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Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien | APuZ 36/1980 | bpb.de

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APuZ 36/1980 Die Grünen vor der Wahl Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien

Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien

Joachim Raschke

/ 48 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In Politik und Wissenschaft ist der Eindruck verbreitet, wir lebten in einer historischen lUmbruchphase. Grundlegende Zweifel an der gesellschaftlichen Entwicklung, Politisierung (bisher „unpolitischer" Probleme, Entstehung systemrelevanter sozialer Bewegungen außer-halb der Institutionen — dies alles führt zu einem neuen Begriff davon, was als „Politik“ igilt. Der vorliegende Aufsatz unternimmt den Versuch, zu bestimmen, worin „das Neue“ besteht und schlägt eine Erklärung für den stattfindenden sozialen und politischen Wandel vor. Dabei wird von einem Begriff des „politischen Paradigmas" ausgegangen, der die in einem (System dominante allgemeinste Sichtweise dessen bezeichnet, was primär als Gegenstand und Aufgabe Von Politik gilt. Dazu ist es jedoch notwendig, die Verschiedenheit der Ideologien und die Vielfalt inhaltlicher Aussagen hinter diesen allgemeinsten Elementen der Politiksicht zurücktreten zu lassen. In einer größeren historischen Perspektive werden für die vergangenen hundert Jahre politisierter Öffentlichkeit in Westeuropa drei politische Paradigmen unterschieden: das Herr-Schafts-, das Verteilungs-und das Lebensweiseparadigma. In der Bundesrepublik setzte sich im Laufe der fünfziger Jahre das Verteilungsparadigma gegenüber dem Herrschaftsparadigma durch; seit einigen Jahren wird dieses Verteilungsparadigma durch das sich in Umrissen abzeichnende Lebensweiseparadigma relativiert. Die inhaltliche Bestimmung der drei Paradigmen bildet den einen Schwerpunkt dieser Arbeit. Im zweiten Hauptteil wird nach den Ursachen für den Übergang vom Verteilungszum Lebensweiseparadigma gefragt. Nicht staatlicher Aufgabenwandel, sondern gesellschaftlicher Wertwandel erscheint als direkte Ursache für die Veränderung der Politiksicht. Der Wertwandel kann seinerseits erklärt werden durch Widersprüche in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die den Zerfall des dominanten Wertsystems vorantreiben und vor allem sozialen Bewegungen die Chance zur Ausbreitung einer neuen Wertordnung geben. Erst wenn die „Nutzenkalküle" des Parteien-und Verbandssystems einbezogen werden, lassen sich die realen Ausbreitungsmöglichkeiten des Lebensweiseparadigmas und damit die Durchsetzung einer „neuen Politik“ genauer bestimmen.

I. Einleitung

Abbildung 1

Weit verbreitet ist das Gefühl: wir leben in einer Umbruchphase. Tradierte Strukturen und Werte verlieren ihre Selbstverständlichkeit, das Neue dagegen hat noch keine feste Gestalt angenommen. Der Zukunftspessimismus des demoskopisch abgefragten Normalbürgers stimmt mit dem düsteren Charakter wissenschaftlicher oder publizistischer „Zeitanalysen" und neuerdings auch düsteren Prophezeiungen von Politikern überein. Pessimismus und Angst resultieren aus der mit dem raschen Wandel verbundenen Unsicherheit über die Zukunft.

Der gegenwärtig stattfindende innenpolitische Wandel zeigt ein neues Gesicht. Die gängigen politischen Indikatoren für politische Stabilität zeigen eine Welt, die noch heil scheint: Wahlbeteiligung, Ausmaß der Unterstützung für systemkonforme Parteien, Zustimmung zum demokratischen Regime etc. Gleichzeitig ist — und zwar nicht bei „System-gegnern" — viel die Rede von Revolutionen: „lautlose Revolution" (Ingleharts These vom allmählichen Übergang zu nicht-materiellen Werten) „partizipatorische Revolution" (Kaa-ses u. a. These vom Anwachsen eines qualifizierten und motivierten Partizipationspotentials außerhalb der traditionellen Institutionen), .. Kulturrevolution“ (F. J. Strauß'These von der Zerstörung des traditionellen Wertsystems durch die Neue Linke) usw.

Neben dem und im alten Institutionensystem entwickeln sich Probleme, Werte und Verhaltensweisen, die z. T. im Widerspruch zum alten Gehäuse stehen, zumindest aber eine Belastungsprobe darstellen. Neue Probleme: Z. B.

rufen Technikfragen scharfe politische Kontroversen hervor (Kernenergie, Genmanipulation, neue Medien etc.), wo bisher der „techni-sehe Charakter" von Fragen identisch war mit ihrem nicht-politischen Charakter Neue Werte: So werden die auf Arbeit, Leistung, Konsum bezogenen Werte angefochten von auf Kommunikation, Expressivität, Selbstverwirklichung gerichteten Werten. Neue Verhaltensweisen: Sie zeigen sich z. B. in der Bürgerinitiativbewegung, die zwar in ihren Zielen heterogen ist, aber einen neuen politischen INHALT I. Einleitung II. Die Abfolge dreier Paradigmen Herrschaftsparadigma Verteilungsparadigma Paradigma der Lebensweise III. Erklärung des Paradigmenwandels Methodische Vorüberlegungen Widersprüche gesamtgesellschaftlicher Entwicklung Wertwandel Organisierte Vermittlung: Parteien-und Verbandssystem IV. Ausblick Handlungstyp signalisiert, der nicht-bürokratischen, spontanen, direkten Aktionsformen mehr Chancen verleiht.

Grundlegende Zweifel an der gesellschaftlichen Entwicklung, die Politisierung bisher unpolitischer Probleme, die zunehmende Bedeutung sozialer Bewegungen außerhalb der Institutionen — dies alles führt zu einem neuen Begriff davon, was als „Politik" gilt. Was Anfang der sechziger Jahre als Politik galt, ist Anfang der achtziger Jahre nicht mehr als ein Bürokratentraum, über den die Geschichte hinweggegangen ist.

Wenn die Grundannahme richtig ist, daß wir in einer Umbruchphase leben, erscheint es sinnvoll, auszuloten, worin das Neue besteht und dabei Ursache und Wirkung voneinander zu trennen. Dafür bieten sich zwei Wege an. Das Nächstliegende ist, das Neue vor allem in der Form der verschiedenen sozialen Bewegungen zu untersuchen Dabei gerät aber die Wechselwirkung zwischen den Bewegungen und dem Gesamtsystem, die ja erst sozialen Wandel bewirkt, leicht aus dem Blick. Da das Neue bisher weniger zu neuen Strukturen als zu neuen Orientierungen geführt hat, wird hierfür ein Konzept benötigt, das die subjektive Dimension betont und zugleich eine Systemanalyse ermöglicht. Das Konzept des „politischen Paradigmas" soll diesem Zweck dienen 4). Diese beiden methodischen Ansätze hängen natürlich eng miteinander zusammen, zumal wenn unsere These richtig ist, daß wesentliche politische Veränderungen im letzten Jahrzehnt durch Basisbewegungen, nicht aber von Parteien und Verbänden und die von ihnen bestimmten Parlamente, Regierungen und Staatsverwaltungen verursacht worden sind

Politisches Paradigma soll hier verstanden werden als die in einem System vorherrschende allgemeinste Sichtweise dessen, was primär als Gegenstand undAufgabe von Politikgilt. Als Träger dieser Sichtweise interessieren — aufgrund ihrer großen Definitionsmacht — vor allem die politischen Akteure ii Parteien, Verbänden, Parlamenten, Regierun gen.

Der Versuch wird im folgenden darin beste hen, die Verschiedenheit der Ideologien un die Vielfalt inhaltlicher Aussagen hinter dei gemeinsamen Elementen der Politiksicht un terschiedlicher politischer Gruppierungen zu rücktreten zu lassen. Während der Geltung ei nes Paradigmas ist die Öffentlichkeit in An spruch genommen von der Auseinanderset zung zwischen kontroversen Ideologien unc politischen Forderungen, unterstützt von der streitenden Parteien, die schon zum Zweck« der Mobilisierung das Trennende betonen. Di« stillschweigende und oft unbewußte überein Stimmung der relevanten politischen Kräfte über einige grundlegende Elemente der Welt bzw. Politiksicht findet öffentlich häufig erst dann Aufmerksamkeit, wenn ein herrschen, des Paradigma in Frage gestellt wird.

Welchen Nutzen kann eine solche politische Paradigmenanalyse haben? — Sie stellt einen Versuch dar, das scheinbai unvereinbare Neue auf einen Begriffzu bringen und das Gemeinsame der vielfältigen neuen Erscheinungsformen von Politik in den letzten Jahren zu erfassen. — Dieser Untersuchungsansatz kann Fragestellungen erschließen, die es erlauben, den gesellschaftlich-politischen Umbruch, in dem wir uns heute und wahrscheinlich für lange Zeit befinden, gezielt, systematisch und begleitend und nicht nur — wie meist — nachträglich erklärend zu untersuchen. — Die Paradigmenanalyse kann dazu beitragen, die Kommunikationsstörungen, die in der öffentlichen Debatte zwischen Vertretern unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen bestehen (z. B. im Gespräch des Bundeskanzlers mit BBU-Vertretern), zu erklären und bewußt zu machen. Dadurch werden die Gegensätze zwarnicht überwunden, die Debatte abermöglicherweise transparenter.

II. Die Abfolge dreier Paradigmen

Die drei hier unterschiedenen Paradigmen drücken Dimensionen von Politik aus, die zu unterschiedlichen Phasen das Politikverständnis bestimmt haben. „Politisches Paradigma" ist also immer eine Reduktion dessen, was unter Politik verstanden werden kann In jeder Periode werden auch die jeweils anderen Dimensionen von Politik mit thematisiert, sie sind aber nicht vorherrschend im Rahmen der öffentlichen Diskussion und bleiben inhaltlich auf die herrschende Sichtweise von Politik bezogen. Der zeitliche Bezug auf die vergangenen hundert Jahre ist damit zu begründen, daß im letzten Drittel des 19. Jh.der Prozeß grundlegender, d. h. letztlich ein Massenpublikum einschließender Wahlrechtsreformen stattfindet, im Zuge derer ein Ausbau der Parteiorganisation vor sich geht mit dem wichtigsten Ziel der Wählermobilisierung, und sich schließlich eine Politisierung (auch im Sinne einer Polarisierung), Organisierung (z. B. Parteipresse) und Ausdehnung der Öffentlichkeit durchsetzt. Diese verbreiterte, organisierte und politisierte Öffentlichkeit war der Raum, in dem sich die Parteien gegenüber den Wählern durch Bestimmung von politischen Streitfragen und Verbreitung einer politischen Sichtweise um eine dauerhafte Mobilisierung und Bewußtseinsbildung bemühten.

Die drei hier unterschiedenen Paradigmen haben nicht die gleiche Wertigkeit. Die Kontinuität vom ersten zum zweiten Paradigma erscheint stärker, der Bruch beim Übergang zum Lebensweise-Paradigma fundamentaler. Beim Übergang vom Herrschaftszum Verteilungsparadigma findet eine Einengung der politischen Sichtweise und der Reichweite politischer Forderungen statt; wesentliche System-grundlagen wie Industrialismus oder Fortschrittsdenken bleiben bestehen. Dagegen stellt der Bruch, der sich mit dem Aufkommen des Lebensweise-Paradigmas abzeichnet, bisher kaum, problematisierte Grundlagen des Gesellschaftssystems in Frage.

Das Herrschaftsparadigma Infragestellung und Verteidigung der institutionalisierten ökonomischen und politischen Machtzuweisung war der Angel-und Bezugspunkt der politischen Aktivitäten seit der Entstehung moderner, organisierter Parteiensysteme, und er blieb es bis nach dem Zweiten Weltkrieg, ökonomische und staatlich-politische Herrschaft wurden dabei in einem engen Zusammenhang gesehen.

Die Frage der staatlichen Herrschaftsordnung spaltete sowohl die — im weitesten Sinne — bürgerlichen wie die — im weitesten Sinne — sozialistischen Kräfte und brachte zugleich diese beiden Hauptgruppen in Widerspruch zueinander. Die Optionen reichten auf der Rechten bis zur absolutistischen Monarchie bei den Altkonservativen, der autoritären Diktatur bei den Deutschkonservativen und der totalitären Diktatur bei den Faschisten, auf der Linken bis zu einem Volksgesetzgebungsstaat, der Rätedemokratie oder der kommunistischen Diktatur. Der Kompromiß sozusagen bestand in der parlamentarischen Demokratie als einer demokratische und oligarchische Elemente verbindenden Regierungsform. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Kompromiß von allen relevanten politischen Kräften akzeptiert (als Nachzüglern auch von den Eurokommunisten).

Dagegen bleiben die beiden gesellschaftlichen Hauptkräfte in ihren Auffassungen über das ökonomische Herrschaftssystem gespalten. Aristokratisch-konservative ebenso wie bürgerlich-liberale und auch bürgerlich-konfessionelle Gruppen verteidigen das Privateigentum an Produktionsmitteln als den Grundpfeiler des bestehenden Gesellschaftssystems; sozialistische Gruppen sehen in deren Vergesellschaftung den Schlüssel für die gesellschaftliche Umwälzung.

Illustrieren wir dies in einigen — wahrscheinlich unverantwortlich knappen — Strichen am deutschen Beispiel:

Das durch die industrielle Revolution entstandene städtische Proletariat wurde wichtigster Träger der sozialistischen Partei(en), die als Parteien der Offensive zwar nicht die reale Po-litik, aber die öffentliche Debatte vor dem Ersten Weltkrieg nachhaltig prägte(n). Die eigentlichen Themen der Sozialdemokratie waren Demokratisierung des Staates (Wahlrechtsreform, Parlamentarisierung, Volksgesetzgebung) und Vergesellschaftung der Produktionsmittel (Sozialisierung und Planung), ökonomische und politische Umwälzung sollten eng aufeinander bezogen sein, da die wichtigste Funktion des bürgerlichen Staates in seiner Sicherung privatkapitalistischer Produktionsverhältnisse gesehen wurde. Wie es im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie heißt: „Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf ... Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein."

Die sehr begrenzten Einflußmöglichkeiten der Parteien im Regierungssystem des Kaiser-reichs haben — nicht nur für die Sozialdemokraten — zu einem eigentümlichen Dualismus der Politik geführt. Die „eigentliche“ Politik-sphäre, d. h. das, was die Parteien von ihren ideologischen Grundpositionen aus für das wichtigste hielten, wurde auf öffentliche Debatte, Agitation und Wahlkämpfe abgedrängt, während das staatliche Entscheidungssystem auf einen Politikbereich konzentriert war, in dem es — innenpolitisch — um die Entfaltung (z. T. auch den Schutz) der Produktivkräfte ging (Steuer-, Infrastruktur-, Bildungs-, Sozial-, Arbeiterschutzgesetzgebung etc.). Der Dualismus spiegelt sich noch in der Programmatik (die zwei Teile des Erfurter Programms) und Praxis der Sozialdemokratie deutlich wider.

Die Weigerung, die politische Organisation der Arbeiterklasse zu legitimieren und ihre effiziente ökonomische Organisation zuzulassen (Koalitionsrecht), macht ebenso wie Partei-und Wahlprogramme der bürgerlich-liberalen (in ihrem überwiegenden Teil) und der agrarisch-konservativen Kräfte deutlich, daß sie die Herausforderung an das Herrschaftssystem angenommen hatten. Da eine direkte Reaktion die Legitimität des bestehenden Systems in Frage gestellt hätte, bedienten sich die herrschenden Gruppen gleichsam indirekter Antworten: a) Repression (Sozialisten-und Vereinsgesetzgebung, Polizeieinsatz), b) materielle Integration (Sozialgesetzgebung), c) ideo. logische Integration (Betonung übergreifen, der, sich mit Staat und Gesellschaft identifizie, render Ideologien wie Nationalismus, Impe rialismus und Religion, Zurückweisung des Klassenthemas etc.). Diese Aussage bedürfte sicherlich der genauen Differenzierung zwi, sehen den verschiedenen liberalen, konservativen und christlichen Gruppen, die den gesellschaftspolitischen Status quo verteidigten, kennzeichnend für die weitere Entwicklung sind aber die Tendenzen der Konvergenz im Bereich der herrschaftstragenden Gruppen und der Polarisierung zwischen diesen und den sozialistischen Kräften. Parteipresse, Parteitagsdiskussion, Massendemonstrationen (der Sozialdemokraten in der Wahlrechtsfrage), Wahlkämpfe und kontinuierliche Agitation drücken stärker als die in Parlament, Regierung und Verwaltung bearbeiteten politischen Streitfragen das aus, was die Parteien eigentlich wollten. Dies wird für die Sozialisten deutlich, sobald die restriktiven Bedingungen des kaiserlichen Regierungssystems mit der Revolution von 1918/19 beseitigt wurden. Die beiden Hauptfragen waren nun die Organisation des Staates (Räte-system oder parlamentarisches System) und die Sozialisierung. Daß die Sozialdemokrater darauf in Konzept und Handlungswill schlecht vorbereitet waren, spricht nicht ge gen die These vom Herrschaftsparadigma sondern verdeutlicht noch einmal die schor angesprochene Kluft zwischen (revolutionä rer) Ideologie und Propaganda und (reformisti scher) Praxis. Die Entschärfung der politi sehen Herrschaftsfrage seitens der Sozialde mokraten (jedenfalls ihrer Mehrheit) in de Weimarer Republik blieb verbunden mit de weiteren Thematisierung der ökonomische: Herrschaftsfrage. Zwar verringerte sich di Reichweite der Sozialisierungsforderung be den Sozialdemokraten immer mehr (sie wurd zu einer gesellschaftlichen Teilreform), abe noch bei der Wandlung zur Volkspartei in de fünfziger Jahren war dies der springend Punkt beim sozialdemokratischen Abschie vom Herrschaftsparadigma (man kann auc sagen: von dem, was davon noch übrig geblie ben war).

Dagegen versuchten die Kommunisten un Linkssozialisten die Linie des eng miteinande verbundenen ökonomischen und politischen Herrschaftswandels fortzuführen. Historisch wichtiger wurde allerdings das Interesse des bürgerlichen Bereichs an einer Reorganisation der politischen Herrschaft, das sich in der Etablierung autoritärer und faschistischer Regime ausdrückte.

Versuchen wir nach diesem kurzen historischen Rekurs Strukturelemente des Herr-schaftsparadigmas zu benennen: 1. Aufgabe der Politik ist die optimale Entwicklung der Produktivkräfte im industriellen System. Der allseits begrüßte technische Fortschritt entwickelt sich autonom im kapitalistisch-industriellen System. Er ist in seiner konkreten Gestalt sowohl aus der staatlichen Beeinflussung wie aus der kontroversen Debatte ausgeklammert.

2. Die optimale Entfaltung der Produktivkräfte halten die bürgerlichen Kräfte nur in einem privatwirtschaftlichen, die sozialistischen Kräfte nur in einem sozialistischen System für möglich. Deshalb steht für beide die Herrschaftsfrage im Mittelpunkt des Interesses.

3. Alle anderen Bereiche der Politik bleiben, so wichtig sie für die reale Staatstätigkeit sind, in einer Zu-und Unterordnung hinsichtlich der Herrschaftsfrage.

Als zentrale Themen in der politischen Auseinandersetzung wären hervorzuheben:

1. Demokratisierung des Staates (Wahlrechts-reform, Parlamentarisierung etc.).

2. Vergesellschaftung der Privatwirtschaft (Sozialisierung, Planung, Ausbau staatlicher Kontrollen etc.).

Die Orientierung auf die Herrschaftsfrage hat andere Dimensionen von Politik zurückgedrängt. Die Verteilungsfrage wurde natürlich in vielfältiger Form vor allem vom politisch-administrativen System behandelt, sie blieb aber auf die Herrschaftsfrage zugeordnet und damitjeweils ein zusätzlicher Beleg für die Berechtigung und Lebenskraft oder für die Überlebtheit des Herrschaftssystems Das Gleiche gilt für die Lebens-und Arbeitsverhältnisse. Zudem war für die marxistisch inspirierte Arbeiterbewegung die Annahme charakteristisch, die sozialistische Zukunft sei, vor allem was die Gestaltung der konkreten Lebensverhältnisse des Menschen angehe, nicht vorweg (d. h. vor Machtübernahme) planbar.

Das Verteilungsparadigma Die Erfahrungen der Europäer mit dem Faschismus wie mit dem stalinistischen Kommunismus ließen das Interesse an Experimenten mit der politischen Herrschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg verschwinden. Die parlamentarische Demokratie wurde der von den relevanten politischen Kräften getragene Normalfall politischer Herrschaftsordnung. Politische Macht wurde von einer Herrschafts-zu einer (Macht-) Verteilungsfrage: Gewinnung eines möglichst großen Machtanteils, wachsendes Interesse an Regierungsbeteiligung und — in diesem Zusammenhang — zunehmende Koalitionsbereitschaft. Die Machtbeteiligung mit schlechtem Gewissen (Weimarer SPD!) war nicht mehr anzutreffen. Da zu den gemeinsamen Grundauffassungen der relevanten politischen Kräfte neben Nationalstaat und Industriesystem das Prinzip der (parlamentarischen) Demokratie getreten war, erstreckte sich nun Politik wesentlich auf die Gestaltung des sozioökonomischen Bereichs. Hier vollzog sich der entscheidende Wandel von einem nur Rahmen setzenden und schwach intervenierenden zu einem sich für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im kapitalistischen Rahmen verantwortlich machenden und sich um Steuerung bemühenden Staat. Die ökonomische Herrschaftsfrage wurde durch ein Programm von Wachstum und Verteilung stillgelegt In der traditionellen liberalen Ideologie waren Wachstum und allgemeine Wohlfahrt als notwendige Folgen eines privat-kapitalistisch organisierten Wettbewerbs gedacht. Tatsächlich war das Wachstum nicht nur mäßig (z. B. betrug der durchschnittliche Zuwachs des realen Sozialprodukts pro Kopf in Deutschland von 1850 bis 1913 1, 6 Prozent), sondern auch immer wieder durch Krisen unterbrochen. Vor allem die Weltwirtschaftskrise am Ende der zwanziger Jahre stellte eine Zäsur dar. Sie forderte entweder eine neue Herrschaftsordnung oder eine Neuorientierung und -Organisation im Rahmen der alten Herrschaftsordnung heraus. Die in der Nationalökonomie entstehenden Wachstumstheorien (Keynes), New Deal und westeuropäische Wohlfahrtsstaaten nach 1945 waren Antworten in der zweiten Richtung.

Neu ist dabei nicht die Wachstumsorientierung als solche (sie ist immanenter Bestandteil des kapitalistischen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems), sondern deren Übernahme in eine zwar keineswegs umfassende, aber verglichen mit der vorhergehenden „liberalen Demokratie" qualitativ veränderte staatliche Verantwortung ökonomischer Wiederaufbau und große Fortschritte in der Produktivkraftentwicklung ermöglichten ein in der bisherigen kapitalistischen Entwicklung beispielloses Wachstum (die jährliche Zuwachsrate betrug in der Bundesrepublik von 1950 bis 1975 4, 6 Prozent), das ohne einen neu organisierten, erheblich verstärkten, in seinen Aufgaben verbreiterten und vertieften, die Zusammenarbeit mit Wirtschaft und Wissenschaft verstärkenden Staatsapparat nicht möglich gewesen wäre.

Funktionen und Widersprüche des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates, der Wandel seiner politischen Aufgaben und die Veränderungen der politischen Struktur sind bereits umfassend untersucht worden so daß wir uns hier weitere Ausführungen sparen können. Kurz hinzuweisen wäre noch auf den Wandel der Parteien, die nach wie vor wesentlichen Anteil an der Gestaltung der öffentlichen Debatte haben. Die Entwicklung zur Volkspartei spiegelt den Schritt vom Herrschafts-zum Verteilungskonflikt genau wider. Kirchheimer und später Agnoli haben in der Ausklammerung von Herrschaftsfragen und in der Ausschließ-lichkeit von Verteilungsfragen zu Recht den Kern parteipolitischen Wandels gesehen.

Die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat ist eine universelle Tendenz in den westeuropäischen Gesellschaften nach 1945, ob sie nun wesentlich vorangebracht wurde durch sozialdemokratische Regierungen (wie in Großbritannien und den skandinavischen Staaten) oder durch bürgerliche Regierungen (wie in Frankreich, Italien und der Bundesrepublik) und ob pro-grammatisch die bürgerlichen Parteien (wie z. B. in der Bundesrepublik) oder die sozialdemokratischen Parteien (wie z. B. in Schweden) vorangingen. Der Sozialstaat war die Form eines Klassenkompromisses, die — kontinuierliches ökonomisches Wachstum vorausgesetzt — allen Seiten als die eleganteste Lösung des Herrschaftskonflikts erschien. Sie ersparte bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien riskante politische Strategien, erhielt das kapitalistische Wirtschaftssystem, versuchte es aber mit Hilfe des Staates durch Wachstums-und Verteilungspolitik einer größeren Zahl von Menschen nutzbar zu machen Dies kann als ein von den großen gesellschaftlichen Gruppen und den relevanten politischen Parteien getragener Gesellschaftsvertrag verstanden werden, der zugleich die politischen Aufgaben der auf dieser Grundlage operierenden Politiker umreißt. Zusammenfassend lassen sich vier Struktur elemente des Verteilungsparadigmas neu nen:

1. ökonomisches Wachstum ist oberstes Zie staatlicher Tätigkeit. Förderung technisch wissenschaftlicher Innovationen, Schaffun von Märkten etc. sind dafür unabdingbar Voraussetzungen.

2. Wachstum ist prinzipiell unbegrenzt, kam durch staatliche Aktivitäten verstetigt werdei und ist der Hebel zur Lösung der wichtigste, gesellschaftlichen Probleme (Arbeitslosigkei und . Armut") und die Bedingung für Refoi men.

3. Die alle Gruppen berücksichtigende Vertei lung des Wachstums ist Bedingung des sozia len Friedens und der Legitimität des politi sehen Systems. Die besondere Berücksicht gung der eigenen Klientel erhöht die Legitim: tät der eigenen Organisation. 4 Zentralismus ist die effizienteste ökonomische, technische und politische Organisations-form.

Zentrale politische Themen waren/sind Fragen vor allem aus den folgenden Bereichen: 1. Wachstumspolitik 2. Sozialpolitik 3, Steuerpolitik 4. Vermögenspolitik 5. Bildungspolitik Das Paradigma der Lebensweise Neue politische Streitfragen und neu entstehende soziale Bewegungen signalisieren, falls sie sich nicht im Rahmen des alten Paradigmas angemessen interpretieren lassen, zumindest die Möglichkeit der Heraufkunft eines neuen gesellschaftlichen Interpretationssystems, das andere Probleme als bisher in den Mittelpunkt von Politik rückt.

Die „Grenzen des Wachstums“ wurden in den siebziger Jahren zum öffentlich erörterten Problem. Dabei ist weniger an die Verlangsamung der Wachstumsraten zu denken und weniger an die konjunkturelle Krise 1974/75, die „nur" die Verteilungskämpfe im Rahmen des alten Paradigmas verstärkten. Der dramatische Anstieg der Erdölpreise seit 1973 und Tendenzen der Marktsättigung, Phänomene also, die auf strukturelle Wachstumsprobleme hinweisen, spielen bei der Erklärung der Rezession 1974/75 zwar eine Rolle, sie sind aber nicht die entscheidenden Determinanten. Die neue Dimension liegt in der öffentlichen Antizipation der — um es zunächst vorsichtig zu formulieren — Wahrscheinlichkeit struktureller Grenzen des ökonomischen Wachstums in den Industriestaaten vor allem aufgrund zunehmender Rohstoff-und Energieverknappung und Umweltzerstörung.

Erstmals in der Geschichte der westeuropäischen Parteiensysteme wurde die Planung und Ausführung industrieller Großprojekte ein kontroverser Punkt. Damit richtete sich die öffentliche Debatte auf einen Bereich, der bis dahin autonomer Gestaltungsbereich von Ökonomen und Technologen war (eine Ausnahme gibt es lediglich für den militärischen Bereich: die Atomwaffendiskussion der fünfziger und sechziger Jahre). Die Kernkraft-debatte ist nicht nur das spektakulärste Beispiel in diesem Bereich, sondern sie betrifft gleichzeitig eine fundamental wichtige Streitfrage, da über diese Frage die Weichen für die weitere gesellschaftliche Entwicklung in einem langen Zeitraum gestellt werden.

Schließlich sind die durch die ökologische Fragestellung bestimmten Themen zu nennen, die seit Anfang der siebziger Jahre in die Politik der Bundesrepublik Eingang finden. Beginnend mit traditionell orientiertem Umwelt-und Naturschutz haben sich hier im Laufe der Jahre umfassendere und komplexere Politik-alternativen entwickelt, die sich nicht mit der Bearbeitung von Folgen des industriellen Wachstums begnügen, sondern Ökologie als den Angel-und Widerstandspunkt gegen weiteres unkontrolliertes industrielles Wachstum verstehen.

Bürgerinitiativ-, Kernkraft-, Ökologie-, Alter-

nativer-Lebensstil-Bewegungen sind Beispiele für — sich überschneidende — soziale Bewegungen, die historisch relativ neuartig sind, da sie einen Fundamentalkonflikt thematisieren, dies aber nicht (noch nicht, überwiegend nicht, nicht direkt) in Form eines Herrschaftskonflikts tun, — und gerade dadurch den Herrschenden besondere Schwierigkeiten bereiten.

Im Zusammenhang mit dem Paradigmenkon-zept ist zunächst zu fragen: Was ist das gemeinsame Neue der angesprochenen Themen und Bewegungen? Beinhaltet einer dieser Ansätze in sich alle anderen neuen Problemdimensionen oder liegt der gemeinsame Nenner auf einer Ebene, die mit diesen drei Ansätzen noch nicht unmittelbar angesprochen ist? „Grenzen des Wachstums" erscheint, gerade in der Gegenüberstellung zum (noch) herrschenden Wachstumparadigma, als ein denkbar breiter Ansatz. Die Konfrontation mit Wachstumsgrenzen kann aber zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führen. Mobilisierung neuer (technologischer) Mittel zur Wachstumsförderung oder Management des Mangels auf der Grundlage bestehender Strukturen sind mögliche Reaktionen, die nur begrenzte Veränderungen in Einstellungsund Verhaltensweisen oder Organisationsformen notwendig machen. Zudem umfassen die „Grenzen" auch aus kritischer Sicht nicht das Wachstum der kulturellen und sozialen (nicht materiellen) Leistungen eines Systems.

Die Kritik an der gegenüber gesellschaftlichen und individuellen Zwecken verselbständigten Großtechnik steckt zumal hierzulande in den Anfängen und kann für eine politisch erfolgreiche Strategie wohl erst dann wirksam werden, wenn es wenigstens in Umrissen gelingt, ein für die gesamte Gesellschaft tragfähiges Modell alternativer Technik zu entwikkeln. Der ökologische Ansatz baut auf Annahmen über die Notwendigkeit der Begrenzung industriellen Wachstums und auf Forderungen nach alternativen Technikformen auf, geht aber konzeptionell weit darüber hinaus und schlägt einen Ansatzpunkt vor, von dem her gesellschaftliche Neugestaltung als möglich erscheint. Auch hier fehlt es aber nicht zuletzt an plausibel zu machenden Übergangsprogrammen. Drei Gründe sprechen m. E. dagegen, über einen dieser Ansatzpunkte allein das neue Paradigma zu definieren:

1. Wachstum, Technik und Ökologie sind zwar untereinander stark miteinander verbundene, letztlich aber nur unterschiedliche Problemdimensionen ansprechende Faktoren, die der Integration bedürfen. „Krise des Industrie-systems" ist zwar als Zusammenfassung des heute fragwürdig Gewordenen zutreffend, nur wird damit nicht die Alternative oder auch nur deren Ansatzpunkt deutlich — ein nicht-oder anti-industrielles System ist es gewiß nicht.

2. Wachstum, Technik und Ökologie entbehren ohne weitere Vermittlung mit Wertperspektiven der Eindeutigkeit und sind so entweder in das herrschende Paradigma mindestens teilweise integrierbar oder ergeben erst im Zusammenhang mit anderen Variablen ein alternatives Politikprogramm.

3. Der entscheidende Grund besteht aber darin, daß es sich bei den drei Faktoren um Systemstrukturen handelt Das Charakteristikum des sich abzeichnenden neuen Paradigmas besteht aber m. E. in einer Rückbewegung von Systemstrukturen und Systemdenken zum Individuum und seinen Bedürfnissen als primärem Ansatzpunkt von Politik.

Die nachlassende Überzeugungskraft von Systemstrukturen und Systemideologien sehe ich, sehr allgemein gesprochen, als die wich, tigste Ursache der Bewegung in Richtung ei. nes neuen Paradigmas, das die Welt vom Individuum her aufzubauen versucht. Das erscheint natürlich naiv für diejenigen, die das Denken und Operieren in hochkomplexen Systemstrukturen nicht nur zu ihrem Berufgemacht haben, sondern dies auch für eine große gesellschaftliche Errungenschaft halten. Indu, striesystem, Kapitalismus, aber auch Sozialismus und Demokratie, wenn sie von Funktions.

erfordernissen dieser Systeme und nicht von den Bedürfnissen des Individuums her konzipiert werden, gehören zu diesen problematisch gewordenen Systemstrukturen und -Ideologien, die an Dynamik und Überzeugungskraft eingebüßt haben. Ich meine auch, daß Ökologie heute politisch nicht als Rahmen für ein neues Systemdenken interessant ist sondern daß ökologische Zusammenhängepolitisch vor allem zur Begründung einer anderen Lebensweise des Menschen relevant werden. Alle Herausforderungen führen letztlich zu der Frage: wie will und wie kann der Mensch in Zukunft leben?

Die beiden früheren Paradigmen standen unter der Annahme, daß eine erfolgreiche Bearbeitung des jeweils wichtigsten politischen Ansatzpunktes (Herrschaft, Wachstum und Verteilung) bestimmte gewünschte Folgen bei den Individuen haben würde. Die Erfahrung, daß dies nicht so ist, daß z. B. Wachstum und Verteilung nicht notwendig zu mehr Lebensqualität führen, verursacht Mißtrauen gegenüber dem System und bewirkt neues Vertrauen in die Individuen und ihr Zusammenwirken. Die Situation ist paradox: Zum einen wird durch die verschiedenen Erscheinungsformen der Überlebenskrise (Ressourcenverknappung, ökologischer Kontext) ein Denken in Systemzusammenhängen und die praktische Beherrschung einer größeren Komplexität und Interdependenz der Systemfaktoren noch notwendiger als bisher, auf der anderen Seite steht die Negierung von Systemzusammenhängen, die — unabhängig von der ideologischen Orientierung — dem einzelnen als Diktat des Systems, als „Systemzwänge" gegenübertreten. Die Zurückweisung von System anforderungen zeigt sich einerseits als Aussteigen aus dem System, andererseits — dort wo konstruktive politische Ansätze erkennbar sind_ als Rückwendung auf das überschaubare und dem Individuum Nahe: politische Aktivität im lokalen Bereich (Bürgerinitiativen), Veränderung der eigenen Lebensgewohnheiten Wiederentdeckung von „Heimat" Regionen und Dialekten, Suche nach Solidargemeinschaften (Kooperativen, Wohngemeinschaften) etc.

Die Rückwendung zum Individuum geht charakteristischerweise einher mit Analysen und Aussagen über die Bedürfnisse des Menschen. . Lebensweise" ist eine umfassende gesellschaftliche Struktur, die von Bedürfnissen, Werthaltungen und Aktivitäten des Individuums her aufgebaut wird. Die Produktionsweise des ökonomischen Systems, die Organisationsweise des politischen Systems und die Einordnungsweise in das ökologische System sind durch dieses Konzept angesprochen, aber so, daß der Mensch in seinen vielfältigen Lebensbeziehungen unmittelbar der Bezugspunkt für Politik bleibt. Durch den Begriff der Lebensweise soll ein möglichst umfassendes, keinen relevanten gesellschaftlichen Bereich ausschließendes Konzept eingeführt werden, das schon semantisch den dominanten Bezugspunkt verdeutlicht: die Lebensgestaltung des Individuums. Dieser Begriff wäre bei weiterer Entfaltung von individualistischen Mißverständnissen eines frei schwebenden Individuums ebenso abzugrenzen wie von totalitären Mißverständnissen im Sinne verbindlicher staatlicher Entscheidungen über konkrete Lebensweisen. Es geht um demokratische Willensbildung und Entscheidung über einen an menschlichen Bedürfnissen orientierten Rahmen, innerhalb dessen unterschiedliche Lebensformen frei gewählt werden können.

Zwei Gründe sprechen zusätzlich für diesen Begriff. Einerseits können damit Zweifel ausgedrückt werden hinsichtlich der durchgängigen Beeinflussung gesellschaftlicher und politischer Strukturen durch Produktionsverhältnisse und -formen, andererseits wird dadurch der größere unabhängige Stellenwert der Reproduktionssphäre und der Verkehrsformen berücksichtigt, die gerade in den neuen sozialen Bewegungen der vergangenen Jahre sichtbar werden und die eben nicht an den Produktions- und nicht an den Herrschaftsverhältnissen unmittelbar ansetzen. Ohne Zweifel kann ein zu Ende gedachtes und geführtes Paradigma der Lebensweise die Produktions-und Herrschaftsverhältnisse nicht ausklammern, Anlaß und unmittelbare Motivation für den aktuellen Protest waren aber nicht hier zu suchen.

Eine Zusammenfassung der Strukturelemente des Lebensweise-Paradigmas bietet folgendes Bild:

Strukturelemente 1. Ausgangspunkt und Ziel politischen Handelns ist die Lebensweise des Menschen, definiert in bezug auf Gesellschaft und/oder Natur. Bestehende Strukturen und Veränderungen werden daraufhin befragt, was sie für den Menschen real und unmittelbar bedeuten.

2. Menschliche Bedürfnisse und/oder Gleichgewichtsbeziehungen gegenüber der Natur sind Bezugspunkte für die Bestimmung angemessener Lebensweisen.

3. Das materielle Wachstum wird aus humanen und/oder ökologischen Gründen begrenzt. 4. Technisch-wissenschaftlich-ökonomische Prozesse werden vorab mit Kriterien humaner Bedürfnisse und/oder einer ökologisch orientierten Lebensweise kontrolliert.

5. Die Rückkehr zu kleinen/mittleren gesellschaftlichen, ökonomischen, technischen und politischen Einheiten wird angestrebt (Dezentralisierung). Zentrale politische Themen 1. Begrenzung des industriellen Wachstums 2. Technikfragen 3. Okologiefragen etc.

Aus diesen Formulierungen mag deutlich werden, daß das Paradigma der Lebensweise nicht als zeitlos mißverstanden werden darf. Es entwickelt sich in einer historischen Situation, in der sich das Bewußtsein verbreitet, daß die Grenzen des gesellschaftlich nützlichen industriellen Wachstums und der Naturzerstörung erreicht sind, und in der viele feststellen, daß weder das Industriesystem noch das System des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus aus sich heraus zu Antworten auf die Krise in der Lage sind.

Die Formulierung der Strukturelemente des neuen Paradigmas wurde hinsichtlich der Motivation offen gehalten. Gesellschaftlich vermittelte Bedürfnisse des Menschen und Neudefinition menschlicher Wertorientierungen und Verhaltensweisen im ökologischen Rahmen sind dabei die zentralen Bezugspunkte des Lebensweise-Ansatzes. Letztlich sind beide nicht voneinander zu trennen, sie überschneiden sich auch häufig in der politischen Realität, sind aber dennoch voneinander zu unterscheiden (im Rahmen der Protestbewegung liegen hierin z. T. Unterschiede zwischen „buntem" und „grünem” Protest).

Der heuristische Nutzen des neuen Paredig-mas soll dreifach überprüft werden: einer a) Eignet es sich zu Interpretation neuer Erscheinungsformen der Politik während der letzten zehn Jahre?

b) Kann das Aneinandervorbeireden selbst bei der Diskussion über dasselbe Thema durch das Vorhandensein unterschiedlicher Paradigmen erklärt werden?

c) Lassen sich innerhalb des neuen Paradigmas linke und rechte Alternativen unterscheiden, so daß auch dieses Paradigma eine Abstraktion von Gegensätzen und nicht nur eine spezifische ideologische Position ausdrückt? a) Interpretation politischer Veränderungen Ich möchte behaupten, daß es in der Bundesrepublik seit der Studentenbewegung eine politische Strömung gibt, in der Politik — im Sinne des dritten Paradigmas — von der Lebensweise des Menschen her aufgebaut wird. Initiierende Basisbewegung und vermittelnde (Teil-) Institutionen des politischen Systems stehen dabei in einer engen Beziehung zueinander.

Was von der Studentenbewegung fortwirkte, waren nicht die unmittelbare Infragestellung der politisch Herrschenden, sondern die kulturrevolutionären Innovationen (nicht die Rä-B teparole, sondern Kommune und Kinderla den). Seit Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre ist — als Ertrag der Studentenbewegung — in vielen gesellschaftlichen Bereichen ein deutlicher Wertwandel zu erkennen Frauenemanzipation, Liberalisierung der Kindererziehung, erste Relativierung des arbeits und leistungsbezogenen Wertesystems etc.,

Die sozialliberalen Teile des politischen Systems reagierten — abgesehen von der ausgeübten Repression —, indem sie die herr schaftsbezogenen Programmelemente aufgriffen, ihnen aber eine Wendung in Richtung Lebensweise-Paradigma gaben: Demokratisierung als Versuch, dem Bürger in seinen unmit telbaren Lebensbereichen mehr Transparen; und Einwirkungschancen zu verschaffen -die partizpatorische Dimension von Lebens qualität. Meine These ist, daß die Lebensquali tät-Diskussion, die in der ersten Hälfte de siebziger Jahre von bestimmten Trägern de: politischen Systems (SPD, Gewerkschaften geführt wurde, ihre Motivation aus einer all mählichen gesellschaftlichen Verbreiterun der Konsum-und Wachstumsskepsis zog -

von Fortwirken der der Studentenbewegun öffentlich gemachten Kulturkritik. Die Le bensqualitätund — im sozialwissenschaftli eben Bereich — die Soziale-Indikatoren-De batte erlaubten zum ersten Mal innerhalb de etablierten politischen Systems eine Infrage Stellung der industriellen Wachstumsperspek tive — wenngleich die öffentliche Präsenta tion oft eher als ideologisches Etikett wirkt! ohne Inangriffnahme und Herausarbeitun der Konflikte, die ein konsequent verfolgte Lebensqualitätskonzept notwendig für di herrschenden Wachstumsziele bedeutet En sprechend rasch war die Debatte in der ne aufbrechenden Wirtschaftskrise Mitte de siebziger Jahre beendet.

Die Anfang der siebziger Jahre begonnen Debatte über Grenzen des Wachstums un Umweltzerstörung hat Stoßkraft erst durc die Kernkraft-und Ökologiebewegung erha ten. Die sozialliberalen Kräfte kommen auc hier als Vermittler in das etablierte Instituti nensystem in Frage — ohne daß sie bisher d für besonders viel getan hätten. Daß die nach alternativen Lebensformen suchenden Teile der Jugend wichtigster Träger der Kernkraft-und Okologiebewegung geworden sind, zeigt deutlich, daß die neuen Problemlagen vor allem in bezug auf eine andere Lebensweise der Menschen gesehen werden — sei es im symbolischen Protest gegen die über die Köpfe der Menschen hinweg planenden Institutionen Großtechnik und Staat, sei es durch Engagement in Bereichen unmittelbarer Betroffenheit, zu der es in einer Wachstumsgesellschaft fast unbegrenzte Anlässe gibt. Das Interesse an einer alternativen Lebensweise läßt sich gut in ökologischen Bezügen und Begründungen aktualisieren. bAnwendung auf politische Streitfragen Es ist möglich, auf alte Themen mit dem neuen und auf neue Themen mit dem alten Paradigma zu antworten. Die Kommunikationsschwierigkeiten müßten gerade dort sichtbar werden, wo sich Vertreter der gegensätzlichen Paradigmen auf dasselbe Thema beziehen. Dabei zeigt sich, wie unterschiedliche paradigmatische Perspektiven zu ganz unterschiedlichen Behandlungsweisen derselben Themen führen. Es entspricht der Vorherrschaft des Wachstums-und Verteilungsparadigmas, daß die Probleme ziviler Kernkraftnutzung viele Jahre aus der politischen Diskussion ausgeklammert waren. Erst die Widerstandsbewegung gegen den Kernkraftwerkbau hat sie als Thema öffentlicher Debatte durchsetzen können.

Die Behandlung des Kernkraftthemas durch die „Traditionalisten" läßt sich auf zwei Ansatzpunkte reduzieren. Zum einen wird der zügige Ausbau von Kernkraft als unerläßliche Voraussetzung weiteren ökonomischen Wachstum gesehen. Des weiteren wird den . technischen Problemen" (des Betriebs, der Entsorgung) mit technologischem Optimismus begegnet. Etwa verbleibende Zweifel sollen durch Hinweise auf wesentlich höhere Risiken bei anderen Techniken ausgeräumt werden.

An das gleiche Thema gehen die Vertreter des Lebensweise-Paradigmas mit einer ganz anderen Sichtweise heran. Da weiteres industrielles Wachstum in den Industriestaaten vor allem aus ökologischen Gründen als problematisch angesehen Wird, erscheint der Kampf gegen Kernkraft als ein Mittel zur Begrenzung weiteren quantitativen, in seinem Inhalt unbestimmten Wachstums. Das Sicherheitsrisiko für die jetzige und für spätere Generationen wird als sehr hoch eingeschätzt (Entsorgung, Terrorismus, Betriebsunfälle etc.). Die freie Entfaltung vieler einzelner wird wegen der tief in die Bürgerrechte eingreifenden Sicherheitsmaßnahmen („Atomstaat") als bedroht angesehen. Aus der Betonung von Über-und Durchschaubarkeit, basisnaher demokratischer Kontrolle, Eigenaktivität, Beziehung zum Alltagsleben ergibt sich die Forderung nach Dezentralisation der Energiegewinnung, so daß sich auch von hier ein Vorrang der Erschließung alternativer Energien ergibt.

Je nachdem, ob man von industriellem Wachstum und technischem Fortschritt des Systems als grundlegender Perspektive oder aber von den Auswirkungen dieser neuen Technologie auf die Lebensweise des Menschen (Gefährdung, Überwachung etc.) ausgeht, wird man sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen, zwischen denen Diskussionen meist mißlingen. Nehmen wir als Beispiel für die Anwendung der beiden Paradigmen auf „alte" Probleme die im alten Paradigma im Vordergrund stehenden Verteilungsfragen. Die Vertreter des Verteilungsparadigmas sind besonders an ökonomischem Wachstum interessiert, weil sie glauben, nur aus den Zuwachsraten die gesellschaftlichen Gruppen befriedigen und das politische System legitimieren zu können. Auch die sich z. T. auf der Basis des Verteilungsparadigmas gründenden linken Gruppen (Gewerkschaften, SPD) haben erhebliche Schwierigkeiten, sich auf einschneidende um-verteilende Strategien umzustellen, was bei stagnierender Wirtschaftsentwicklung die einzige Möglichkeit wäre, mehr (materielle) soziale Gerechtigkeit herzustellen. Anhänger des neuen Paradigmas gehen auch an verteilungspolitische Fragen mit einer anderen Sichtweise heran. Einkommens-und Vermögensunterschiede werden als Stachel für das unaufhörliche Wachstum der Güterproduktion gesehen; mit der Angleichung der materiellen Verhältnisse könne eine wichtige Triebkraft des Wachstums abgebaut werden.

In der Perspektive eines zu reduzierenden Wachstums wird die bisher vorherrschende Forderung nach Verteilung des Zuwachses verdrängt durch die Forderung nach Umverteilung. Wer für Angleichung der Lebenschancen eintritt, kann immer weniger auf morgen vertrösten, wo für den einzelnen — dank dem Wirtschaftswachstum — das gleiche Konsum-modell möglich sein soll, mit dem die höhere soziale Schicht schon heute lebt. Die Begründung für Umverteilungsstrategien kann — eher traditionalistisch — in Gesichtspunkten der Systemstabilität („Wiederaufbrechen von Klassenkämpfen") liegen. Sie kann aber auch von der Lebensweise her begründet werden. Dann wird darauf abgestellt, daß die Lebensweise der höheren Einkommensschichten (d. h. auch der oberen Mittelschicht von Lehrern, Technikern, Freiberuflichen, Wissenschaftlern etc.) von der materiellen Seite her im wesentlichen bereits alles Notwendige umfaßt, so daß der Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse der unteren Sozialschichten als Voraussetzung einer autonom gestalteten Lebensweise erste Priorität gehört.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist, daß die unteren Sozialschichtenvon den Folgen industrieller Entwicklung (Gesundheitsschäden, Verkehrsbelästigung, Umweltzerstörung etc.) stärker betroffen sind als die höheren Sozial-schichten. Bei stagnierender Wirtschaft kann nur Umverteilung ihre Lebensweise in dieser Hinsicht verbessern.

In diesen Zusammenhang gehört natürlich auch die mit neuen Perspektiven geführte Sozialstaatsdebatte. Der dem kapitalistischen Wachstum unter-und nachgeordnete Wohlfahrtsstaat, der auf die Erbringung kompensatorischer Sozialleistungen vor allem durch Regulierung quantitativer Größen spezialisiert ist, stößt heute auf Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Gründe dafür liegen u. a. in der — vielfach verursachten — Kontraproduktivität der Apparate (Illich), in der Ressourcenverknappung aufgrund verlangsamten Wachstums, in der Zunahme der durch die forcierte industriegesellschaftliche Entwicklung geschaffenen sozialen Probleme etc.

Johano Strasser der diese Zusammenhänge eingehend analysiert hat, formuliert die sich heute stellende „soziale Frage ... als die Frage nach alternativen Formen des Zusammenle-bens der Menschen, nach der Möglichkeit so-zialer Existenz jenseits von Kapitalismus und Wachstumsfetischismus". Aus der Kritik a der herkömmlichen Sozialpolitik, „daß be stimmte soziale Probleme oder bestimmte Aspekte sozialer Probleme systematisch., ausgeblendet werden”, leitet er die Forderung ab, das Konzept der sozialen Sicherheit so zu erweitern, „daß der Mensch mit allen Seiten seiner sozialen Existenz darin seinen Platt hat“.

Diese neue Politikdimensionen aufnehmende Debatte über den Wohlfahrtsstaat eignet sich m. E.sehr gut, um die gegensätzlichen Per spektiven einer am quantitativen Wachstui und an Verteilungsfragen orientierten Politil einerseits und einer an den Bedürfnissen de Menschen nach Geborgenheit, Kommunika tion, Beteiligung etc. orientierten Sozialpolitil andererseits zu verdeutlichen. „Links“ und „Rechts" im neuen Paradigma Ein kurzer Blick auf die sozialen Bewegunge und politischen Gruppierungen, die in de Bundesrepublik und den westlichen Demokr tien an der Erarbeitung des neuen Paradigma mitwirken, zeigt, daß hier ein recht breites pt litisches Spektrum einbezogen ist, dennoc der Schwerpunkt auf Positionen von Links bi Mitte-Links liegt. Je mehr das Verteilungspi radigma an Überzeugungskraft und Realisie barkeit verliert, desto stärker werden auc Vertreter konservativer Tendenzen sich ai das Lebensweiseparadigma beziehen.

Es fällt heute noch schwer, sich ein voll entfa tetes Richtungsspektrum auf der Grundlag des neuen Paradigmas im einzelnen auszum len. Daß es möglich ist, ergibt sich schon da aus, daß die Bezugspunkte „menschliche B dürfnisse" und „ökologische Einordnung“ we terer inhaltlicher Bestimmung bedürfen. Ä tere, politisch relevante Wertalternativ« (Herrschaft vs. Herrschaftsabbau, Ungleic heit vs. Gleichheit, Harmonie vs. Konflikt, r striktive vs.freiheitliche Sexualmoral et werden im neuen paradigmatischen Konte konkretisiert politisch wichtig werden« Wertperspektiven (Begrenzung, Gleichgewicht etc.) interpretiert.

Vielleicht ist es charakteristisch für die Phase der Entstehung eines neuen Paradigmas, daß die Mitbringsel aus dem alten ideologischen Zusammenhang noch sehr deutlich sind (vgl. zum Beispiel Wolfgang Harich, Andr Gorz, Erhard Eppler). Häufig ist aber die Verständigungsmöglichkeit auf der Grundlage des neuen Paradigmas bei allen richtungspolitischen Divergenzen größer als in der alten ideologischen Heimat.

III. Erklärung des Paradigmenwandels

Methodische Vorüberlegungen Im folgenden wird der Versuch gemacht, einen Ansatz zur Erklärung des Paradigmen-wandels zu entwickeln. Dabei beschränken wir uns auf den aktuell stattfindenden allmählichen Übergang vom Verteilungs-zum Lebensweiseparadigma, bemühen uns also nicht von vornherein um eine generalisierte Erklärung für den Paradigmenwandel 16).

Bei der Erklärung spezifischer politischer Wandlungsphänomene treten nicht selten charakteristische methodische Fehler auf. So wird immer wieder versucht, ein begrenztes Phänomen unmittelbar durch globale Theorien zu „erklären". Protestbewegungen werden beispielsweise als Ausfluß von Strukturen postindustrieller Gesellschaft oder der Krise der Modernität oder der Entwicklung zur Freizeitgesellschaft dargestellt. Häufig sind es aber spezifische einzelne Faktoren (aus einem globaleren Erklärungszusammenhang), die für den Wandel unmittelbar relevant sind. Geht man auf sie ein, wird ein Teil der unterschiedlichen Ausprägung besser erklärbar. Darüber hinaus bleiben die von Land zu Land unterschiedlichen Vermittlungsfaktoren häufig unberücksichtigt. So kommt es, daß die Ansätze nicht spezifisch genug sind, um die Unterschiede in Intensität, Zeitpunkt und Geschwindigkeit der Wandlungsvorgänge erklären zu können.

Die Öffnung gegenüber dem Lebensweiseparadigma ist in den westeuropäischen Staaten sehr unterschiedlich entwickelt. Von Schweden und den Niederlanden, die hier am weitesten vorangegangen sind, über die Bundesrepublik, in der die Auseinandersetzung zwischen den beiden Paradigmen vehement ist, bis zu Frankreich, das noch in sehr traditioneller Weise zwischen Herrschaftsund Verteilungsparadigma schwankt, bestehen so erhebliche Unterschiede, daß die Anwendung von Begriffen wie „Verzögerung“, „Verspätung" oder der „Ungleichzeitigkeit" zwar als möglich erscheint, zur Erklärung aber nichts beiträgt. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß die Bestimmung spezifischer Faktoren (die in einem globalen Kontext wirksam sind) und die Herausarbeitung der Vermittlungsstrukturen methodische Postulate für einen Erklärungsversuch sind.

Eine zweite Überlegung zum methodischen Vorgehen sei noch angeführt: Auf welche Untersuchungsebene soll die Aufmerksamkeit sich vor allem richten? Ändert sich die allgemeine Politiksicht stärker durch die Erfahrung von Politikern mit den Aufgaben und Problemen, die sich ihnen im staatlichen Funktionsbereich „aufdrängen", oder stärker durch Signale, die sie aus der Gesellschaft über sich wandelnde Bedürfnisse und Werte empfangen? Nun ist es sicherlich zutreffend, davon auszugehen, daß beiden, sowohl dem Aufgaben-wie dem Wertwandel, Widersprüche gesamtgesellschaftlicher Entwicklung zugrunde liegen. Und es ist wohl auch anzunehmen, daß Parteien bei der Übernahme eines neuen Paradigmas sich von der konkreten Konstellation in der Wechselbeziehung zwischen beiden Faktoren leiten lassen. Allerdings kann einer der beiden Wirkungsbereiche eine Vorreiterrolle spielen — wie dies beim Übergang zum Lebensweiseparadigma tatsächlich dem Wertwandel zuzuschreiben ist. So war die Entscheidung für die friedliche Nutzung der Kernkraft in der Bundesrepublik parlamentarisch-administrativ längst entschieden und der Bau von Kernkraftwerken weit fortgeschritten, bevor die Kernkraftfrage politisch zum Problem und zu einem Kristallisationspunkt bei der Entfaltung des neuen Paradigmas wurde. Die Umweltzerstörung glaubte das politisch-administrative System mit der Industrialisierung von Umweltschutz, die Ressourcenverknappung durch Preispolitik und Substitutionsstrategien bekämpfen zu können. Dies waren zwar neue Themen, die Perspektive ihrer Behandlung blieb aber traditionell. Ein Anstoß zu einer neuen Sicht von Politik ging nicht von diesen Themen aus, sondern von einer auf Wertwandel sich gründenden neuen Sichtweise, in der diese (und andere) Themen dann allerdings auch ein neues Gewicht erhielten.

Die im einzelnen festzustellenden Widersprüche in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sind also notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für einen Paradigmenwandel. Um die allgemeine Politik-sichtzu verändern, müssen sie — sowohl bei der Vermittung über den Aufgaben-wie über den Wertwandel — zwei Filter durchlaufen: Die wesentlichen staatlichen Aufgaben be. stimmen sich a) nach zentralen Auswahlkrite. rien, die letztlich auf Bestandserhaltung des kapitalistischen Systems bezogen sind, und b] nach Nutzenkalkülen im Rahmen der Partei-en-und Verbandskonkurrenz Gesellschaftliche Widersprüche, die sich in einem Wertwandel niederschlagen, teilen sich bestimmten sozialstrukturellen Gruppen schnellerund stärker mit als anderen. Aktualisierung und Ausbreitung werden durch die im jeweiligen Land wirkenden sozialen Bewegungen stark beeinflußt Der Druck der sozialen Bewegungen und der darüber hinaus sich ausbreitende Wertwandel setzen sich aber nur dann in Para-digmenwandel um, wenn und soweit es gelingt, den Filter der Nutzenkalküle im Rahmen der Parteien-und Verbandskonkurrenz zu durchlaufen. Widersprüche gesamtgesellschaftlicher EntWicklung Es lassen sich derzeit zwei Krisentypen unterscheiden: die Wachstumkrise und die Krise industrieller Zivilisation. Verwirrung entsteht dadurch, daß diese beiden Krisen sich seit einigen Jahren überlagern. Jede dieser Krisen führt zu spezifischen Reaktionen; es ist wichtig, sie auseinanderzuhalten. Steuerprotest und Ökologieprotest treten zwar gleichzeitig auf, sie sind aber nicht Reaktionen auf die gleichen gesellschaftlichen Krisenzustande. Der Steuerprotest ist eine Reaktion auf die Wachstums-und die daraus unmittelbar folgende Sozialstaatskrise. Seine Hauptwurzel liegt in der individuellen materiellen Besitzstandswahrung. Der Ökologieprotest ist dagegen eine Reaktion auf die Krise der industriellen Zivilisation, dem das noch stattfindende industrielleWachstum bereits zuviel ist. Seine primären Motive liegen außerhalb von Wachstums-und Verteilungsgesichtspunkten.

Die Wachstumskrise führt in erster Linie zu Reaktionen von Vertretern des Wachstums-und Verteilungsparadigmas. Sozialdemokratische, z. T. auch liberale Parteien und die sozial-staatlich orientierten Teile aus dem konservativ-bürgerlichen Bereich halten am Wachstums-und Wohlfahrtskonzept fest, wie es sich vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren bewährt hat. Sie bemühen sich hinsichtlich des Wachstums um staatliche Reaktivierungstrategien (z. B. auf den Weltmarkt zugeschnittene Technologiepolitik) und hinsichtlich des Wohlfahrtsstaates um Sicherungsstrategien (durch Wachstum, begrenzte Reduktion von Ansprüchen, Verminderung bestimmter Leistungen). Ihr zentrales Motiv bleibt nach wie vor die Entschärfung gesellschaftlicher Konflikte durch Wachstum.

Dieser „sozialdemokratische Konsensus" (Dahrendorf) wird unter deutlicher Bezugnahme auf die Wachstumskrise von der „neuen Rechten“ in Frage gestellt bzw. angegriffen. Ein Hauptmotiv ist die Ablehnung von „Krisenopfern" durch die höheren Sozialschichten. Gefordert wird der Abbau staatlicher Wachstums-und Vollbeschäftigungsverpflichtungen bei Betonung der kapitalistischen Gründstruktur — in der Konsequenz sollen in erster Linie die privaten Produktionsmittelbesitzer über die Wachstumsrate bestimmen. Gesellschaftspolitisch wird die Richtung eines Abbaus des Sozialstaates eingeschlagen. Steuerprotest und Reprivatisierungsforderungen verschiedenster Art sind die wichtigsten Umverteilungsstrategien. Sie sollen abgesichert werden durch Law-and-order-Strategien einerseits und durch Versuche zur Wiederbelebung traditioneller Werte (Fleiß, Pflichtbewußtsein, Disziplin etc.) andererseits. Politisch-wissenschaftlich korrespondieren einem solchen Programm der Zurückstutzung des Sozial-staats Unregierbarkeitstheoreme durch die der Staat von zu hohen materiellen Ansprüchen und zu weitgehenden Partizipationswünschen entlastet werden soll — bei Strafe seines Scheiterns.

Die verschiedenen sozialen Bewegungen, die an der Hervorbringung des neuen Paradigmas gearbeitet haben bzw. arbeiten, entstanden auf sehr unterschiedlichem konjunkturellen Hintergrund; keine dieser Bewegungen ist objektiv oder vom Selbstverständnis her Produkt einer Wirtschaftskrise. Sowohl Wachstum als auch reduziertes Wachstum (verbunden mit Arbeitslosigkeit) sind für die Fundamentalopposition Argumente gegen die industrielle Zivilisation.

Vor allem der Denkhorizont der Studentenbewegung der sechziger Jahre war geprägt durch die Annahme einer prosperierenden Industriegesellschaft (z. B. Marcuses Argumentation mit der Prämisse einer „Uberflußgesellschaft"). Sie war wesentlich eine „kulturrevolutionäre" Reaktion auf ein verabsolutiertes Wachstums-und Konsumdenken. Die Arbeitslosigkeit der siebziger Jahre ist der Ökologieund Alternativbewegung nur ein zusätzliches Argument für die abnehmende Gesamteffizienz des Systems. Dessen immanente Logik (Produktivitätsfortschritte) führe eben langfristig — zusammen mit anderen Faktoren — dazu, daß bestimmte soziale Gruppen aus dem Arbeitsprozeß herausfallen. In der Protestbewegung ist der Glaube sowohl an die Möglichkeit wie an die Nützlichkeit und den Sinn eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums nachhaltig erschüttert. Die Doppelpoligkeit der Argumentation erlaubt eine kritische Reaktion auf beide Systemzustände: Wachstum und Stagnation plus Arbeitslosigkeit.

Die Krise erreicht heute das System nicht dort, wo bisher die Hauptkonflikte stattfanden: auf der Herrschafts-und Verteilungsebene, sondern dort, wo sie am wenigstens erwartet wurde: im System industrieller Zivilisation. In unterschiedlichen Bewegungen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten treten dabei unterschiedliche Dimensionen der industriellen Wachstumsgesellschaft in den Vordergrund. War es in den sechziger Jahren vor allem die Forcierung der Konsum-und Leistungsgesellschaft, so waren es in den siebziger Jahren die Dimensionen der Umweltzerstörung und unkontrollierbarer Großtechnik, die den Protest nährten.

„Industrielle Zivilisation" ist als ein System mit bestimmten Strukturen, einer spezifischen Rationalität und einem korrespondierenden Wertsystem zu verstehen. Sie ist angelegt auf Massenproduktion, die zur Steigerung des Ertrages einer permanenten Rationalisierung unterworfen und in zunehmend größeren Betriebseinheiten (mit der entsprechenden Bürokratisierung) erstellt wird. Dabei sind Spezialisierung und Zentralisierung grundlegende Merkmale, die ursprünglich zusammenhängende Arbeits-und Lebensbeziehungen des einzelnen immer stärker auseinanderreißen. In diesem Sinne werden dann immer mehr Gesellschaftsbereiche und Lebensaspekte „industrialisiert" (z. B. Kultur, Kindererziehung, Alter, Sexualität). Die vorherrschende Rationalität ist auf die Erreichung des Ziels individueller und betrieblicher Nutzen-steigerung bezogen. Ein solches System ist angewiesen auf die Verbreitung von Werten wie Fleiß, Leistung Disziplin, aber auch auf eine große Bereitschaft zum Konsum industriell ge. fertigter Produkte und Dienstleistungen. Die Probleme zeigen sich im kapitalistischen Industriesystem früher als im sozialistischen, weil es technisch weiter fortgeschritten ist und weil es in höherem Maße die Artikulation gesellschaftlich-politischer Unzufriedenheit erlaubt, sie sind aber prinzipiell in diesem Zivilisationstyp sehr ähnlich. Sowohl „Kapitalismus" wie „Industriesystem“ ließen und lassen Variationen zu; wo sie fest zusammengewachsen sind, ungehindert die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen und eine bestimmte Schwelle überschreiten, nähren sie — analog zu Widerständen in der Entstehungszeit — Einstellungen, die von tiefer Skepsis bis zum sozialen und politischen Protest reichen.

Diese Krise läßt sich in drei Dimensionen beschreiben die von besonderer Bedeutung für Einstellungsveränderungen erscheinen: 1. Zunehmende Selbstdestruktivität. Das kapitalistische Industriesystem treibt aus sich heraus, d. h. aufgrund der in seinen Strukturen angelegten Expansion, in den Bereich der Selbst-zerstörung. Grenzen werden erkennbar, die Fragen des Überlebens von Mensch, Gesellschaft und Natur aufwerfen.

— Zerstörung der Natur als einer Grundlage menschlichen Lebens. Dazu gehören vor allem die Ausbeutung aller „Naturschätze" (Rohstoffe, Erdöl etc.) und die Zerstörung der natürlichen Umwelt (z. B. durch die „Industrialisierung des Raumes", durch Raubbau des landwirtschaftlich genutzten Bodens, durch Industriefolgen wie Abwärme, Abfälle etc.).

— Zunahme psychisch-sozialer Selbstzerstörung. Sie drückt sich aus in Phänomenen wie Kriminalität, Selbstmord, psychosomatischen und Zivilisationskrankheiten etc.

— Anwachsen des militärischen Vernichtungspotentials mit der zunehmenden Gefahr, in einer Konfliktsituation die Kontrolle darüber zu verlieren. Inzwischen gilt das öffentliche Erwägen von Kriegen zur Sicherung von Voraussetzungen der industriellen Zivilisation (Energiefrage) in einigen Industriestaaten nicht mehr als moralisch anstößig.

— Speziell der Nord-Süd-Konflikt entwickelt eine Dynamik, die durch Hungertod), Armut, Krankheit etc. und weltweite Verteilungskämpfe unter Einschluß von Kriegen Gefahren der Selbstzerstörung großer Teile der Menscheit enthält. 2 Abnehmende Gesamteffizienz. Gemeint ist lamit das wachsende Mißverhältnis zwischen Kosten und Nutzen, wenn man bereit ist, alle ür das Individuum und die Gesellschaft (nicht lur für den Betrieb) anfallenden Kosten zu berücksichtigen und man auch den Nutzen umfassend und real bestimmt, d. h. unter Refle-xion auf nicht nur ökonomisch definierte menschliche Bedürfnisse und im Hinblick auf die tatsächliche Realisierung. Unter abnehmender Gesamteffizienz soll hier also verstanden werden, daß in einem System bei einer . Gesamtbilanzierung" die Gesamtkosten grö8er sind als der Gesamtnutzen, wobei die Ten-lenz in Richtung steigender Kosten bei sinkendem Nutzen geht.

inzubeziehen in eine solche „Verrechnung" vären die psychischen, physischen, sozialen ind ökologischen Kosten für den einzelnen ind die Gesellschaft. Die kapitalistische Indu-itriegesellschaft durchdringt immer stärker nit den ihr eigenen Formen ökonomischer, wissenschaftlich-technischer und bürokratischer Rationalität die gesamte Gesellschaft, verformt dabei Mensch und Gesellschaft in einer Weise, die als Sieg der Mittel über den Zweck (Erleichterung des materiellen Lebens) erfahrbar ist. Nur als (lediglich illustrative) Stichworte für die in der einschlägigen Literatur breite Aufarbeitung der Kosten:

— Arbeit wird instrumentalisiert und von den Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung abgelöst, — Freizeit wird durch Konsum geprägt, — Sozialbeziehungen (Zugehörigkeit, Kommunikation etc.) veröden, — individuelle Ausdrucksmöglichkeiten (Gefühle, Spontaneität, Kunstfertigkeiten etc.) verarmen, — Identitätsbildung vieler Menschen scheitert.

Kritik der Konsum-und Leistungsgesellschaft, Soziale Indikatorenbewegung und die öffentliche Diskussion über Lebensqualität haben hier zu einer Erweiterung des Problembewußtseins beigetragen, ohne die eine „Gesamtbilanzierung" nicht möglich wäre.

Viele dieser Kosten entstehen in einem dynamischen und fortgeschrittenen Industrie-system notwendigerweise. Ohne strukturelle Eingriffe können sie — etwa durch weitere technisch-ökonomische Fortschritte — nicht behoben werden. Ihre Systembekämpfung erfordert immer mehr Mittel, was im Systemzusammenhang als (Wachstums-) „Fortschritt" begrüßt wird. Das Wachstum kapitalistischer Industriegesellschaften läßt sich inzwischen sogar in erheblichem Maße auf die ökonomische Verwertung seiner Schwächen zurückführen (z. B. Umweltzerstörung, Krankheit, Kriminalität) Aber auch auf Seiten des „Nutzens" der industriell erzeugten Güter sind eher Rückschritte zu verzeichnen. Um nur zwei Phänomene herauszuheben: — Nach einer gewissen materiellen Grundausstattung fehlt es an technischen Innovationen, die — bezogen auf menschliche Bedürf-nisse — über unmittelbare Evidenz verfügen. Die Überflüssigkeit des Überflusses nimmt zu.

— Die nach Erreichung einer materiellen Grundausstattung begehrten Güter bringen — bei starker Verbreitung — für den einzelnen immer weniger Nutzen. Damit tun sich soziale Grenzen des Wachstums auf 3. Abnehmende Lösungskompetenz. Das Vertrauen, daß die Problemlösungsfähigkeit so rasch wächst wie die Produktion industriegesellschaftlicher Probleme, ist erschüttert. Bisher war — alles in allem — für die industrielle Entwicklung charakteristisch, daß aus der Entwicklung resultierende Probleme durch wissenschaftlich-technische Innovation gelöst wurden. Nun fehlen solche Lösungen oder es erscheinen denkbare Lösungen als sozial oder ökologisch problematisch, zum Beispiel für die Probleme der — Arbeitslosigkeit aufgrund der Einführung von Mikroprozessoren, — Sozialschädlichkeit potentieller Wachstumsbranchen (z. B. neue Medien), — Gefährlichkeit neuer Technologien (z. B. Kernkraft oder Chemie), — Umweltzerstörung, die durch die Industr4lisierung des Umweltschutzes nicht aufgehalten, sondern allenfalls in Teilaspekten gemildert werden kann.

In diesem Zusammenhang ist die empirisch feststellbare zunehmende Skepsis gegenüber dem „technischen Fortschritt" zu sehen.

Wertwandel Die objektiven Tendenzen zunehmender Selbstdestruktivität, abnehmender Gesamteffizienz und sich verringernder Lösungskompetenz fördern den Zweifel an der Struktur des Industriesystems und den Zerfall des ihm korrespondierenden Wertsystems. Die Strukturkrise erklärt zu einem guten Teil die Wertkrise. Wenn der für viele sinngebende „Fortschritt" des westlichen Industriesystems ent-weder nicht mehr möglich oder — in alter Bahnen — nicht mehr wünschenswert ist, ver lieren auch die Werte ihre Berechtigung, die diesen Fortschritt durch quantitatives Wachstum ermöglicht haben. Die Mehrung kaufbarer Güter (einschließlich Dienstleistungen und die darauf bezogenen Arbeitsund Konsum-, Tugenden" verlieren ihren Sinn, wenn sie zu Destruktion und „erfolglosem Handeln'führen.

Empirische Untersuchungen für die Bundesrepublik machen deutlich, daß das Wert-system, das die ökonomische Expansionsphase der fünfziger und sechziger Jahre getragen hat, abbröckelt. Die Zeitreiheninterpretationen von Kmieciak legen dabei ein Konzept nahe, bei dem Pionier-bzw. Initiativgruppen eine Vorreiterrolle spielen, mit zeitlicher Verzögerung und in geringerer Intensität aber relevante Teile der Gesamtbevölkerung nachziehen — ein wichtiger Hinweis darauf, daß es sich nicht nur um sektorale Veränderungen handelt. An Bedeutung verlieren u. a.:

— Arbeitstugenden wie Fleiß, Disziplin, rollenspezifische Ein-und Unterordnung, — Erwerbsstreben, gerichtet vor allem au hohe Einkommen und daran gekoppelte Kon summöglichkeiten, — Aufstiegsstreben, z. T. zur Befriedigungvor Einkommens-und Konsuminteressen, zT aber auch als Selbstzweck, — Interesse an Statusdifferenzierungen, — Fixierungen von Geschlechtsrollen, wa vor allem zu einem Umdenken über die gesell schaftliche Rolle der Frau führt, — traditionelle Erziehungsvorstellungen un-Praktiken, die die Sozialisation von Arbeitstu genden für die Tätigkeit in hierarchischen Or ganisationen betonen.

Wertwandel heißt zunächst Auflösung des do minierenden Wertsystems (Wertkrise); hie sind die Konturen heute deutlicher erkennba als bei der Entstehung eines alternativer neuen Wertsystems. Auch in diesem Zusam menhang bewährt sich der Ansatz, Wand« aus gesellschaftlichen Widersprüchen zu ei klären. Werte stehen nicht außerhalb des Kon-

texts von Herrschafts-und Interessenkonflikten. Ihre Bildung und ihr Verfall sind zwar nicht gesellschaftlich determiniert, sie vollziehen sich aber immer in Wechselwirkung zu solchen Konflikten und unter dem Einfluß relevanter Interpretationsinstanzen

Dieser Konfliktansatz steht im Gegensatz zur Postmaterialismus-Theorie von Inglehart dem einflußreichsten Erklärungsversuch für den heute politisch relevanten Wertwandel. Inglehart orientiert sich an einem Evolutionsmodell, das postmaterialistische Orientierungen als quasi automatisches Ergebnis fortgeschrittener ökonomischer Entwicklung erscheinen läßt. Inglehart geht — um dies in drei Sätzen zu sagen — von einer Werthierarchie aus, an deren Basis Werte materieller und physischer Sicherheit stehen („materialistisch") und deren höhere Bereiche durch Werte sozialer Zugehörigkeit, der Partizipation und der Selbstverwirklichung gekennzeichnet sind („postmaterialistisch"). Menschen, dies die zweite Prämisse, werden durch ihre Erfahrungen im Jugendalter in ihrer Werthaltung dauerhaft geprägt. Eine Gesellschaft, in der Fragen der materiellen und physischen Sicherheit im Vordergrund stehen, bringt Menschen einer „materialistischen“ Werthaltung hervor, wohingegen eine Gesellschaft, in der diese Probleme weitgehend gelöst sind (gemeint sind die westlichen „Überilußgesellschaften"), „postmaterialistische" Wert-haltungen entstehen läßt.

Die von Inglehart ausgewerteten Daten zeigen, daß in den jüngeren Generationen in der Tat postmaterialistische Orientierungen stärker ausgeprägt sind als bei den älteren Generationen. Empirisch wird hier offensichtlich etwas eingefangen, was von Bedeutung für den Paradigmenwandel ist, was aber noch keine angemessene Erklärung gefunden hat und deshalb auch keine tauglichen Prognosen hergeben kann. Inglehart arbeitet mit einem ökonomischen Determinismus bei dem der gesellschaftlich vielfältig vermittelte Charakter der Wertentwicklung unbeachtet bleibt Der Gedanke, daß der „Postmaterialismus" eines Teils der jungen Generation nicht harmonisch auf dem Wohlstand „aufbaut", sondern sich aus dem Ungenügen am „Materialismus“ der Wohlstandsgesellschaft erklären läßt, wird nicht erwogen. Liegt nicht — im Gegensatz zu Ingleharts Überfluß-Hypothese — eine Defizit-Hypothese nahe: daß sich in postmaterialistischen Forderungen Bedürfnisse und Werte ausdrücken, die in der fortgeschrittenen industriegesellschaftlichen Entwicklung zu kurz kommen? Verweist darauf nicht auch schon der historische Kontext, da das quantitativ relevante Ansteigen postmaterialistischer Orientierungen in die zweite Hälfte der sechziger Jahre fällt, d. h. in die Zeit der Studentenbewegungen? Und spricht dafür nicht auch der vergleichende Aspekt, da der Anteil postmaterialistischer Orientierungen doch offenbar stark korreliert mit der Ausprägung und Intensität der Studentenbewegung im jeweiligen Land (eine von Inglehart ungeprüfte These, die aber naheliegt, wenn man die Bedeutung von Interpretationsinstanzen, wie z. B. sozialen Bewegungen, betont).

Es gibt noch weitere Erklärungsschwächen beim Inglehartschen Ansatz:

— So bleibt unerklärlich, warum nur ein im Grunde kleiner Teil der im Wohlstand Sozialisierten postmaterialistische Wertorientierungen zeigt und — für den evolutionären Ansatz noch kritischer — der prozentuale Anteil dieser Postmaterialisten über einen längeren Zeitraum gleichgeblieben ist, obwohl er sich doch hätte ausweiten müssen.

— Inglehart kann weder theoretisch noch empirisch den Punkt bestimmten, an dem die Menschen materiell saturiert sind bzw. sich entsprechend fühlen. Diese Schwelle ist auch nicht objektiv zu bestimmen, da sie von der Entwicklung der Bedürfnisse beeinflußt wird, die wiederum gesellschaftlicher Interpretation unterliegen (braucht man ein Auto, einen Farbfernseher etc., um sich den höheren Wer-27 ten zuzuwenden, oder geht es auch schon ohne sie?).

— Inglehart setzt unbegründet ein hierarchisches Modell mit zwei Ebenen (materialistische/postmaterialistische Werte) einem historischen Zwei-Phasen-Modell (erst materialistische, dann postmaterialistische Werte) gleich. Damit wird er historisch weder älteren Bedürfnislagen noch dem Inhalt der „alten Politik" gerecht. Sinnfragen waren historisch schon lange vor der Erreichung eines höheren Standards an physischer und ökonomischer Sicherheit politisch relevant; soziale Zugehörigkeitsbedürfnisse wurden durch sprachlich-ethnische Konflikte Themen von Politik etc. — So unklar die obere und die zeitliche Grenze für den „Materialismusbereich", so diffus und heterogen ist Postmaterialismus als Restkatergorie für — fast alles! Partizipatorische, expressive, ökologische, religiöse etc. Werte bleiben undifferenziert. Postmaterialismus war aber 1970 etwas anderes als er 1980 ist.

Die Strukturkrise, so die hier vertretene These, verursacht die Wertkrise. Beide sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für einen Werthorizont breiter sozialer Schichten — und nur insofern interessiert Wertwandel im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Untersuchungsansatzes. Die Krise des Industriesystems und der Zerfall des Wertsystems sind prinzipiell von allen Gesellschaftsmitgliedern erfahrbar. Diese prinzipielle Betroffenheit aller (der Massen wie der Eliten) stellt einen wichtigen Grund dar für die Möglichkeit einer allmählichen Ausbreitung des neuen politischen Paradigmas. Vorangetrieben werden die Interpretation des Wertwandels und die Artikulation des neuen politischen Paradigmas allerdings durch kleinere soziale Gruppen. Die Sozialstruktur ist ein Filter zwischen Strukturkrise und Wertwandel, die soziale Bewegung eine relevante Interpretationsinstanz, die aktiv einen Weg aus der Wertkrise zu einem neuen Werthorizont weist.

Welche sozialen Gruppen sind aufgrund ihrer sozioökonomischen Voraussetzungen besonders disponiert für eine z. T. durchaus stellvertretende Verarbeitung der Wertkrise? Versteht man die Okologieparteien als Protagonisten des neuen Paradigmas, so können die Sozialstruktur ihrer Wähler und Sympathisanten Hinweise auf das Initiativpotential geben. Sehr grob lassen sich zwei Gruppen unterscheiden; a) Angehörige aller sozialen Schichten, z. T. auch mit ausgeprägt traditionellem Wert-system (z. B. Landwirte, Gewerbetreibende) sofern sie von Zerstörungen des Industrie-systems unmittelbar und nachhaltig berührt sind (Autobahn-oder Flughafenbau, Industrie-ansiedlung etc.).

b) Angehörige von Berufsgruppen, die durch Interesse und Sozialisation nicht unmittelbar an das Marktsystem gebunden sind. Damit sind die Vorbereitung auf und die Tätigkeit in Berufen gemeint, die — meist im Rahmen des öffentlichen Dienstes — Humandienstleistungen erbringen (Sozialarbeiter, Pädagogen, Wissenschaftler vor allem der Geistes-und Sozialwissenschaften, Ärzte des öffentlichen Sektors, Künstler, Architekten, Theologen etc.). Menschen aus diesen Bereichen sind für die Verbreitung des neuen Paradigmas von besonderer Bedeutung.

Die Berufsfunktion hat, so der bisherige Eindruck, die höchste Erklärungskraft. Cotgrove und Duff 28) erklärten damit — auch in Abgrenzung zur Wohlstandshypothese von Inglehart — den Unterschied zwischen den sozialen Trägern von „environmentalism" und „industrialism". Die dominierenden Werte sind stärker dort verankert, wo Menschen beruflich mit der Planung, Produktion und Verteilung von Gütern befaßt sind, die auf Märkten angeboten werden. Wo die Arbeit sich dagegen auf andere Menschen in nicht marktmäßigen Beziehungen orientiert, ist der einzelne mit der sozialen, physischen und intellektuellen Vermittlung gesamtgesellschaftlicher Widersprüche und nicht zuletzt mit der „Sinnfrage" konfrontiert. Die Verbreiterung (dieser Teile) des tertiären Sektors vergrößert die Zahl der Menschen, deren Beruf nicht in der Verfolgung materieller Ziele besteht und die so auch durch ihre Berufsarbeit sensibler sind für die Grenzen des Industriesystems bei der Befrie28) digung nicht-materieller Bedürfnisse. Daneben — und z. T. natürlich auch im Zusammenhang damit — ist die Verlängerung der Ausbildungszeit für viele von eigenständiger Bedeutung; sie schafft die psychischen und intellektuellen Voraussetzungen für die kritische Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des herrschenden und für den Aufbau eines alternativen Wertsystems

Das Hervortreten einer spezifischen sozialen Gruppe als Träger neuer Wertorientierungen führt zu zwei unterschiedlichen Interpretationen:

-Im Zuge einer Ausdifferenzierung der Sozialstruktur bildet sich ein soziales Segment mit spezifischen, nicht verallgemeinerungsfähigen Werten und Interessen 30).

— Die Zivilisations-und Wertkrise des Systems erfaßt prinzipiell alle Gesellschaftsmitglieder, aktualisiert sich aber schwerpunktmäßig bei jenen in einer Neuorientierung, die durch Sozialisation und Beruf dazu disponiert sind.

Unsere bisherige Argumentation läuft auf eine Unterstützung der zweiten Position hinaus.

Der neue, alternative Werthorizont, der mit den sich wandelnden objektiven Bedingungen besser vereinbar erscheint als mit dem dominanten Wertsystem, ist zwar in Umrissen erkennbar und auch gut vereinbar mit dem Lebensweiseparadigma, der Ausgang der aktuellen Wertkrise ist aber nicht voraussagbar. Abgesehen von dem im Wortsinne restaurati-ven Versuch, alte, überholte Wertordnungen durch Druck, Zwang und moralische Einschüchterung wiederherzustellen, gibt es zwei Strategien in der Wertkrise: -Wiederanpassung von Werten an stattgelundenen gesellschaftlichen Wandel ohne In-fragestellung grundlegender Werte und Strukturen

— Entfaltung neuer Werte, die neue Strukturen schaffen Auch hierbei geht es allerdings nicht um die Umwertung aller Werte, sondern eher um die Änderung der Präferenz-und Rangordnung von Werten

Soziale Bewegungen haben gerade für den Wertwandel eine hervorragende Bedeutung. Sie dramatisieren und systematisieren die Defizite des bestehenden Systems und das heißt auch: sie unterminieren — über die unmittelbare Erfahrung der Betroffenen hinaus — das herrschende Wertsystem. Dies gilt vor allem auch für die Erweiterung der Bewertungsmaßstäbe, die dann zu einer negativen Gesamtbilanz führt. Gleichzeitig entfalten soziale Bewegungen einen neuen, alternativen Werthorizont Dies geschieht durch konzeptuelle Aktivitäten, vor allem aber durch das vorgelebte Beispiel.

Dies leitet über zu der Frage, von welchen Vermittlungsbedingungen die Ausbreitung des neuen Paradigmas abhängt.

Organisierte Vermittlung: Parteien-und Verbandssystem Das Parteien-und Verbandssystem ist der Filter, der darüber entscheidet, was an gesell-schaftlichen Werten und Orientierungen Einfluß auf den politischen Einscheidungsprozeß erhält. Beschränken wir uns bei diesen unvollständigen Bemerkungen auf das Parteiensystem, das unmittelbar dem staatlichen Entscheidungssystem vorgeschaltet ist und sich in einer grundlegenden Übereinstimmung mit dem etablierten Verbandssystem zu halten sucht. Wie wird die Durchsetzung eines neuen Paradigmas durch die Struktur des Parteiensystems beeinflußt?

Zwei Prämissen sind zu vergegenwärtigen:

a) Parteihandeln ist wesentlich durch Nutzen-kalküle bestimmt. Parteien werden Sichtweisen und Themen des neuen Paradigmas nur dann aufgreifen, wenn dadurch ihre machtpolitische Strategie gefördert wird. Im Bereich öffentlicher Auseinandersetzung geht es dabei vor allem um Wählerstimmen. Verspricht die Vertretung neuer Tendenzen einen Vorteil bei der Wählerwerbung, ist sie wahrscheinlich. b) Parteihandeln reagiert überwiegend nicht direkt auf sozialen Wandel, sondern auf dessen organisatorische Vermittlung unter dem Aspekt der Parteienkonkurrenz. Nicht Vermutungen über gesamtgesellschaftlichen Wertwandel und kaum der direkte Eindruck von sozialen Bewegungen beeinflussen die Reaktionen. Vielmehr sind es eigene Wählerverluste bei vorangehenden Wahlen (auch auf unteren Ebenen) oder zu befürchtende Wähler-verluste, sei es durch das Auftauchen von Konkurrenzparteien im unmittelbaren sozia len Einzugsfeld der Partei oder durch den Ziel, wandel einer etablierten Konkurrenzparte mit gleichen Zielgruppen.

Von solchen Prämissen aus kann man den tatsächlich stattfindenen Paradigmenwande besser erklären als von der Parteiideologie her. Zwar gibt es eine größere Affinität zwischen dem Lebensweiseparadigma und Par-teien der Linken und linken Mitte, aber verschiedentlich öffnen sich auch „bürgerliche'Parteien dieser Sichtweise; im übrigen sind auch die erheblichen Differenzen zwischer den Parteien der Linken und linken Mitte nicht durch den Faktor Ideologie zu erklären.

Auf dieser Grundlage lassen sich die für einer Paradigmenwandel günstigen von den dafür weniger günstigen Parteiensystemen unter scheiden. Ausdifferenzierte, weniger konzen trierte Parteiensysteme fördern die Entfaltung des neuen Paradigmas. Diese These wurde be reits einer ersten empirischen Überprüfun unterzogen, die hier nicht wiederholt werdet soll

Da nicht alle Parteien in gleicher Weise au gesamtgesellschaftlichen Wandel reagieret sondern durch den Filter von Nutzenkalkülei auf Veränderungen in ihrem unmittelbarei Einzugsfeld, ergibt sich daraus auch ein all mählicher, vielstufiger Prozeß der Ausbrei tung des neuen Paradigmas — ein Prozeß mi einer sehr langen Zeitperspektive.

IV. Ausblick

Der hier vorgelegte Versuch kann mißverstanden werden: als Ideologiebildung, die sich die Realität, von der sie spricht, erst zu erzwingen versucht, oder als Vorschlag für eine wirkungsvolle politische Semantik, da mit dem Signum „Lebensweise" sich manche Politik besser verkaufen läßt. Der Anspruch ist dagegen, empirisch beobachtbare Tendenzen zu systematisieren und — über das Paradigma-konzept — als eine mögliche Entwicklungslinie zu generalisieren. Ein solcher Ansatz findet seine wesentliche Stütze wohl weniger in unterschiedlich ausdeutbaren Veränderungen an der politischen Oberfläche als in den ge-isellschaftlich-ökonomischen Entwicklunge die eine Abwendung vom herrschende Wachstums-und Verteilungsparadigma nt helegen, und in den empirisch feststel baren Tendenzen des Wertwandels — Fai toren, deren Durchschlagen auf den polit sehen Prozeß eine Frage der Zeit und der M dalitäten politischer Strukturen in den ve schiedenen westlichen Ländern ist.

Heilbronner setzte bis zu 50 Jahren als mittl ren, bis zu 100 Jahren als langfristigen Ze: raum für grundlegendere Neuorientierung« an«) -Solche Zeitangaben bleiben notwendig spekulativ, da es keine historischen Analogien zu einem derart fundamentalen Struktur-und Orientierungswandel in einem hochkomplexen Gesellschaftssystem gibt.

Die in der gegenwärtigen Alternativbewegung (im weitesten Sinne) stattfindende Aktualisierung dessen, was mit dem Ende der Studentenrevolte der sechziger Jahre von vielen totgesagt war, sollte skeptsich machen gegenüber zu kurzfristigen Beurteilungen, die nur das Wellenspiel an der politischen Oberfläche im Auge haben. So könnten z. B. auch die kurzfristigen Wirkungen der Afghanistan-Krise zu der Annahme verführen, die „Brot-und-Butter-Fragen" (heute besser: die „Rohstoff-und-öl-Fragen") und der Ost-West-Konflikt als Sicherheitsproblem hätten mit einem Schlage alles verdrängt, was sich an neuem Bewußtsein in der öffentlichen Debatte bereits herausgebildet hat. Dies mag kurzfristig so sein, längerfristig ist aber die Einsicht in die auch weltpolitischen Risiken, die mit der unmodifizierten Aufrechterhaltung des industriegesellschaftlichen Entwicklungsweges verbunden sind, wohl kaum aufzuhalten und wird deshalb zu verstärkten Bemühungen führen, die Gefahr von Krisen durch strukturelle Eingriffe im eigenen Land zu vermindern.

Unter dem Vermittlungsaspekt seien am Schluß drei Faktoren herausgehoben, die einer sowohl raschen wie eindeutigen Durchsetzung des neuen Paradigmas im Wege stehen könnten: — Die stark asymmetrische Verteilung der neuen Werte und Orientierungen (überproportional bei der Linken und der Mitte) erhöht die Wahrscheinlichkeit einer längeren Konfrontation zwischen den Vertretern der beiden Paradigmen, d. h. eine Verfestigung des alten Paradigmas und Zurückhaltung bei den Führern des politischen Lagers, in dem sich das Lebensweiseparadigma entfaltet (so etwa die heutige Situation in der Bundesrepublik). — Die Bewegung für ein neues Paradigma wird durch Konzessionen geschwächt, die die Strukturen nicht berühren (z. B. ein bißchen staatliche Dezentralisation oder viele Fahrradwege neben weiteren Autobahnen). Vor allem aber werden wohl die Möglichkeiten symbolischer Instrumentalisierung des Lebensweiseparadigmas voll ausgeschöpft werden („Politik für den Menschen

— Das Herrschaftsund Verteilungsparadigma gründet auf Gruppenkonflikten, das Lebensweiseparadigma vielfach auf Individualkonflikten (letztlich muß jeder Mensch eine Vorstellung über die seinen Bedürfnissen entsprechende Lebensweise entwickeln). So besteht die Gefahr der Ausblendung von Organi-sations-, Macht-und Herrschaftsfragen aus dem Lebensweiseparadigma. Der sich verbreitende Wertwandel glaubt sich in einem gewissen Widerspruch zu dessen organisatorischer Vermittlung — anders als bei der Arbeiterbewegung, bei der die Organisationen wesentlich zur Ausbreitung von Wertwandel beitrugen. Das Gefühl, schon durch ein anderes Leben die Gesellschaft zu verändern, ist nicht falsch, es ist aber nur die halbe Wahrheit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. S. 41.

  2. Vgl. z. B. Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln/Opladen-1961.

  3. Vgl. z. B. Detlef Murphy, Frauke Rubart, Ferdinand Müller, Joachim Raschke, Protest Grüne, Bunte und Steuerrebellen. Ursachen und Perspektiven, Reinbek 1979 (rororo aktuell Bd. 4442).

  4. Diese These gilt nur für den Vergleich politischer Akteure. Die wesentlichen Veränderungen, auch für die Politik, gehen auf technisch-ökonomische Innovationen zurück (z. B. Kernenergie, Mikroprozessoren, neue Medien, etc.).

  5. Hier ergeben sich übrigens Möglichkeiten einer iorisch breiter angelegten und stärker intentio-nale. Momente herausarbeitenden Interpretation Ces Non-decision-Konzepts.

  6. Z. B. ist die verteilungspolitische Frage der Bildungspolitik unter Geltung des Herrschaftsparadig-mas im Kaiserreich auf den Herrschaftsaspekt bezogen: das dreigliedrige Schulsystem wird als Mechanismus zur Stabilisierung ökonomischer und politischer Herrschaft verstanden, wie auch die alternativen bildungspolitischen Strategien den Bezugspunkt der Herrschaft im Auge haben, was schlagwortartig in der Parole der Arbeiterbewegung „Wissen ist Macht" anklingt

  7. Maurice Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter. Das Janusgesicht des Westens, München 1973.

  8. Vgl. Knut Borchardt, Perspektiven der Wachstumsgesellschaft, in: Klaus von Beyme u. a., Wirtschaftliches Wachstum als gesellschaftliches Problem, Königstein 1978, S. 157 ff.

  9. Für viele Wolf-Dieter Narr, Claus Offe (Hg.), Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität, Köln 1975.

  10. Für viele Karl Ernst Wenke, Horst Zilleßen (Hg.), Neuer Lebensstil — verzichten oder verändern? Auf der Suche nach Alternativen für eine menschlichere Gesellschaft, Opladen 1978.

  11. Vgl. Ina-Maria Greverus, Auf der Suche nach Heimat, München 1979.

  12. Vgl. Peter Kmieciak, Wertstrukturen und We wandel in der Bundesrepublik Deutschland, Götti gen 1976.

  13. Johano Strasser, Grenzen des Sozialstaats. Soziale Sicherung in der Wachstumskrise, Köln 1979, S. 81 und 112 ff.

  14. Für Großbritannien anhand eines ökologisch Paradigmas analysiert von Steven Cotgrove, En ronmentalism and Utopie, in: Sociological Revie 24. Jg. (1976), S. 23ff., und die in Anmerkung 28 tierten Arbeiten.

  15. Vgl. dazu Manfred Schmidt, Die „Politik der Inneren Reformen“ in der Bundesrepublik Deutschland 1969— 1976, in: PVS, 19. Jg. (1978), S. 201 ff.

  16. Hier als ein sehr breiter und eher ungenauer Sammelbegriff verstanden. Problematisch ist hierbei aber auch das Attribut „neu", da es sich überwiegend um eine Wiederbelebung traditioneller rechtskonservativer Denkmuster, Argumente und Forderungen handelt.

  17. Vgl. Suzanne Berger, Politics and Antipolitics in Western Europe in the Seventies, in: Daedalus, Winter 1979, S. 27 ff.; Claus Offe, „Unregierbarkeit". Zur Renaissance konservativer Krisentheorien, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit", Frankfurt 1979, Bd. 1, S. 294 ff.; Franz Lehner, Grenzen des Regierens. Eine Studie zur Regierungsproblematik hochindustrialisierter Demokratien, Königstein 1979.

  18. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ein. Vergleich zwischen der aktuellen Alternativbewegung und jener Lebensreformbewegung, die sich in Reaktion auf die forcierte Industrialisierung im deutschen Kaiserreich entwickelte. Vgl. dazu u. a. Wolfgang R. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974, undJanos Frecot, Die Lebensreformbewegung, in: Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, hrsg. von Klaus Vondung, Göttingen 1976. Dabei zeigen sich zwischen „früher" und „später" Alternativbewegung — ohne wichtige Unterschiede verwischen zu wollen — verblüffende Ähnlichkeiten, denen in einer eigenen Arbeit nachgegangen werden soll. Die Geschichte des Industrie-systems wäre unter der Fragestellung verschütteter Bedürfnisse und deren Artikulation in Protest und Alternative sowohl für den bürgerlichen wie für den Arbeiterbereich zu betrachten.

  19. Um aus der breiten Literatur nur ein paar Titel herauszugreifen: Carl Amery, Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek 1976; Charles H. Anderson, The Sociology of Survival. Social Problems of Growth, Homewood, Illinois 1976; Andr Gorz, Ökologie und Politik. Beiträge zur Wachstumskrise, Reinbek 1977; Ivan Illich, Selbst-begrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek 1975; ders., Fortschrittsmythen, Reinbek 1978; Martin Jänicke (Hg.), Umweltpolitik, Opladen 1978; Otto Ullrich, Weltniveau. In der Sackgasse des Industriesystems, Berlin 1979.

  20. Martin Jänicke, Wie das Industriesystem von seinen Mißständen profitiert, Opladen 1979.

  21. Vgl. Fred Hirsch, Social Limits to Growth, London 1977.

  22. Vgl. u. a. Kmieciak, a. a. O.; Helmut Klages, Pet Kmieciak (Hg.), Wertwandel und gesellschaftlich'Wandel, Frankfurt 1979; Elisabeth Noelle-Ne mann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel unserer Gesellschaft, Zürich 1978.

  23. Vgl. Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1974.

  24. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Chan-ging Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977; als deutschsprachige Zusammenfassung ders., Wertwandel in den westliehen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten, in: Klages, Kmieciak, a. a. O., S. 279 ff.

  25. Z. B. werden auch Variationen in der Ausprägung von Postmaterialismus zwischen den verschiedenen Ländern auf unterschiedliche ökonomische Entwicklungen dieser Staaten zurückgeführt.

  26. Vgl. Rainer Döbert, Gertrud Nunner-Winkler, Moleszenzkrise und Identitätsbildung. Psychische ind soziale Aspekte des Jugendalters in modernen Gesellschaften, Frankfurt 19792.

  27. Vgl. Ernst Oldemeyer, Zum Problem der Umwerung von Werten, in: Klages, Kmieciak, a. a. O., 5. 597 ff.

  28. Eine solche Strategie legt Löwenthal nahe, der eine „reformatorische Neuordnung der Normen und Institutionen auf der Grundlage der westlichen Werte, aber auf dem Niveau der heutigen Bedingungen im Großen" empfiehlt. Richard Löwenthal, Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung. Mit einer ausführlichen Einführung: Nach 30 Jahren, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1977, S. XLVI. Jetzt ausführlicher, aber mit der gleichen Grundposition in: Richard Löwenthal, Gesellschaftswandel und Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt 1979. Bei der globalen Anpassungs-und Erhaltungsstrategie bleibt undeutlich, daß die stärkste Kritik der Protestbewegung sich auf die dem ökonomischen System zugrunde liegenden Werte richtet (Arbeitshypertrophie, Leistungsdruck, materielles Belohnungssystem, Wachstumszwang etc.), im Bereich immaterieller Werte aber durch die Industrialisierung verschüttete Bedürfnisse reaktiviert werden (kommunikative, ästhetische, „ganzheitliche“ Bedürfnisse) und politische Werte wie Meinungsfreiheit, Partizipation etc. radikalisiert, nicht abgeschafft werden sollen.

  29. Vgl. z. B. Oldemeyer, a. a. O.; Hartmut Bossel, Bürgerinitiativen entwerfen die Zukunft, Frankfurt 1978; Robert Jungk, Der Jahrtausendmensch, Reinbek 1976.

  30. Vgl. dazu den Aufsatz von Oldemeyer, a. a. O.

  31. Vgl. Murphy u. a., a. a. O.

  32. Robert L. Heilbronner, Die Zukunft der Menschheit, Frankfurt 1976.

Weitere Inhalte

Joachim Raschke, Dr. phil., geb. 1938; Diplom-Politologe, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Organisierter Konflikt in westeuropäischen Parteien, Opladen 1977; Die politischen Parteien in Westeuropa (Hrsg.), Reinbek 1978; Protest. Grüne, Bunte und Steuerrebellen. Ursachen und Perspektiven, zus. mit Murphy, Rubart, Müller, Reinbek 1979.