folglich diffus; sie kann ökonomisch, politisch, kulturell akzentuiert, aber auch individuell psychologisch begründet sein. Hierin liegt denn auch die besondere Schwäche dieses Ansatzes; er beschreibt verschiedene Ebenen und subjektive Ursachen von Unzufriedenheit, ohne die wechselseitigen Bezüge einwandfrei benennen zu können.

So gut wie alle ökonomischen Daten, die man heranziehen kann, zeigen für die 50er und frühen 60er Jahre für Wales wie für Schottland eine ausgeprägte relative Deprivation an: Während im Südosten Englands, im Einzugs-gebiet von London, die Wirtschaft expandierte, entwickelten sich die Peripherien, neben Nordirland vor allem der Norden Englands sowie Wales und zu den ökonomischen In Krisenzentren. Schottland stagnierte die Wirtschaft, fehlte es an Neuinvestitionen, in den vor allem Wachstumsbranchen, schrumpften die traditionellen Schwerindustrien, insbesondere der Schiffsbau. Die schottischen Löhne und individuellen Einkommen lagen rund 10 Prozent unter dem britischen Durchschnitt; die Arbeitslosigkeit hingegen war stets doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt, dreimal so hoch wie im Südosten. Zwischen 1960 und 1968 z. B. verließen im Durchschnitt jährlich fast 37 000 Einwohner Schottland.

Nicht zuletzt die Abwanderung macht deutlich, daß zusätzlich zu den objektiven Bedingungen von Stagnation und relativer Unter-entwicklung der schottischen Wirtschaft auch die subjektive Komponente relativer Deprivation vorhanden war. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche schottische regionalistische Bewegung schienen damit gegeben. Zudem baute die SNP ihre politische Programmatik auf der These von der relativen Deprivation auf, indem Fragen kultureller Identität zunehmend in den Hintergrund traten oder aber mindestens in Verbindung mit der Forderung nach eigenständiger ökonomischer Entwicklung gebracht wurden Das Hauptargument der SNP bildete fortan die ökonomische Krise, die in der Integration Schottlands in den britischen Staatsverband begründet sei; nur die Kontrolle über die politische wie ökonomische Entwicklung werde die Unterentwicklung Schottlands verändern können. Dennoch blieben größere Erfolge zunächst noch aus. Zwar erzielte die SNP bei den Unterhauswahlen von 1964 und 1966 mit 2, 4 Prozent bzw. 5, 0 Prozent der in Schottland abgegebenen Stimmen — verglichen mit früheren Wahlen — bereits erste Erfolge, doch blieb die Anziehungskraft des schottischen Nationalismus noch relativ gering Auch erreichte die Labour Party, die vor allem 1964 in ihrem Programm die regionale Strukturpolitik zum Abbau der sozio-ökonomischen Ungleichheiten zu einem ihrer Kernpunkte erhoben hatte, die höchsten Stimmenanteile in Schottland nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei den Wahlen von 1964 und 1966 orientierte sich die übergroße Mehrheit der an der Wähler noch traditionellen Konfliktlinie entlang des Klassen-Cleavage. Dies änderte sich erst, als einerseits nach den Tories nun die Labour Party an Vertrauen in der Wählerschaft einbüßte, da schottischen sich auch unter ihrer Regierungsführung die sozioökonomischen Bedingungen nicht entscheidend verbesserten, andererseits die Ausgangsposition der schottischen Wirtschaft sich durch die Entdeckung des Nordseeöls seit 1969/70 grundlegend wandelte und damit für die schottische Bevölkerung — wie James Kellas hervorgehoben hat — w .. . relative deprivation'was by prospect of matched the . relative affluence’ under a Scottish government“ Das schottische Beispiel legt folglich den Schluß nahe, daß relative ökonomische Unter-entwicklung allein keine tragfähige Basis für ernst zu nehmende regionalistische Bewegungen abgibt. Es zeigt im Gegenteil, daß unter ökonomischen Gesichtspunkten die independistische, von Großbritannien unabhängige Alternative erst in der Perspektive relativer Überentwicklung an Attraktivität gewann.

Regionalismus als politischer Ausdruck von internem Kolonialismus Im Gegensatz zu den beiden vorstehend skizzierten Ansätzen, die letztlich nicht nach den Ursachen, die den relativen Ungleichheiten zugrunde liegen, fragen und sich damit begnügen, die aktuellen Konsequenzen im politischen Verhalten der betroffenen Bevölkerung zu analysieren, versucht der Interpretationsansatz des internen Kolonialismus die Gründe offenzulegen, die am Beginn der strukturellen Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie standen. Er will auf die Faktoren aufmerksam machen, die bewirkten, daß sich die ungleichen Verhältnisse trotz tiefgreifender sozialer und politischer Veränderungen perpetuierten, daß keine grundlegende Angleichung in den Lebensbedingungen stattfand. Für Großbritannien hat Michael Hechter die These vom internen Kolonialismus in seiner zwar heftig kontroversen, aber außerordentlich anregenden Studie zu belegen versucht. Vor allem drei Prämissen liegen dem Ansatz zugrunde, die alle gegen die Modernisierungstheorie gerichtet sind und das dependenztheoretische Paradigma ergänzen:

1. In multinationalen Gesellschaften bewahrt sich die dominante Kultur die staatlichen Machtmonopole, die sie unter vorindustriellen Sozialverhältnissen durch Eroberung und feudalistische Abhängigkeiten gewonnen hatte, auch in der industriellen Gesellschaft. Sie kontrolliert das politisch-administrative System, bis zu einem gewissen Grade auch das kulturelle Leben in der Peripherie mittels spezifischer Rekrutierungs-und Herrschaftsmuster, die die Partizipation der einheimischen Bevölkerung entweder ganz verhindern sollen oder aber zunächst die politische wie sozio-kulturelle Adaption an deren Interessen und Ziele voraussetzen.

2. Die Industrialisierung in der Peripherie ist weitgehend bestimmt von den Interessen der dominanten Kultur; die Wirtschaft produziert in Funktion des Zentrums und ist folglich komplementär und einseitig strukturiert, selbständig nicht lebensfähig und abhängig. Sie ist zudem für ökonomische Krisen besonders anfällig und von konjunktureller Depression in der Regel besonders hart betroffen.

3. Die ethnisch-kulturell bestimmte Arbeitsteilung besteht fort. Vor allem mit dieser dritten Hypothese wendet sich Hechter gegen den diffusionistischen Entwicklungsbegriff der Modernisierungstheorie, der (verkürzt dargestellt) davon ausgeht, daß durch Urbanisierung, Industrialisierung, Bildung/Ausbildüng, Kommunikation, vergrößerte Mobilität etc. traditionale und im Sinne des homo oeconomicus nicht-rationale Gesellschaftsstrukturen aufgebrochen und deren soziale wie politische Trägerschichten abgelöst werden. In diesem Erklärungsmodell werden ethnische, sprachliche, religiöse Sektionalismen und daraus resultierende Regionalismen aufgehoben durch die Fragmentierung der Arbeitsteilung sowie vor allem durch den Antagonismus von Kapital und Arbeit. Gesellschaftliche Homogenität stellt sich dann her, wenn der Klassen-gegensatz nicht von anderen regionalen, ethnisch-kulturellen etc. Konflikten überlagert wird. Im politischen Prozeß führt eine solche Konfliktstruktur der Gesellschaft idealtypisch zum Zweiparteiensystem.

Dieser Modernisierungskonzeption, „(which) regards peripheral sectionalism as a feature of preindustrial societies, while functional sectionalism is expected to increase following industrialization ...“, stellt Hechter als Alternative sein Modell gegenüber, „(which suggests that peripheral sectionalism arises reactively, despite the advent of industrialization, in situations where there is a cultural division of labor in periperal regions .. . Hechters Ziel ist folglich die Erklärung des Fortbestandes ethnisch-kultureller Differenzierungen am Beispiel der (aufgrund feudaler/vorindustrieller Herrschafts-und Gesellschaftsstrukturen im Mittelalter und Spätmittelalter in die Randzonen Großbritanniens, nach Schottland, Irland und Wales, zurückgedrängten und von der dominanten englischen Kultur abhängig gewordenen) Kelten während und nach der Industrialisierung. Der Fortbestand ethnischer Loyalitäten und Besonderheiten in den Sozialverhältnissen stellt sich dabei dar als sich reproduzierender Prozeß von Penetration (sowohl durch Immigration als auch durch Kapital) und Abhängigkeit der Peripherie von den durch die dominante Kultur in die periphere Region gebrachten Industrien, die primär in Funktion und zum Nutzen der Interessen des Zentrums produzieren. Hechter gelingt es dabei, eine Reihe von dependenztheoretischen Annahmen anhand des internen Metropole-Hinterland-Verhältnisses für Großbritannien zu bestätigen, u. a.den Enklaven-Charakter der Wirtschaft, die „brauch plant economies", Exportorientierung, strukturelle Heterogenitäten, nicht-einheimische Brückenköpfe und Arbeiteraristokratien, kulturelle Deformationen etc.

Andererseits muß jedoch auch für diesen Erklärungsansatz einschränkend betont werden, daß er gleichfalls nur Teilaspekte des Regionalismus in Großbritannien erfaßt. Kritisch anzumerken ist u. a., daß das Hechtersche Theorem sich eigentlich nur zur Analyse der sozial-strukturellen Prozesse, zur Interpretation der . objektiven'Determinanten der sozialen Entwicklung gut eignet, die handlungstheoretische Komponente aber nur unzureichend in sein analytisches Modell eingebracht wird. Der Darstellung der verschiedenen Träger-gruppen der nationalen Bewegungen in Großbritannien, ihrer programmatischen Ziele sowie ihrer je spezifischen politischen Handlungsweise wird in der Analyse zu geringer Raum gewidmet Unklar bleibt welche Rolle die politischen und kulturellen Organisationen der nationalen Bewegungen in diesem Prozeß gespielt haben. Dies ist im übrigen einer der Gründe dafür, daß das Modell des internen Kolonialismus nur eine unzureichende Antwort auf die Frage zu geben vermag, warum der zuvor lange Zeit nur latent vorhandene Regionalismus in Großbritannien gerade Ende der 60er Jahre politisch virulent geworden ist.

Regionalismus als Folge ungleicher Entwicklung Das Theorem ungleicher Entwicklung bringt den Regionalismus in Großbritannien in Zusammenhang mit den allgemeinen Strukturbedingungen kapitalistisch-industrieller Entwicklung. Es sieht die schottischen wie walisischen Nationalismen — ihre Latenz in der Vergangenheit, ihre Aktualisierung in der Gegenwart — in Abhängigkeit von der britischen Sonderrolle im weltweiten Industrialisierungsprozeß. Der Ansatz geht aus von politischen, kulturellen wie ökonomischen Ungleichzeitigkeiten im Innern wie nach außen; er berücksichtigt ferner das dialektische Verhältnis innerer wie äußerer Entwicklung, wodurch einerseits die Tendenz besteht, innergesellschaftliche Krisen nach außen zu verdrängen oder durch äußere Erfolge zu kompensieren, andererseits äußere Probleme tiefgehende Rückwirkungen im Innern haben können. Vor allem Eric Hobsbawm hat mit seiner Untersuchung „Industry and Empire“ dieses dialektische Innen-Außen-Verhältnis in der britischen Wirtschaftsgeschichte auf eindrucksvolle Weise herausgearbeitet Eine Interpretation, die auf der Prämisse ungleicher Entwicklung aufbaut, erlaubt zudem eine differenzierte Betrachtung des Verhältnisses von Nationalismus und Industrialisierung bzw. Modernisierung, die nicht als solche miteinander verknüpft sind, sondern deren Verbindung sich daduch herstellt, daß die Industrialisierungsprozesse weder gleichzeitig noch gleichförmig verlaufen sind. Folglich sind es Nationalismus und Ungleichzeitigkeit in den jeweiligen Bedingungen industriell-kapitalistischer Entwicklung, die sich wechselseitig bedingen

Die nationale Frage erhält damit in Großbritannien ihren besonderen Charakter aus der Führungsrolle des Landes als erster bürgerlicher Demokratie, als Vorreiter in industrieller wie kolonialer Expansion, die nicht nur den Entwicklungsvorsprung der britischen Gesamtgesellschaft, sondern auch denjenigen ihrer regionalen, sozialen und individuellen Glieder begründen. Vor allem drei von Ungleichzeitigkeit bestimmte Entwicklungsprozesse sind herauszuheben:

1. Durch den frühbürgerlichen Charakter der englischen Revolution fehlten dem britischen Staat stets eine Reihe wichtiger Strukturmerkmale entwickelter industrieller Demokratien. Damit stellte sich „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" (Bloch) her im Verhältnis von Staat und Gesellschaft 2. ökonomisch-industriell bestand Ungleichzeitigkeit zwischen Großbritannien (einschließlich der industriellen Enklaven in Schottland und Wales) und den kontinentaleuropäischen Gesellschaften aufgrund des britischen Entwicklungsvorsprunges. Infolge des komparativen Vorteiles erübrigte sich weitgehend die Schutzfunktion des Nationalstaates nach außen. 3. Wegen des Entwicklungsvorsprunges nach außen bedurfte es in Großbritannien nach innen keines in sich geschlossenen, kulturell homogenen Nationalstaates, so daß die politische Zentrale den nationalen Subsystemen innerhalb Großbritanniens eine Vielzahl von vornehmlich sozio-kulturellen Aufgaben überlassen konnte, die ansonsten in aller Regel in die Regie der Zentrale übergingen und zur nationalstaatlichen Homogenisierung entscheidend beitrugen. Dies gestattete Schottlands relativ unproblematische Integration in den britischen Staatsverband und erlaubte zugleich das Nebeneinander von schottischer und britischer Identität.

Mit dem Verlust des metropolitan-kolonialen Verbundsystems, mit dem Rückzug Großbritanniens aus der Weltpolitik entfiel indes die entscheidende Klammer, die in der Vergangenheit den Dualismus zweier Identitäten ermöglicht hatte. Das Erwachen des Nationalismus in Großbritannien Ende der 60er Jahre stellt sich also in dieser Sicht dar als dialektischer Reflex des Verlustes der britischen «Weltmachtposition. Hauptvertreter dieses Erklärungsansatzes ist Tom Naim

III. Strukturen des internen Kolonialismus: Der Fall Wales

Michael Hechters Modell zielt auf die keltischen Randgebiete Großbritanniens und interpretiert deren Abhängigkeiten wie deformierten Entwicklungsmöglichkeiten. Es erfaßt vor allem Irland/Nordirland, Wales und das schottische Hochland, nicht aber Schottland in seiner Gesamtheit Am ehesten zur Erklärung der Geschichte Irlands geeignet, erhellt das Hechtersche Paradigma mit seinen drei Ausgangshypothesen aber auch die walisische Entwicklung. Es erscheint besonders fruchtbar für folgende Problembereiche: die Strukturbedingungen der staatlichen Integration, die sozio-kulturellen Assimilierungszwänge sowie die ökonomische Abhängigkeit und die ethnisch-kulturelle Arbeitsteilung

Eine unmittelbare Bestätigung findet das Modell in der Sprachentwicklung in Wales, die vor allem seit Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet ist sowohl durch die Fortdauer der Existenz der walisischen Sprache als auch durch einen starken Druck zur sprachlichen Assimilierung an die vorherrschende englische Sprache. Die Statistik vermag dies eindrucksvoll zu belegen: Sprachen 1901 noch rund die Hälfte der Bevölkerung walisisch, von denen 35 % zweisprachig waren und von denen immerhin 15 % nur walisisch konnten, war der Prozentsatz schon 1931 auf 36, 8% abgesunken; er lag 1961 bei 26, 0% und erreichte bei der bisher letzten Volkszählung von 1971 nurmehr 20, 8 % der Gesamtbevölkerung von Wales. Dabei beherrschen heute so gut wie alle Waliser zwei Sprachen, während die englisch sprechende Bevölkerung demgegenüber fast ausschließB lieh nur eine Sprache spricht; nur wenige von ihnen sprechen die keltische Ursprache des Landes.

Die landesweiten Daten vermitteln jedoch kein zureichendes Bild von der Sprachensituation in Wales, die von starken lokalen Differenzen gekennzeichnet ist. In einigen Grafschaften wird auch gegenwärtig von bis zu drei Vierteln der Bevölkerung walisisch gesprochen; mehrheitlich spricht die Bevölkerung noch immer in gut der Hälfte des Territoriums walisisch; dennoch sind dies insgesamt nur knapp über 20 Prozent der Einwohner des Landes. In den counties des Industriegürtels im Süden ist die Zahl der walisisch sprechenden Einwohner minimal. Ethnisch-kulturell wie sprachlich existiert damit ein ausgeprägter Gegensatz zwischen Stadt und Land — eine Entwicklung, die im Zusammenhang der Industrialisierung gesehen werden muß. Da, anders als in Schottland, die Sprache in Wales den entscheidenden nationalen Bezugspunkt darstellt, ist mit der existentiell bedrohten Lebensfähigkeit der Sprache die walisische Identität überhaupt stark gefährdet. Aus diesem Blickwinkel heraus wird verständlich, daß die Bewahrung der Sprache stets ein Hauptmotiv für die politischen und kulturellen Organisationen des walisischen Nationalismus gewesen ist

Mit Hilfe des Ansatzes von Hechter gelingt es auch, die ökonomische Abhängigkeit der walisisch/keltischen Peripherie, die monostrukturelle Ausrichtung der Industrie auf Kohle und Stahl, die Exportorientierung etc. in der Vergangenheit zu verdeutlichen und den langanhaltenden und tiefgreifenden wirtschaftlichen Niedergang von Wales seit den 20er Jahren, die fehlende Diversifikation der Industrieproduktion zu erklären. Eine Verbreiterung der bis zu diesem Zeitpunkt auf die Schwerindustrie konzentrierten Industriestruktur erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in größerem Ausmaß erst im Zuge der regionalen Wirtschaftsförderung seit den 60er Jahren, von der Wales seither ähnlich profitiert wie die anderen wirtschaftsschwachen Regionen. Vergleicht man Wachstumsraten, Brutto-Inland-Produkt und das individuell verfügbare Einkommen, zeigt sich, daß Wales zusammen mit Nordirland und East Anglia weiterhin am unteren Ende der regionalen Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien rangiert. In Wales lag zudem die Arbeitslosenrate in den letzten Jahren deutlich über dem britischen Niveau; sie war etwa ein Drittel höher als der britische Durchschnitt und fast doppelt so hoch wie in London und dem Südosten Englands.

Hinzu tritt die weitgehende Außensteuerung ökonomischer Entscheidungen im privaten wie staatlich kontrollierten Sektor, die durch die Diversifizierung und Neuansiedlung von Unternehmen seit den 60er Jahren eher gewachsen ist Die Neuansiedlung von Industrie-betrieben erfolgte überwiegend durch in London, aber auch in den englischen Midlands ansässige britische Unternehmen — in den letzten Jahren verstärkt durch multi-nationale Konzerne, die in Wales Filialbetriebe und Tochtergesellschaften einrichteten. Dies vergrößerte die Abhängigkeit von nicht-walisisch definierten ökonomischen Interessen, da sich dadurch der Trend zur „branch plant economy" fortsetzte und die walisische Wirtschaft nicht mehr nur im Rohstoffsektor und in der Stahl-industrie, sondern zunehmend auch im Bereich der verarbeitenden Industrie als Zulieferer und in Abhängigkeit nicht-einheimischer Firmen und Märkte produziert. Gerade solche Unternehmen sind es, in denen überdurchschnittlich nicht-einheimische, meist aus England stammende Fachkräfte im Management der Firmen sowie in der Facharbeiterschaft tätig sind, wodurch soziale Unterprivilegierung und Adaptationsdruck der walisischen Bevölkerung andauern, die ethnisch-kulturelle Dimension der sozio-ökonomischen Disparitäten fortbesteht.

Zwar führten beide Bedingungen, ökonomische Abhängigkeit vom britischen Zentrum und ethnisch-kulturelle Hierarchisierung, in ihrem Zusammenwirken dazu, daß Wales seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend umfassender und fester in das britische Wirtschafts-und Sozialsystem integriert wurde. Dieser Prozeß wurde ergänzt durch die Urbanisierung und den spezifischen Ausbau von Verkehrsnetz und Infrastruktur, durch Kommunikation und massenmedienvermittelte Informationslandschaft, durch die zentralistische Struktur des politischen Systems und dessen Träger wie Parteien und Interessengruppen, durch das zentralistisch gelenkte Schul-und Bildungswesen etc. Entgegen weit-verbreiteten Annahmen führte dies jedoch weder zum Abbau des Entwicklungsgefälles oder zur Nivellierung der sozio-ökonomischen Ungleichheiten noch stellte sich sozio-kulturelle Homogenität her. Die wachsende Integration beseitigte die sozialen wie kulturellen Verwerfungen keineswegs. Sie löste nicht nur Prozesse der Assimilierung in Kultur und Ökonomie aus; als Reaktion darauf erwuchs aus ihr auch das Bewußtsein von der Besonderheit der walisischen Identität und von der sozialen Unterprivilegierung, so daß fortschreitende Integration und Assimilierung den walisischen Nationalismus zugleich wach hielten und langfristig gar die Grundlage für seine verbreiterte Basis in der walisischen Bevölkerung mitschufen.

Diesen inneren Widerspruch ungleicher Entwicklung anzuerkennen, kommen am Beispiel von Wales selbst Autoren nicht umhin, die im Grunde modernisierungstheoretischen Vorstellungen verhaftet sind Auch sie räumen zunehmend die wechselseitigen Wirkungen von ökonomischer Abhängigkeit und ethnisch-kultureller Heterogenität in der Peripherie Großbritanniens ein, zu deren Verständnis die Studie von Hechter wichtige Erkenntnisse beisteuert.

IV. Historisch-politische Faktoren der Integration Schottlands in den britischen Staatsverband

Hechters Erklärungsmodell von englischem Zentrum und keltischer Peripherie versagt im Falle Schottlands weitgehend, dessen im Vergleich zu Wales besondere sozio-historische Entwicklung innerhalb Großbritanniens es nicht einmal annährungsweise berücksichtigt. Dies betrifft Form wie Zeitpunkt der Eingliederung von Schottland und Wales in den britischen Staatsverband, desgleichen die Unterschiede im Verlauf der kulturellen, insbesondere sprachlichen Anglisierung.

So wurde Wales, wo einerseits zwar die keltisch bestimmten sprachlich-kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen intakt geblieben, wo andererseits aber eine dauerhafte staatliche Integration, die über die clanhafte Stammes-und Verwandtschaftsorganisation hinausgegangen wäre, nicht gelungen war, unter den Tudors zur Aufgabe ihrer eigenen Rechts-und Kulturtraditionen gezwungen. Mit dem Act of Union erfolgte unter Heinrich VIII. 1536 nicht nur die endgültige Eingliederung von Wales in den britischen Staatsverband, sondern dem Land wurde zugleich das englische Rechts-und Verwaltungssystem übergestülpt und über verschiedene Schritte vollständig in das zentralistische britische Regierungssystem integriert.

Die Vereinigung von England und Schottland, das im ausgehenden Mittelalter seine politische Unabhängigkeit hatte behaupten können, kam demgegenüber unter den Stuarts zunächst in der Form der Personalunion zustande, als der schottische König Jakob VI. 1603 als Jakob I.den englischen Thron bestieg. Bis zur Union im Jahre 1707 existierten beide Monarchien noch während des Jahrhunderts als eigenständige staatliche Einheiten nebeneinander 17). Im Innern hatten sich das gleichfalls noch clanhaft organisierte, subsistenzwirtschaftlich sowie weitgehend monostrukturell auf die Viehwirtschaft ausgerichtete keltische Hochland einerseits und das auf Grundherrschaft aufbauende, im Laufe des Mittelalters vergleichsweise ausdifferenzierte Sozialsystem des schottischen Tieflandes andererseits, das zudem schon frühzeitig anglisiert war, zunehmend auseinanderentwickelt, so daß die schottische Gesellschaft bereits lange vor der Union mit England dualistisch strukturiert war: Das Stammessystem des Hochlandes, das den größten Teil der Fläche Schottlands umfaßt, in dem aber schon damals nur ein kleiner Teil der Bevölkerung lebte, war dem dynamischeren Feudalismus des Tieflandes unterlegen, das — verglichen mit dem spätmittelalterlichen England — zwar gleichfalls unterentwickelt war, den Entwicklungsrückstand aber seit dem Ende der Unabhängigkeitskriege (1314) ungewöhnlich erfolgreich aufzuholen begann. Dies vertiefte die Unterschiede in Sozialverhältnissen und Lebensformen beider Landesteile weiter, wodurch zugleich das innerschottische Konfliktpotential zwischen highlands and lowlands zunahm.

Die endgültige Niederlage des Hochlandes erfolgte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts durch die Niederschlagung mehrerer Aufstände, zuletzt 1745 in der Schlacht von Culloden. Sie führten das Ende des Clansystems herbei und hatten den Abschluß der Ein-und Unterordnung des keltischen Hoch-landes unter das anglo-schottische Tiefland zur Folge. Dies war indes keinesfalls allein das Werk der englischen Metropole, sondern beendete einen Prozeß, der von der schottischen Krone und dem Tiefland lange vorher selbst eingeleitet worden war, im Interesse der anglo-schottischen Subgesellschaft des Landes lag und die Dominanz der lowlands über die highlands vollendete 18). In der keltischen (Hochland-) Peripherie stellten sich zwar ähnliche Strukturen von Abhängigkeit her wie in Wales; Christopher Harvie weist in seiner brillanten Untersuchung des schottischen Nationalismus gegenüber Hechter jedoch treffend darauf hin, daß es nicht zuletzt Schotten waren, die dafür die Verantwortung trugen

Diese wichtige Differenzierung vermag der Erklärungsansatz des internen Kolonialismus nicht zu erfassen. Indem Hechter die Betrachtung auf das keltische Hochland beschränkt, vernachlässigt er das besondere innerschottische Verhältnis zwischen higlands and lowlands; er kann damit das zweifache Verhältnis von Metropole und Hinterland — zum einen Abhängigkeit und Rückständigkeit der keltischen highlands von den anglo-schottischen lowlands, zum zweiten die Dependenzbeziehung zwischen dem englischen Zentrum und Schottland — in seiner Gesamtheit nicht erhellen. Ähnlich verhält es sich mit der Einschätzung der Unionsbildung 1707, der weder das Modell des internen Kolonialismus noch nationalistisch oder independistisch gefärbte Erklärungen gerecht werden. Letztere sehen in der Union allein das Ende der schottischen Monarchie, überpointieren den Verlust der Selbständigkeit und überschätzen damit den Stellenwert politischer/völkerrechtlicher Unabhängigkeit als Bedingung nationaler Identität. Die mehrheitliche Billigung des Unionsvertrages durch das noch mittelalterlich/feudalistisch organisierte schottische Parlament interpretieren die Nationalisten als das Ergebnis von englischen Handelspressionen, verbunden mit Korruption und Bestechung

Eine solche Interpretation übersieht indessen die ambivalenten Ursachen und widersprüchlichen Folge-Wirkungen des Unionszusammenschlusses. So bot die Integration in den englischen Staatsverband den presbyterianischen lowlands Schutz gegen die Gefahr fortdauernder konfessioneller Konflikte mit dem in weiten Gebieten noch katholischen oder auch episkopalischen Hochland; sie bot Teilen des Adels Schutz gegen die dynastischen, teilweise von Frankreich militärisch unterstützten Ansprüche der Stuarts und deren Anhänger im Hochland etc. Der Kompromiß der Union bedeutete den Verlust der politischen Selbständigkeit Schottlands, garantierte aber den Fortbestand wesentlicher Elemente der schottischen Identität. Das Ende des separaten schottischen Staates implizierte keineswegs automatisch den Untergang der schottischen Nation.

Wirtschaftlich hatte der Zusammenschluß zwar den Verlust der ökonomischen Unabhän-gigkeit zur Folge. Die Union brachte aber für das rückständigere, zum Zeitpunkt der Integration zudem stark verschuldete Schottland beträchtliche Vorteile mit sich: Sie öffnete insbesondere den Städten, dem Handel und der beginnenden industriellen Produktion den aufnahmefähigen und kapitalkräftigen englischen Markt, beseitigte die Schranken gegen den Zufluß von Kapital und Know-how -Die wirtschaftliche Integration bot jedoch nicht nur die Chance, durch Adaptation vom englischen Entwicklungsvorsprung zu profitieren. Als Teil Großbritanniens kam auch Schottland seit der Union in den Genuß der wirtschaftlichen Profite, die die Metropole aus der Ausbeutung der Kolonien zog. Ein nicht geringes Interesse an der Union hatten der adlige Groß-grundbesitz des Hochlandes und der in den Städten des lowlands residierende schottische oder auch der englische Viehhandel. Sie profitierten von verbesserten Absatzchancen und gestiegener Nachfrage nach schottischem Vieh, insbesondere nach Rindern, auf dem seither englischen Inlandsmarkt. Allerdings führte dies zu einer nochmaligen Ausweitung der ohnehin schon monostrukturellen Vieh-wirtschaft, deren Abhängigkeit von den wechselnden englischen Marktbedingungen weiter wuchs. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege sanken Nachfrage und Profite an der Hochland-Viehzucht stark ab; der Handel fand gewinnträchtigeren Ersatz im Nordwesten des schottischen Tieflandes. Die Vieh-wirtschaft des Hochlandes kam zum Erliegen, ohne daß dort ein Ersatz vorhanden gewesen wäre. Der Niedergang der Viehwirtschaft zeigt exemplarisch die Konsequenzen wirtschaftlicher Monostrukturen und außengesteuerter, regionaler Wirtschaftsentwicklung auf, von denen später auch andere Bereiche der schottischen Ökonomie ähnlich betroffen werden sollten. Dennoch überwogen — aus der Perspektive der Unionsbildung und lange darüber hinaus — die ökonomischen Vorteile, die sich aus dem britischen Vorsprung im Industrialisierungsprozeß und bei der Errichtung des Kolonialreiches auch für das innerbritisch indes abhängige Schottland ergaben.

Die Union bedeutete somit für Schottland in einigen wichtigen Bereichen den Verlust von Unabhängigkeit und die Integration als kleinerer sowie im sozio-ökonomischen Entwicklungsniveau rückständigerer Partner. Andererseits führte sie keineswegs die Absorption des einen durch den anderen herbei; hierin unterscheidet sich das schottisch-britische Verhältnis von vielen anderen Beispielen im Prozeß des , nation-building', wo sich das Zentrum aus Gründen nationaler wie staatlicher Homogenität rigoros gegen die Peripherie durchsetzte; selbst innerbritisch ist die Integration Schottlands deutlich unterschieden von der Penetration von Wales oder gar der Unterwerfung von Irland.

Die englisch-schottische Union von 1707 war vielmehr, wie Christopher Harvie es formuliert hat, „... an unique balance of assimilation and autonomy" Der fortdauernde Dualismus zwischen schottischer und britischer Identität fand dabei seinen konkreten Ausdruck in einem vornehmlich britisch orientierten ökonomischen Subsystem, in britisch definierter Politik im Rahmen des britischen politischen Systems, in dem es aber zugleich besondere schottische Institutionen und gewisse schottische Sonderrechte gab, sowie in spezifisch schottisch bestimmten Subsystemen, die sich nicht nur in kulturellem Nationalismus oder in Folklore erschöpften, sich auch nicht allein auf die bürgerliche Privatsphäre beschränkten, sondern u. a. die von Religion, Recht, Bildung geprägten Lebensbereiche ein-schlossen Das fortdauernde Nebeneinander von gesellschaftlichen Subsystemen mit unterschiedlich definierten Identitäten ist ein besonders typischer Reflex der verschiedenen, spezifisch britischen Ungleichzeitigkeiten und das Hauptmerkmal der britischen Multi-nationalität. Anders als in Wales spielte das keltische Erbe des Hochlandes für die nationale Identität Schottlands nur eine untergeordnete Rolle. Mit Blick auf die Sprache bedeutete die unterschiedliche Form der Integration in den britischen Staatsverband, daß die Anglisierung in Wales von außen bzw. nach der Eingliederung durch den fremden englischen Staat durchge-setzt wurde. In Schottland erfolgte sie demgegenüber von innen heraus und war getragen von der Krone und dem englisch-orientierten Adel, so daß die schottische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit bereits zum Zeitpunkt der Union und damit zugleich auch vor der industriellen Revolution das englische lowland Scots sprach; allein in den higlands sprach die Bevölkerung noch gälisch. 1891 waren es nur-mehr knapp 7 Prozent der schottischen Bevölkerung. Heute wird gälisch in Schottland nur in einigen abgelegenen Enklaven der highlands gesprochen, insbesondere in den westlichen Küstenregionen der Grafschaften Sutherland, Ross & Cromarty, Inverness und Argyllshire sowie auf den Hebriden (Western Isles). Auf den Inseln ist gälisch auch heute noch Umgangssprache, die dort von der Mehrheit der Bewohner gesprochen wird. Ihre Zahl erreichte 1971 jedoch insgesamt nur 88892 oder 1, 8 Prozent der schottischen Bevölkerung, von denen fast alle auch englisch sprachen und nur einige hundert angaben, allein gälisch zu sprechen.

Die gälische Sprache ist heute in Schottland weder Kommunikationsmittel im Alltag noch Kulturträger. Ihr Stellenwert ist auf ein „folkloristisches Maß" reduziert und ihre Rolle der anderer schottischer Symbole vergleichbar, von denen viele keltischen Ursprungs sind: Kilt und Tartan, Dudelsack und Schwerttanz, Whisky, die sprichwörtliche Sparsamkeit und ähnliche oft zum „Volks-" oder „Nationalcharakter" stilisierten Klischees, von Tom Nairn treffend als „Kitsch Scotland" apostrophiert. Sie alle entstammen zwar den alten Traditionen des Hochlandes, spielten aber in der Vergangenheit nur eine untergeordnete Rolle für die Entwicklung der von den anglisierten lowlands bestimmten schottischen Kultur Nach der endgültigen Niederlage des Hoch-landes im 18. Jahrhundert zeitweilig verboten, wurden die keltischen Traditionen erst von dem im übrigen nicht aus dem Hochland stammenden, sondern von Hause aus gleichfalls anglo-schottischen nationalen Romantizismus des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und der von Protestantismus und Aufklärung geprägten schottischen Kultur ohne viel inneren Zusammenhang als folkloristisches Beiwerk hinzugefügt.

Für das populäre schottische Selbstverständnis war dies insofern von Bedeutung, als das von Walter Scott und anderen entworfene romantisch verklärte Bild der schottischen Vergangenheit dem dominanten anglisierten Süden die Umdeutung der Geschichte gestattete: Es diente zur Verschleierung der Unterwerfung der Hochlandkultur und der Verdrängung der gälischen Sprache — Prozesse, die primär durch die Gesellschaft des angioschottischen Südens zu verantworten waren. Die Übernahme der keltischen Symbole untermauerte diese falsche Vorstellung von der historischen und kulturellen Einheit Schottlands, ließ die fortbestehenden sozialen Gegensätze zwischen highlands and lowlands vergessen, akzentuierte Abgrenzung und gemeinsame Frontstellung gegenüber England und überdeckte die engen sozio-kulturellen Affinitäten wie ökonomischen Bindungen der lowlands an das englische Zentrum. Die folkloristisch-keltischen Symbole bildeten somit zu keiner Zeit ein tragfähiges Fundament für die schottische Identität. Aus den andersartigen Grundlagen von walisischer und schottischer Identität resultierten in der Vergangenheit häufig nicht nur abweichende Forderungen an den britischen Zentralstaat, die ein gemeinsames Vorgehen außerordentlich erschwerten. Wechselseitiges Unverständnis der zwei nationalen Bewegungen kam hinzu; nur wenige Schotten begreifen die zentrale Bedeutung der Sprache für die walisische Identität, während Waliser Nationalisten oft kein Verständnis für die nicht durch die Sprache definierte schottische Identität aufbringen.

V. Neo-Nationalismus und ungleiche Entwicklung: Der Fall Schottland

Schottland besaß in diesen Elementen nationaler Identität durchaus die Basis für eine eigenständige gesellschaftliche Entwicklung. Daß es anders als auf dem europäischen Kontinent in Schottland weder im ausgehenden 18., im 19. noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nationalen Erhebungen oder auch nur zur Formierung eines starken politischen Nationalismus kam, lag zum einen an der schon skizzierten Struktur des Unionskompromisses, der den Fortbestand der schottischen Identität auch im britischen Rahmen ermöglichte. Zum anderen ist die relativ unproblematische Integration der schottischen Nation zurückzuführen auf die britische Pilot-funktion im Prozeß industriell-kapitalistischer Entwicklung:

1. Diese Besonderheit des britischen Staates ist zunächst das Ergebnis des in dieser Form wohl einzigartigen Arrangements zwischen grundbesitzendem Adel und gentry mit dem auf Handel, Gewerbe und in Ansätzen schon auf Industrieproduktion zielenden städtischen Bürgertum im 16. /17. Jahrhundert, die sich wechselseitig aneinander anpaßten und in diesem Prozeß ihre soziale wie politische Gestalt veränderten. Indem Adel und gentry zur kommerziell betriebenen Landwirtschaft übergingen und sich ökonomisch den Bedingungen von Handel und Gewerbe unterordneten, gelang es ihnen, sich ihre soziale Führungsposition in der britischen Gesellschaft zu bewahren, zumal sich andererseits die Bourgeoisie politisch wie soziokulturell an die vom Adel bestimmten Institutionen und Normen anpaßte. Barrington Moore fand in seiner Formulierung von der „Herrschaft der Aristokratie und (dem) Triumph des Kapitalismus" wohl die treffendste Formel für die besondere soziale Osmose zwischen Bürgertum und grundbesitzendem Adel in Großbritannien. Die Verflechtung brachte beiden die Unabhängigkeit von der Krone, deren absolutistische Ansprüche gemeinsam in die Schranken gewiesen wurden. Der Interessenausgleich auf der Basis bürgerlicher Werte und unter Wahrung des sozialen Vorranges der Aristokratie bewährte sich nicht zuletzt aufgrund des äußeren Erfolges des britischen Staates und der von beiden Kräften gemeinsam verfolgten kommerziell-kolonialen Strategie.

Der historische Erfolg des frühbürgerlichen britischen Staates (die rasche Ablösung feudalistischer Relikte in den Herrschafts-und Rechtsverhältnissen auf dem Lande, enclosure und Pachtsystem, die Aufhebung von Handels-und Gewerbeschranken, die frühe Anerkennung bürgerlicher Rechte und Freiheiten, einschließlich des bürgerlichen Vertrags-und Eigentumsverständnisses, rule of law, Parlamentsherrschaft) bewirkte aber auch, daß sich seine „patrizisch-repräsentativen" Strukturen perpetuierten. Ähnlich wie der industrielle Entwicklungsvorsprung Großbritannien von einem bestimmten Zeitpunkt an daran hinderte, sich zu einer durch und durch modernen Industriegesellschaft zu entwickeln, erwiesen sich auch im politischen System die archaischen Institutionen und Strukturen zunehmend als Hemmschuh des politischen Wandels; so fehlte es an den notwendigen Impulsen zur strukturellen Modernisierung und zur funktionalen Ausdifferenzierung des minimalistisch-frühbürgerlichen britischen Staates, wie sie anderswo von den Revolutionen des 19. Jahrhunderts ausgelöst wurden. Dies führte in Großbritannien in Relation zum Niveau der sozio-ökonomischen Entwicklung, zum jeweils erreichten Ausmaß an Industrialisierung zum häufig verspäteten politischen Wandel.

Die Integration der schottischen und walisischen Nation in den überkommenen Zentralismus des frühbürgerlichen politischen Systems gelang dabei solange relativ problemlos, so lange sich der britische Staat in seiner Tätigkeit insgesamt beschränkte und damit auch den jeweiligen Trägern der schottischen und walisischen Identität ihre Freiräume beließ. In dem Maße, in dem die britische Politik ihre Staatstätigkeit im Zuge der keynesianisehen Reformen funktional erweiterte, traten ihre stark begrenzten Kapazitäten allerdings zunehmend deutlicher zutage. Die tradierten politischen Systemstrukturen wurden zum Hindernis für politische Innovation und institutionelle Reform und erwiesen sich insbesondere als unfähig, die regionalen Bedürfnisse und Interessen der britischen Peripherie zureichend zu berücksichtigen. Die Unzufriedenheit von Schotten und Walisern mit dem britischen Zentralismus, von dem sie sich keine angemessene Vertretung mehr versprachen, wuchs vor allem seit den 60er Jahren Am Verlauf der letztlich gescheiterten Dezentralisierungsbestrebungen läßt sich dies exemplarisch erörtern.

Die Devolution-Gesetzgebung von 1978, die für Schottland und Wales zudem deutliche Unterschiede aufwies, sah einerseits die Dezentralisierung und Überweisung von wichtigen Kompetenzen an die einzurichtenden regionalen Institutionen (im Falle Schottlands an des Regionalparlament, die Assembly, und an die Regionalverwaltung) vor: u. a.: im Gesundheits-und Sozialwesen, in den Bereichen Bildung, Wohnungsbau, Transport, Kommunikation und Umweltschutz. Regionale Autonomie oder föderative Machtverteilung hatte das Dezentralisierungsgesetz aber andererseits gerade nicht zum Inhalt. So wurden den regionalen Institutionen mit der Steuerhoheit bzw. Zustimmungspflichtigkeit in der Steuergesetzgebung echte, den Föderalismus überhaupt erst konstituierende Kompetenzen vorenthalten. Auch hätte das Westminister-Parlament nach erfolgter Dezentralisierung gegenüber dem Regionalparlament ein absolutes Vetorecht besessen. Vor allem indem man im Devolutions-Gesetz am tradierten Grundsatz der Parlamentssouveränität des britischen Parlamentes festhielt, beharrte man auf Verfassungsprinzipien, die im politischen Alltag heute keine große Rolle mehr spielen, da sich mit dem Funktionswandel des Parlamentarismus auch in Großbritannien die wirklichen Entscheidungszentren politischer Macht vom Parlament weg und hin zur Exekutive, zu Kabinett und Premierminister verlagert haben. Die Devolution-Gesetzgebung ist insofern ein wichtiges Beispiel, an dem man aufzeigen kann, wie traditionsgebunden das britische Politikverständnis ist, das belegt, wie sehr die britische Politik heute von Verfassungsprinzipien belastet wird. Einerseits weisen sie nur-mehr dogmatische, aber keinerlei faktisch-funktionale Bedeutung auf, andererseits werden aber durch sie die „output-Leistungen" der Politik stark begrenzt und stehen sie damit einer angemessenen Weiterentwicklung des institutionellen Gefüges im Wege.

An den Dezentralisierungsbemühungen läßt sich folglich diejenige Interpretation der britischen Krise verdeutlichen, die die unzureichenden Lösungskapazitäten in der Gegenwart in der besonderen Leistungsfähigkeit des britischen Staates in der Vergangenheit begründet sieht. Insofern kann man hieran Tom Nairns These von der Reformunfähigkeit des infolge Ungleichzeitigkeit unvollkommenen britischen Zentralstaates belegen. Andererseits unterschätzt Nairn aber auch die Stabilität des bestehenden politischen Systems

2. Die spezifisch britische Ungleichzeitigkeit gestattete die Fortdauer der schottischen Identität nach der Integration in den britischen Staatsverband. Indem der britische Staat eine Vielzahl von meist sozio-kulturellen Aufgaben nicht wahrnahm und diese entweder der privaten Initiative oder den Trägern der schottischen (bzw. walisischen) Identität überließ, verzichtete er nicht nur auf die Herausbildung nationaler Homogenität im Innern. Die Beschränkung der Staatstätigkeit im Innern hatte zum einen zur Folge, daß sich die britische Identität im wesentlichen über das koloniale Empire definierte. Sie führte zum anderen dazu, daß die traditionalen Institutionen der nationalen schottischen Identität (die presbyterianische schottische „Kirk", das Rechts-und Bildungssystem) auch nach der Integration in den britischen Staatsverband in wichtigen Bereichen der Gesellschaftspolitik den Hauptbezugspunkt bildeten. Dies betraf insbesondere das Schul-und Bildungswesen, aber auch die Armenhilfe, die lange Zeit in der nichtstaatlichen Obhut der Kirchen blieben: in Wales konkurrierend bei anglikanischer Staatskirche und nonkonformistischen Methodisten, in Schottland bei der presbyterianischen Staatskirche. In Wales wie in Schottland konnten die nationalistischen Bewegungen der Gegenwart — in Wales die Sprachenorganisationen und Plaid Cymru, in Schottland vor allem die SNP — folglich anknüpfen an eine Vielzahl von ideologisch-kulturellen, aber auch gesellschaftspolitischen Elementen und Institutionen nationaler Identität, die sich vor allem dadurch hatten erhalten können, daß der frühbürgerliche britische Staat im soziokulturellen Bereich den traditionalen Institutionen wesentliche Aufgaben und Freiräume überlassen hatte. Anders als in Wales verblieb in Schottland neben dem Staatskirchentum und dem Rechtssystem das Bildungssystem zudem auch dann noch in schottischer Regie, als es in den anderen Landesteilen verstaatlicht worden war. Politisch-administrative Sonderregelungen für Schottland traten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hinzu, so daß sich — worauf hier nur hingewiesen werden kann — in Schottland zwischen der Zentralgewalt in London und den Gemeinden eine dritte, regionale politische Systemebene herausbildete; sie blieb zwar auf den Bereich der Administration beschränkt und ist zudem dem Veto des britischen Parlamentes unterworfen, entwickelte aber durchaus eigene politische Machtvollkommenheiten, die gerade unter dem systemtheoretischen Aspekt der autoritativen Entscheidung über die Allokation von Werten und Gütern zutage treten

3. Die britische Sonderrolle ergab sich schließlich aus dem ökonomischen Entwicklungsvorsprung gegenüber den kontinental-europäischen Gesellschaften. Aufgrund seiner Führungsrolle brauchte Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert anders als die sich später industrialisierenden Gesellschaften keinen Schutz gegen einen in der Entwicklung kapitalistisch-industrieller Produktion vorangeschritteneren Konkurrenten. Während in jenen Gesellschaften der Staat eine zentrale Funktion im Schutz vor der Kapital-und Warenpenetration von außen und damit einhergehend in der Garantie autonomer Entwicklung des einheimischen Kapitals sah, wozu der Nationalstaat in mehrfacher Dimension — territorial, rechtlich, ideologisch — den Rahmen lieferte, bestand hierzu in Großbritannien keine vergleichbare Notwendigkeit. Zum einen profitierte die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit und in den verschiedenen Landesteilen, in Schottland und Wales, wenn auch in ungleichem Umfang, vom komparativen Vorsprung. Zum zweiten existierte für diejenigen, die vom sozialen Wandel negativ betroffen waren — vor allem für Iren und Schotten —, die Möglichkeit der Emigration in die Kolonien und damit die durchaus reale Hoffnung auf sozialen Aufstieg.

Während auf dem europäischen Kontinent der Nationalstaat die eigenständige industrielle Entwicklung garantierte, bedurfte es in der multinationalen britischen Gesellschaft der Schutzfunktion des Nationalstaates nicht, solange 1.der Entwicklungsvorsprung gegenüber möglichen Konkurrenten bestand, 2. das Empire den Rückzug auf die Kolonien gestattete und die Möglichkeit bot, sich dem ökonomischen Wettbewerb mit den inzwischen konkurrenzfähigen Industriegesellschaften ohne kurzfristige Nachteile zu entziehen; solange Großbritannien sein koloniales Empire besaß, blieb 3. ein Nebeneinander der Identitäten möglich. Mit dem Zerfall des britischen Welt-reiches entfiel nicht nur der Hauptbezugspunkt der britischen Identität, erwachten demgegenüber im Innern die nationalen Identitäten von Schotten und Walisern neu, sondern fehlten vor allem die ökonomischen Voraussetzungen, auf denen der langanhaltende Erfolg der britischen Wirtschaft geruht hatte. Auf das heimische Wirtschaftspotential zurückgeworfen, verschärften sich im Innern Großbritanniens die Verteilungskämpfe fast zwangsläufig, verschoben sich infolge der gewandelten äußeren Bedingungen notwendigerweise auch innergesellschaftlich die Kräfteverhältnisse. Eine solche Sicht deckt sich weitgehend mit der Interpretation von Eric Hobsbawm, die dieser in der These zusammengefaßt hat, „daß der relative Niedergang Großbritanniens auf seinen frühen und lang andauernden Vorsprung als Industriemacht zurückzuführen ist“ In Schottland wie in Großbritannien, de-ren sozio-ökonomische Entwicklungen aufs Ganze gesehen durchaus parallel verliefen, liegen die strukturellen Fehlentwicklungen in der Gegenwart primär im Erfolg der britischen Wirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert begründet:

Bis zum Ersten Weltkrieg profitierte die schottische Wirtschaft, insbesondere die auf industrielle Expansion zielenden Kräfte in den lowlands, vom ökonomischen Verbundsystem des britischen Empire. Die wirtschaftlichen Vorteile waren allerdings von Beginn des Unionszusammenschlusses an durch Bedingungen belastet, die in der Struktur abhängiger Entwicklung begründet liegen. Schottland »taumelte“ dabei von Krise zu Krise und von einem Industriezweig zum nächsten. Im Gegensatz zum Hochland fand sich im Tiefland nach jedem Zusammenbruch über kurz oder lang eine Ersatzindustrie (Leinenindustrie, Tabakhandel, Baumwollindustrie, Schwerindustrie: Eisen, Kohle und Stahl, Schiffsbau), so daß unter gesamtwirtschaftlich-schottischem Blickwinkel, vor allem aber aus der Sicht des jeweils die neuen Möglichkeiten ergreifenden Kapitals, die verschiedenen Krisen immer wieder relativ leicht überwunden werden konnten, ohne daß die Notwendigkeit bestand, die Wirtschaft in Schottland selbst auf eine breitere Basis zu stellen. Jedoch war die ökonomische Entwicklung bereits in dieser Periode von beträchtlichen Widersprüchen geprägt: von Wirtschaftswachstum bei gleichzeitigen relativen Bevölkerungsverlusten; von vergleichsweise geringer Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig unter dem britischen Durchschnitt liegenden Lohnniveau; von relativ hohen Profitmargen in der Schwerindustrie bei dennoch vergleichsweise geringer einheimischer Investitionstätigkeit.

Die „strukturelle Antiquiertheit" (Hobsbawm) der schottischen Wirtschaft, die sich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges zunehmend negativ auf Industrieproduktion, Arbeitsplatzangebot und Einkommen der Bevölkerung auswirkte, vermochten nach dem Zweiten Weltkrieg auch verschiedene Versuche neo-libera-ler Wirtschaftsförderung und regionaler Strukturpolitik nicht entscheidend zu beseitigen. Zwar erwies sich die von der Labour Party nach 1964 eingeleitete Regionalpolitik noch als der Teilbereich des keynesianisch-staatsinterventionistischen „sozialdemokratischen Konsensus", der die relativ besten Ergebnisse erbrachte. In Wales wie in Schottland fand seither eine gewisse Verbreiterung der industriellen Basis in den rückständigen Gebieten, eine begrenzte Nivellierung der sozio-ökonomischen Unterschiede statt; es gelang über die Bindung staatlicher Investitionshilfen an die Höhe der Arbeitslosigkeit sowie an die Einrichtung neuer Arbeitsplätze, eine weitere Verschärfung des regional-ökonomischen Entwicklungsgefälles auf der Insel zu verhindern. Doch bewirkte die Kombination von regionaler Wirtschaftsförderung und zentral-staatlicher Globalsteuerung auch eine verstärkte Zentralisierung und Bürokratisierung. Unterminiert wurden zugleich regionale Eigenständigkeit von Schotten und Walisern sowie lokale Eigenverantwortung im Bereich der Gemeinde. Die regionale Wirtschaftspolitik bedrohte damit die schottische und walisische Identität, ließ indessen die strukturellen Ursachen der regionalen Disparitäten unangetastet. Dies äußerte sich u. a. auch darin, daß in Schottland — trotz der staatlichen Hilfen — in den Jahren 1967— 1971 nochmals 27000 Arbeitsplätze im Primärsektor und gar 79000 Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie verlorengingen.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß das Nordseeöl allen Seiten als Ausweg aus der britischen Krise erschien. Den Schotten eröffnete es die Option politischer Unabhängigkeit: das öl bot aus der Sicht der schottischen Nationalisten die Gewähr, auch unabhängig von den Umverteilungsmechanismen des britischen Zentralstaates, in dem man über kurz oder lang vom Empfänger zum Financier werden würde, über langfristig beste Entwicklungsvoraussetzungen zu verfügen; „rieh Scots or poor Britons" lautete seither der Slogan der SNP.

In der Auseinandersetzung um das Nordseeöl geht es dabei nicht zuletzt um Umverteilungsfragen sowie um die Bestimmung der Produktionsmenge. Wirkliche Impulse für die Modernisierung der schottischen Wirtschaft sind nur von der angemessenen Verwendung der indi33 rekten Gewinne aus der Erdölproduktion zu erwarten, d. h. von den Staatseinkommen aus Lizenzen und Ertragsanteilen aus Steuern und Gewinnbeteiligungen an den meist als jointventures gegründeten Gesellschaften Für eine schottische Position ergibt sich hieraus, eine Beschränkung der Produktion anzustreben, die sich an schottischer Selbstversorgung orientiert; die Exportüberschüsse sollen mengenmäßig so gestaltet werden, daß die aus verschiedenen Quellen erwirtschafteten Staats-einnahmen noch sinnvoll investiv eingesetzt werden können. Sowohl der Erschließung der noch überwiegend agrarisch strukturierten und in der Vergangenheit entvölkerten highlands als auch der Umstrukturierung und Modernisierung der Industrie in den lowlands sind indes Grenzen gesetzt. Auch diese Bedingungen legen unter einem primär schottischen Blickwinkel die behutsame Ausbeutungsstrategie der Vorkommen nahe.

Anders die zentralstaatliche britische Politik: Sie betrachtete das Nordseeöl von Beginn an sowohl als Mittel zur gesamtbritischen (Energie-) Selbstversorgung als auch darüber hinaus als Weg zur Sanierung der chronischen Handelsbilanzdefizite, zur Ablösung der IWF-Kredite, zur Modernisierungsfinanzierung der britischen Industrie bei gleichzeitigem Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Die britischen Regierungen beschränkten sich indes nicht allein auf die Verwendung bereits realisierter Gewinne, sondern verfügten im Wechsel auf die Zukunft in erheblichem Umfang bereits über die zu erwartenden Erlöse, ohne daß sie zugleich eine gezielte Industriepolitik für Großbritannien oder gar für Schottland eingeleitet hätten. Die britische Politik der 70er Jahre verfolgte damit eine außerordentlich kurzsichtige, zwar keynesianisch orientierte, wiewohl den Keynes’schen Intentionen so sicherlich nicht gerecht werdende Strategie des „in the long run we are all dead". Allerdings stünde auch eine nationalistische Regierung in einem selbständigen Schottland vor dem gleichen Dilemma; auch sie wäre konfrontiert mit dem Problem, wohlfahrtsstaatlich-konsumorientierte Erwartungen und Umverteilungsforderungen der Wählerschaft mit einer investitions-und kapitalverwertungsorientierten Politik industrieller Entwicklung, die notwendig Konsumverzicht und Beschränkungen der Erdölförderung bedeuten würde, vermitteln zu müssen

An der Frage einer angemessenen Verwendung des Nordseeöls, an der man die ungleichen Entwicklungsbedingungen wie die asymmetrischen Machtkonstellationen in Großbritannien gegenwärtig wohl mit am besten aufzeigen kann, erweist sich zudem, daß der Schlüssel zum Verständnis der neo-nationalistischen Renaissance in Großbritannien, insbesondere im Fall Schottlands, weniger im keltischen Erbe begründet liegt. Das Aufkommen des Neo-Nationalismus stellt sich vielmehr dar als der innergesellschaftliche Reflex der verlorenen Weltmachtposition des Landes. In einer solchen Interpretation (wie sie am exponiertesten von Tom Nairn vertreten wird) zielen die neo-nationalistischen Bewegungen darauf ab, für Schottland wie für Wales mittels der klassischen, nationalstaatlichen Lösung politischer/völkerrechtlicher Unabhängigkeit Schutz zu bieten vor der jetzt als folgenschwer empfundenen Penetration durch englisches und/oder multinationales Kapital, Schutz auch vor der Ausbeutung der eigenen Ressourcen, vor negativer Umverteilung zuungunsten der eigenen Bevölkerung im Rahmen des britischen Gesamtstaates. In Großbritannien vollziehe sich damit gegenwärtig ein Prozeß, der in Kontinentaleuropa in der Frühphase der Industrialisierung stattgefunden hat. Vor allem diese Ungleichzeitigkeit sei es, die die Brisanz des Neo-Nationalismus für den britischen Staat begründe, dessen Zerfall von der Peripherie her, von den innerhalb wie außerhalb der bestehenden Institutionen agierenden nationalistischen Bewegungen, von den die Desintegration letztlich nur beschleunigenden Versuchen institutioneller Reform und Dezentralisierung etc. maßgeblich vorangebracht werden wird Mit dieser Analyse der britischen Gegenwartspolitik erfaßt Nairn zweifellos wesentliche Aspekte der Strukturkrise, in der sich der britische Zentralstaat seit geraumer Zeit befindet. In seiner Prognose überschätzt Nairn jedoch die politische Sprengkraft der neo-nationalistischen Bewegungen, unterschätzt er die Bestandsfähigkeit der britischen Politik. Die Argumentation ist zudem ahistorisch Die Kritik an seiner Position hat folglich vor allem darauf aufmerksam zu machen, daß er mit Blick auf seine Prognose vom bevorstehenden, wesentlich neo-nationalistisch verursachten Zerfall Großbritanniens vom historisch zugrunde gelegten analytisch-dialektischen Konzept ungleicher Entwicklungen abweicht. Während er die Geschichte Großbritanniens nach innen wie nach außen unter der Prämisse ungleichzeitig nebeneinander verlaufener und dialektisch vermittelter Prozesse von Entwicklung analysiert, dominiert in seiner Prognose eine grundsätzlich andere analytische Perspektive, die sich orientiert an einem vorgegebenen Zielpunkt gesellschaftlicher Entwicklung, den es zu erreichen gilt. Der Entwicklungsprozeß ist in der Sicht Naims folglich sowohl zielgerichtet als auch endlich, so daß die Ungleichzeitigkeiten letztlich aufgehoben werden. Orientiert an den dogmati-schen Positionen der marxistischen Entwicklungstheorie, verläßt Nairn in seiner Zukunftsperspektive die historisch begründete dialektische Analyse der Ungleichzeitigkeit und setzt an die Stelle ungleicher Entwicklung ein evolutionistisches „catching up", dessen Weg infolge der bestehenden Ungleichzeitigkeiten zwar Zwischenschritte erfordert, dessen Richtung jedoch von vorab definierten Entwicklungsprämissen bezeichnet ist.

Indem Nairn in prognostischer Perspektive von der historisch zugrunde gelegten Annahme ungleicher Entwicklung abweicht, schätzt er nicht nur die politischen Machtkonstellationen falsch ein, er verstellt sich zudem den Blick für die spezifischen Entwicklungsmöglichkeiten, die unter der Prämisse eines prinzipiell offenen dialektischen Fortganges der Geschichte aus den britischen Ungleichzeitigkeiten erwachsen könnten; denn daraus, daß in der Vergangenheit bestimmte Entwicklungsprozesse entweder ganz entfielen oder sich zumindest unterschiedlich entfalteten, resultieren ja nicht allein Tiefe und Brisanz der „englischen Krankheit", sondern in der historischen Besonderheit liegt zugleich die dialektische Chance der britischen Politik auf einen besonderen Lösungsweg aus der Krise.

VI. Resümee: Strukturdeterminanten des Neo-Nationalismus in Großbritannien

Die Renaissance des Nationalismus in Großbritannien Ende der 60er Jahre ist das Resultat einer Reihe miteinander verknüpfter Strukturveränderungen in der britischen Gesellschaft, die wir resümierend nochmals kurz benennen wollen. Besonderer Rang kommt dabei zweifellos der gewandelten Bedeutung der britischen Sonderrolle mit den aus ihr folgenden dreifachen, zudem wechselseitig aufeinander bezogenen Ungleichzeitigkeiten zu:

1. Die „strukturelle Antiquiertheit" der britischen Wirtschaft als dialektischer Reflex ihrer Vorrangstellung im metropolitan-kolonialen ökonomischen Verbundsystem des britischen Weltreichs in der Vergangenheit.

2. Die archaische Struktur des britischen Zentralstaates als Folge des geschichtlichen Erfolges des britischen Politik-und Verfassungsmodells in der Vergangenheit.

3. Das Nebeneinander von britischer und schottischer bzw. walisischer Identität als Folge der frühbürgerlich-minimalistischen Beschränkung des britischen Zentralstaates nach innen und der Konzentration seiner expansiven Kräfte nach außen.

In diesen drei Strukturdeterminanten liegen Schärfe und Besonderheiten der gegenwärti35 gen innergesellschaftlichen Krise Großbritanniens ebenso begründet wie das neuerliche Aufkommen der Nationalismen. Eine Reihe weiterer Ursachen treten jedoch hinzu:

4. Der Bürgerkrieg in Nordirland.

5. Der Rückzug aus der Weltpolitik.

6. Die Integration in die Europäische Gemeinschaft. 7. Die Fragmentierung der Klassenstruktur. 8. Das schwindende Vertrauen in den sozialdemokratischen Konsens.

All diese Strukturprobleme der britischen Gesellschaft führten in ihrem Zusammenwirken — versucht man die zweifellos komplexen Begründungs-und Wirkungszusammenhänge auf einen Nenner zu bringen — zu einer beträchlichen Auflockerung der bestehenden sozialen und politischen Bindungen. Sie erschütterten die britische Identität wie die tradierten Wertstrukturen und schufen damit Raum für veränderte oder neue Zuordnungen in den gesellschaftlichen und politischen Loyalitäten. Dies betrifft das Trauma, daß sich die nordirische Tragödie von Bürgerkrieg in Großbritannien wiederholen könne, so daß die britische Politik seit geraumer Zeit auf regionalistische Herausforderungen außerordentlich sensibel reagiert.

Es betrifft den Rückzug aus der Weltpolitik, durch den das britische Selbstverständnis von der Führungsrolle Großbritaniens auf das einer europäischen Macht mittlerer Größe reduziert wurde. Zudem begann man, ausgelöst durch die eigenen Erfahrungen mit der Dekolonisierung, auch in Schottland und Wales die Frage nach den politischen, ökonomischen und kulturellen Zentren im eigenen Lande, nach Abhängigkeit oder Eigenständigkeit zu stellen.

Dies gilt für den EG-Beitritt, durch den sich nicht nur die internationale Position Großbritanniens, sondern wegen des dialektischen Innen-Außen-Verhältnisses auch die Rolle des britischen Zentralstaates im Innern veränderte und sich die Gewichte zwischen Zentrum und Peripherie verschoben. Aus der Hin-wendung Großbritanniens nach Europa er-wuchsen als Pendant im Innern fast wie selbstverständlich die Forderungen nach funktionaler wie territorialer Dezentralisierung des politischen Systems, nach autonomer, nicht durch den britischen Zentralismus vermittelter Beteiligung an den politischen Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene.

Es gilt besonders für die sich seit geraumer Zeit vollziehende vielfältige Fragmentierung der Klassenstruktur, die sich ergibt aus den zahlreichen sozialen Disparitäten, aus dem industriell-technologischen Wandel mit seinen drastischen Auswirkungen auf Berufs-und Sozialgefüge, aus der Ausprägung regional-ökomonischer Konfliktlinien, der Herausbildung neuer, als postmateriell zu bezeichnender Wertsysteme und Konfliktmuster etc. Im politischen System äußert sich dies nicht zuletzt im Rückgang fester, in der Vergangenheit im Zeichen der Klassenencleavage stehender Parteipräferenzen von Arbeiter-und Mittelklassenwählerschaft, im Erstarken der Dritt-parteien sowie in der Erosion des von Tories und Labour bestimmten Zweiparteiensystems. Die schwindende Legitimationskraft resultiert aber vor allem aus der Strukturkrise des Wohlfahrtsstaates und dem Vertrauensverlust des sozialdemokratischen Konsensus, die zunehmend weniger in der Lage sind, ihren Zielvorstellungen in der sozialen Wirklichkeit auch nur annährungsweise zu entsprechen. Individuell mit Blick auf die sozialen Ungleichheiten und die wohlfahrtsstaatliche Absicherung, wie territorial mit Blick auf die regionalen Disparitäten erwiesen gerade die gescheiterten Programme der Labour-Regierungen die strukturelle Erfolglosigkeit des sozialdemokratischen Konsensus. Im Zeichen sich verknappender Ressourcen und restriktiver Wachstumsbedingungen verschärften sich die Verteilungskämpfe vielmehr, zugleich individuell wie unter regionalen und nationalen Gesichtspunkten. Infolge der wachsenden Krisenanfälligkeit bei gleichzeitig abnehmenden Lösungsmöglichkeiten erschöpft sich das wohlfahrtsstaatliche System in der subjektiven Sicht vieler mittlerweile in Verrechtlichung, Bürokratisierung und Zentralisierung, in der Einrichtung stets neuer Funktionseliten, was die Forderungen nach Dezentralisierung geradezu herausfordert. Durch beide Aspekte erfuhr der Nationalismus beträchtlichen Auftrieb.

Unter derartigen gesellschaftsstrukturellen Bedingungen verwundert es nicht, daß der laB tent stets vorhandene Nationalismus in Großbritannien Ende der 60er Jahre aktualisiert werden konnte und zu einer ernst zu nehmenden Kraft aufstieg. Seine politische Bedeutung hängt allerdings nicht allein von strukturellen Determinanten ab; sie resultiert selbstverständlich auch aus den je besonderen politisch-aktuellen wie wirtschaftskonjunkturellen Konstellationen, aus den konkreten politischen Handlungen der verschiedenen politischen Organisationen und Gruppen der nationalen Bewegung etc. Wie wichtig kurzfristige politische Bedingungen, konjunkturell veränderte Ausgangslagen sein können, zeigen nicht zuletzt das Scheitern der Devolution-Referenda, die Stimmenverluste von SNP und Plaid Cymru und die scheinbare Rückkehr zur Normalität des Zweiparteiensystems bei den Unterhauswahlen vom Mai 1979.

Wenn wir die strukturellen Aspekte des britischen Neo-Nationalismus in den Vordergrund der Analyse gestellt haben, dann geschah dies nicht in Verkennung der handlungstheoretischen Dimension, sondern allein in der Absicht, mögliche langfristige Trendveränderungen und Entwicklungslinien in der britischen Gesellschaft aufzuzeigen. Der Befund ist infolge der archaischen Struktur des britischen Zentralstaates außerordentlich widersprüchlich: Einerseits beschränken die überkommenen Strukturen die Innovationsfähigkeit der britischen Politik; dabei erweist sich die Politik weitgehend als reformunfähig, stellt sich Stabilität her durch ein sich häufig selbstblockierendes politisches System.

Andererseits haben die Ungleichzeitigkeiten zwischen der traditierten politischen Kultur und den sozialtechnologischen Steuerungsanforderungen im Wohlfahrtsstaat in Großbritannien einer Reihe von modernistischen Tendenzen entgegengewirkt, die in Richtung auf die Ausblendung politischer Konflikte, die weitreichende gesellschaftspolitische Akkommodation der pluralistischen Kräfte, die „neokorporative" Formierung und Steuerung gesellschaftlicher Entwicklung tendieren und die dort, wo sie eingetreten sind, zunehmend als Fehlentwicklungen erkannt werden.

Die außerordentliche Konflikthaftigkeit der britischen politischen Kultur, kombiniert mit der allgemeinen Unzufriedenheit über die nunmehr eng begrenzten Lösungsmöglichkeiten des politischen Systems, fordert zudem die Suche nach neuen Wegen und Inhalten britischer Politik geradezu heraus. Das Auftreten des Neo-Nationalismus, der Versuch institutioneller Reform durch Dezentralisierung, sind hierfür typische Beispiele. Insofern kann man gerade aus der besonders gearteten Antiquiertheit der britischen Politik und ihrer zur Selbstblockade neigenden Struktur auch die spezifisch britische Chance auf grundlegende Veränderungen ableiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wir haben uns in diesem Überblicksartikel aus Platzgründen in vielfältiger Weise beschränken müssen; dies führt notwendig zu hypothesenhafter Darstellung und holzschnittartiger Argumentation. Zur argumentativen Entfaltung s.demnächst Dirk Gerdes/Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze, Die regionalistische Herausforderung. Großbritannien — Frankreich — Spanien. Königstein/Ts. 1980.

  2. Anders Richard Rose, The United Kingdom as a Multi-national State, in: Studies in British Politics. A Reader in Political Sociology, ed. by R. Rose, 3rd ed., London 1976, S. 115ff.

  3. So u. a. Michael Hechter, Internal Colonialism. The Celtic Fringe in British National Development, 1536— 1966, London 1975, aber auch eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen, die hier nicht dokumentiert werden können.

  4. Vgl. u. a. Jack Brand, The National Movement in Scotland, London 1978, S. 144 ff.; Chris Cook. The Challengers to the Two-Party System, in: Chris Cook/John Ramsden (Eds.), Trends in British Politics Since 1945, London 1978, S. 132ff.

  5. Ähnlich Keith Webb, The Growth of Nationalism in Scotland, Glasgow 1977, S. 75ff.

  6. Vgl. James G. Kellas, The Scottish Political System, 2nd ed, Cambridge Univ. Press 1975, passim, u. a. S. 132 ff.

  7. Zu Wahlentwicklung und Wählerverhalten in Schottland vgl. James G. Kellas, a. a. O., passim; Jack Brand, a. a. O., S. 144 ff; William L. Miller et al., The Connection Between SNP Voting and the Demand for Scottish Self-Government, in: European Journal of Political Research, vol. 5 (1977), S. 83ff.

  8. James G. Kellas, a. a. O., S. 132 f.

  9. Michael Hechter, a. a. O.

  10. Ebenda, S. 210.

  11. Engi, zuerst 1968; dt: Industrie und Empire. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750, 2 Bde., Frankfurt/M. 1969.

  12. S. Ernst Gellner, Thought and Change, London 1964.

  13. S. Tom Nairn, The Break-up of Britain. Crisis and Neo-Nationalism, London 1977.

  14. Vgl. Michael Hechter, Internal Colonialism, a. a. O., passim.

  15. Vgl. Alan Butt Philip, The Welsh Question. Na-tionalism in Welsh Politics. 1945— 1970, Univ, of Wales Press, Cardiff 1975, passim; Alan Butt Philip, Devolution and Regionalism, in: Chris Cook/John Ramsden, a. a. O., S. 157ff.; Anthony H. Birch, Political Integration and Disintegration in the British Is-les, London 1977; Vernon Bogdanor, Devolution, Oxford Univ. Press 1979, S. 188ff.

  16. So etwa Ray Corrado, The Welsh as a Nonstate Nation, in: Judy S. Bertelsen (Ed.), Nonstate Nations in International Politics. Comparative System Analysis, New York 1977. S. 131 ff., insbesondere S. 141, S. 162 f.

  17. Überblicke über die schottische Geschichte geben u. a. J. D. Mackie, A History of Scotland, Harmondsworth 1964; The Edinburgh History of Scotland, 4 vols., darunter als vol. 4: William Ferguson, Scotland 1689 to the Present, Edinburgh 1978.

  18. Vgl. Keith Webb, a. a. O., S. 89 f.

  19. Vgl. Christopher Harvie, Scotland and Nationalism. Scottish Society and Politics, 1707— 1977, London 1977, S. 72 ff.

  20. Vgl. William Ferguson, a. a. O., S. 36ff.; Keith Webb, a. a. O. S. 21 ff.

  21. Zur Wirtschaft s. u. a. S. G. E. Lythe/J. Butt, An Economic History of Scotland. 1100— 1939, Glasgow 1975, passim; Bruce Lenman, An Economic History of Scotland 1660— 1976, London 1977; zur Union dort S. 44 ff.

  22. Christopher Harvie, a. a. O., S. 16.

  23. Vgl. ebd. passim; John Mercer, Scotland. The Devolution of Power, London 1978, S. 41 ff.

  24. Vgl. Tom Nairn, a. a. O., S. 126ff.; auch Christopher Harvie, a. a. O., S. 118ff.

  25. Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frankfurt/M. 1969, passim, u. a. S. 49ff.

  26. Tom Nairn, a. a. O„ S. 19.

  27. Die zunehmende Entfremdung bestätigten zahlreiche Meinungsumfragen; vgl. für viele die Daten bei Jack Brand, a. a. O., S. 144 ff.; zur Devolution — Gesetzgebung vgl. Vernon Bogdanor, a. a. O., passim.

  28. S. Tom Nairn, a. a. O., S. 60 ff.

  29. Vgl. insbesondere James Kellas, a. a. O., passim; Vernon Bogdanor, a. a. O., S. 74 ff.

  30. Eric Hobsbawm, a. a. O., Bd. 1, S. 12.

  31. So Christopher Harvie, a. a. O., S. 74; zum folgenden s. ebd.

  32. Zur Frage des Nordseeöls vgl. aus schottischer Sicht insbesondere die Arbeiten von D. I. MacKay & G. A. MacKay, u. a.: The Political Economy of North Sea Oil, London 1975; einen anderen Standpunkt vertreten: Colin Robinson/Jon Morgan, North Sea Oil in the Future. Economic Analysis and Government Policy, London 1978.

  33. Ähnlich Christopher Harvie, a. a. O., passim, u. a. S. 43, S. 273 ff; zum programmatischen Anspruch der SNP vgl. u. a.: The Radical Approach. Papers on an Independent Schotland, ed. by Gavin Kennedy, Edinburgh 1976; zur Interpretation vgl. Jack Brand, a. a. O., passim; Keith Webb, a. a. O., S. 105ff.

  34. S. Tom Nairn, a. a. O., passim, u. a. S. 90ff.

  35. Ähnlich in der Einschätzung Eric Hobsbawm in seiner Auseinandersetzung mit Nairn, s. Eric Hobsbawm, Some Reflections on The Break-up of Britain’, in: New Left Review 105, Sept. -Oct. 1977, S. 3 ff.

Weitere Inhalte

Rainer-Olaf Schultze, Dr. phil., geb. 1945 in Göttingen; Wiss. Assistent an der Ruhr-Universität Bochum; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Romanistik an den Universitäten Heidelberg und Harvard/USA; Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Wahlen und politischer Wandel" am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Wahlen in Deutschland (zus. mit B. Vogel und D. Noblen), 1971; Die amerikanische Präsidentenwahl 1972, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/73; Die Bundestagswahl 1976. Prämissen und Perspektiven, in: ZParl 4/1975; Politik und Gesellschaft in Kanada, 1977; Wahlanalyse im historisch-politischen Kontext, in: Wählerbewegungen in der europäischen Geschichte, Historische Kommission Berlin, 1980 (im Druck).