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Zur politischen Sozialisation in terroristischen Gruppen | APuZ 33-34/1980 | bpb.de

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APuZ 33-34/1980 Gott, Demokratie und Politische Bildung. Sind Grundwerte verfassungswidrig? Glaube, Demokratie und Politische Erziehung. Eine Antwort an Hermann Boventer Zur politischen Sozialisation in terroristischen Gruppen

Zur politischen Sozialisation in terroristischen Gruppen

Klaus Wasmund

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Terroristisches Verhalten ist — wie jedes politische Verhalten — das Ergebnis eines Lernprozesses, auf den verschiedene Faktoren und Leitbilder einwirken. Ausgehend von der Frage nach den familien-und psychodynamischen Hintergründen terroristischer . Karrieren’ wird die Rolle der Primärsozialisation in der Lebensgeschichte von Terroristen und ihre Bedeutung für das spätere soziale und politische Verhalten diskutiert. Als entscheidend für die politische Sozialisation der Terroristen kann die eigene Altersgruppe gelten, die sowohl im Vorfeld des Terrorismus als auch im Untergrund das Denken und Handeln ihrer Mitglieder bestimmt. In allen Biographien von Terroristen ist eine starke Sehnsucht nach Gruppenbindung, nach „Gemeinschaft“ zu erkennen. Der Einstieg in die Terrorszene läuft über die verschiedensten Gruppen des Sympathisantenmilieus. Die Scheingeborgenheit radikaler Gruppen mit ihrem Absolutheitsanspruch und ihrer totalen persönlichen Vereinnahmung, die u. a. in der völligen Verschmelzung von privater und politischer Sphäre zum Ausdruck kommt, übt auf ich-schwache Naturen, die auf der Suche nach Lebenssinn sind, eine starke Faszination aus. In den Sympathisantengruppen und ihrem subkulturellen Ambiente finden Kommunikation und Sozialkontakte nahezu ausschließlich mit Gleichgesinnten statt. Dieser freiwillige Kommunikationsverzicht mit der „Außenwelt" fördert und verstärkt den Prozeß der einseitigen Bewußtseinsbildung.

Dieser Aufsatz ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags vor der „Workshop-Konferenz Poiitische Psychologie“, die vom 5. 6. bis 8. 6. 1979 in der Universität Hamburg stattfand.

I. Politische Sozialisation und politisches Verhalten

Terrorist wird man nicht von heute auf morgen. Auch terroristisches Verhalten wird gelernt Es ist ein Gemeinplatz der (politischen) Sozialisationsforschung, daß die (politischen) Einstellungen, Glaubensüberzeugungen und Handlungen einer Person das Ergebnis eines langen Lernprozesses sind, der partiell bis in die frühe Kindheit zurückgeht, in einen Lebensabschnitt also, in dem das Kind noch nicht in der Lage ist, komplexe politische Informationen und Zusammenhänge zu begreifen und rational zu verarbeiten. Der lebenslange Lernprozeß, in dessen Verlauf eine Person politische Orientierungen und Verhaltensmuster erwirbt, wird als politische Sozialisation bezeichnet -Unter politischer Sozialisation terroristischer Karrieren sollen soziale und politische Lernvorgänge verstanden werden, in deren Verlauf Orientierungen und Verhaltensmuster, die terroristisches Handeln beeinflussen oder bestimmen, bewußt oder unbewußt erworben werden .

Als Agenten der politischen Sozialisation fungieren Familie, Schule, Betrieb, Altersgruppen (Peer Groups), Massenmedien, Parteien sowie soziale und politische Organisationen und Institutionen, um nur die wichtigsten zu nennen.

Sie ergänzen einander, verstärken sich gegenseitig oder konkurrieren um Einfluß. Ihre Bedeutung variiert in einzelnen Lebensabschnit-ten. Außerdem hängt die Rolle, die bestimmte Leitbilder im Leben des einzelnen spielen bzw. nicht spielen, von dessen persönlichen Lebensumständen ab. Darüber hinaus sind die Politik selbst, also politische Ereignisse, das Handeln oder Nichthandeln der Regierung sowie der Output des gesamten politischen Systems Einflußfaktoren im politischen Sozialisationsprozeß, wobei zu berücksichtigen ist, daß der einzelne nicht nur anpassungsfähiges Objekt, sondern zugleich einflußnehmendes und handelndes Subjekt seiner politischen Umwelt ist. Auch innerhalb von Gruppen, Organisationen oder Institutionen ist die politische Sozialisation keineswegs nur ein INHALT I. Politische Sozialisation und politisches Verhalten II. Terrorismus und politische Kultur der Bundesrepublik III. Zum Hypothesencharakter der Ursachenforschung IV. Zum Stellenwert familien-und psychodynamischer Einflüsse V. Entstehungsbedingungen der RAF und ihrer Nachfolgeorganisationen VI. Zur Dynamik terroristischer Gruppen VII. Zur Binnenstruktur der Gruppe VIII. Exkurs: Susanne Albrecht — Vaterhaß oder Gruppenzwang?

IX. Das Problem des Ausstiegs X. Die Funktion der Sympathisanten XI. Die politische Umwelt 1. Reaktionen des politischen Systems 2. Die Reaktion innerhalb der Bevölkerung 3. Massenmedien und politische Sozialisation terroristischer Karrieren 4. Die Leitbildfunktion des internationalen Terrorismus passiv erlebter Anpassungsvorgang, sondern ein wechselseitiger, aktiv mitgestalteter und auch auf Veränderungen der Leitbilder gerichteter Prozeß.

Die politische Sozialisation ist also ein multi-variabler Prozeß, in dessen Verlauf in verschiedenen Altersphasen bzw. Lebensabschnitten Informationen, Affekte, Einstellungen, Werte und Normen gegenüber der Welt der Politik im weitesten Sinne erworben werden Erst durch das Zusammenwirken verschiedener Leitbilder und Umweltbedingungen als Einflußfaktoren konstituiert sich die politische Persönlichkeit. Diese agiert aber auch in ganz spezifischen Bezügen und Situationen. Jeder Versuch, politisches Verhalten situationsunabhängig zu analysieren, muß zwangsläufig zu kurz greifen. Denn politisches Verhalten ist eine Funktion von Persönlichkeitsmerkmalen, der jeweiligen Situation sowie der spezifischen Interaktion von Person und Situation Auch die Analyse terroristischen Verhaltens wird sowohl die Person als auch die Situation als gemeinsame Verhaltensbedingungen berücksichtigen müssen, denn erst aus der Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt läßt sich terroristisches Verhalten umfassender analysieren.

In der gegenwärtigen Diskussion zur politischen Sozialisationsforschung ist weniger die Rolle direkten politischen Lernens, also die intendierte Vermittlung politischer Informationen, Normen und Werte (manifeste politische Sozialisation), für den Aufbau der politischen Persönlichkeit umstritten, als vielmehr das indirekte politische Lernen (latente politische Sozialisation), das nicht spezifisch politisch ist aber das politische Verhalten einer Person beeinflussen kann. Konkret ist damit der Einfluß früher unpolitischer Erfahrungen in der Primärsozialisation auf die Entwicklung der poli. tischen Persönlichkeit angesprochen. Die latente politische Sozialisation in der Familie (z. B. ihre AutoritätsStruktur, ihr Erziehungsund Führungsstil sowie die affektiven Bindungen) prägt Persönlichkeitsdispositionen, die später Auswirkungen auf das soziale und politische Verhalten haben können.

Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitszügen (traits) — als Resultat von Sozialisationserfahrungen — und späteren politischen Orientierungen und Verhaltensmustern sind insbesondere von psychoanalytisch orientierten Richtungen der politischen Sozialisationsforschung aufgezeigt worden So haben z. B. Soziabilität, Ich-Stärke, Selbstvertrauen, Dominanzstreben, Dogmatismus, Autoritarismus, Mißtrauen, soziale bzw. politische Kompetenz, Zynismus, Feindseligkeit, Anomie und Entfremdung Rückwirkungen auf das politische Bewußtsein bzw. Verhalten oder Nicht-Verhalten einer Person.

II. Terrorismus und politische Kultur der Bundesrepublik

Terroristische Aktionen und die ihnen zugrunde liegenden politischen Überzeugungen werden von nahezu der gesamten Bevölkerung der Bundesrepublik entschieden abgelehnt. Neben konkreten moralischen und politischen Gründen als Hauptursache dieser eindeutigen Ablehnung mag dabei auch mitschwingen, daß der Anarchismus — nicht ein-mal seine gewaltfreie Richtung — in Deutschland zu keiner Zeit populär gewesen ist und selbst in seiner weltweiten „Blütezeit" vor dem Ersten Weltkrieg hierzulande keine nennenswerte Anhängerschaft werben konnte.

Es scheint, daß der Anarchismus der deutschen „Mentalität" diametral entgegengesetzt ist. In einer politischen Kultur mit stark verfestigten Traditionen obrigkeitsstaatlichen und etatistischen Denkens hatte der gewalt-freie Anarchismus, geschweige denn seine terroristische Variante, nie eine reale Chance, aus der Rolle des politischen Sektierertums herauszuwachsen.

Im Gegensatz zu Ländern, deren Bevölkerung mit dem täglichen Terror leben und sich zum Teil arrangieren muß (z. B. in Nordirland oder im Baskenland), sind in der Bundesrepublik terroristische Anschläge — so spektakulär einzelne Aktionen gewesen sind — Ausnahmeerscheinungen geblieben. Das tägliche Mit-dem-Terror-Leben ist der Bevölkerung der Bundesrepublik erspart geblieben. Daß der Terrorismus für die Innenpolitik und die politische Kultur der Bundesrepublik trotzdem deutlich spürbare Konsequenzen gehabt hat und hat (Anti-Terror-Gesetze und der damit verbundene Abbau von Liberalität, politische Berührungsängste, eine geradezu paranoid anmutende Verfolgungsjagd auf vermeintliche Sympathisanten etc.), ist ein Kapitel für sich, das im Rahmen dieses Themas nicht abgehandelt werden kann.

Der deutsche Terrorismus unterscheidet sich von vielen anderen terroristischen Bewegungen vor allem dadurch, daß es ihm an einem überzeugenden politischen Grund fehlt, den sich zumindest Teile der Bevölkerung zu eigen machen können. Dagegen können sich z. B. die IRA die ETA oder die Fedayin auf irredentistisehe Ziele berufen, mit denen sich viele ihrer Landsleute identifizieren, wenn sie auch die Methoden zur Erreichung dieser Ziele ablehnen mögen. Anders als die meisten politischen Systeme Mittel-und Südamerikas zeichnet sich die Bundesrepublik nicht durch Legitimationsdefizite aus. Tatsächlich haben die deutschen Terroristen den Kampf gegen ein politisches System aufgenommen, das von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. So halten vier Fünftel der Bürger die Demokratie der Bundesrepublik für die beste Staatsform und meinen, daß sie in der Lage sei, die Zukunftsprobleme zu lösen. In der gleichen Größenordnung bewegt sich der Anteil der Bundesbürger, der mit der Art und Weise, wie die Demokratie hierzulande funktioniert, Zufriedenheit äußert

Wenn eine verhältnismäßig kleine, aber um so entschlossenere Gruppe an die reale Möglichkeit glaubt, in einem hochentwickelten Industriestaat wie der Bundesrepublik, mit dessen politischer Ordnung sich vier Fünftel der Bürger identifizieren, die politischen Machtverhältnisse mit der Strategie der Stadtguerilla ändern zu können, stellt sich die Frage nach den Personen, die hinter dieser Überzeugung stehen.

Nachdem sich die Reaktion auf den Terrorismus staatlicherseits nahezu ausschließlich auf seine Bekämpfung konzentriert hatte — die Problemlösung wurde in bester deutscher etatistischer Tradition hauptsächlich als Aufgabe von Polizei und Justiz gesehen —, wurde vor allem im Anschluß an die Terrorismusdebatte im Deutschen Bundestag die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen und persönlichen Motiven der Terroristen deutlicher gestellt .

An vorschnellen Erklärungshypothesen über die Ursachen des Terrorismus hat es von Anfang an nicht gefehlt. Sie entsprechen dem Bedürfnis einer irritierten Öffentlichkeit, komplexe Phänomene auf faßbare und plausible Erklärungen zu reduzieren. So war einmal die protestantische Ethik von Pfarrhäusern, aus denen sich einige Terroristen rekrutierten, für das hohe gesinnungsethische Engagement, das schließlich zum Terrorismus führte, verantwortlich, während von anderer . Seite Fehler und Defizite in der Familienerziehung als Ursachenfaktor ausgemacht wurden (was ein großes Boulevardblatt zu der Warnung vermarktete, daß Eltern durch erzieherisches Fehlverhalten ihre Kinder ebenso unbeabsichtigt wie zwangsläufig zu Terroristen erziehen würden).

III. Zum Hypothesencharakter der Ursachenforschung

Auf die Frage nach den Entstehungsbedingungen terroristischer Karrieren sind inzwischen von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen Erklärungsversuche gemacht worden. Es liegt auf der Hand, daß gerade bei abweichendem politischem Verhalten — im Sinne der konstitutionellen Norm — von der Psychologie Antwort auf die Frage erwartet wird, ob die Beweggründe terroristischen Handelns hauptsächlich in der Persönlichkeit der Terroristen zu suchen sind und ob bei den Terroristen eine Form des Wirklichkeitsverlustes vorliege, die bereits wahnähnlichen Cha-rakter habe mit anderen Worten, ob es sich um Fälle handele, für die eher die Psychiatrie als die Justiz zuständig sei. Da die Terroristen sich konsequent geweigert haben, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen, ist die Zurückhaltung der Psychiatrie, „Ferndiagnosen" zu stellen, angebracht Gleichwohl gibt es Erklärungsansätze von Psychiatern und Psychologen, die versuchen, auf der Grundlage der oft recht gut dokumentierten Stationen und Daten der Lebensgeschichte einzelner Terroristen die Motive ihres Handelns und die Struktur ihrer Persönlichkeit zu erhellen. Dabei stehen bisher psychoanalytische „approaches" im Vordergrund

Der psychoanalytische Ansatz muß zwangsläufig zu kurz greifen, wenn er terroristisches Verhalten ausschließlich aus der Primärsozialisation erklären will und Einflußfaktoren wie die politische Umwelt, situative Umstände, den Zeitgeist einer Jugendgeneration sowie gruppendynamische Prozesse unberücksichtigt läßt. Eine Ursachenforschung, die ausschließlich die politische Persönlichkeit in das Blickfeld rückt und nicht auch die Wechselbeziehung zwischen Person und politischer Umwelt einbezieht, verstellt sich selber den Zugang zu einer umfassenden Analyse. Daraus folgt, daß die Ursachen-und Motivforschung des Terrorismus weder von einer Disziplin allein (Psychologie, Politologie, Soziologie) noch von einem bestimmten „approach“ innerhalb eines Faches (Psychoanalyse) ausschließlich zu leisten ist.

Aussagen über die Motivation terroristischen Handelns und die Dynamik terroristischer Gruppen haben bei dem gegenwärtigen Informationsstand nur hypothetischen Charakter. Da die Terroristen es bisher abgelehnt haben, sich den Fragen der Gutachter zu stellen, um sich nicht „psychiatrisieren" zu lassen (so Baader), bleibt uns die wichtigste Quelle der Erkenntnis, nämlich die Person selbst, verschlossen. Gleichwohl steht inzwischen Material für eine Analyse zur Verfügung:

— der Lebenslauf einzelner Terroristen — ihre Familiengeschichte — Aussagen und Bekenntnisse ehemaliger Terroristen — Aussagen und Beobachtungen von Eltern, Geschwistern, Freunden, Lehrern, Anwälten, Studienkollegen etc.

— schriftliches Material der Terroristen (Pamphlete, programmatische Schriften, Interviews, Erklärungen, Kassiber etc.)

— die politische Umwelt, in der und auf die die Terroristen reagieren — Verhaltensbeobachtung — die Exploration ähnlich strukturierter Personen, Kriterium: linksradikale Apologeten des bewaffneten Kampfes

IV. Zum Stellenwert familien-und psychodynamischer Einflüsse

In fast allen Biographien von Terroristen, nicht nur der Terroristen, die sich aus dem Sozialistischen Patienten-Kollektiv (SPK) rekrutieren, sind familien-bzw. psychodynamische

Besonderheiten zu finden (gestörte Beziehung zu Eltern oder Elternteilen, geschiedene oder getrennt lebende Eltern, Mutterdominanz, Overprotection, Überforderung, früher Tod eines Elternteiles, Stiefmutter oder Stiefvater, Pflegeeltern, Heim-oder Internatserziehung, Trennung vom Lebenspartner etc.). Eine eindeutig zu identifizierende Familienstruktur (z. b. autoritär oder permissiv), die durchgängig in allen Familien anzutreffen wäre, ist in den Elternhäusern der Terroristen jedoch nicht festzustellen Nach dem, was bisher über die Familiensozialisation von Terroristen bekannt ist, läßt sich sagen, daß in keinem Fall Bedingungen in der Primärsozialisation auszumachen waren, die zwangsläufig in eine terroristische Karriere einmünden müssen. Das Erziehungsschicksal, das viele Terroristen haben, teilen sie mit vielen anderen Mitgliedern ihrer Generation, ohne daß diese zu Terroristen wurden.

Diese These, daß vielen Terroristen irgendwann die Chance genommen wurde, sich eine eigene Identität zu erarbeiten, und daß sie versuchen, dies gewaltsam nachzuholen ist sicherlich eine Tatsache. Nur sagt diese Erkenntnis über die Entscheidung, gerade Terrorist zu werden, nicht viel aus. Mangelnde Erarbeitung einer eigenen Identität kann nur besa-gen, daß der betreffende gegenüber vielfältigen sozialen oder politischen Angeboten offen ist, bis hin zu religiösen Jugendsekten. Von welchem dieser Angebote er schließlich Gebrauch macht, hängt von einer Reihe weiterer Faktoren und Umweltkonstellationen ab.

Familiendynamische Einflüsse können Dispositionen schaffen (Sehnsucht nach Gruppenbindung etc.), politische Sozialisationsprozesse in der Familie können zu ideologischen und (partei) politischen Präferenzen führen, die den Beitritt in eine Gruppe beeinflussen, nur führen diese Einflußgrößen nicht zu einem bestimmten Typus der politischen Persönlichkeit und einem ihm spezifisch zuzuordnenden politischen Verhalten (z. B. Terrorismus).

V. Entstehungsbedingungen der RAF und ihrer Nachfolgeorganisationen

Der Frankfurter Kaufhausbrand vom 2. April 1968 war die Geburtsstuhde der „Roten Armee Fraktion" (RAF). Mit dieser Brandstiftung hatten die Brandstifter Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Thorwald Proll und Horst Söhnlein weniger ein Zeichen für die Gesellschaft, wie sie es verstanden wissen wollten, als für sich selbst gesetzt, da sie mit diesem Schritt zunächst alle Brücken zur „bürgerlichen Gesellschaft" hinter sich abgebrochen hatten. Wir gehen von der These aus, daß die Gründung der RAF nicht das Ergebnis einer bewußten politischen Entscheidung war, mit dem Ziel, die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik durch terroristische Akte revolutionär umzugestalten, sondern vielmehr als Resultat eines allmählichen Abrutschens in die Gewaltkriminalität zu sehen ist, wobei sich politische und private Beweggründe ablösen und miteinander vermischen.

Halten wir fest: Am Anfang des Weges in die terroristische Gewalt stand die Gewalt gegen Sachen in Form einer Brandstiftung; diese war politisch motiviert als „Fanal" gegen den Vietnamkrieg und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik. Der zweite Schritt, die Befreiung Baaders, hatte keine politische Motivation. Dieser Aktion lag ein privates Interesse zugrunde, nämlich das Bedürfnis Gudrun Ensslins, ihren Freund für sich aus der Haft zu befreien. Die politische Begründüng dafür wurde erst später nachgeschoben. Wichtig im Hinblick auf die Entstehung der RAF ist folgendes: Mit der Befreiung Baaders hatten die daran Beteiligten unwiderruflich die Brücken zur Gesellschaft abgebrochen. Ihre Tat stellte eine schwere Rechtsverletzung dar, für die im Falle einer Verurteilung ein hohes Strafmaß zu erwarten war. Während das Untertauchen Baaders und Ensslins nach dem Kaufhausbrand noch eher den Charakter eines Räuber-und-Gendarm-Spiels hatte, bei dem die Räuber zumindest in der linken Öffentlichkeit große Sympathien genossen, war aus der Baader-Befreiung blutiger Ernst geworden. Die Gruppe hatte sich damit kriminalisiert und illegalisiert. Von diesem Zeitpunkt an gab es keinen Weg mehr zurück, nur noch eine Flucht nach vorn.

Nach dem Kaufhausbrand bestand immerhin noch die Möglichkeit, die Reststrafe abzusitzen, um dann einen neuen Lebensanfang zu suchen, was die beiden Mittäter Proll und Söhnlein ja getan haben. Allerdings muß man sehen, daß die Rückkehr zu einem sogenannten normalen bürgerlichen Leben mit beruflichen Karriereerwartungen für die Täter nicht besonders attraktiv sein konnte, da sie damit rechnen mußten, über kurz oder lang für den angerichteten Sachschaden in Höhe von 2, 2 Mill. DM regreßpflichtig gemacht zu werden. Diese Aussicht, für den Rest ihres Lebens jeden über das Existenzminimum hinausgehen-33 den Betrag abführen zu müssen, reduzierte die Chance ihrer Wiedereingliederung von Anfang an erheblich und ließ die Aussichten auf eine bürgerliche Karriere innerhalb des etablierten Systems als wenig verlockend erscheinen. Mit der Befreiung Baaders war das Grundmuster und zentrale Aktionsmotiv für alle künftigen Aktionen der RAF und ihrer Nachfolgeorganisationen gegeben: Ein oder mehrere Mitglieder der Organisation befinden sich in Haft, während die anderen Gruppenmitglieder ihre gesamten Energien darauf konzentrieren, die Inhaftierten zu „befreien". Im Falle Baaders konnte dieses Ziel durch eine direkte Befreiungsaktion erreicht werden, später ging man zu indirekten Aktionen über, indem man versuchte, Häftlinge herauszupressen, was bekanntlich zunächst gelang, später aber scheiterte.

Im Gegensatz zur Gründergeneration kann man bei den Terroristen der zweiten und dritten Generation (Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen, Kommando Holger Meins) von einem allmählichen Abgleiten in den Terrorismus nicht mehr sprechen. Bei diesen Gruppierungen war von Anfang an die bewußte Entscheidung, „den bewaffneten Kampf aufzunehmen, Ausgangspunkt ihres Handelns, was vielleicht auch das unvergleichlich größere Gewalt-und Aggressionspotential'ihrer Mitglieder erklärt.

Inzwischen besteht die Gefahr, daß eine vierte Generation von Terroristen autonom aus der Sympathisantenszene herauswächst, ohne organisatorischen Kontakt zur etablierten Terrorszene zu haben (gegenwärtig werden 39 Angehörige der Terroszene mit Haftbefehl gesucht; etwa 13 Personen sind zum „harten Kern" zu rechnen).

VI. Zur Dynamik terroristischer Gruppen

Das Leben im Untergrund bringt für den einzelnen wie für die Gruppe insgesamt völlig neue Lebensbedingungen mit sich. Terroristen leben in einer abgekapselten Gesellschaft, auf sich selbst zurückgeworfen und von vielen sozialen und intellektuellen Kontakten zur Umwelt abgeschnitten.

Die geschlossene Formation der Gruppe wird praktisch zum ausschließlichen Bezugssystem der Terroristen. Die Gruppe muß sich vor allem auf die Frage ihres überlebens konzentrieren (Beschaffung von Wohnungen, Autos, gefälschten Papieren und finanzieller Mittel durch Bankraub). Freibleibende Energien sind auf die Entwicklung von Strategien zur Befreiung inhaftierter Gruppenmitglieder gerichtet. Die totale Abhängigkeit von der Gruppe, ihre Anpassungsrituale sowie die interne Rollen-zuweisung und Arbeitsteilung führen zum Verlust eigener Bedürfnisse, Interessen und Wünsche und damit letztlich zur Aufgabe der eigenen Identität. Äußere und innere Isolation bedingen einander. Terroristen leben in einer zutiefst entfremdeten Welt. Der Verlust der eigenen Identität wird kompensiert durch die Demonstration gemeinsamer Stärke. Nur so läßt sich eigene Ich-Schwäche überdecken.

Der verkürzte Wirklichkeitsbezug, der am Anfang jeder terroristischen Karriere steht, wird durch Isolation und Kommunikationsverzicht im Untergrund noch verstärkt. Die politische Sozialisation als Prozeß der permanenten Selbstindoktrination der Gruppe führt letztlich zum totalen Realitätsverlust und zur völligen Fehleinschätzung der politisch-gesellschaftlichen Umwelt. Voraussetzung für die wechselseitige Dogmatisierung ist die Immu-nisierung und Abschottung gegen ideologische Einflüsse und Kritik von außen. Durch die hermetische Abriegelung der Zelle oder Gruppe zur ideologischen Außenwelt wird sichergestellt, daß die keimfreie Vermittlung der eigenen politischen Deutungsmuster ohne ideologische Störeinflüsse von außen vor sich geht. Nur in dieser verdichteten Atmosphäre können die intellektuellen Omnipotenzgefühle entstehen, die letztlich ein Ausgangspunkt individueller und kollektiver Aggressionen sind.

Gerade ich-schwache Naturen erliegen leicht der Faszination einer geschlossenen Ideologie, die für alles und jedes eine Erklärung offeriert. Wer sich erst einmal in der Behaglichkeit monokausaler Verschwörungstheorien eingerichtet hat, wird sich kaum mehr der Zugluft konkurrierender Denkansätze und Ideologien aussetzen.

Parallel zu den Immunisierungsstrategien gegen politische Alternativen und Kritik, ja alB ternatives Denken überhaupt, läuft der Aufbau eines klaren Feindbildes. In den Untergrundzellen der Terrorszene herrscht ein dezidiertes Freund-Feind-Denken, das für alle politischen Gruppierungen mit einem totalen und totalitären Anspruch typisch ist.

Bestimmte Antisymbole (Freud) werden zu Ziel-und Fixpunkten der Gruppenaggressivität Das sind in erster Linie die Eliten des politischen Systems und in zweiter Linie ihre . Handlanger", z. B. Polizisten (im Anarcho-Jargon: „Schweine").

So schrieb Ulrike Meinhof nach der Befreiung Baaders: „Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen ... Es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden."

Zu den gravierenden Mißerfolgserlebnissen, die die Gruppe verarbeiten muß, gehört vor allem die permanente Enttäuschung, daß die Arbeiterklasse, für die man vorgibt, den Kampf zu führen („Dem Volke dienen"), die Gefolgschaftversagt und sich mit Abscheu abwendet Gegen diese Einsicht, die auf eine persönliche und politische Bankrotterklärung hinauslaufen würde, muß sich das Ego mit allen Mitteln wehren, da es sonst zum Verlust der Gruppenidentität kommen würde, was der Selbst-aufgabe gleichkäme. Die Selbsttäuschung im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit des Kampfes und die eigene Stärke läßt sich nur durch die Mobilisierung von Abwehrmechanismen aufrechterhalten. Die Tatsache, daß die Gefolgschaft der Massen ausbleibt und die Gruppe nur bei einer kleinen Schar Sympathisanten Bestätigung findet, wird mit der Erklärung rationalisiert, das Bewußtsein der Arbeiterklasse im Kapitalismus sei so manipuliert und deformiert, daß sie ihre wahre Lage gar nicht erkennen könne und daher auch nicht wisse, was für sie gut sei. Weil die Arbeiter die Botschaft der Terroristen nicht annehmen wollen, werden sie unter kapitalistischen Manipulationsverdacht gestellt. Die Blockierung des primären Zieles führt zur Verschiebung auf Ersatzobjekte unter dem Stichwort „Befreiungskriege der Völker der Dritten Welt".

Ein anderes Mittel, sich über die eigene Stärke hinwegzutäuschen, ist die pauschale, unbefragte Vereinnahmung oppositioneller Gruppen für die eigene Bewegung, um somit die Fiktion einer „Massenbasis“ herzustellen. „Die Bewegung 2. Juni (wird) von all jenen verkörpert..., die versuchten und versuchen, dem alltäglichen kapitalistischen Terror Widerstand und Alternative entgegenzusetzen. Dazu gehören Hausbesetzer und Jugendliche, die ihre Jugendzentren in Selbstverwaltung übernehmen, dazu gehören Knast-und Frauengruppen, Kinderläden und Alternativzeitungen, die Organisationen von Mietstreiks und Abtreibungsfahrten genauso wie die internationalistischen Solidaritätskomitees mit den Völkern in Vietnam, Iran, Palästina, Angola, West-Sahara oder sonstwo."

VII. Zur Binnenstruktur der Gruppe

Nach allem, was man aus den Biographien von Terroristen weiß, haben diese ein starkes Bedürfnis nach Gruppenbindung. In fast allen terroristischen Karrieren ist nach dem Verlassen des Elternhauses (Aufnahme des Studiums, Ortswechsel etc.) bzw. Trennung vom Lebenspartner (Scheidung) eine Phase erkennbar, die durch die Zugehörigkeit zu den verschiedensten Gruppen des Sympathisanten-milieus bestimmt wird. Die meisten Terroristen sind auf dem Umweg über politisch ausgerichtete Initiativen, Wohngemeinschaften, Selbsthilfeorganisationen oder Komitees schließlich zu terroristischen Gruppen gesto-ßen, wobei die Rekrutierung oft über persönliche oder verwandtschaftliche Bindungen erfolgt (die Zahl der Ehe-bzw. Lebenspartner sowie Geschwisterpaare ist erstaunlich hoch). Ein Charakteristikum der Sympathisanten-gruppen ist, daß sie die Trennung von privater und politischer Sphäre vollständig aufheben. Kommunikation und Sozialkontakte finden fast ausschließlich mit und unter Gleichgesinnten statt. Diese Art der freiwilligen Isolierung und des Kommunikationsverzichts mit der . Außenwelt" fördert den Prozeß der einseitigen Bewußtseinsbildung. Die entscheiden-den politischen Sozialisationseinflüsse dürften also in dieser Vorphase der terroristischen Karriere liegen.

Die Sehnsucht nach dem Kollektiv, nach „Gemeinschaft", scheint für viele der späteren Terroristen eine Suche nach Kontakt, Sensibilität, Zärtlichkeit und Geborgenheit zu sein, die sie in der Familie vermißt haben. Die Geborgenheit, die sie in der Kindheit nicht gefunden haben, suchten sie später in politischen Gruppen. Für viele war die Kommune eine Art Familienersatz, die erlittene Defizite der Primärer-ziehung kompensieren sollte.

Evident ist der Zusammenhang zwischen innerpsychischen Konflikten und politischen Verhalten beim Sozialistischen Patienten-Kollektiv (SPK). Diese Gruppe war ursprünglich eine Therapiegemeinschaft, die ihre seelischen Probleme jenseits der klassischen Schulpsychologie lösen und neue Wege und Methoden der Heilung finden wollte. Der Fall des SPK ist geradezu klassisches Beispiel für die „Politisierung von Privatkonflikten" (Habermas), also die Projektion von Schwierigkeiten im persönlichen Bereich auf die politische Ebene. Die verblüffend einfache These der Gruppe lautete, wenn die Umwelt krank mache, müsse sie revolutionär verändert werden. Oder auf die einfache Formel gebracht: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!"

Gerade auf ich-und kontaktschwache Naturen übt die Scheingeborgenheit radikaler Gruppen mit ihrem Absolutheitsanspruch und der totalen persönlichen Vereinnahmung eine starke Faszination aus. Hier finden sie ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft, Kontakt und Bindung erfüllt. Die Ich-Schwäche wird kompensiert durch das Wir-Gefühl gemeinsamer Stärke. „Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens" (Adorno). Als Gegenleistung für die totale Übergabe der eigenen Person an die Gruppe erhält das Mitglied das Erlebnis einer absoluten Gruppensolidarität. Durch neue Identifikationsobjekte wird ihm zugleich das erhebende Gefühlvermittelt, Vorkämpfer einer gerechten und außergewöhnlichen Sache zu sein. Orientierungslosigkeit und Ich-Schwäche werden also zunächst durch ein erhöhtes Selbstwertgefühl überdeckt Daß aber längerfristig die Anpassungsmechanismen, rigiden Interaktionsformen, Privilegierungen, Zwänge und Gewaltrituale der Gruppe die Entfaltung der Identität verhin-dem, liegt auf der Hand. Terroristen sind nicht fähig, normale Sozialbeziehungen zu unterhalten. Sie organisieren sich — wie ein ehemaliges Mitglied der RAF es nannte — als „Gang", in der die Kommunikationsstruktur — begünstigt durch den enormen Verfolgungsdruck — durch grundsätzliches Mißtrauen geprägt ist

Dabei schlagen die ursprünglichen Erwartungen an die Gruppe genau in das Gegenteil um: Es kommt nicht zur Identitätsentfaltung, sondern zur Identitätskrise; statt Selbstverwirklichung stellt sich permanente Frustration ein; statt eines Aufbaus menschlich warmer Kommunikationszusammenhänge verdinglichen sich die Beziehungen innerhalb der Gruppe; statt Liebe und Vertrauen stehen Mißtrauen und Desensibilisierung im Vordergrund. Dazu der Aussteiger „Bommi" Baumann: „Wir haben es nie geschafft, die Sensibilität innerhalb der Gruppe zu halten, weil der Druck von außen dann doch so groß ist, daß er dich einholt."

Die rigiden Interaktionsformen der Gruppe dominieren schließlich in der Haft, wenn latente Konflikte und Aggressionen nicht oder kaum mehr nach außen abgeleitet werden können. Das führt zu einem unkontrollierten Anwachsen der Binnenaggressivität, wie die Zellenzirkulare belegen: „Das einzige, was mich schon ziemlich lange hindert, vorzuschlagen, daß Jan statt G. mein Zeug kontrolliert, ist Angst — nur — die ML-Struktur zwischen G. und mir muß aufhören... Du sagtest ja nicht nur, warum hast du nicht geschrieben, was Andreas gesagt hat? L ... Entweder Du würgst mir, wenn ich mal Luft kriege, was rein, was tage-und wochenlang wirkt, oder ... Du erstickst. .. Ich will mit Jan besprechen können, was ich besprechen muß ... Das ist nicht mystisch, wenn ich sage, ich halte das nicht mehr aus... ich knalle an die Decke über ihre Gemeinheit und Hinterhältigkeit... Wie soll ich je zu mir kommen, wenn ich gleichzeitig gezwungen bin, mit dem Schweinebild, das sie von mir im Kopf hat, zu koexistieren? Ein weiteres Problem der Gruppe im Untergrund ist das Fehlen regelmäßiger Sozialkontakte zum anderen Geschlecht, das auf längere Sicht starke Frustrationserlebnisse mit sich bringt und zu einer Erhöhung des Aggressionspotentials führen muß (die zum Teil in Untergrundgruppen praktizierte freie Liebe bietet aus dieser Situation weder Ausweg noch Ersatz). Dazu Baumann: „Das ist ja auch ein Problem gewesen, daß die meisten keine Braut hatten... Die sind dann das letzte Jahr rumgerannt, ohne eine Frau zu sehen, das ist ein irrsinniger Streß, den muß man sich mal vorstellen." Ähnliche Erfahrungen werden von dem Aussteiger Hans-Joachim Klein bestätigt: „Mein Sexualleben endete in Frankfurt, wo ich Anfang November 1975 in ein Auto stieg, um in die Schweiz und von dort aus nach Wien zu fahren. Seitdem habe ich weder ein weibliches Wesen geküßt, gestreichelt, noch mit einem zusammen geschlafen.“

Verfolgungsdruck und verdrängte Angst lassen sich nicht immer und automatisch außerhalb der Gruppe ausagieren und belasten daher zwangsläufig die Kommunikation innerhalb der Gruppe. Nach dem, was über die Beziehungen der Gruppenmitglieder gesagt worden ist, waren sie weniger durch Solidarität, menschliche Wärme und demokratische Gruppenprozesse geprägt, als durch Rollen-und Arbeitsteilung, verdeckte Hierarchien und durch Verhaltensmuster wie Beherrschung und Unterwerfung. Das wird an der folgenden Eloge von Ulrike Meinhof über Andreas Baader deutlich: „Er ist derjenige von uns, der schon lange und schon immer die funktion der Besitzlosigkeit an sich gebracht hat — die funktion des guerilla, der die gruppe antizipiert und so ihren prozeß führen kann...“

Die Aussteigerin Beate Sturm sah die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gruppe wie folgt: „Holger (Meins) hatte politische Ansichten — da war was hinter; aber er hatte Probleme. Er wollte immer eine Autorität sein. Die Autorität, die Baader dargestellt hat, hat ihn fasziniert, da hat er sich geduckt, da hat er alles mitgemacht“ In die gleiche Richtung zielt die Äußerung von Ruhland: „Im übrigen war Mahler für mich kein Freund, sondern er war so groß, und ich war eine kleine winzige Nummer.“

Die Isolation der Gruppe und der damit verbundene Realitätsverlust fördert den Prozeß der gegenseitigen Aufschaukelung zur Radikalität nach dem Motto: „Wer ist der Radikalste?“

„Die Brandstiftung ist natürlich auch eine Konkurrenzgeschichte, da wird schon versucht, über Praxis die Avantgardepositionen abzustecken ... Wer die knallhärtesten Taten bringt, der gibt die Richtung an. Es gab eine allgemeine Vorwerferei, du bist zu lasch und so. Gerade wenn in der Kl so Gerichtsaktionen waren, wurde nachher gesagt, du hättest viel mehr machen können, du hast dich hier zurückgehalten.“

Wie die Einheit der politischen Linie bei der RAF durch Gruppendruck und -zwänge erreicht wurde, beschreibt Horst Mahler in der Retrospektive: w.. man wollte was machen, das war das Bestimmende, und das, was dagegen sprach, das wurde in irgendeiner Weise auch theoretisch abgewertet, moralisch negativ sanktioniert, und es wurde auch gar nicht mehr zur Diskussion gestellt, weil man schon fürchtete, dann als unsicherer Kantonist zu gelten oder vor sich selbst vielleicht als Kneifer dazustehen“

VIII. Exkurs: Susanne Albrecht — Vaterhaß oder Gruppenzwang?

Alle Terroristen haben den Zugang in die Terroristenszene über Gruppen gefunden, die zunächst nicht in der Illegalität arbeiteten (z. T. aber, wie Susanne Albrecht, an illegalen Einzelaktionen wie Hausbesetzungen beteiligt waren). Die entscheidenden politischen Sozialisationseinflüsse dürften also in dieser Vor-phase terroristischer Orientierung gelegen haben. Damit ist gesagt, daß die politische Sozialisation der Peer Groups im Hinblick auf eine terroristische Karriere wesentlich größeren Einfluß hat als familien-oder psychodynamische Faktoren. Für diese Annahme spricht das Beispiel der Susanne Albrecht, die an dem Ponto-Mord beteiligt war. Mit der Familie Ponto waren ihre Eltern und auch sie befreun-det Sie selbst hatte im Hause des Bankiers verkehrt. Der Bankier Ponto war also für Susanne Albrecht nicht etwas Abstraktes, dessen Namen sie nur aus den Medien kannte, ein entindividualisiertes Haßobjekt, eine Symbol-figur des Kapitalismus, sondern ihr Nennonkel. Erweckt ein Mord schon Abscheu, wieviel mehr muß es ein kaltblütig geplanter Mord an einem Freund der Familie tun, noch dazu begangen von einer Tochter aus sogenanntem „guten Hause" — der Vater ist Seerechtsanwalt und ehemaliger CDU-Abgeordneter der Bürgerschaft in Hamburg.

„Warum Susanne nicht ihn, ihren Vater, erschossen hat, fragt sich der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Hans-Christian Albrecht. Die Antwort, aber auch nur diese eine Antwort auf zahllose Fragen, ist leicht. Fürchterlicher als dadurch, daß sie an einem Attentat auf seinen Freund mitwirkte, hat Susanne Albrecht ihren Vater nicht treffen können. Kinder, die ihre Eltern angreifen, wollen fast immer den Tod der Eltern nicht. Denn ein getöteter Vater oder eine getötete Mutter erleben ja nicht mehr, was man ihnen demonstrieren wollte."

Dieser psychoanalytisch orientierten Deutung des Verhaltens von Susanne Albrecht liegt die Basisannahme zugrunde, daß die Motive ihres terroristischen Handelns letztlich in der Familiendynamik zu suchen seien, daß sich ihre terroristische Karriere auf bestimmte familiale Konstellationen zurückführen lasse. Dieser „approach" erscheint aus zwei Gründen problematisch: Einmal überschätzt er die latente politische Sozialisation des Elternhauses und läßt dabei weitgehend unberücksichtigt, daß gerade die Peer Group politisches Bewußtsein und Handeln der späteren Terroristin bestimmt hat. Zwar kann die Familie die ideologischen Glaubens-und Überzeugungssysteme des einzelnen beeinflussen und sogar weitgehend prägen, dies würde aber höchstens die grundsätzliche Entscheidung beeinflussen können, welcher Organisation oder Gruppierung man sich innerhalb des weitgefächerten ideologischen Spektrums zuordnet (diese intergenerationelle Vermittlung politischer Inhalte hat aber gerade bei Susanne Albrecht nicht stattgefunden).

Auf das Verhalten von Susanne Albrecht hat sicherlich der Druck der Gruppe stärkeren Einfluß gehabt als ein bewußter oder unbewußter Haß auf den Vater. Diesem Druck oder Zwang kann sich kein Mitglied terroristischer Gruppen entziehen. In der terroristischen Werthierarchie ist die Freiheit inhaftierter Genossen ein höheres Gut als der eventuelle Tod eines Nennonkels.

Passivität oder Nichtmitmachen würden sofort als Verrat qualifiziert. Hinzu kommt, daß sich mit dem Eintritt in eine terroristische Gruppe der gleichzeitige Abbruch aller familiären oder privaten Beziehungen vollzieht (nicht nur technisch, auch affektiv). So haben Häftlinge Kontaktversuche oder Besuche von Familienmitgliedern abgelehnt, mit der Begründung, ihre Brüder und Schwestern seien jetzt ihre Genossen (so Gudrun Ensslin).

IX. Das Problem des Ausstiegs

Die Chance, aus einer terroristischen Gruppe „auszusteigen", ist aus mehreren Gründen äußerst gering und zudem für die meisten Mitglieder kaum attraktiv. Da die Terroristen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind und zumeist schwere Straftaten verübt haben, würde sie eine hohe, wenn nicht lebenslange Freiheitsstrafe erwarten. Insofern haben sie ohnehin nichts mehr zu verlieren. Die Konsequenz ist das Weitermachen bis zum bitteren Ende. Da es kein Zurück mehr gibt, bleibt nur die Flucht nach vorn, sprich: die Eskalation in immer größere Terrorakte. „Erfolgsmeldungen über uns können nur heißen: verhaftet oder tot. Die Stärke der Guerilla ist die Entschlossenheit jedes einzelnen von uns." So um-* schrieb Andreas Baader die Guerilla-Philosophie der RAF (Brief v. 24. 1. 1972). Mit dieser Entschlossenheit machen Terroristen sofort von der Schußwaffe Gebrauch, um eine Festnahme abzuwehren.

Die Frage des Ausstiegs stellt sich für die Kerngruppe kaum, da die Alternative lebenslange Haft heißt. Das Angebot des Staates auf Straffreiheit bzw. Strafminderung für den Fall, daß Mitglieder terroristischer Organisationen als „Kronzeugen“ auftreten und damit zur Tataufklärung bzw. Festnahme von Tenoristen beitragen, dürfte in der Terroristenszene ohnehin kaum Beachtung finden, da es Mentalität und Energien der terroristischen Kader unterschätzt, insbesondere aber das politische Glaubens-und Überzeugungssystem, das die Gruppe zusammenschweißt, außer acht läßt Das Institut des Kronzeugen mag bei kriminellen Organisationen wie der Mafia z. T. erfolgreich sein, politisch orientierten Gewalttätern wird man damit nicht beikommen können. Die beiden „Kronzeugen“ (Müller und Ruhland), die bisher in Terroristenprozessen aufgetreten sind, gehörten eher zu den Randfiguren und fühlten sich auch selbst in der Gruppe als Außenseiter (beide kamen aus einem eher proletarischen Milieu). Auch der Aussteiger „Bommi“ Baumann war Arbeiter. Bei man vermuten, daß weder allen darf sie ideologisch noch sozial völlig in Gruppe integriert waren. Eine weitere Ausnahme machen der zur Gruppe der Stockholmer-Attentäter gehörende Volker Speitel, Ehemann von Angelika Speitel, und Hans-Joachim Dellwo, Bruder des Stockholmer Attentäters Karl-Heinz Dellwo, die sich in der Haft von der RAF losgesagt und gegenüber dem Bundeskriminalamt ausgesagt haben. Speitel trat als . Kronzeuge“ im Verfahren gegen die Anwälte Müller und Newerla auf (das Strafmaß fiel bei Speitel und Dellwo sehr niedrig aus).

Neben den psychologischen Gründen, die das einzelne Gruppenmitglied selbst davon abhalten, aus der Terrorszene auszusteigen (Identitätsverlust), gibt es eine Reihe objektiver Schwierigkeiten. Da in der Bundesrepublik gegen Terroristen Haftbefehl vorliegt, ist eine legale Existenz in den meisten Ländern wegen der drohenden Auslieferung ohnehin nicht möglich. Ein Leben mit einer anderen Identität und unabhängig von der Gruppe (wie es z. B. Astrid Proll und Kristina Berster bis zu ihrer Festnahme versucht haben) erfordert entweder erhebliche finanzielle Mittel oder gute Kontakte zu Einheimischen. Daneben stößt der Aufbau einer zweiten Identität, also der Beginn eines völlig neuen Lebens, in einem anderen Land auf eine Reihe schwer zu überwindender Barrieren (Sprache, Bürokratie und wirtschaftliche Probleme des Landes etc.). Bleibt also die Existenz in einem Land, das den Aufenthalt dulden und keine Auslieferung an die Bundesrepublik vornehmen würde. Diese Alternative besteht nur theoretisch, da sie in diesen wenigen Ländern als Mitglied der Gruppe und als „anti-imperialistischer Freiheitskämpfer" — oder wie auch immer die Chiffre lauten mag — Unterschlupf finden. Ei-nem „Verräter“ würden diese Staaten kaum das Privileg des Aufenthaltes gewähren. Hinzu kämen die grundsätzlichen Probleme, die oben bereits genannt wurden, und die Frage, ob man vor der Rache der ehemaligen Genossen sicher wäre.

Ein weiteres Problem für den potentiellen Aussteiger ist, daß er völlig in die Bezüge und Logistik integriert ist (Terroristen operieren meist zu zweit), so daß ein Absprung von der Gruppe schon rein technisch nicht jederzeit möglich ist.

Bisher ist von psychologischen Hemmungen und technischen Schwierigkeiten gesprochen worden, die den Abbruch der Terroristenkarriere erschweren. Im folgenden soll auf die vermutlich größte Barriere eingegangen werden, nämlich die Sanktion der Gruppe selbst. Wie alle Verschwörungen, Geheimbünde, Untergrundorganisationen kennt auch der Kader der deutschen Terroristengruppen keine Gnade gegenüber „Verrätern", wobei als Verrat bereits das Verlassen der Gruppe definiert wird. Dazu die Antwort des Aussteigers Ruhland auf die Frage, ob er sich vor Racheakten der RAF fürchte: „Ja. Ich fürchte mich vor Racheakten von Gruppenmitgliedern, weil immer vereinbart war, daß jeder, der gesteht, liquidiert wird."

Auch der Aussteiger Klein fühlt sich vor seinen ehemaligen Genossen nicht sicher, obwohl er keinen „Verrat" begangen hat. Da Terroristen alle Tötungshemmungen abgebaut haben (selbst gegenüber Leuten, mit denen sie persönlich befreundet waren, wie die Beteiligung von Susanne Albrecht am Ponto-Mord zeigt) und der Verrat als größte Gefahr für die Gruppe überhaupt angesehen wird, versucht man ihm mit allen'Mitteln zu begegnen: „Verräter in den Reihen der Revolution richten mehr Schaden an, als die Politik ohne sie anrichten kann.“ Aus der kalten Sicht der Terroristen ist die Liquidierung von Verrätern nur konsequent: „Ein Terrorist hat in den Reihen der Revolution nichts zu suchen, außer seinen sicheren Tod.“ Zugleich sollen Liquidierungsaktionen — wie in der kriminellen Unterwelt — ein Exempel statuieren, also potentielle Verräter abschrecken und ihnen die Sanktionsmöglichkeiten der Gruppe demonstrieren. So heißt es im „Kochbuch" der Stockholmer Attentäter: „Dennoch wird sich kaum vermeiden lassen, einmal einen aufgedeckten Denunzianten umzulegen. Aber auch hier gilt, was die gute alte Oma Mao dazu sagte: Bestrafe einen — erziehe hundert!"

X. Die Funktion der Sympathisanten

Der Ausdruck „Sympathisant“ ist schillernd, da im politischen Tageskampf der eiligen Schuld-zuweisungen Personen mit diesem Attribut belegt wurden (und werden), sofern sie nur Kritik an staatlichen Reaktionen im Zusammenhang mit Aktionen der Terroristen übten. Hier sollen unter Sympathisanten Personen verstanden werden, die offen mit Terroristen sympathisieren und auch die Terrorakte der Gruppe politisch und moralisch befürworten. Sympathisanten sind nicht Mitglieder terroristischer Gruppen, werden polizeilich nicht gesucht, leben also in der Legalität. Sie gehören zur Randszene des Terrors, halten Theorie und Praxis der Stadtguerilla für richtig und hegen uneingeschränkte Bewunderung für ihre Aktionen. „Sie bilden die ermunternde Kulisse, vor der die Mörder als Helden agieren können“ (Willy Brandt). Daraus folgt konsequenterweise, daß Sympathisanten die Polizeifahndung nicht unterstützen und Terroristen auch nicht ausliefern würden. Sympathisanten würden notfalls staatliche Sanktionen in Kauf nehmen, um Terroristen zu helfen. Wie groß ist der Kreis der Sympathisanten, hat er eine politische Bedeutung und welche Rolle spielen Sympathisanten für den „harten Kern"? Genaue Angaben zur Größenordnung lassen sich nicht machen. Viele Zahlen, die genannt werden, sind Spekulation (Peter Glotz: . Jeder vierte denkt wie Mescalero").

Als die Baader-Meinhof-Gruppe mit ihren Aktionen begann, war der Kreis der „Sympathisanten“ noch erstaunlich groß 1971 äußersten 12 Prozent der Bundesbürger Verständnis für jemanden, der ein von der Polizei gesuchtes Gruppenmitglied für eine Nacht aufnimmt, 8 Prozent waren unentschieden in ihrer Haltung. Auf die härtere Frage, ob man selber bereit sei, einem Mitglied der Gruppe für eine Nacht Unterkunft zu gewähren, antworteten 6 Prozent mit ja, 7 Prozent blieben unentschieden. Dabei zeigten sich keine Zusammenhänge zwischen Ausbildungs-, Berufs-und Einkommensstatus und der Einstellung zur Baader-Meinhof-Gruppe. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme hegen Personen mit hohem Bildungsstatus keine besonderen Sympathien für Terroristen. Vielmehr ziehen sie besonders häufig die politischen Motive der Gruppe in Zweifel und lehnen es ab, ihnen Schutz zu gewähren. Dagegen glauben sozial Benachteiligte häufiger an politische Motive der Baader-Meinhof-Gruppe, tolerieren ihren Schutz und sind selber auch häufiger bereit diese zu unterstützen. Nach Kepplinger sind mehr als ein Drittel (35 Prozent) aller Personen mit starken Unterprivilegierungen potentielle Helfer der deutschen Terroristen.

Während in der Anfangsphase des Terrorismus mancher politisch unbedarfte Zeitgenosse die Aktivitäten der RAF romantischverklärt und die Baader-Meinhof-Leute mit Robin Hood verwechselt haben mochte, haben sich mit der Eskalation der Gewalt die naiven sozialromantischen Sympathien in der Bevölkerung sehr schnell verflüchtigt.

Unabhängig davon gibt es hierzulande ein Potential, das dem politischen System und der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik entfremdet, anomisch oder gar mit Feindschaft gegenübersteht Natürlich sind diese Gruppen nicht automatisch mit den Sympathisanten des Terrors gleichzusetzen. Hier muß man differenzieren. So gibt es Gruppen, die zu ähnlichen theoretischen Analysen kommen wie die RAF, auch etwa gleiche politische Zielvorstellungen haben. In der Frage, wie diese Ziele zu erreichen sind, setzen sie sich aber eindeutig von den Anhängern der terroristischen Gewalt ab. Andere lehnen Gewalt und Terror nicht aus grundsätzlichen moralischen Erwägungen ab, sondern weil sie diesen Weg aus taktischen Gründen für falsch halten, da er nicht ihrer Methodik der Revolution entspricht. Für die Terroristen im Untergrund hat die Sympathisantenszene eine vitale Funktion. Ohne sie wären die terroristischen Gruppen auf lange Sicht kaum lebensfähig. Sie sind das Potential, aus dem der Untergrund seinen Nachwuchs rekrutiert und Ausfälle ersetzt. Im einzelnen hat die Sympathisantenszene für den terroristischen Untergrund folgende Funktionen: 1. Eine Publizitätsfunktion 2. Eine Manipulationsfunktion 3. Eine Solidarisierungsfunktion 5, Eine politische Sozialisationsfunktion 6. Eine Rekrutierungsfunktion 7. Eine logistische Funktion Zu 1: Unter der Publizitätsfunktion der Sympathisanten ist die Aufgabe zu verstehen, Informationen, Nachrichten und Hintergrund-berichte, die die Agenturen und Medien nicht oder nicht ausführlich genug veröffentlichen (siehe Besetzung von dpa), publik zu machen und somit Öffentlichkeit herzustellen. Gegenstand dieser Informationsarbeit sind Haftbedingungen und Hungerstreiks inhaftierter Terroristen, Prozesse und Probleme der Verteidigung. Ziel dieser Aktivitäten ist es, eine Art „Gegenöffentlichkeit" herzustellen und Sympathiewerbung für inhaftierte Terroristen zu betreiben.

Zu 2: In engem Zusammenhang mit der Publizitätsfunktion ist die Manipulationsfunktion der Sympathisantenkultur zu sehen. Unter Manipulation soll hier verstanden werden, das Herauslösen von Daten und Informationen aus ihrem Zusammenhang und deren Wertung, Interpretation oder Verfälschung im Sinn der Gruppenideologie. Ziel der manipulativen Informationsverarbeitung ist es, orientierungs-und verhaltenssteuernd auf die Sympathisantenszene selbst sowie auf potentielle Sympathisanten einzuwirken. Da viele Sympathisanten ihrerseits die gesamte „bürgerliche Presse" unter Manipulationsverdacht stellen, kommt es bei ihnen zu einer Art freiwilligen Informationsentzug. Als einzige Quelle für Nachrichten und Informationen bleibt dann nur noch die Info-Kultur. Bekannte Topoi, die Gegenstand der Manipulation oder Informationsverfälschung sind, sind etwa die Haftbedingungen („Isolationsfolter", „Vernichtungshaft"), Fragen der Gesundheitsversorgung und Verpflegung, der Behandlung durch die Justizbehörden bei Hungerstreiks sowie die Rechte der Verteidigung. Ziel der Manipulation ist die Emotionalisierung der Sympathisanten, um Unterstützung für die Häftlinge zu mobilisieren. Zugleich will man damit die affektive Anbindung an die Terrorszene erreichen. Zu 3: Unter der Mobilisierungsfunktion ist zum einen das Bemühen zu verstehen, außerhalb der Sympathisantenszene moralische Unterstützung für inhaftierte Terroristen zu erreichen und Teile der Öffentlichkeit aufzurütteln. Eine Zielgruppe dieser Mobilisierungskampagnen sind kritische Intellektuelle, die als „opinion leaders" Einfluß auf die öffentliche Meinung haben. Zweitens haben Sympathisanten die Aufgabe, die eigenen Reihen zu mobilisieren, und zwar für Aktionen, die sowohl legalen als auch illegalen Charakter haben können. Diese Aktionen sind vielfältig. Die Beteiligung als Zuschauer bei Terroristenprozessen, das Bemalen von Wänden mit politischen Parolen, die Anfertigung von Flug-oder Informationsblättern, die Teilnahme an Demonstrationen oder auch Hausbesetzungen sind nur einige aus dem breiten Spektrum von Sympathisantenaktivitäten. Auch die Organisierung von Spendenaufrufen zugunsten inhaftierter Terroristen gehört in diese Kategorie.

Zu 4: Die Solidarisierungsfunktion hebt auf den permanenten Versuch ab, für die Terroristen, insbesondere ihre inhaftierten Mitglieder, eine breite Front des Mitgefühls und moralischer Unterstützung zu organisieren, und zwar nicht nur in der Sympathisantenszene, wo diese eo ipso besteht, sondern innerhalb jenes Spektrums der Bevölkerung, das die Methoden der Terroristen zwar ablehnt, ihren politischen Zielvorstellungen aber Sympathie entgegenbringt oder sie sogar befürwortet. Die Solidarisierungsaktionen sollen ihnen das Gefühl bzw. das Erfolgserlebnis vermitteln, daß ihre Aktionen eine gewisse Resonanz haben. Damit will man dem Vorwurf begegnen, es handele sich bei den Gewalttaten um die verzweifelten Aktionen politischer Desperados. Bei den Solidarisierungskampagnen wird bewußt die Mitleidsfähigkeit der avisierten Zielgruppen angesprochen, z. B. durch detaillierte Schilderungen der Haftbedingungen (Zwangsernährung) und ihrer Auswirkungen auf die psychische Situation der Häftlinge. Der Begriff der „Isolationsfolter“ ist in diesem Zusammenhang weltweit bekanntgeworden.

Zu 5: Mit der politischen Sozialisationsfunktion der Sympathisantenszene ist gemeint, daß diese ihren Mitgliedern politische Orientierungen, Verhaltens-und Interpretationsmuster vermittelt und permanent bestätigt bzw. verstärkt. Dieser Prozeß des politischen Lernens erfolgt in Veranstaltungen, Gruppen und Zirkeln, bei Gesprächen, auf Demonstrationen, durch Broschüren, Informationsblätter (Infos), Flugblätter sowie durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Die politische Sozialisationsfunktion der Sympathisantengruppen ist deshalb besonders effektiv, weil diese sich in ihren Kommunikationsbezügen weitgehend nach außen isolieren und die Gruppe gegenüber dem einzelnen eine monopolartige Stel41 lung in bezug auf einschlägige Informationsund Interpretationsmuster erhält. Die Rolle des Sympathisanten wird also gelernt; als Sozialisationsagent fungiert in erster Linie die Altersgruppe.

Zu 6: Zur Rekrutierungsfunktion: Terroristische Organisationen sind auf Ergänzung ihrer Mitglieder bzw. Erweiterung ihrer Mitglieder-basis angewiesen, wenn sie das Konzept der Stadtguerilla sich selbst, aber auch ihren Sympathisanten glaubhaft machen wollen. Da das Netz der nationalen und internationalen Fahndung immer engmaschiger wird, entstehen Verluste, die ersetzt werden müssen, wenn die Gruppe operationsfähig bleiben will. Der Nachwuchs kann nur aus dem Kreis der Sympathisanten rekrutiert werden. Im Hinblick auf die Interaktions-und Orientierungsmuster wird man davon ausgehen können, daß es einen äußeren und einen inneren Kreis der Sympathisanten gibt. Kontakte zwischen Untergrund und Sympathisanten laufen ausschließlich über den inneren Kreis, aus dem auch der Nachwuchs rekrutiert wird. Vermutlich treten die Mitglieder des inneren Sympathisantenkreises unter Ausnutzung ihrer Legalität als Helfer auf verschiedensten Gebieten in Aktion. Diese Phase ist zugleich die Vorstufe und Bewährungsprobe vor der Aufnahme in die Gruppe und dem . Abtauchen" in die Illegalität. Als Initiationsweihe für die Aufnahme in die Gruppe fungiert die erfolgreiche Teilnahme an einem Bankraub. Dabei dürfte der Bankraub nicht so sehr als Mut-oder Bewährungsprobe gedacht sein, sondern vielmehr das Ziel haben, die Einschleusung von Spitzeln zu verhindern. Denn die Beteiligung an einem Bankraub, mit eventuellem Schuß, waffengebrauch, bedeutet den Einstieg in die Schwerkriminalität und ist damit Tabuzone für V-Leute. Durch die Teilnahme am Bank-raub haben sich die Einsteiger den Rückweg in ein normales Leben abgeschnitten und sind auf Gedeih und Verderb der Gruppe ausgeliefert. Zu 7: Mit der logistischen Funktion der Sympathisanten ist deren Rolle als Helfer der Terroristen gemeint. Helfer werden für das Leben im Untergrund sowie bei der Vorbereitung von Anschlägen benötigt. Sie werden vor allem für Handlangerdienste gebraucht, deren Risiken sich die Terroristen nicht selbst aussetzen wollen. Dazu gehören der Diebstahl von Personalausweisen, Pässen, Kraftfahrzeugpapieren und deren Fälschung, der Ankauf von Waffen, die Beschaffung von Sprengstoff, die Anmietung von Kraftfahrzeugenund Wohnungen, Kundschafter-und Kurierdienste und schließlich die Geldbeschaffung durch Banküberfälle. Die Zahl der Sympathisanten, die bereit sind, den Terroristen auf die eine oder andere oben genannte Art zu helfen, wird mit 75 bis 100 angegeben Der Übergang aus dem Vorfeld des Terrorismus — eben der Sympathisantenszene — zur direkten Aktion terroristischer Handlungen beginnt mit der Rolle des Helfers. Der Einstieg in den terroristischen Untergrund läuft über logistische Handlangerdienste, sozusagen als Einübung in die Illegalität. Nur wer sich als Helfer bewährt und die Kriterien eines Stadtguerillas erfüllt, hat eine Chance, von der Kerngruppe aufgenommen zu werden.

XI. Die politische Umwelt

Politische Sozialisationsprozesse sind auch als Reaktionen auf das politische System und die Handlungen oder Unterlassungen seiner Eliten zu sehen. Es wäre sicherlich ein verkürzter Ansatz im Hinblick auf die Sozialisation terroristischer Karrieren, wenn neben psycho-und gruppendynamischen sowie subkulturellen „approaches" nicht auch die Politik selbst in die Analyse einbezogen würde. Schließlich konzentriert sich das Denken und Handeln der Terroristen nahezu ausschließlich auf das politische System, dessen Handlungen ihnen als Rechtfertigung für ihre Aktionen dienen.

Es geht also um Wahrnehmungen und ihre Verarbeitung, um Reaktionen und Gegenreaktionen, Erwartungshaltungen und ihre Bestätigung bzw. Selbstbestätigung.

Dabei kann es hier nicht um eine Auseinandersetzung mit dem ideologischen Konzept der RAF und ihrer Einschätzung der politisch-gesellschaftlichen Situation der Bundesrepublik und die Schwächen ihrer politischen Analysen gehen Vielmehr sollen politische Umweltfaktoren herangezogen werden, von denen wir annehmen müssen, daß sie bei der politischen Sozialisation terroristischer Karrieren Einfluß haben. Dazu gehören:

— die Reaktionen des politischen Systems auf terroristische Gruppen und ihre Rezeption durch die Terroristen, _ die Reaktion in der Bevölkerung, — die Rolle der Massenmedien, — die Leitbildfunktion des internationalen Terrorismus. 1. Reaktionen des politischen Systems In der Reaktion des politischen Systems auf terroristische Gruppen sehen die Terroristen sich in ihrer Propaganda über die Bundesrepublik bestätigt. Die Antwort des Staates auf seinen verschiedenen Ebenen (Politik, Verwaltung, Polizei, Justiz) bestätigt die Gruppenerwartungen und stabilisiert damit den Zusammenhalt und das Bewußtsein der Gruppe. Die Reaktionen des Staates, die teilweise erst auf Druck oder Protest der öffentlichen Meinung speziell Betroffener und/oder engagierter Kritiker zurückgenommen wurden, werden von den Terroristen als Wahrheitsbeweis ihrer politischen Grundannahme gewertet, daß die Bundesrepublik hinter ihrer liberalen Fassade faschistisch sei.

Der „Erfolg" der Terroristen liegt in der Reaktion des Staates, der seine Bestandschancen bedroht sieht und meint, dieser Bedrohung in erster Linie durch ein Bündel administrativer und gesetzlicher Maßnahmen begegnen zu müssen. Damit bewegt die Bundesrepublik sich in der legalistischen Tradition deutscher politischer Kultur, nach der politisches Handeln in erster Linie durch Gesetze und Verordnungen zum Ausdruck kommt und Problemlösungsangebote zuallererst vom Staat erwartet werden. Synchron zu dieser Einstellung läuft eine output-orientierte Erwartungshaltung bei der Mehrheit der Bevölkerung (siehe die Reaktion auf den Mescalero-Artikel). Vor dem dezisionistischen Hintergrund, daß die Bekämpfung des Terrorismus in erster Linie eine Frage staatlichen Handelns ist, muß man sehen, daß die „geistige und politische Auseinandersetzung" mit dem Terrorismus zwar permanent beschworen, aber erst in Ansätzen — und vor allem viel zu spät — geleistet worden ist Die Absicht, möglichst viele Terroristen „zurückzuholen", die in letzter Zeit von der Regierung geäußert wurde, könnte ein staatliches Umdenken signalisieren. Durch Haftbefehl gesuchten (in den Untergrund abgedrängten?) Randfiguren böte sich damit die Chance, mit dem Terrorismus zu brechen. Sie könnten aus dem Teufelskreis ausbrechen, durch logistische Abhängigkeiten im Untergrund zwangsläufig immer tiefer in den Strudel terroristischer Aktionen hinabgezogen zu werden. 2. Die Reaktion innerhalb der Bevölkerung Die deutsche Stadtguerilla hat ihren Kampf gegen die Gesellschaftsordnung unter den Leitsatz „Dem Volke dienen“ gestellt Tatsache ist, daß die Aktionen terroristischer Gruppen in der Bevölkerung — von wenigen Ausnahmen abgesehen — Ablehnung und Abscheu hervorrufen. Das Volk, insbesondere auch die Arbeiter, haben die Gefolgschaft versagt.

Der Terrorismus in der Bundesrepublik hat nicht nur ein ganzes Bündel staatlicher Maßnahmen provoziert, die die Eingriffsbefugnisse der staatlichen Organe zu Lasten der Freiheitssphäre verdächtiger, aber auch unbeteiligter Bürger z. T. erheblich erweitern, sondern auch die Bevölkerung beunruhigt — allerdings anders, als es die Terroristen erhofft haben. Die „vox populi" rief nach der Geiselnahme von Mogadischu nach Vergeltung, nach kurzem Prozeß, nach Lösungsmustern, die unsere Verfassung verbietet.

Konnten die Terroristen in ihrer Anfangsphase noch mit gewissen Sympathien — wenn auch nur in einem kleinen Spektrum der Bevölkerung — rechnen, so hat sich das Blatt inzwischen völlig gewendet. Heute äußern fast drei Viertel (73 Prozent) der Bevölkerung, daß sie manchmal bzw. oft davor Angst haben, daß politische Ziele in der Bundesrepublik mit Gewalt und Terror verfolgt werden In derselben Größenordnung bewegt sich die Zahl (77 Prozent) derjenigen, die im Zusammenhang mit dem Tod von Holger Meins den Behörden keine Vorwürfe machen wollen nur 13 Prozent sehen ein Versagen der Behörden. Zwei Drittel (67 Prozent) der Bevölkerung sind eher dagegen bzw. ganz entschieden dagegen, daß Häftlinge, die sich im Hungerstreik befinden, gegen ihren Willen künstlich ernährt werden. Und zwei von drei Bürgern (63 Prozent) würden es begrüßen, wenn der Polizei ein gezielter Todesschuß im Falle der Gefahr für andere Menschenleben erlaubt wäre. 67 Prozent der Bundesbürger befürworteten unmittelbar nach dem Kölner Anschlag die Todesstrafe für Terroristen. Diese Meinungsbefragungen sprechen für sich.

Es bleibt die Frage: Wie reagieren die Terroristen auf die Phalanx der Ablehnung, der sie sich gegenübersehen? Wie verarbeiten sie ihre politische Erfolgslosigkeit und welche Konsequenzen ziehen sie aus dem Scheitern ihres Kampfes?

Hatten sich die Terroristen in ihrer Anfangsphase noch Illusionen und Selbsttäuschungen über ihre Resonanz in der Bevölkerung hingeben können, so müßten sie inzwischen eingesehen haben, daß sie auf verlorenem Posten stehen. In der Endphase ihrer völligen Isolierung in der Bevölkerung kann es allenfalls noch darum gehen, den Einsatz unter den Gruppenmitgliedern zu rationalisieren. Nach außen, gegenüber der Öffentlichkeit oder den Massen, die man urprünglich gewinnen wollte, finden diese Rechtfertigungsversuche schon seit Jahren nicht mehr statt. Diese überläßt man der Schar der Sympathisanten. Was übrigbleibt, ist die fatalistische Einsicht, daß man seinen Weg zu Ende gehen muß, will man nicht dasselbe Schicksal erleiden, wie die Märtyrer der Gruppe. Das Politische hat sich ohnehin aus der Motivation verflüchtigt. Es gibt nur noch zwei alles beherrschende Ziele: Vorrangig den Kampf ums eigene überleben und sodann „die Befreiung der inhaftierten Genossen". Aber auch dafür besteht kaum mehr eine reale Chance, seitdem offenbar geworden ist, daß der Staat bei Geiselnahme keine Terroristen freiläßt.

Die Terroristen sind zu einem verlorenen Haufen versprengter Desperados geworden. Was sie zusammenhält, ist das Ethos des verlorenen Postens, eine Idee der kämpferischen Bewährung, die sich völlig von ihrem ursprünglichen ideellen und politischen über-bau abgelöst hat. Die gegenwärtige Lebens-und Denkweise der deutschen Terroristen kommt wahrscheinlich dem Kult der Samura näher als dem Ideal des lateinamerikanischer Guerilla-Kämpfers.

Von daher kann man nicht ausschließen, da£künftige Aktionen weniger „sophisticated sind und als Ausbruch reiner Verzweiflung die totale Vernichtung haßbesetzter Objekte zum Ziel haben. Für diese Annahme spricht der Einsatz raketenähnlicher Geschosse.

Der Kampf gegen die Gesellschaft bzw. ihre Haßobjekte hat immer stärker kamikaze-ähnliche Formen angenommen: Auf dem Weg der Selbstvernichtung sollen möglichst viele Gegner vernichtet werden. So gibt es in der Verhaftungssituation nur die Alternative des . Alles oder Nichts“. Der sofortige Griff zur Waffe eröffnet eine schwache Chance zu entkommen, er verhindert aber auf jeden Fall, daß man der Polizei lebend in die Hände fällt. Todessehnsucht vermischt sich mit dem selbst-inszenierten Drama des „im Kampf erschossen“. Diese Haltung wird um so entschlossener werden, je mehr die Chancen der Freipressung aus lebenslänglicher Haft schwinden, von der die Terroristen überzeugt sind, daß es eine „Vernichtungshaft” ist. 3. Massenmedien und politische Sozialisation terroristischer Karrieren Die Rolle der Massenmedien hebt auf zwei Probleme im Zusammenhang mit der Entstehung des Terrorismus ab. Einmal auf die Berichterstattung der Medien und ihre Rezeption durch die direkt oder indirekt Betroffenen zur Zeit der Studentenunruhen, zum anderen auf die Bedeutung, die die Terroristen den Medien in der Dramaturgie des Terrors zuweisen Noch in der Vorphase des Terrorismus, in der Zeit des studentischen Protests, sind von einem Teil der Medien Feindbilder und Vorurteile aufgebaut sowie voreilige und undifferenzierte Schuldzuweisungen vorgenommen worden, die von vornherein jeglichen Dialog mit der Protestgeneration abgeschnitten haben. Diese Prozesse sind von der damaligen Studentengeneration unterschiedlich verarbeitet worden. Daß auch bestimmte Schlüssel-erlebnisse die erste Terroristengeneration politisch sozialisiert haben (der Tod von Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke), ist ein häufig zu findener Topos. „Bommi" Bau-mann drückte seine Empfindungen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke so aus: „Die Kugel war genauso gegen dich, da haben sie nun das erste Mal voll auf dich geschossen.“ Demgegenüber war die Reaktion der Öffentlichkeit weitgehend durch Selbstgerechtigkeit der politischen Eliten und durch Schwarz-Weiß-Bilder sowie undifferenzierte Berichterstattung, insbesondere der Boulevardpresse, geprägt.

Massenmedien und Terrorismus unterliegen einer Wechselwirkung; Terroristen sind auf die publizistische Rückkoppelung ihrer Aktionen angewiesen. Die Schlagzeilen in der Presse und die Berichte in Funk und Fernsehen gehören mit zum Konzept. „Die RAF hat gesagt, diese Revolution wird nicht über die politische Arbeit aufgebaut, sondern durch Schlagzeilen, durch ihr Auftreten in der Presse, die immer wieder meldet, hier kämpfen Guerillos in Deutschland."

Tatsächlich ist die alltägliche Darstellung des Terrorismus in den Massenmedien ein Macht-beweis für die Terroristen. Im Gespräch zu bleiben und im Brennpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen, ist die Voraussetzung, um ein Klima der allgegenwärtigen Bedrohung und Vernichtung zu schaffen (34 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik sind der Meinung, die Sicherheit des einzelnen habe sich verringert). Gleichzeitig ist der Auf-merksamkeitswert, den die Terroristen in den Massenmedien genießen, für die Terroristen selbst eine Bestätigung ihres politischen Erfolgs, der sich ja nur auf zwei Ebenen ausdrükken kann: in der Beachtung der Öffentlichkeit und in Aktionen. Auf der anderen Seite haben die Medien den Terrorismus zu lange als Sensationslieferanten vermarktet, ohne in die Analyse seiner Ursachen und Hintergründe einzudringen.

In den Drehbüchern von Entführungen ist das Fernsehen als Mittel der Informationsübermittlung von vornherein eingeplant (die spektakuläre Fernseherklärung Horst Mahlers während der Lorenz-Entführung war eine der Bedingungen der Terroristen). In den Ultimaten der Schleyer-Entführer waren ebenfalls detaillierte Regieanweisungen für das Fernsehen enthalten.

Der erzwungene Zugang zu den Medien konfrontiert den zunächst unbeteiligten Bürger mit der terroristischen Aktion. Damit wird die Macht der Terroristen demonstriert, daß sie in der Lage sind, den Medien ihren Willen aufzuzwingen. Außerdem wird das eigentliche Ziel des Terrors erreicht, nämlich diffuse Angstgefühle zu wecken, und schließlich wird der Bevölkerung die Propaganda der Terroristen für kurze Zeit aufgezwungen.

Die Instrumentalisierung der Massenmedien durch die Terroristen beeindruckt Sympathisanten und potentielle Sympathisanten; insofern ist sie auch ein Faktor der politischen Werbung. Die Fernsehübertragung des Abflugs der im Zusammenhang mit der Lorenz-Entführung freigepreßten Häftlinge und die damit verbundene Demonstration staatlicher Ohnmacht kann von Sympathisanten wie auch von Terroristen selbst als Beweis für den „richtigen Weg" verarbeitet werden. Insbesondere auf die Sympathisantenszene, deren Mitglieder sich durch ein hohes Maß an politischer Entfremdung, politischer Wirkungslosigkeit und politischem Zynismus in bezug auf das politische System der Bundesrepublik und seiner Eliten auszeichnen, kann das terroristische Angebot der Gewalt als Modell verstanden werden, um eigene Ohnmachtsgefühle zu kompensieren.

Die politische Führung hat diese Gefahr der Strategie der Terroristen erkannt und eine Gegenstrategie in Form der sogenannten „Nachrichtensperre“ entwickelt, um ihnen die publizistische Bühne für ihre Auftritte zu entziehen. 4. Die Leitbildfunktion des internationalen Terrorismus Politisches Lernen vollzieht sich auch durch Imitation und Identifikation. Ohne Imitation der Vorbilder aus dem internationalen Terrorismus wäre der deutsche Terrorismus nicht denkbar. Terrorismus in der Bundesrepublik ist Nachahmungsverhalten. Er hat keine direkten Vorläufer und Traditionen wie bei den Palästinensern, der IRA oder ETA. Er ist nicht autonom historisch-politisch gewachsen. Die Akteure des internationalen Terrorismus fungier(t) en bei den deutschen Terroristen als Leitbilder, sie waren (und sind) Gegenstand der Bewunderung: Identifikationsobjekte. Dafür sprechen die . Wallfahrten'zu den Ausbildungslagern der Palästinenser. Die terroristische Strategie, die, soweit wir sehen, bisher lediglich bei den Palästinensern zu politischen Erfolgen geführt hat (quasi-diplomatische Anerkennung ihrer Vertretungen, Anerkennung ihrer politischen Forderung in der internationalen Politik), ist importiert worden. Partielle Erfolge des internationalen Terrorismus mögen die deutschen Terroristen mit dazu verleitet haben, dieses Modell auf die Bundesrepublik zu übertragen.

Das terroristische „know-how" (Fertigkeiten und Techniken der Stadtguerilla) ist Anfang der siebziger Jahre in den Ausbildungslagern der Palästinenser gelernt worden. Eine Reihe von Mitgliedern der ersten Generation hat dort ihre „Grundausbildung" erhalten. Die Ära des Widerstandes und die Illegalitätsromantik in den Palästinenserlagern muß auf die deutschen Terroristen — mit ihrem Trauma, daß 'ihre Eltern nicht genug Widerstand geleistet hätten — eine besondere Faszination ausgeübt haben. Moralische Skrupel über die Methoden ließen sich mit dem gesinnungsethischen Hinweis auf den Dienst an der „gerechten Sache" verdrängen.

Für die Stabilisierung des terroristischen Überzeugungssystems spielt sicherlich die Zusammenarbeit mit terroristischen Gruppen anderer Länder eine erhebliche Rolle. Die Kooperation auf internationaler Ebene (z. B, mit den Roten Brigaden oder den Palästinensern) ist nachgewiesen. Sie hat neben der ideologischen und logistischen Funktion vor allem auch ein persönlichkeits-und bewußtseinsstabilisierendes Moment. Sie stärkt das Gruppenbewußtsein, da sie den Terroristen das Gefühl der internationalen Solidarität gibt Darüber hinaus sichert sie das Überleben der Gruppe, denn ohne das Ausweichen in Ruhestellungen außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik und ohne die Hilfe ausländischer Gruppen wäre die Terroristenszene hierzulande sicherlich schon zerschlagen worden. Eine ähnliche Rolle spielt für das Bewußtsein des einzelnen wie der Gruppe die Tatsache, daß es Regime gibt, die terroristische Gruppen stillschweigend unterstützen. Dies ist ein wichtiger logistischer Faktor. Noch wichtiger scheint indes die psychologische Wirkung dieser Unterstützung zu sein. Für die Terroristen stellt sie eine erhebliche Über-Ich-Entlastung dar, da ihre Aktionen auf die Ebene der staatlichen Anerkennung gehoben und mit hoheitlichem Gütestempel legimitiert werden. Dies hebt -wiederum das politische Selbstbewußtsein der Gruppe, da sie in der aktiven Unterstützung oder passiven Duldung ihrer Aktivitäten eine moralische und politische Rechtfertigung ihres Kampfes sieht.

Aufgrund eines technischen Versehens war der redaktionelle Hinweis zu dem Aufsatz von Andr Jardin: „Toqueville als Parlamentarier“, B 31/80, S. 25, fehlerhaft. Er muß lauten: „Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Beitrages aus der französischen Zeitschrift Contre-point Übersetzung: Jutta Höffken."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu K. Wasmund, Politische Orientierungen Jugendlicher, München 1977; B. Claußen, Politische Sozialisation: Zur Theorie der gesellschaftlichen Vermittlung zwischen Subjekt und politischem System, in: H. Moser, Politische Psychologie, Weinheim und Basel 1979, S. 148— 173.

  2. Der Begriff „Karriere“ ist als Terminus technicus der sozialwissenschaftlichen Fachsprache wertneutral zu sehen und unterscheidet sich damit von seiner umgangssprachlichen Bedeutung im Sinne einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn.

  3. Vgl. G. A Almond, A Functional Approach to Comparative Politics, in: G. A Almond/J. S. Coleman (Eds.), The Politics of the Developing Areas, Princeton 1960, S. 26— 133; D. Easton/J. Dennis, Children in the Political System, New York 1969, S. 5— 27.

  4. Vgl. etwa W. Mischel, Continuity and Change in Personality, in: American Psychologist 1969, S. 1012— 1018; B. Ekehammer, Interactionism in Personality from a Historical Perspective, in: Psychological Bulletin 1974, S. 1026— 1048; Th. Krämer-Badoni/R. Wakenhut, Theorie der Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins und interaktionistisehe Einstellungsforschung: Versuch einer Integration. SOWI, Berichte 1977, H. 8, S. 63— 126.

  5. Siehe etwa die Studien von F. I. Greenstein (19651 Lasswell (1930, 1948), R. E. Lane (1962), St. A Renshon (1974), G. Beck (1973), D. Oestereich (1973), D. M Mantell (1978), R. Grossard-Maticek (1975).

  6. Vgl. euro-barometer Nr. 10, Januar 1979; Demokratie-Verankerung in der Bundesrepublik Deutschland. Institut für Demoskopie Allensbach. Eine empirische Untersuchung zum 30jährigen Bestehen der Bundesrepublik.

  7. Eine neue Qualität der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus setzt der Dialog zwischen Gerhart Baum und Horst Mahler: Der Minister und der Terrorist, Reinbek bei Hamburg 1980.

  8. Vgl. hierzu W. Boor, Terrorismus: Der „Wahn" der Gesunden, in: H. D. Schwind (Hrsg.), Ursachen des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin-New York 1978, S. 122— 153.

  9. Vgl. Elisabeth Müller-Luckmann, Terrorismus: Psychologische Deskription, Motivation, Prophylaxe aus psychologischer Sicht, in: H. D. Schwind, a. a. O„ S. 60— 68).

  10. W.de Boor, Terrorismus: Der „Wahn" der Gesunden, a. a. O., S. 122— 153; H. Stierlin, Familienterrorismus und öffentlicher Terrorismus, in: Familien-dynamik 1978, H. 3, S. 170— 197; R. Grossarth-Maticek, Anfänge anarchistischer Gewaltbereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Bad Godesberg o. J. (1975); ders., Revolution der Gestörten?, Heidelberg 1975; G. Nass, Anarchoterrorismus, ein entwicklungs-psychologisches Phänomen — Psychologische Analyse zur Ätiologie einer spezifischen Verhaltenskategorie, in: G. Nass (Hrsg.), Medizinische und psychologische Aspekte zur forensischen Beurteilung abweichenden Verhaltens, Suchten, Trahssexualismus und Terrorismus, Kassel o. J. S. 9— 44.

  11. Vgl. Bericht über die Auswertung der Lebensläufe von 40 zum Zeitpunkt der Untersuchung mit Haftbefehl gesuchten Terroristen. Arbeitsstab „Öffentlichkeitsarbeit gegen Terrorismus“ im Bundesministerium des Innern.

  12. W. Salewski/P. Lanz, Die neue Gewalt und wie man ihr begegnet, Locarno-Zürich 1978, S. 51.

  13. Der Spiegel Nr. 25/1970 v. 15. 6. 1970.

  14. Die Unbeugsamen von der Spree: Interview mit 4 Angeklagten der Bewegung 2. Juni, in: Nordwind. Stadtzeitung für Oldenburg, Nr. 13, Jan. 1979.

  15. Vgl. SPK. Aus der Krankheit eine Waffe machen!, München 1973.

  16. Homann im Spiegel-Gespräch v. 22. 11. 1971.

  17. Bommi Baumann, Wie alles anfing, Frankfurt/M. 1977, S. 127.

  18. K. R. Röhl, Ulrike Meinhof und die Stammheimer Mord-Legende. Gründe für die These vom Selbstmord der RAF-Führerin und die Mitschuld der Gruppe, in: Frankfurter Rundschau v. 10. 5. 1977, S. 10.

  19. B. Baumann, a. a. O., S. 127.

  20. H. J. Klein, Rückkehr in die Menschlichkeit Ap1979 eines ausgestiegenen Terroristen, Reinbek .

  21. Zitiert nach M. Rutschky, über Schriften zum Terrorismus, in: Merkur 1978, S. 194.

  22. B. Baumann, a. a. O„ S. 30 f.

  23. H. Mahler in einem Fernsehinterview, abgedruckt in: Frankfurter Rundschau v. 22. 3. 1978.

  24. G. Mauz im Spiegel Nr. 33/1977.

  25. Spiegel-Interview mit Karl-Heinz Ruhland, Nr. 6/1972.

  26. Kommando „Schwarzer Juni“, Kommunique über Verrat.

  27. Ebenda.

  28. H. M. Kepplinger, Statusdevianz und Meinungsdevianz. Die Sympathisanten der Baader-Meinhof-Gruppe, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 4, 1974, S. 770— 800.

  29. Die statistischen Befunde variieren und bewegen sich zwischen 1 bis 3 Prozent. Vgl. Kepplinger a. a. O., S. 790; Jugend zwischen 13 und 24, hrsg. v. Jugendwerk der Deutschen Shell, Bd. II, 1975, S. 27 und 29.

  30. Vgl. Woche im Bundestag wib 9/9/79-11/1 21, S. 8.

  31. Ich verweise auf Herfried Münkler, Die Ideologie des Terrorismus in der Bundesrepublik, maschi nenschriftl. Manuskript eines Vortrags, gehalten in Rahmen der Ringvorlesung „Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland" (mit Beiträgen von B. Claußen, O. K. Flechtheim, H. Münkler, R. Wassermann), die der Verfasser(K. W.) im Sommersemester 1979 an der Technischen Universität Braunschweig durchgeführt hat.

  32. In diesen Kontext gehört auch die illiberale Beschlagnahmepraxis von Büchern, deren Inhalt voreilig als „Befürwortung von Gewalt“ ausgelegt wurde (z. B. „Bommi" Baumann, Wie alles anfing). Auf ein Verbot der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus läuft die Beschlagnahme des Buches „texte: RAF“ in Universitätsbibliotheken hinaus. Durch Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart wurde die Beschlagnahme schließlich aufgehoben.

  33. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. VI, S. 93.

  34. Ebenda, S. 94.

  35. Ein dritter Aspekt ist die Berichterstattung ausländischer Massenmedien über die innenpolitische Situation in der Bundesrepublik, insbesondere über staatliche Reaktionen auf den Terrorismus. Hier hat es zum Teil eine von der politischen Realität abgehobene, gehässige und unfaire Berichterstattung -zuweilen mit dezidiert antideutschem Affekt — gegeben. Dieser Sachverhalt trifft hauptsächlich für die Zeit vor der Schleyer-Entführung und Mogadischu zu. (Vgl. Sepp Binder, Terrorismus, Bonn 1978 S. 68 ff.). Ausländische Medienreaktionen könnten von den Terroristen als Bestätigung und Rechtfertigung ihrer Handlungen aufgefaßt worden sein, und zwar in dem Sinne, daß das Ausland entschuldbare Gründe für den Terrorismus in der Bundesrepublik sehe. Dies könnte eine bewußtseinsstabilisierende Wirkung bei den Terroristen gehabt haben.

  36. Baumann, a. a. O„ S. 38.

  37. Baumann, a. a. O., S. 129.

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Klaus Wasmund, Dr. rer. pol., Dipl. -Pol., geb. 1938 in Stettin, studierte nach Abschluß eines erziehungswissenschaftlichen Studiums Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und an der London School of Economics and Political Science; Akademischer Rat an der Technischen Universität Braunschweig (Lehrgebiet Politikwissenschaft). Veröffentlichungen u. a.: Politische Orientierungen Jugendlicher. Eine empirische Untersuchung zur politischen Sozialisation in der 9. Klasse der Hauptschule, München 1977-, Konzepte und Ursachen politischer Apathie, in: H. Thomae/K. Wasmund/Th. Ziehe, Politische Apathie, Hannover 1976/1979; Engagementbereitschaft und Parteipräferenzen bei Hauptschülern, in: B. Claußen (Hrsg.), Politische Sozialisation in Theorie und Praxis, München 1980; Wählerverhalten, in: Helmut Moser (Hrsg.), Politische Psychologie. Politik im Spiegel der Sozialwissenschaften. Ergebnisse einer Hamburger Ringvorlesung, Weinheim-Basel 1979.