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Sozialismus und Nationalsozialismus. Dargestellt an Hand der Beiträge Willi Eichlers zum demokratischen Sozialismus | APuZ 20/1980 | bpb.de

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APuZ 20/1980 Die deutsche Soziologie zwischen Totalitarismus und Demokratie Sozialismus und Nationalsozialismus. Dargestellt an Hand der Beiträge Willi Eichlers zum demokratischen Sozialismus

Sozialismus und Nationalsozialismus. Dargestellt an Hand der Beiträge Willi Eichlers zum demokratischen Sozialismus

Erhard Forndran

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Verhältnis von Sozialismus und Nationalsozialismus ist in letzter Zeit zum Thema für die politisch interessierte Öffentlichkeit geworden. Aber auch jenseits dieser tagespolitischen Auseinandersetzungen verdient diese Frage eine wissenschaftliche Diskussion. Dabei sind zwei Dimensionen interessant: die tatsächlichen historischen Prozesse und die theoretischen und programmatischen Grundlagen beider politischer Strömungen. Hier wird lediglich der zweite Komplex problematisiert. Dies geschieht an Hand der Schriften Willi Eichlers zum demokratischen Sozialismus. Der demokratische Sozialismus wird damit in seinen Unterschieden zum Nationalsozialismus aber auch zum Kommunismus dargestellt. Neben der Untersuchung des Verhältnisses des demokratischen Sozialismus zu diesen beiden politischen Strömungen wird die Frage nach den ethischen, philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen des demokratischen Sozialismus behandelt. Auf der Basis der Schriften Eichlers wird der politische Vorwurf des Kollektivismus und des Antipluralismus an den demokratischen Sozialismus zurückgewiesen.

I. Fragestellung

Die Frage nach dem Verhältnis von Sozialismus und Nationalsozialismus ist in den letzten Monaten zum Thema für die politisch interessierte Öffentlichkeit geworden. Aber auch jenseits dieser tagespolitischen Auseinandersetzungen verdient diese Frage eine wissenschaftliche Diskussion. Dabei ist das Verhältnis von Sozialismus und Nationalsozialismus zumindest in zwei Dimensionen zu behandeln: Eine gründliche Analyse dieser Beziehungen verlangt einerseits eine Aufarbeitung der historischen Fakten und andererseits eine Über-prüfung der theoretischen und programmatischen Grundlagen beider politischer Strömungen. Im folgenden soll bewußt auf die Darstellung der historischen Seite des Problems verzichtet werden

Die in Frage stehenden Behauptungen, so weit sie Theorie und Norm von Sozialismus und Nationalsozialismus betreffen, besagen, daß es eine programmatische Identität dieser Ideologien gibt. Beiden Ideologien sei gemeinsam, daß sie ihre eigenen Ansichten verabsolutieren, das Kollektiv gegenüber der individuellen Freiheit betonen und einen Ausschließlichkeitsanspruch eines geschlossenen Systems zu Lasten des Modells einer offenen pluralistischen Gesellschaftsordnung verfolgen

Es ist zu überprüfen, ob diese Ansichten zutreffend sind. Diese Überprüfung soll an Hand der Beiträge von Willi Eichler zum demokratischen Sozialismus geschehen Eichler, einer der großen Theoretiker des demokratischen Sozialismus und einer der Väter des Godesberger Programms der SPD, ist ein ausgezeichneter Zeuge, da er sich bereits seit den dreißiger Jahren mit Problemen beschäftigt hat, die eine Antwort auf die aufgeworfenen Fragen möglich machen. Diese Konzentration auf die Überlegungen Willi Eichlers führt zu weiteren Begrenzungen der folgenden Überlegungen. Die eine Begrenzung besteht darin, daß Eichlers Aussagen nur eine Form des Sozialismus betreffen — den demokratischen Sozialismus. Dies aber ist akzeptabel, da Eichler sich nicht nur mit dem Nationalsozialismus, sondern auch mit dem Kommunismus kritisch auseinandersetzt. Die zweite Begrenzung ergibt sich daraus, daß als Quelle für die Darstellung der theoretischen und programmatischen Grundlagen des demokratischen Sozialismus allein die Schriften Eichlers benutzt werden. Diese zweite Begrenzung behauptet, daß es eine weitgehende Kontinuität sozialdemokratischen Denkens sowohl zum Godesberger Programm als auch vom Godesberger Programm bis zur konkreten Programmatik des Orientierungsrahmens der SPD gibt und daß letzterer keinen Ersatz für das Godesberger Programm in Richtung auf eine Marxismusrenaissance in der SPD darstellt Die Schriften von Eichler sollen daher im folgenden befragt werden: erstens nach der Stellung des demokratischen Sozialismus zum Nationalsozialismus, zum Kommunismus und zum westlichen Wirtschaftssystem und zweitens nach den ethischen, philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen des demokratischen Sozialismus.

II. Das Verhältnis des demokratischen Sozialismus zu anderen politischen Strömungen

Willi Eichler hat sich bereits früh und gründlich mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. In einer Reihe von Beiträgen in den dreißiger und vierziger Jahren ist er der Frage nach den Schuldigen für den Aufstieg und Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland und der relativ erfolgreichen Politik des Dritten Reiches bis zum Kriegsausbruch nachgegangen. Dabei fällt sein Urteil sehr differenziert aus Die Machtergreifung war für ihn nur möglich, „weil keine einzige soziale Schicht der Nation von Anfang an und kompromißlos den Nationalsozialismus als das moralische Ungeheuer bekämpft hat". Eichler verweist aber auch auf die politischen Rahmenbedingungen der zwanziger Jahre als Startchance für den deutschen Faschismus: die Friedensverträge zum Abschluß des Ersten Weltkrieges, die in seinen Augen vor allem die freiheitlich-demokratischen Kräfte behinderten, die Spaltung der Sozialdemokratie in der Revolution, die Weimarer Verfassung, die auch den Feinden der Freiheit die Freiheit gab, die Freiheit der anderen zu zerstören, und schließlich die Tatsache, daß mit dem Ende des Kaiserreichs nur die Form, nicht aber die Inhalte der Politik verändert wurden. Neben diesen allgemeinen Bedingungen nennt Eichler die Industriellen (er betont allerdings, daß es nicht alle Industriellen waren), die mit Hilfe Hitlers die Gewerkschaften und die Sozialpolitik zerstören wollten, und die Kommunisten, die zwar mit ihrer Kritik teilweise recht hatten, die aber die ganze demokratische Republik liquidieren und eine sowjetische Republik begründen wollten. Er spricht jedoch auch die Arbeiterschaft nicht frei von Schuld; nach der Zerschlagung ihrer Organisationen im Jahre 1933 hätten sie teilweise das Regime wegen seiner innenpolitischen und wirtschaftlichen Erfolge toleriert Genauso deutlich fällt die Kritik Eichlers an den anderen Mächten und ihrer Politik gegenüber Hitler aus. Er geißelt die Politik der katholischen Kirche scharf: . 1933, nachdem schon Hunderte von Sozialdemokraten, Kommunisten und Demokraten ermordet waren und Tausende in Konzentrationslagern saßen — es war der ganzen Welt bekannt —, schloß diejenige Macht, die auf die Moralität in der Welt einen besonderen Anspruch erhebt, ein Konkordat mit Hitler." Auch die Großmächte werden von ihm verurteilt: Der Flottenvertrag zwischen Berlin und London und die Olvmpiade in Berlin hätten Hitler nicht nur außen-politischen Spielraum eingeräumt, sondern vor allem seiner Politik eine Scheinlegitimation gegeben. Die Westmächte hätten Hitler solange gewähren lassen, wie sie glaubten annehmen zu können, daß seine Innenpolitik nur gegen die Sozialisten und ihre Organisationen gerichtet und seine aggressive Außenpolitik nach Osten angelegt sei. Erst „in dem Augenblick .... als Deutschland mit eindeutig imperialistischen und machtpolitischen internationalen Ansprüchen auftrat da erst begann der Haß gegen das Hitlersystem“ Und: „Das Nazisystem ist im wesentlichen nur deshalb schließlich von den Großmächten angegriffen und ... vernichtet worden, weil es für sie eine außenpolitische Gefahr geworden war, und nicht weil es eine moralische Bedrohung der Menschheit darstellte."

Es ist verständlich, daß diese frühen Analysen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems dazu führten, daß Eichler schon vor dem Kriege die Niederlage des Dritten Reiches im erwarteten Kriege wünschte und nach dem Kriege begrüßte Andererseits stellt er später über die deutschen sozialdemokratischen Emigranten fest: „... wir forderten nicht den Krieg gegen Hitlerdeutschland! Unser ganzes Bemühen ging daraufhin, Hitler mit friedlichen Mitteln zu stürzen" Eichler bedauert allerdings, daß die Emigranten wenig Unterstützung in den westlichen Staaten fanden und kaum Einfluß auf die westliche Politik gewannen

Auch wenn Eichler nachweisen kann, daß die demokratischen Sozialisten gegen Hitlers System schon früh als Rufer in der Wüste gegen den Zeitgeist auftraten, entsteht bei ihm doch kein Schwarz-Weiß-Gemälde. Er betont daß neben der modernen Ar-organisiserten beiterbewegung auch große Teile der übrigen Bevölkerung ihre Abscheu gegen die Terror-herrschaft entschieden und in opferreichen Kämpfen zum Ausdruck gebracht hätten Gleichzeitig räumt er auch denjenigen, die mit inneren Reserven" der Tyrannei dienten, weil sie glaubten, in dieser totalen Gewaltpolitik nur so das Schlimmste verhindern zu können, ein Recht auf ihre Handlungen ein und meint, daß auf der Basis einer gründlichen Analyse der schrecklichen Verfehlungen aller Beteiligten eine Politik denkbar sei, die eine Wiederholung ausschließe

Auch wenn Eichler immer wieder deutlich gegen Hitlers System Stellung genommen hat, hat er doch gleichzeitig schon 1939 deutlich gemacht, daß das Eintreten gegen den Nationalsozialismus und für die Ziele des Sozialisnus durchaus mit der Berücksichtigung nationaler Interessen vereinbar sei. Nach dem Kriege hat er diese Haltung wiederholt, die Westverschiebung Polens abgelehnt den Separatismus der Nachkriegsjahre verurteilt und immer wieder die Vereinbarkeit des Internationalismus der Arbeiterklasse mit legitimen nationalen Interessen herausgestrichen

Es liegt auf der Hand, daß Eichler sich auch gegen die These von der Kollektivschuld gewandt und festgestellt hat daß ein Terrorregime wie das des Nationalsozialismus auch in anderen Staaten denkbar sei Diese Bereitschaft zur Differenzierung verhindert allerdings nicht daß Eichler sich für eine totale Ausrottung des Faschismus eingesetzt hat

and Landes-, Hochverrat und Widerstand aller Schattierungen gegen Hitler und sein Regime für legitim hält Er warnt in diesem Zusammenhang vor einer neuen Dolchstoßlegende, die die Gegner Hilters zu Gegnern Deutschlands machen wolle. Konsequent forderte er, daß diejenigen, die für Hitler gearbeitet haben, im neuen Deutschland keine öffentlichen Funktionen mehr einnehmen sollten, wenn auch die Form der Entnazifizierung von ihm kritisiert wird „Die Kräfte für den Neuauftau mußten aus den Reihen derjenigen komhen, die sich durch die Naziherrschaft nicht in hrer rechtlichen Überzeugung hatten beein-flussen lassen, deren demokratische Überzeugung außer Frage stand. Dazu gehörten natürlich nicht nur Sozialdemokraten. Aber sie waren die einzige große politische Gruppe, die in ihrer Haltung gegenüber den Nazis niemals geschwankt hatte.“

Die Position Eichlers — und er ist hier nur ein Sprecher des demokratischen Sozialismus — gegen den Nationalsozialismus ist klar. Dieser war und ist ohne Einschränkung zu verurteilen. Aber nicht nur die demokratischen Sozialisten waren in den Augen Eichlers Gegner des Faschismus; und die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus — das zeigen die Äußerungen Eichlers zum Kommunismus schon in den dreißiger Jahren — bedeutete keine Legitimierung kommunistischer Politik.

Schon vor dem Kriege und im Kriege hat Willi Eichler die Distanz des demokratischen Sozialismus zum Kommunismus beschrieben. 1937 verurteilte er die Politik der Kommunisten im spanischen Bürgerkrieg und warf ihnen vor, daß eine Reihe von Kämpfern für die Republik spurlos verschwand und mit großer Wahrscheinlichkeit das Opfer des Terrors einer der linken Parteien Spaniens geworden ist -Die Politik der Kommunisten in den dreißiger Jahren wird als Hilfe für Hitler in aller Klarheit schon 1942 verurteilt, „wenn die Kommunistische Internationale,... im nationalen Rahmen der verschiedenen Länder, für Ziele gefochten hat, die nur der Rücksicht auf russische Interessen entsprangen und in den betreffenden Ländern selber Katastrophen begünstigten:

Der Defaitismus in Frankreich hat zur Niederlage im Kampf gegen Hitler beigetragen; das Zusammengehen Thälmanns mit Hitler gegen die Regierung Braun-Severing hat zum Sieg der Nazis unmittelbar geholfen; und der „Freundschafts“ -Pakt zwischen Ribbentrop und seinem Partner in Moskau hätte unter Umständen genügen können, Hitler den Krieg gewinnen zu lassen." Eichlers kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in Rußland betrifft allerdings nicht nur die sowjetische Außenpolitik und die Politik der Komintern. sondern das politische System in Rußland insgesamt

Eichler macht dabei deutlich, daß auch in einem Krieg die inneren Schwächen eines Bündnispartners offengelegt werden müssen. Scharf geißelt er die Diktatur in Rußland und in diesem Zusammenhang die Schauprozesse der dreißiger Jahre: . Und das bedeutet das Eingehen auf die Tatsache, daß man in Ruß-land mit der menschlichen Freiheit und Würde barbarisch umgegangen ist." Es „ist besonders deutlich geworden, daß die russischen Machthaber die Freiheit als ihren größten Feind ansehen" und: „Die Kommunisten haben, wo sie konnten, ihre Diktatur errichtet — und stoßen nun unweigerlich ... auf das Freiheitsstreben, das keine Diktatur auf die Dauer völlig niederhalten oder als imperialistische Verführung denunzieren kann" Hier wird bereits deutlich, wie sehr der demokratische Sozialismus nach zwei Seiten für die Demokratie kämpfen muß: gegen den Faschismus und gegen den Kommunismus. Es liegt auf der Hand, daß Eichler auf dieser Grundlage eine Fülle einzelner politischer Maßnahmen der sowjetischen Politik ablehnt. Schon 1945 wirft er der Sowjetunion und 1947 der DDR die Errichtung von Konzentrationslagern vor er verurteilt die sinnlosen Demontagen und verwirft die zwangsweise Einheitspolitik der Kommunisten In diesem Zusammenhang betont er, daß auch in Rußland der Staat nicht abgestorben sei, daß die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel der Wirtschaft eben nicht einen automatischen Fortschritt der Menschheit bedeute und daß in der Sowjetunion nicht mehr die Möglichkeit bestände, daß die Arbeiter ihre Interessen gegen die Staatsbürokratie artikulieren könnten Die Erfahrungen, die in Osteuropa mit dem Kommunismus gemacht worden sind, nennt er bedrückend und folgert: „Da aber für Sozialdemokraten die Freiheit und die ungehinderte Teilnahme am politischen Leben eine Grundfrage ist, einer ihrer Grundwerte, haben sie allen Grund, das kommunistische Experiment nicht für ein sozialistisches zu halten. Es ist inzwischen zu seinem Gegenteil geworden." Allerdings geht es Eichler nicht nur um die Abgrenzung zum Kommunismus; er fordert vielmehr zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf, die durch „eine ra-dikalere Politik der Sozialisten und Demokraten im Westen" gekennzeichnet sein müsse

Aus der deutlichen Ablehnung des Faschismus und des Kommunismus durch Eichler als einem der Sprecher des deutschen demokratischen Sozialismus ist allerdings nicht zu schließen, daß Eichler unkritisch das westliche Wirtschaftssystem akzeptiert.

Dabei ist der Hinweis wichtig, daß sich die Position Eichlers — und hier sicherlich nur stellvertretend für den demokratischen Sozialismus — zum Wirtschaftssystem in Nuancen geändert hat.

In den frühen Schriften wurden die Entmachtung der Konzerne und Enteignung der Produktionsmittel noch als Mittel zur Befreiung des Menschen angesehen. Gleichzeitig wurde der Unterschied zwischen der Idee der Freiheit und dem historischen Liberalismus als eine — eben nur begrenzt der Idee nahe-kommenden — Form politischer und ökonomischer Freiheit betont. Eichler ging es bereits 1938 darum, Freiheit nicht nur als Recht der Kapitalisten und Besitzenden zu begreifen, sondern auch als das Recht des arbeitenden Menschen auf Freiheit von Not und Freiheit zur Selbstgestaltung des Lebens Allerdings folgerte er schon damals, daß diese Freiheit nicht durch einen allgemeinen Kollektivismus zu erreichen sei. „In der Tat ist nicht das Privateigentum als solches die Quelle des Übels, sondern die Tatsache, daß der Arbeiter genötigt ist, wenn er überhaupt leben will, beim Kapitalisten zu dessen Bedingungen zu arbeiten." Und: „Das Ideal der Freiheit verlangt daß man sich in die Selbständigkeit eines Menschen nur dann einmengt, wenn er selber zu Unrecht die Freiheit anderer gefährdet.“ Schon vor dem Kriege findet sich bei Eichler die Feststellung, die nicht mehr grundsätzlich Verstaatlichung und Kollektivismus, sondern die Verknüpfung der Freiheit aller in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Handelnden fordert: „Wo keine Monopole herrschen, da soll das Eigentum an Produktionsmitteln nicht angerührt werden, um die freie Tätigkeit nicht ohne Not einzuschränken. Zur möglichsten Schonung der freien Tätigkeit veranlaßt uns ferner die Überlegung, daß die freie Tätigkeit auch die schöpferischere ist." In diesem Zusammenhang gebraucht er dann bereits 1938 einen Begriff, von dem in ähnlicher Form andere später glaubten, ihn erfunden zu haben. Die sozialistische Gruppe in London hat 1938, „da sie den Markt nicht abschaffen, sondern ihn sozialistisch, ausbeutungsfrei, gestalten will, die Bezeichnung „sozialistische Marktwirtschaft" gewählt

In Eichlers Schriften nach dem Kriege ist die Hinwendung zu einem nichtkollektivistischen Wirtschaftssytem eindeutig, auch wenn die Kritik an Kartellen und Monopolen und ihrer Freiheit einschränkenden Funktion in den westlichen Gesellschaftssystemen bestehen bleibt. Von Bedeutung ist die Erkenntnis, daß die Sozialisierung nicht — wie früher erwartet — „automatisch alle gesellschaftlichen Mängel beseitigte, sondern durch die Konzentration von Staats-und Wirtschaftsmacht die Gefahr eines bürokratischen Apparates vielfältig verstärkte" Entscheidend ist weiterhin die Erkenntnis, daß die unkontrollierte Macht der Produktionsmittelbesitzer durch die wachsende Bedeutung der Gewerkschaften, durch die Mitbestimmung der Arbeiterschaft und durch die Sozialpolitik in Grenzen gehalten werden könne Die Folgerungen aus diesen Überlegungen bedeuten zwar keine unkritische Zustimmung zum westlichen Wirtschaftssystem, wohl aber die Erwartung, daß in diesem System Freiheiten auch für die Minderprivilegierten und für die Arbeiter zu erreichen sind.

III. Die ethischen, philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen des demokratischen Sozialismus

Dieses Ziel der Partizipation auch der Minder-privilegierten am politischen Prozeß in Freiheit ist nun für den demokratischen Sozialisten Eichler keine willkürliche Setzung, aber auch keine Politik mit dem Anspruch eines nur sachlichen Konzeptes. Eichler ist sich bewußt (und betont dies immer wieder), daß Politik letztlich auf ethischen Werten zu gründen ist Für ihn ist Politik Handeln, nicht Zusehen, sondern tägliches Entscheiden und tägliche Möglichkeit zum Irrtum. Er verweist in diesem Zusammenhang auf einen Ausspruch Nathan des Weisen bei Lessing: „Begreifst Du aber, um wieviel leichter andächtig schwärmen als gut handeln ist; daß selbst der allerschlaffste Mensch ... andächtig schwärmt, um nur gut handeln nicht zu brauchen?" Jeder politisch Handelnde aber steht immer wieder nicht nur vor der Frage, „was getan wird und was geschieht, sondern bei der Frage, was getan werden soll und was geschehen sollte". Damit glaubt Eichler wohl zu Recht beim Kern der Politik angelangt zu sein, „bei den Grundwerten der Moral und des Rechts, bei der Rolle der Ethik im persönlichen und gesellschaftlichen Leben“

Eichler verwirft den Rechtspositivismus und verweist auf den Unterschied zwischen Legalität und Legitimität: „Der Rechtsstaat bedarf zwar der Gesetze, aber er wird nicht nur durch deren Existenz definiert. Denn auch Gesetze können Unrecht sein. Im Hitler-Staat sind sie das weitgehend gewesen. Erst er, so scheint mir, hat den Positivismus endgültig ad absurdum geführt" Von dieser Einsicht her und nicht von der Frage des Erfolges oder Mißerfolges her legitimiert Eichler den Widerstand gegen Hitler

Eichler bemüht sich, die Grundwerte zu definieren, auf denen der demokratische Sozialismus beruht und Politik betreibt. . Allerdings ist es klar, daß es nicht das höchste Ziel des Lebens ist, auf alle Fälle glücklich zu sein, sondern eine Persönlichkeit, die darauf aus ist, ihrer Würde gemäß zu leben, um sich selbst achten zu können, und die die Mittel in die Hand zu bekommen wünscht, ihr Leben würdig und frei gestalten zu können.“

Eichler sieht die Grundwerte des demokratischen Sozialismus (in Übereinstimmung mit dem Godesberger Programm) in den Zielen Freiheit, Gleichheit bzw. Gerechtigkeit und Solidarität Nun erkennt er allerdings, daß diese drei Werte bei oberflächlicher Betrach-tung in harter Konkurrenz stehen können: Die extreme Überbetonung des Freiheitszieles des einzelnen kann die Gleichheit aufheben, die alleinige Betonung der Gleichheit kann die freie Entscheidung des Individuums unmöglich machen. Er weist darauf hin, daß der demokratische Sozialismus sich nicht für nur einen der beiden Werte entscheidet, sondern sie zu versöhnen sucht und damit zugleich die Möglichkeit des dritten Wertes Solidarität begründet. Freiheit ist durch das Prinzip der Gleichheit für demokratische Sozialisten nicht beseitigt, sondern wird überhaupt erst durch das Ziel der Gleichheit „für alle gesichert“ Gleichzeitig hebt Eichler hervor, daß das liberale Verständnis von Freiheit als bloßer Ausschluß von Beschränkungen aller Art eben nicht zur Freiheit führe. Dann müßten die Menschen nicht nur im dauernden Widerstreit mit den Interessen anderer leben, sondern wegen der unterschiedlichsten und sich teilweise ausschließenden Interessen innerhalb eines Individuums in einen dauernden Konflikt mit sich selbst geraten.

Eichler sieht in der Freiheit ein zentrales Leitthema des Sozialismus; diese könne aber nicht „schrankenlos“ sein. „Jedes Kollektiv, insbesondere jeder Staat schränkt sie ein. Und wenn eine solche Beschränkung nicht durchweg abgelehnt werden soll..., dann entsteht die Frage nach dem Maßstab, der uns die eine Beschränkung als notwendig, die andere als unerlaubt ausweist" Er ergänzt: „Die ... Person Moloch hat sich nicht nur gegen den eines sie bedrohenden Kollektivs zu verteidigen, sondern auch gegen einen sie herabziehenden und seelenlosen Individualismus ... Freiheitlicher Sozialismus ist an den Personalismus geknüpft, der über sich selbst hinaus stets die Gemeinschaft bejaht."

Eichler löst diesen scheinbaren Widerspruch, indem er eine doktrinäre Verabsolutierung der der Ideen der Gleichheit und Freiheit aufgibt. Er erklärt, daß Freiheit und Gleichheit bzw. Gerechtigkeit sich gegenseitig bedingen „daß Freiheit ohne Gleichheit überhaupt nicht zu verwirklichen ist und daß die Gleichheit, wie sie sich in der Anerkennung der Gleichheit der Würde des Menschen zeigt (und nur darin sind alle Menschen gleich), eine Bedingung der vernünftigen Anwendung des Ideals der Freiheit in der Gesellschaft ist“ Freiheit besteht so in dem gleichen Recht allei auf Freiheit. „Dann verwirklicht sich die Gleichheit der Würde aller Menschen in der Gleichheit der Chancen für alle, in Freiheit ihr Leben persönlich, kulturell, wirtschaftlich und politisch zu gestalten. Das aber heißt praktisch: Jeder muß die gleiche Chance erhalten, zu Bildung und Wohlstand zu gelangen und das Schicksal des Staates und der Gesellschaft gleichberechtigt mitzugestalten. Dieser Maßstab der Gleichheit, der die Freiheit des einzelnen auf die praktische Anerkennung gleicher Freiheit auch für die anderen einschränkt, ist der Maßstab des Rechts, der Gerechtigkeit"

Eichler glaubt nicht, daß man durch Organisationen und staatliche Maßnahmen diese Freiheit in Gleichheit garantieren kann. Es sei lediglich möglich, einen äußeren Rahmen zu schaffen, in dem sich das Freiheitsgefühl überhaupt erst entwickeln und schöpferisch betätigen könne -Da Eichler auch politischer Praktiker ist erörtert er die Frage, wie diese Chance zur Freiheit zu verwirklichen sei. Seine Antwort besteht in dem Hinweis auf die Bedeutung der Erziehung — vor allem einer Erziehung zum kritischen Denken Allerdings begnügt sich der demokratische Sozialist Eichler nicht damit, nur Freiheit und Gleichheit als Ziele auszuweisen. Gerade die Leistungsgesellschaft eines freiheitlichen Systems erfordere die Solidarität der Gemeinschaft zugunsten des Schwächeren — die „aus der gemeinsamen Verbundenheit der Menschen folgende gegenseitige Verpflichtung"

Die Betonung der Wertgebundenheit politischen Handelns hat Folgen für die philosophische und erkenntnistheoretische Legitimierung sozialistischer Politik in demokratischem Verständnis. Auch wenn Eichler die soziologische Analyse von Marx weiterhin für wertvoll hält, ist er doch nicht mehr bereit, den Marxismus als philosophische Grundlage des sozialistischen Kampfes unkritisch zu akzeptieren Er gibt den Anspruch Marx'auf eine wissenschaftliche Begründung des Sozialismus und Kommunismus auf und zieht sich bewußt auf Wertpositionen als Grundlage der Politik zurück. Für Karl Marx hatten die Sozialisten nicht Ideale zu verwirklichen, sondern dem in der Geschichte waltenden Prinzip zum Durchbruch zu verhelfen. Für Eichler zeigen indessen historische Erfahrungen und wissenschaftliche Argumente, „daß es in der Geschichte mindestens keine erkennbaren, keine wissenschaftlich erforschbaren objektiven Zwecke gibt“ Wenn aber eine wissenschaftliche Herleitung politischer Ziele nicht möglich scheint, wenn politische Programmatik sich auf zwar plausible, aber nicht logisch ableitbare Werte beziehen muß, so müssen nicht nur die Wertgebundenheit von Politik, sondern auch die Pluralität und mögliche Konkurrenz der Werte und die Möglichkeit des Irrtums der Politik eingestanden werden. „Der Mensch kann sich in seiner Politik irren! Warum soll die Sozialdemokratische Partei das nicht tun."

In diesem Zusammenhang ist auf die scharfe Auseinandersetzung Eichlers mit dem orthodoxen Marxismus hinzuweisen der allzu leichtfertig die theoretischen Begründer des Liberalismus des 18. Jahrhunderts und ihren Kampf gegen autoritären Machtwahn und Despotismus mit der Entartung der liberalistisehen Lehre in der kapitalistischen Praxis gleichgesetzt und abgelehnt habe: „... es war), grauenhaft dumm: denn die alten Theoretiker des Liberalismus mit ihrem Eintreten für die Freiheit der Persönlichkeit waren eigentlich diejenigen, in deren Fußstapfen die späteren Sozialisten hätten wandeln müssen". Durch den Verzicht von Marx, die epochemachende Entdeckung Kants — dessen kritische Methode zu philosophieren — anzuerkennen, und durch die Übernahme des Hegelschen Denkens durch die Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus ist es zu der mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden, aber eben doch unhaltbaren These von der Ent-

wicklung der Geschichte durch Widersprüche auf ökonomischem Gebiet gekommen. Obwohl Karl Marx und Friedrich Engels die Philosophie Hegels eines in die Wirklichkeit sich entlassenden Weltgeistes als eine kolossale Fehlgeburt erkannten, die sie erst vom Kopf duf die Füße stellen mußten, blieben sie doch im Denkkonstrukt Hegels verhaftet:..... damit batten sie nun eine auf den Füßen stehende Fehlgeburt — die ihrem allgemeinen Charakter nach den gleichen Geburtsfehler aufwies wie die von Hegel erzeugte: den auf eine voreilige Verallgemeinerung bestimmter Wirkungen wesentlicher Einzelerscheinungen der Ökonomie gegründeten Glauben, das mit Naturnotwendigkeit wirkende bewegende Element der Geschichte wissenschaftlich entdeckt zu haben.“ Von Hegel habe Marx die wissenschaftlich eben nicht belegbare Behauptung übernommen: „Der Glaube an ein Schema, demzufolge die Entwicklung stetig in Richtung des echten Fortschritts verläuft; ein geschichtlicher Optimismus, der durch nichts als berechtigt erwiesen wird." Die stichhaltige Begründung politischer Ziele — so Eichler — könne nicht in der Geschichte selbst liegen: „...der Gott der Geschichte war entthront: sie folgt nicht vorgegebenen ehernen . Gesetzen, — jedenfalls keinen wissenschaftlich erkennbaren." Ein wissenschaftlicher Sozialismus sei nur auf der Basis kritischer Philosophie, wie sie Kant lehrte, möglich. Ein derartiger Sozialismus aber würde gerade durch das Element des kritischen Philosophie-rens nicht die eigene Position als einzig richtige und die politisch andere Position nicht als zwangsläufig und wissenschaftlich beweisbar falsche Position darstellen.

Es liegt auf der Hand, daß Eichler als demokratischer Sozialist den Anspruch kommunistischer Parteien ablehnt, allein die wissenschaftlich begründete Wahrheit zu besitzen. Diese Behauptung müsse zwangsläufig zu Diktatur und Unterdrückung führen: „Da nur die Partei... die Wahrheit kennt, da nämlich nur sie die angebliche Notwendigkeit . einsieht', die ihr die . marxistische’, . parteiische’ Wissenschaft enthüllt, kann sie über deren Einzelheiten zwar diskutieren, sie im ganzen aber nicht in Frage stellen lassen. Es gibt nur eine Wahrheit, die kennt die Partei und regiert danach — wer sie nicht einzusehen vermag, und im Grunde kann das keiner, da sie nicht einsehbar ist, der muß zu seinem Glück und zu seinem Heil gezwungen werden.“ Wie deutlich demgegenüber für Eichler der kantische kategorische Imperativ Bedeutung besitzt, zeigt „der Hinweis auf das Recht des einzelnen, sein Leben selbst zu gestalten, so lange er das Recht des anderen, der Gemeinschaft respek-tiert" Für die praktische Politik und das Ziel der Freiheit folgert Eichler: „Es bedeutet zunächst eine verfeinerte Auffassung von der Bedeutung der Minderheit. In der Mehrheit sein, heißt niemals, damit allein über wahr und falsch entschieden zu haben. Freiheit heißt, nach einem Wort von Rosa Luxemburg, immer die Freiheit der Minderheit"

Eichler zieht aus dieser Erkenntnis die Folgerung, geschlossene Weltanschauungen als Grundlage der Politik abzulehnen, da dies die Tendenz zur Intoleranz fördere, „denn die sie tragende Überzeugung, in allen wesentlichen menschlichen Entscheidungen sittlicher, rechtlicher, moralischer, ästhetischer und religiöser Art, die allgemeine und konkrete Wahrheit zu kennen, schließt im Grunde aus, andere geschlossene Wahrheitsansprüche für möglicherweise ebenso berechtigt zu halten ...der Versuch, die Politik einheitlich und allgemeinverbindlich auf eine bestimmte Weltanschauung zu fundieren und zu begrenzen, würde zu einer Wiederbelebung der Religionskriege führen, in denen nicht notwendig ethische Werte, sondern höchstens die mächtigsten Weltanschauungen ermittelt werden."

Mit dieser Feststellung ergibt sich für den demokratischen Sozialismus das Problem der begründeten Bestimmung politischer Ziele. „Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß Weltanschauungen nicht durchweg wissenschaftlicher Darstellung und also nicht logischer Einsicht zugänglich, sondern auch Gegenstand gläubiger Offenheit und Hinnahme sind." Wenn dem aber so ist, so muß jedes politische Programm die geistige Pluralität anerkennen, darf keine logische Begründung ethischer Werte behaupten und muß zugeben, daß zur Begründung ethischer Grundhaltungen mehrere Wege führen können. Es gibt für Eichler demnach „keine sozialistische Weltanschauung, aber es gibt, wie man wohl sicher sagen kann, keinen Sozialisten ohne eine Weltanschauung“ Damit werden die drei Grundwerte des demokratischen Sozialismus — Freiheit, Gleichheit, Solidarität — nicht relativiert. Aber sie beanspruchen nicht den Charakter letzter Wahrheiten, denen jeder zu folgen hat, sondern sie beanspruchen menschliehe Ziele von Politik zu beinhalten, denen jeder folgen kann, aus welcher weltanschaulichen Tradition er auch kommen mag. Eichler nennt dies die Entideologisierung der Pro-grammatik der SPD im Sinne der Aufgabe eines nur geschlossenen und andere Denktraditionen ausschließenden weltanschaulichen Systems des demokratischen Sozialismus und die Hinwendung der Partei zu Grundwerten, die aus den unterschiedlichsten weltanschaulichen Wurzeln her begründet werden können

Diese offene, aber wertbezogene Position des demokratischen Sozialismus, die davon ausgeht, daß das Suchen der Wahrheit wichtiger ist als deren angenommener gesicherter Besitz, führt nun nicht nur zur Ablehnung eines dogmatischen Marxismus Jede politische Position, die für sich einen höheren Grad an begründeter Wahrheit beansprucht, wird kritisiert. So betont Eichler, daß die christliche Glaubenstradition einerseits sehr wohl weltanschauliche Grundlage des Sozialismus sein kann, daß aber andererseits die Kirche als Organisation in politischen Entscheidungen genauso fehlbar sein kann wie jeder andere politische Standpunkt

Diese Position des demokratischen Sozialismus führt jedoch auch zur Kritik an einer anderen, von konservativer Seite immer wieder behaupteten Ansicht, der zufolge die politischen Gegner ideologische Politik betrieben, wohingegen die eigenen politischen Vorschläge allein sachbezogen seien. In diesem Sinne argumentierte zum Beispiel Franz Josef Strauß im Zusammenhang mit dem Streit um die Gesamtschule Die Befürworter der Gesamtschule seien allemal Ideologen, die Befürworter des dreigliedrigen Schulsystems hätten die Sachargumente auf ihrer Seite. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob Politik ohne Anknüpfung auch an wertgebundene und damit auch an weltanschaulich-ideologisch begründe-e Grundpositionen in nur sachbezogener Entscheidung möglich ist. Abgesehen davon, daß konservative Politik im Sinne Hegels immer weder glaubt, die These vertreten zu können, daß die existierende Wirklicheit ohne weitere Begründung — eben weil sie existiert — auch vernünftig ist, hat diese Politik einen scheinbaren Vorteil. Ihr Verzicht auf Veränderungen politischer Realität enthebt sie — so mag es erscheinen — der Aufgabe, politische Ziele zu iefinieren und zu legitimieren. Dabei übersehen sie, daß die Verteidigung von Realität gegenüber einer möglichen und denkbaren anderen Form der Konstruktion von Realität nicht bloße sachliche Politik, ebenfalls wertgebundene Politik ist Der gegebene und historisch entstandene Ist-Zustand wird ineinem solchen politischen Konzept als Wert begriffen. Die Konservativen sollten lernen, daß der Ideologievorwurf selbst Ideologie ist, daß es eine nicht wertgebundene, nur sachliche Politik nicht geben kann. Die Behauptung, die eigene Politik sei nicht ideologisch, die des anderen aber sei es, ist schlichte Ideologie. Politik ist der Versuch, Werte für das und in dem Zusammenleben der Menschen zu verwirklichen. Werte aber sind nun einmal nicht logisch begründbar, sondern Überzeugung — . gläubige Hinnahme", wie Eichler formulierte.

Ideologie und Wertgebundenheit von Politik können kein Schimpfwort sein, sondern das Eingeständnis des geistigen Ringens um die beste Politik in einer pluralistischen Gesellschaft. Der Vorwurf der trifft Ideologie also nicht denjenigen, dem man einen solchen Vorwurf macht, sondern denjenigen, der ihn erhebt und damit seinen eigenen Mangel an Reflexion über seine werthaften Grundlagen of-

Unter dem Aspekt der Anerkennung lenlegt.

erst Ge der Pluralität werden Ideologien zum -genstand eines Vorwurfes, wenn in einem sie Monopolanspruch eine andere weltanschauliche Position als die eigene nicht anerkennen und die eigene Grundposition zum alleinigen Maßstab allen politischen Handelns und Urteilens erheben. Diesen allumfassenden An-

gegenüber anderen politischen Positionen erhebt der demokratische Sozialismus be-

nicht. Sollte tatsächlich erkennbar sein, wußt Welches die richtige, der Sache allein entsprechende Politik ist, so müßte jede andere Politik unsachlich und damit eindeutig falsch sein. Welche Folgerungen ergeben sich aus der Lektüre der Schriften Willi Eichlers zum demokratischen Sozialismus für die Beurteilung des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Sozialismus bzw. von Freiheit und Kollektivismus? 1. Der demokratische Sozialismus ist eine politische Haltung, die sowohl gegen den Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus wie gegen den des Kommunismus — und zwar sowohl in bezug auf die politische Programmatik wie in bezug auf die politische Praxis — gerichtet ist, ohne selbst einen irgendwie gearteten Totalitätsanspruch zu erheben. Eine Gleichstellung von Nationalsozialismus und Kommunismus dem mit demokratischen Sozialismus offenbar einen eklatanten Mangel an Wissen und ist schlicht abwegig, politisch allerdings nicht ungefährlich.

2. Der demokratische Sozialismus löst das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht im Sinne einer einseitigen Priorität für einen der beiden Faktoren. Sein Ziel ist die Verknüpfung individueller Freiheit mit der Gerechtigkeit in der Gesellschaft, die Ausdruck der Anerkennung der Freiheit und Menschenwürde des anderen und damit aller Mitglieder der Gesellschaft ist Diese Einstellung hebt den demokratischen Sozialismus von jedem Kollektivismus ab, ohne ihn zum unkritischen Anhänger des klassischen, nur auf das Individuum ausgerichteten Liberalismus zu machen.

3. Der Sozialismus stellt demokratische nicht staatliche Allmacht gegen freie Initiative, allerdings sieht er in staatlichen Aktivitäten die Aufgabe, die völlige Freiheit der einzelnen Personen insoweit zu begrenzen, wie es nötig ist, um auch den schwächeren Gliedern der eine demokratische Lebensqualität durch Solidarität zu sichern. Auch durch diese Einstellung unterscheidet sich der demokratische Sozialismus von der trotz aller Betonung der Rolle der Partei nicht zu leugnenden Staa faktischen Verabsolutierung des -

tes gegenüber dem Bürger im Nationalsozialismus und Kommunismus. Andererseits verurteilt der demokratische Sozialismus den Staat nicht, wie es der klassische Liberalismus tat. Der in Deutschland zur Zeit des Obrigkeitsstaates berechtigte Kampf um die Stellung des Individuums — seiner Rechte und Freiheiten gegenüber der Obrigkeit — ist zwar als Thema für den demokratischen Sozialismus nicht völlig erledigt, dem Staat wird aber heute auch die Schiedsrichterfunktion mit der Aufgabe des Ausgleichs und des Schutzes der Minderheiten und gesellschaftlich Schwächeren in den Interessenauseinandersetzungen der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen und Verbände zugewiesen. 4. Der demokratische Sozialismus verabsolutiert keine Ideologie. Er vertritt kein geschlossenes weltanschauliches System, er behauptet aber auch nicht, eine nur „sachbezogene" Politik zu betreiben. Vielmehr wird die Politik des demokratischen Sozialismus von drei Werten geleitet: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Dieser Bezug auf Wertinhalte und das Eingeständnis der Irrtumsfähigkeit führt zu einem drastischen Unterschied zwischen Marxismus und demokratischem Sozialismus. Der Anspruch des Marxismus, den Gang der Geschichte zweifelsfrei wissenschaftlich erkannt zu haben und damit im Besitz der Wahrheit zu sein, wird vom demokratischen Sozialismus nicht geteilt. Er akzeptiert die Möglichkeit der Pluralität der Meinungen über Geschichte und Politik wie über die in der Politik zu verwirklichenden Werte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur historischen Seite dieses Verhältnisses vgl. ua. Heinrich August Winkler, Die Mär vom Sozi Hitler, in: Die Zeit Nr. 45 vom 2. 11. 1979.

  2. Vgl. z. B. Edmund Stoiber, in: Die Zeit Nr. 42 vom 12. 10. 1979.

  3. Klaus Lompe, Lothar F. Neumann, Hrsg., Willi Eichlers Beiträge zum demokratischen Sozialismus, Berlin und Bonn 1979; — soweit im folgenden dieser lext zitiert oder auf ihn verwiesen wird, erfolgt dies durch Nennung des Namens Eichler.

  4. Vgl. die gegenteilige Meinung bei Wilhelm Hennis, Organisierter Sozialismus. Zum „strategischen" Staats-und Politikverständnis der Sozialdemokratie, Stuttgart 1977; vgl. zur Auseinandersetzung mit diesen Thesen Klaus Lompe, Zwanzig Jahre Godesberger Programm der SPD, in: Aus Politik und Zeit-geschichte B 46/79 vom 17. 11. 1979.

  5. Eichler a. a. O. S. 41, S. 51ff, S. 65 und S. 78ff.

  6. Ebd. S. 78.

  7. Ebd. S. 80.

  8. Ebd. S. 43.

  9. Ebd. S. 38 und S. 41.

  10. Ebd. S. 54.

  11. Ebd. S. 45f und S. 56L

  12. EbdS. 44

  13. Ebd S. 61.

  14. Ebd S. 39. S. 86. S. 97 und S. 99ff

  15. Ebd. S. 44. S. 46 ff. S. 59 und S. 74

  16. Ebd. S. 48.

  17. Ebd. S. 61L

  18. Ebd. S. 75 und S. 82

  19. Ebd. S. 115.

  20. Ebd. S. 69.

  21. Ebd. S. 233, vgL auch S. 43 und S. 81.

  22. Ebd. S. 209 ff

  23. Ebd. S. 250.

  24. Ebd. S. 246.

  25. Ebd. S. 42 und S. 93.

  26. Ebd. S. 59 f, S. 89 ff., S. 116 und S. 242.

  27. Ebd. S. 235 ff.

  28. Ebd. S. 165.

  29. Ebd. S. 203.

  30. Ebd. S. 235 und S. 240.

  31. Ebd. S. 84 f. und S. 94 f.

  32. Ebd. S. 130f.

  33. Ebd. S. 133.

  34. Ebd. S. 134.

  35. Ebd. S. 135.

  36. Ebd. S. 136.

  37. Ebd. S. 170.

  38. Ebd. S. 196 ff.

  39. Ebd. S. 138.

  40. Ebd. S. 140.

  41. Ebd. S. 61.

  42. Ebd. S. 115.

  43. Ebd. S. 141.

  44. Ebd. S. 171 und S. 271 ff.

  45. Ebd. S. 172.

  46. Ebd. S. 126.

  47. Ebd. S. 127.

  48. Ebd. S. 185.

  49. Ebd. S. 143.

  50. Ebd. S. 172.

  51. Ebd. S. 148.

  52. Ebd. S. 153, S. 303 ff. und S. 315 ff.

  53. Ebd. S. 186.

  54. Ebd. S. 94.

  55. Ebd. S. 145.

  56. Ebd. S. 95.

  57. Ebd. S. 132f.

  58. Ebd. S. 253.

  59. Ebd. S. 133.

  60. Ebd. S. 173.

  61. Ebd. S. 254.

  62. Ebd. S. 136.

  63. Ebd. S. 155.

  64. Ebd. S. 167.

  65. Ebd. S. 174.

  66. Ebd. S. 175.

  67. Ebd. S. 185.

  68. Zum Marx'schen Wissenschaftsverständnis und der kritischen Auseinandersetzung vgl. ausführlicher Erhard Forndran, Legitimation und Paradigma einer sozialwissenschaftlichen Lehrerausbildung aus der Sicht der Politikwissenschaft, in: Erhard Forndran, Hans J. Hummell und Hans Süssmuth, Hrsg., Studiengang Sozialwissenschaften. Zur Definition eines Faches, Düsseldorf 1978, S. 14ff„ hier vor allem S. 22 ff.

  69. Eichler, a. a. O„ S. 263 und S. 268.

  70. Vor dem Bundestag in der Haushaltsdebatte am 11. 12. 1979.

Weitere Inhalte

Erhard Forndran, Dr. phil. habil., Professor für Politische Wissenschaft an der TU Braunschweig, geb. 1938, Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte, Philosophie und Mathematik in Bonn und Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Rüstungskontrolle. Friedenssicherung zwischen Abschreckung und Abrüstung, Düsseldorf 1970; Probleme der internationalen Abrüstung. Die internationalen Bemühungen um Abrüstung und kooperative Rüstungssteuerung 1962— 1968, Frankfurt und Berlin 1970; Abrüstung und Friedens-forschung. Kritik an Krippendorff, Senghaas und Ebert, Düsseldorf 1971 (zusammen mit U. v. Alemann); Methodik der Politikwissenschaft. Eine Einführung in Arbeitstechnik und Forschungspraxis, Stuttgart u. a. 1974 (zusammen mit F. Golczewski und D. Riesenberger); Innen-und Außenpolitik unter nationalsozialistischer Bedrohung. Determinanten internationaler Beziehungen in historischen Fallstudien, Düsseldorf 1977 (zusammen mit H. J. Hummell und H. Süssmuth); Studiengang Sozialwissenschaften: Zur Definition eines Faches, Düsseldorf 1978 (zusammen mit P. Friedrich); Rüstungskontrolle und Sicherheit in Europa, Bonn 1979.