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Das Leben des Herrn Steinberger | APuZ 12/1981 | bpb.de

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APuZ 12/1981 Zigeuner — Fremdgebliebene unter uns Das Leben des Herrn Steinberger

Das Leben des Herrn Steinberger

/ 49 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Zigeuner Lila Steinberger stammt aus einer Musiker-und Artistenfamilie. Er wurde in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft mit seiner Familie verschleppt und entging nur knapp dem Tod. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wurde er von den Sowjets gefangengenommen und erst 1950 entlassen. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Köln. In dem vorliegenden Beitrag schildert er sein Schicksal.

Nachdem ich vornahezu zwölfJahren des öfteren das Wohnlager in Roggendorf-Thenhoven besuchthatte, riefmich Herr Lila Steinberger eines Tagesin den von seiner Familie bewohnten, alten ausrangierten Eisenbahnwaggon. Wir kamen miteinander ins Gespräch. Es war der Anfang einerfesten und tiefen Freundschaft. Später besuchten wir uns gegenseitig. Es entstand eine lebendige Bindung zurganzen Sippe des Herrn Steinberger. Er besuchte mich mit seiner Kapelle, und wir musizierten zusammen. 1973 unternahm ich mit seinem Sohn eine Reise nach Frankreich zu Verwandten seiner Familie. Wir nahmen gemeinsam an Wallfahrten in Deutschland und Frankreich teil. Schließlich organisierten wir selbst mehrere Jahre hindurch für die Kölner Sinti-Sippe eine kleinere Wallfahrt zur alten Minoritenkirche in Seligenthal bei Siegburg. Die Wallfahrt lockte trotz ihres begrenzten Rahmens Sinti-Familien aus dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und aus Frankreich an. Es war auch jedesmal ein Treffen von Zigeunern undNicht-Zigeunern. Es wurde zusammen am Feuergesessen undgefeiert mit Einheimischen und Fremden, Studenten und Interessierten. Mancher bleibende Kontakt ist darausgewachsen. Eines Tages äußerte ich gegenüber meinem Freunde Lila den Gedanken, sein Leben mit seinen so erschütternden Ereignissen einmalaufzuzeichnen. Er stimmte zu. Wirsetzten uns zusammen und er erzählte mir sein Leben. Wir nahmen seine Darstellung auf Tonband auf. Bei der schriftlichen Übertragung hielten wir uns eng an die mündliche Darstellung, um Unmittel, barkeit und Intensität zu erhalten. Bei der Lektüre sollte man berücksichtigen, daß die Muttersprache des Herrn Steinberger das Romanes ist und er die deutsche Sprache als Zweitsprache erlernt hat. Wenn dabei manchmal mit den grammatischen Regeln eigenwillig umgegangen wird, sollte man dieses immer alsim Dienste der eigenständigen, unmittelbaren Aussage zu verstehen suchen. Karl Jokisch

Also Carlo, ich möchte Dir mal meinen Lebenslauf erzählen. Ich stamme aus einer Musiker-und Artistenfamilie. Mein Vater war Zigeuner, Nomade natürlich, und wir reisten in vielen Gebieten in Deutschland: Baden-Württemberg und Bayern und auch hier in Rheinland-Westfalen. Auf einer dieser Reisen kam ich 1920 in Elsaß-Lothringen zur Welt.

Wir hatten aber einen festen Stammplatz hier in Köln, und zwar bezahlten wir dort monatlich 10 oder 20 Mark für den Standplatz über den Winter. Und dann verkaufte mein Vater die Pferde, weil die ja nur unnötig Futter und Unkosten machten, und im Frühjahr kauften wir uns neue. Ich ging mit 6 Jahren hier in Köln zur Schule und habe das Lesen und Schreiben gelernt, was mein Vater nicht konnte. Und, was ich noch erwähnen möchte, mein Vater war deutscher Soldat gewesen 1914/18 bei den 14 er Husaren „Landgraf Friedrich". In Kassel war er stationiert, machte den Rußland-Feldzug mit, er war 8 Jahre Soldat, 4 Jahre aktiv, 4 Jahre an der Front; er hat auch ein Leiden sich davon zugezogen, und zwar hat er erfrorene Füße und wehe Augen.

Wir reisten hier im ganzen Bundesgebiet, wie es früher hieß: Deutsches Reich, und fanden das Leben wunderbar. Mein Vater bestritt seinen Lebensunterhalt mit Pferdehandel und Musik. Diesen Beruf mochte ich. Dann kam ich hier nach Köln zur Schule. Nun lernte ich von meinem Vater die Musik und war dann auch

Mitglied, als ich erwachsen war, mit 16 oder 17 Jahren, der Reichsmusikkammer hier in Köln. Mein Vater auch. Dann kam das Dritte Reich 1933, und da war es dann für uns schon etwas schlechter — im Anfang nicht, aber später, 1937, mußten wir dann unterschreiben, daß wir nicht mehr reisen dürfen. So wurde für uns in Köln-Bickendorf ein großer Lagerplatz errichtet. Da fuhren wir mit unseren Wagen hin, aber mit dem Reisen war es aus. 1938 fing es dann schon an, daß wir verfolgt -wurden, eigentlich schon 1937. Dann kamen mein Bruder und verschiedene andere Stammesbrüder; weil sie nicht nachweisen konnten, von was sie leben, nach Oranienburg bei Berlin. Mein Bruder war jedoch nicht asozial, er machte Körbe und Blumentische, die er natürlich verkaufte, aber er ließ sich nichts Schriftliches geben, und dadurch konnte er nicht nachweisen, von was er lebte, und deswegen kam er dorthin. Mein Vater sagte dann: „Hier in diesem Lagerleben, da ist es zu unsicher. Am besten ist, wir nehmen uns eine Wohnung." Also hat mein Vater eine Wohnung fertiggestellt in Köln, Agrippastraße 64, Altstadt. Eines Tages wollte ich meine Beiträge bezahlen bei der Reichsmusikkammer. Aber wir wurden nicht mehr dort in Betracht gezogen als Musiker. Uns wurde gesagt, wir müßten was Besseres tun, Musik wäre keine Arbeit.

Dann mußten wir am gleichen Tag noch zum Arbeitsamt gehen. Die wußten schon Be-B scheid, als wir dort ankamen, und wiesen uns dann eine Arbeit zu. Ich kam zu der Firma Schwärm & Lange, Hcch-Tief-Eisen-und Betonbau. Mein Väter kam zum Reichsautobahn-Straßenbau der Firma Simon Wassermann, oder so ähnlich hieß diese Firma damals. Nun führten wir ein geregeltes Leben, so wie jeder deutsche Bürger. Wir gingen pünktlich und regelmäßig arbeiten, auch mein ältester Bruder, dessen Frau kurz vorher gestorben war. Dessen drei Kinder, die mit uns zusammenwohnten, zog meine Mutter groß. Wir fanden das, weil es keinen anderen Ausweg mehr gab, für gut, dat mer so arbeiteten, anders gings ja auch nicht, was sollte mer machen. Hauptsach, wenn mer in Ruhe gelassen wird.

Dann kam die Kristallnacht 1938, und kurz danach fing es dann auch an mit den Zigeunern. Lokale, wo mer verkehrten, auch unser gutes Geld hinbrachten, wurden mit einem Schild belegt: „Für Juden und Zigeuner das Betreten des Lokals verboten!" Aber die Wirtin selber, die hatte nichts dagegen, wenn wir trotzdem unser Bier tranken. Nämlich sie tat uns nichts, sie hat uns auch gesagt, die Bierbrauerei hat das gemacht.

Danach war es für uns schon etwas schlechter. Der Bruder befand sich immer noch im KZ in Oranienburg. Ich war noch bei dieser Firma: Am Anfang kam ich nicht gleich an die Schaufel, weil der Polier Verständnis für mich als Musiker hatte. So mußte ich dann mit zwei Kollegen, deutschen Kollegen, Loren drücken und Beton aufkippen. Das tat ich sehr gut, und deswegen erhöhte sich mein Lohn von 66 Pf oder 68 Pf, ich bekam als höchsten Stundenlohn nachher 72 Pf. Ich verdiente bei 481/2 Stunden an die 35 Mark. Anno dazumal war das schönes Geld. Und man konnte sich was dafür kaufen. Auf dieser Baustelle, Ehrenfelder Gürtel, wurden die Bahnbogen von der Bahn, wo der D-Zug darüberraste nach dem Nord-Bahnhof, zubetoniert, weil da schon irgendwie was im Gange war mit dem Kriege. Und das sollte dann schon nicht gleich in Stücke zerrissen werden, deshalb wurde diese Brücke zubetoniert Wir waren so ca. 80 bis 120 Mann, und ein großer Bogen war unser Umkleideraum, in dem wir uns auch zur Kaffee-pause und zum Mittagessen aufhielten. Es fehlte immer etwas, Lebensmittel, Zigaretten-papier, Tabak und dergleichen, und ich als einziger Zigeuner wurde dann immer von oben bis unten, von der Seite angeschaut; das war mir so lästig und so peinlich; aber ich mußte mir dies eben gefallen lassen.

Aber eines schönen Tages war Freitag, und ich bekam dann Geld. Kurz vor Feierabend. Der Bauführer Schöller kam mit dem Motorrad und brachte das Geld. Ich fuhr mit dem Rad über den Ehrenfelder Gürtel bis nach Köln, Agrippastraße. Das war ein schöner Weg. Aber so weit kam ich nicht, ich hatte einen Plattfuß am Fahrrad; da habe ich mich auf die Brücke hingesetzt und hab das Rad geflickt. Auf der Baustelle war kein Mensch mehr. Ich fuhr und sah dann aufm Boden eine Lohntüte liegen. Ich war schon ein Stück vorbei; aber als ob mir einer jesagt hätte, da muß doch noch was drin sein, fuhr ich wieder zurück und fand eine volle Lohntüte. Und diese Lohntüte war ausgerechnet, wie durch einen Zufall, von meinem Arbeitskollegen, der mit mir zusammen arbeitete an der Betonmaschine. Aber ich konnte ihm das Geld am Freitag nicht bringen, weil, auf der Tüte keine Anschrift draufstand und ich nicht wußte, wo er wohnte. Ich mußte das Geld festhalten bis Sonnabend, da wurde nur einen halben Tag gearbeitet. Und morgens früh kam der Müller, so hieß er, der Arbeitskollege, und er hatte ein sehr trauriges Gesicht, als wenn es am regnen wär. Ich ging zu ihm und fragte: „Müller, fehlt Dir was, bist Du krank?“ „Nein“, sagt er, „ich bin nie krank, sondern mir ist was Trauriges passiert. Ich habe gestern das Geld mitgenommen von der Baustelle, ich habe es eingesteckt. Und als ich nach Hause kam und der Frau das Geld geben wollte, da war es nicht mehr da!“ Ich ließ ihn noch’ne Weile zappeln, weil ich ja jung war. Ich wollte nur mal schauen, was er macht, und da sagt er: „Am schlimmsten is es ja, daß meine Frau schon alles im voraus sich hat aufschreiben lassen, die Lebensmittel..., und jetzt bricht auch noch die Miete herein und das Wasser und der Strom sind zu bezahlen, und jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich anfangen soll. Ich muß jetzt den Gürtel enger schnallen, kann mir nichts mehr erlauben". Daraufhin nahm ich die Lohntüte und wollte sie ihm überreichen und sagte: „Ach Müller, wissen Sie, mein Vater arbeitet, mein ältester Bruder arbeitet, es geht alles in einen Topf, wir haben zu Hause zu essen. Da will ich Dir aushelfen. Hier hast Du meine Lohntüte“. Aber er war sehr anständig, er wollte diese Lohntüte von mir nicht haben, obwohl es ja seine war, aber das wußte er noch nicht. Und er sagte: „Nein, das kommt gar nicht in Frage, lieber lasse ich mich verhungern. Das dulde ich nicht, Du hast dafür schwer gearbeitet, das kommt gar nicht in Frage." Dann sagte ich ihm: „Schau mal wenigstens, was auf dieser Lohn-tüte draufsteht." Er nahm die Lohntüte. Mindestens eine Minute konnte er nicht mehr antworten und machte die Lohntüte auf und — nahm ein Trinkgeld raus, das wollte er mir absolut geben, es waren zwei oder drei Mark, damals war das viel. Ich wollte es nicht anneh19 men, aber er sagte zu mir, ich wär sein Freund nich mehr, wenn ich das nicht mache. Und dann hat er mich festgehalten und hat mir das in die Tasche geschoben. Für mich war der Fall erledigt; er hat sein Geld und ich war froh, daß es so gekommen ist, denn er war ein guter Mann.

Und was war für mich dann das Ende? Um neun Uhr hatten wir Kaffeepause; in diesem Bogen; da saßen so ungefähr an die 70, 80 Mann. Er stand auf und stellte sich dort auf eine Bank und schrie dort in den Raum: „Kameraden, alle mal herhören! Mir ist was Peinliches gestern passiert. Ich habe vom Bauführer das Geld bekommen... Und erzählte dann diese ganze Geschichte, daß seine Frau schon alles hat aufschreiben lassen und all dieses und die Miete und der Strom, und er wäre beinah einem Nervenzusammenbruch nahegewesen und hätte sich nicht mehr zu helfen gewußt. „Und heute morgen kam ein ehrlicher Finder und gab mir dieses Geld. Er wollte es mir schon gestern geben, aber er wußte nicht, wo ich wohne, und hat es mir heute morgen gegeben. Also, Kameraden, ich möchte keinen von Euch in Zweifel stellen, aber es wäre vielleicht nicht verwunderlich gewesen, Ihr hättet mir das Geld nicht mehr zurückgegeben. Aber ich will Euch jetzt sagen, wer der ehrliche Finder hier unter uns ist. Dort sitzt er!", und zeigte mit dem Finger auf mich. Und alle, alle waren erstaunt. Jetzt fielen von mir all diese Verdächtigungen — Zigarettenpapier, Tabak und alles, was noch dazu gehörte, Butterbrote und was da noch entwendet worden ist, war mit einem Schlag von mir alles weg. Und die waren alle freundlich zu mir, alle Arbeitskameraden. Ich gehörte dann zu einer Gruppe, sieben Mann stark, zur Elite, wegen der guten Arbeit. Wir entluden auch Sonnabends die Waggons mit Zement. Ich hab mir die Schulter wundgescheuert und die Fingerspitzen. Das möchte ich nur mal erwähnen, was das für eine Arbeit war, bei der Firma Schwärm & Lange.

Weil ich nun diesem Mann das Geld zurückgegeben hatte, ließ mich der Chef von Schwärm & Lange zu sich rufen. Als ich dort oben hinkam, war da ein Sekretär, der war nicht so ganz besonders, aber jetzt war er freundlich mit mir. Ich mußte dann ein Augenblick Platz nehmen, dann nahm mich der Herr Schwärm in sein Büro und überreichte mir eine Zigarre und fing an: „Wir haben festgestellt, Herr Steinberger, Sie sind von Beruf Musiker, und — zeigen Sie mal Ihre Hände.“ Natürlich waren meine Hände mit Schwielen bedeckt, die Finger waren mehr viereckig als rund vor lauter Horn. „Wir haben uns gedacht, Ihnen eine leichtere Arbeit zu geben, damit Sie auch noch ein bißchen üben können.“ Ich sagte: „Ja, die Musik ist mir verboten worden, darf ich nicht mehr machen. Zu Hause, für mich privat, fänd ich das sehr schön, aber, Herr Schwärm, ich werde diese Arbeit wahrscheinlich nicht annehmen. Diese leichte Arbeit Wenn ich schon arbeite, muß ich auch was verdienen. Ich verdiene jetzt den höchsten Stundenlohn, 72 Pf, und bei einer leichten Arbeit werde ich das vielleicht nicht verdienen". Herr Schwärm war ein sehr gutmütiger Mensch und sagte zu mir: „Sie bekommen denselben Stundenlohn.“

So wurde ich als Vertrauensmann eingesetzt, eine schöne Arbeit: Ich mußte die kaputten Werkzeuge, Schaufeln und Spaten auf den Baustellen einsammeln und zur Schmiede bringen. Dort wurden sie wieder hergerichtet Dann habe ich sie wieder auf die Baustellen gefahren, dort, wo sie gebraucht wurden, und Nägel und Draht und alles mögliche. An manchen Tagen war fast gar nichts zu tun, und so könnt ich es aushalten. Da hätt'ich alt werden können. Jetzt war aber folgendes: An einem schönen Tag bat ich die Firma, sie möchten doch einer Familie helfen. Da wäre nämlich die Familie meines Bruders, eine Frau und vier Kinder. Die würden in der Nähe von uns wohnen, auch in Köln, Agrippastraße, und die Mutter wüßte nicht mehr, wie sie sich helfen soll, weil ja kein Mann mehr da ist; und die Arbeit, die dort in Oranienburg gemacht wird, wo mein Bruder sei, wäre doch vielleicht nicht so nützlich wie diese Arbeit, die wir hier in den Städten machen. Mer brauchen ja hier Luftschutzkeller, bauen Brücken und alles Mögliche. Das wäre doch von großem Nutzen, wäre wichtiger. Und mein Bruder sei ein großer, starker Mann, der für zwei arbeitet und noch besser wie jeder andere. Sagt er: „Herr Steinberger, wir machen das folgendermaßen: Der braucht nicht mehr zu arbeiten als Du geleistet hast.“ Sage ich: „Und das kann er, weil er viel stärker ist. Und dann wäre dieser Familie geholfen. Ich bitte Sie ganz inbrünstig, Sie haben doch Einfluß!" Er sagte, er will sich Mühe geben und versuchen, ihn dort rauszukriegen. Eines schönen Abends, als ich von einem kleinen Sparziergang nach Hause kam, waren noch alle wach. Als ich kam, haben sie das Licht ausgemacht, und ich kam da hinein, und da saß jemand, ich wünschte ihm guten Abend, da sagte die Mutter: „Schau mal, wer das ist". Und dann hab ich ihn gesehen, da war mein Bruder. Also hab ich, mußte ich mich bei dieser Firma herzlich bedanken. Nun ging das Leben sauber und schön vorwärts. Er arbeitete bei uns und machte viele Überstunden, bei ihm gab s überhaupt keine Pause. Pünktlich und regelmäßig, auch wenn sonntags gearbeitet wurB de, war er am Arbeitsplatz. Er war ein sehr, sehr tüchtiger Arbeiter. Der Polier sagte zu ihm: „Ja, Herr Steinberger, Sie verdienen ja soviel wie ich auch", weil er so viele Überstunden machte, und es klappte, und es klappte.

Wir führten ein bürgerliches Leben, so wie jeder andere Kölner hier in der Stadt. Aber eines Tages passierte etwas: Das war im Maimonat, am 15. Mai. Wir wollten gerade morgens raus-rücken. Mein Vater und meine Mutter und zwei Brüder und ich. Aber weit kamen wir nicht, denn da waren Leute von der Geheimen Staatspolizei, die uns den Auftrag gaben: „Heute braucht Ihr nicht mehr zu arbeiten, packt Eure Sachen, und gleich geht es weiter!" Ja, wohin, das sagten sie nicht. Das war 1940. Wir durften nur ganz kleine Päckchen mitnehmen, und da blieben von meinem Vater zehn wertvolle Geigen, er war ja Musiker und Geigenhändler, und ein Kontrabaß und eine wunderbare Wiener Baß-Laute, das durften wir alles nicht mitnehmen, nur Kleinigkeiten. Löffel sowie Teller und Ofen und Schränke und Stühle, alles wurde notiert. Uns wurde gesagt: „Dort, wo Ihr hinkommt, wird alles nachgeschickt. Wäre dumm, wenn Ihr jetzt alles einpacken würdet. Laßt alles liegen, wir schicken Euch das alles nach.“ Das glaubten wir, aufs Wort.

Wir kamen dann in die Hallen dort am Rhein, die Messehallen. Wir mußten unsere Kleider, die wir am Leibe trugen, in Tragkörbe geben _ vielleicht, daß die in den Kleidern rumsuchten, nach Wertsachen. Das Schlimmste und das Ordinärste, was man einem Zigeuner antun kann, ist, vor den Kindern und vor der Frau sich nackt sehen zu lassen. Wir kauerten uns alle auf einen Haufen zusammen, und das machten auch die Frauen, und die Frauen haben geheult, auch wir Männer weinten. Danach bekamen wir unsere Kleider wieder und konnten uns anziehen. Dann wurden wir einquartiert in Köln; in der Severinstraße war ein großes Haus, es nannte sich Vereinshaus. In diesem Hause befand sich noch nicht mal ein Stuhl, ganz zu schweigen von Tisch und Bett; es hatte sehr viele Zimmer. Dorthin kamen alle Zigeuner aus Rheinland-Westfalen. Die brachte man alle dort hinein. Etwas Brot, etwas Lebensmittel haben wir uns mitgenommen für die Kinder. Dort blieben wir drei Tage. Dort führte ich auch ein Gespräch mit einem Kriminalen mit Namen Jupp. Dieser Mann erklärte uns, dort, wo wir hinkommen würden, da wäre kein Krieg, da wäre es schön frei für uns, und wir können dort tun und lassen, was mir wollten, wir wären eine große Familie, und wir bekämen dort eine Kuh, damit die Kinder Milch hätten, ein kleines Häuschen. Das erste Jahr bekämen wir zu essen, das zweite Jahr müßten wir selber anbauen. Und so haben sie uns betrogen und belogen.

Und dann ging dieser Transport nach Polen, Lageroff hieß das, an der russischen Grenze, und da war ein Fluß mit dem Namen Bug. Dort wurden wir in eine Remise zusammengepfercht und wußten überhaupt nicht mehr, was wir tun sollten. Denn Lager waren damals in Polen noch keine vorhanden. Da wurden wir dann eingeteilt und kamen nach Lublin, und da haben wir dann mithelfen müssen. Dann wurde noch ein Lager errichtet, und das war in Belcec. Dieses haben wir auch mit bauen müssen und aufräumen und einrichten müssen. Und dann kamen wir wieder zurück, es war ein Jahr vergangen. Es war dann 1941, kurz vor der Invasion der deutschen Wehrmacht. Wir wurden für den Straßenbau herangetrieben, Arbeitsfrontlager. Bei dieser Arbeit wurde ich dann auch noch verletzt. Ich arbeitete mit meinen zwei Brüdern und noch zwei Männern aus Hamburg, auch Zigeuner, an einer Steinschlägermaschine. Die Steine mußten polnische Leute und Schulkinder — denen war es nicht mehr wichtig, in die Schule zu gehen, alle mußten mitarbeiten — auf den Feldern in Körbe sammeln und an die Straße bringen. Da war ein Pole, der hatte ein Panjewagen mit einem Pferd, und der mußte diese Steine zu dieser Steinschlägermaschine karren. Eines Tages kam dieser Pole nicht, weil er nämlich noch sein Feld zu bestellen hatte — es war schon Mai. Da gingen sie hin und steckten dem Mann das Haus an, das brannte ab. Da mußte der Mann mit seiner Familie so ungefähr an die 25 oder 30 km weiter bei seinem Vater hausen, und der Panjewagen, der wurde ihm abgenommen, den fuhr dann ein anderer Pole. Bei der Arbeit an der Maschine wurde ich verletzt. Ein großer Stein sprang oben aus der Steinschlägermaschine und fiel mir auf den Daumen mit großer Wucht; diese Narben habe ich ja heute noch. Zufällig war der Scharführer dabeigewesen, und der sagte mir, ich soll nach Korniza in das Dorf laufen, da wäre ein Arzt von der Wehrmacht. Dort wurde ich dann verbunden. Die Wehrmacht kam Tag und Nacht, Tag und Nacht rollten die Wagen und die Panzer. Da sagten selbst die Soldaten: „Jetzt geht es los mit Rußland!"

Wir kamen an einem Friedhof vorbei, da nahmen sie auch die Grabsteine; alles, was aus Stein war, haben sie zusammengerafft. Der Scharführer sagte: „Am 15. Mai muß diese Straße fertig sein, sonst gibts Genickschuß.“ Und da kannst Du Dir vorstellen, wie wir gewühlt haben. Alle arbeiteten: Jugendliche, Po-21 len und Zigeuner. Dann war die Strecke fertig-gelegt, schätzungsweise vielleicht 60 km.

Ja ja, nun da war ein Jude am Steinhaufen, der Steine schlagen mußte, und da kam ein Vorarbeiter, ein Deutscher aus Württemberg. Die Firma war nämlich — Kirchhoff hieß diese Firma — aus Württemberg. Der Vorarbeiter wollte, daß der Jude da tüchtig reinschlägt mit dem Hammer; und der Jude konnte nicht mehr, weil er so krank war und so verhungert; und da preßte er ihm seinen Kopf in diesen Steinhaufen und nahm einen größeren Stein und schlug obendrauf, daß das Gehirn ihm aus dem Kopf quoll. Und wir zitterten am ganzen Körper. So etwas Unmenschliches anzuschauen!

Dann rollte die deutsche Wehrmacht, rollte und rollte. Ich war erstaunt; wie ist das möglich? Wo können die überhaupt noch hinfahren? Da müssen sie ja zweite und dritte Etagen bauen? So viele Menschen! Und eines Morgens, das war so ungefähr um halb drei, drei Uhr — um drei Uhr war es schon hell — da kam ein Fieseler Storch, ein Flugzeug, das lange Ausfahrbeine hatte, der flog über das Dorf und machte einen Höllenlärm. Wir wurden alle wach. Er landete auf einer provisorischen Notlandebahn direkt vor der Bucht und schoß Leuchtkugeln. Diese Kugeln haben wir gesehen, weil wir alle rausrannten, und als das passierte, ging es los. Nur noch ein Brausen und ein Getöse von Kanonen und Einschlägen. Sperrfeuer auf die andere Seite von der Bucht. Und das dauerte von drei Uhr morgens bis nachmittags in einem durch, ununterbrochen. Und dann rollten sie. Aber die fanden da drüben, wie die Soldaten uns erzählten, überhaupt keinen Widerstand. Da standen noch Züge mit Lebensmitteln und so Sachen. Die Soldaten, die hatten keine Absicht, sich irgendwie zur Wehr zu setzen, und dann marschierten sie am ersten Tag schon 36 km weit nach Rußland hinein, ohne auf Widerstand zu stoßen.

Uns brachten sie nach Radom, weil wir hier nichts mehr zu suchen hatten. Radom war ja Operationsgebiet. Dort wurde ich zur Aufräumungskolonne eingeteilt; meine zwei Brüder kamen zum Flughafen zur Arbeit; die Zigeuner wurden alle dort beschäftigt. Wir waren nicht direkt mit Juden zusammen, hatten aber ein Ghetto zusammen mit den Juden, nur eine Wand war dazwischen. Wir durften mit diesen dort nicht in Verbindung kommen. Dann kamen wir in eine Fabrik, stellten Waffen her, Maschinenpistolen und Karabiner, Munition nicht. Munition wurde in Bionki gemacht. Der Direktor von diesem Werk aus Österreich stellte fest, daß wir alle Musiker sind. Da nahm er uns diese Arbeit weg und gab uns eine Arbeit in der Scharfschleiferei, weil Musiker ge. schickte Hände haben. Aber ich kann Dir nur das eine sagen, es war keine schwere Arbeit, aber es war eine Präzisionsarbeit, und die war nicht ungefährlich; denn wenn man das nämlich nicht richtig brachte, wie es sich nun ge. hörte, dann konnte das als Sabotage hingestellt werden’. Es waren solche kleine Spiralbohrer, wie Streichhölzer so dick, und wenn man daran sehr drückte, war der ganze Bohrer hin. Das war hauchdünn alles nur, hauchdünn. Nachher war ich einer von den besten Arbeitern. Der Betriebsleiter, der war schon vor dem Kriege da, der konnte auch deutsch, der sagte zu mir, wenn ich vor dem Kriege bei ihm gearbeitet hätte, wär ich ein sehr gut bezahlter Mann gewesen, weil ich diese Arbeit so gut mache.

Dort verblieben wir mehr als ein Jahr. Aber es ist dann auch dort etwas passiert. 1943 fingen sie an mit der Totalvernichtung von Juden und Zigeunern; sie nahmen hier aus Radom über 120 oder 130 Personen, Frauen, Kinder und Männer, und sperrten sie ein. Da war eine Familie, die hatte 14 Personen: Töchter und Söhne, Schwiegertöchter, Schwiegersöhne und Enkelkinder. Keiner blieb von diesen am Leben, nur die zwei alten Leute, Vater und Mutter, weil nämlich der Vater bei uns im Werk war, blieb er verschont. Und wir blieben verschont, weil wir tüchtige Arbeiter waren; die konnten «ie nicht ersetzen. Wir durften am Leben bleiben, aber die anderen wurden in einen großen Wald gefahren, dort haben die ihr eigenes Grab schaufeln müssen. Es war meine Tante, es war mein Onkel, der Onkel von meinem Vater, Cousine und Cousins, es waren viele Angehörige. Und die mußten ihr Grab schaufeln, dann wurden sie erschossen unten in diesem Wald und dort verscharrt.

Und der Mann, dem die 14 Angehörigen fehlten, die Familie, der wurde wahnsinnig. Er lief rum, draußen, und fragte und fragte; er konnte perfekt polnisch, und da war es für ihn eine Leichtigkeit, die Leute zu finden. Nach zwei oder drei Tagen, da fand er ein kleines Bauernhaus, ging dort hin und fragte. Ein Mann sagte ihm: „Ja, es war morgens so gegen drei oder halb vier, da fuhren vier Lastwagen, drei Lastwagen voll Menschen und ein Lastwagen voll Polizei und Soldaten. Und dann fuhren sie in den Wald, und nach einer Weile habe ich auch viele schreien gehört und Weinen und Lärm und, und — auch viele Schüsse." Und dann ging er dorthin, und da sah er nur noch dieses Grab. Er sammelte dort ein, Tag und Nacht. Da waren Löffel, da waren Fetzen von den Kleidern, Knöpfe, Haarspangen und andere Kleinigkeiten. Die sammelte er alle ein und brachte sich nach Radom und zeigte sie uns. Und viele erkannten diese kleinen Utensilien. Da wußten wir Bescheid, was los war.

Dann haben sie uns wieder aus dieser Fabrik rausgenommen und uns weggebracht, aber nur die Arbeiter. Wir sollten auf der anderen Seite von der Weichsel alles abrasieren, was dort nur steht an Weiden, Hecken und an Bäumen, damit, wenn es losgeht, wann die Russen kommen, die keine Deckung da drüben haben.

Und das haben wir dann auch gemacht. Wir hatten dort ein Zeltlager aufgebaut, bewacht von Polizei und Soldaten. Unterwegs, das möchte ich Dir noch erzählen, da kam dieser Transport. Bei einer Brücke hielten sie an und tankten Wasser. Da sprang ein polnisches Mädchen vom Auto und lief. Da rief der Schar-führer: „Halt, stehenbleiben!" Und das Mädchen hörte nicht, da schoß er eine Garbe, und das Mädchen lag dort unten am Bach auf der Wiese ausgestreckt und tot. Als ob es ihm ganz gleich gewesen wäre, wir waren erstaunt! Drei Tage waren wir dort, haben auf der anderen Seite ziemlich alles abgehackt und abgesagt, und dann wollten wir morgens wieder rausrücken, da schossen die von der anderen Seite. Entweder waren es Partisanen oder die Russen. Da bauten die alles ab und machten sich dünn. Granaten schlugen ein, einige, aber dann hörte es gleich wieder auf. Die deutsche Wehrmacht und die SS-Division habe ich auch gesehen, die gingen nach vorn, aber es kam keine Antwort mehr, da nahmen sie uns mit auf die Lastwagen und brachten uns wieder nach Radom. Aber Radom war auch schon wieder Operationsgebiet, und alle Deutschen, die dort wohnten, mußten gehn. Und da haben sie uns auch eingepfercht und brachten uns nach Tschenstochau, da war wieder ein Lager. Wir rückten morgens raus und bauten Bunker, Schützengräben, alles mögliche. Wir waren vorwiegend im Wald und sägten die Bäume ab; was da für ein Schaden gemacht wurde, das ist nicht zu beschreiben.

Dann machten sich die Soldaten auf den Weg für den Rückzug. Und natürlich, wir blieben dort, uns befreiten die Russen. Ja, und wir zogen dann immer hinterher. Ein Junge von uns, ein kleiner Junge, der blieb zurück, und deswegen haben wir die anderen verloren, da waren die nachher ganz allein. Der Junge war bei Bauern, hatte sich hingesetzt und hat die Füße wund gehabt. Da hat mein Bruder ihn auf die Schultern genommen und hat ihn getragen. Wir trafen die anderen nicht mehr. Wie ich später erfuhr, hatten die sich in Tschenstochau versteckt in leeren Wohnungen, und wir, wir wußten nicht wohin. Da habe ich nachher noch meine Mutter verloren bei einem Angriff deutscher Flugzeuge.

In der Nähe stand ein Gebäude, da waren Lebensmittel drin für das ganze Gouvernement Polen, und da fuhren sogar Züge hinein, und das war gestoppt voll von oben bis unten, alles mit Lebensmitteln. Sachen, die man draußen niemals hätte erlangen können; da drin war Schokolade in Dosen, ja, und das wollten die Deutschen nicht hergeben, und dann kamen sie und bombardierten und beschossen alles von oben runter; damals lag Schnee, und da haben wir uns drunter verkrochen. Und die Garben, die schlugen bei uns ein; alles was sich bewegte, da haben die draufgeschossen. Danach nahmen wir uns einen Wagen, auf den schmissen wir alles drauf, auch die Kinder hatten noch Platz. Und ich hörte von einer Kutsche, die stand drüben auf einem Hof, da lief ich rüber und nahm die zwei Pferde und spannte die an. Jetzt hatten wir ein Fuhrwerk. Jetzt konnte uns nichts mehr stören, dachte ich. Es war aber der Untergang, Carlo. Wir kamen dann bis auf diese Panzergrabenholzbrücke, Notbrücke, und dort, dort standen die Russen und wußten nicht, was mit der Brücke los ist, ob die nun jetzt hochgeht, und dann gingen wir darüber. Davor lagen aber zwei Panzer, das haben wir selber gesehen, die waren von Kosaken, die bei der deutschen Wehrmacht geholfen haben, in die Luft gesprengt worden. Da wußte der dritte deutsche Panzer, daß dies von einem Hinterhalt kommt, von einem Haus, und der Panzer schoß mit Brand-munition in dieses Haus, da ging es in Flammen auf, diese Scheune, und die Kosaken dort sprangen auf die Pferde, aber das Maschinengewehr vom Panzer schoß noch ein Pferd weg. Und natürlich sind durch diesen Beschuß unsere zwei Pferde wild geworden. Wir haben gerufen: . Alles runterspringen!" Da sind die Kinder und alle runtergeflogen und mein Bruder, der fiel auf den Boden, alles verfroren und spiegelglatt. Ich hatte noch so KZ-Schuhe an, unten mit Holz, und das rutschte wie Ski weg; für mich war es nicht mehr möglich, da noch etwas zu machen, man war machtlos. Der andere Bruder, der flog zwischen die Pferde, hing am Rad, der wurde mitgeschleift, und dann habe ich gerade noch den einen Sohn von meinem Bruder fangen können, sonst wäre der auch noch draufgeblieben. Alles, was wir hatten, alles, was wir besaßen — wir hatten noch Lebensmittel, die wir unterwegs gefunden hatten —, alles war weg. Decken, alles war weg. Der Wagen, der war zusammengebrochen, und die Pferde, die wurden dann von polnischen Soldaten geschnappt, und da waren die auch weg.

Wir kamen dann an einer Kaserne vorbei, die war von den Deutschen. Da habe ich zu dem einen Jungen gesagt: „Wir gehn da rein und wollen versuchen, daß wir dort vielleicht ein paar Decken kriegen. Vielleicht liegt noch was drin.“ Da haben die Polen uns gewarnt, da sollten wir nicht reingehen; es sei alles beschlagnahmt von den Russen. Ja, was nutzte das alles, wir mußten doch was zum Zudecken haben, es war Januar, 28/30° Kälte. Und dann gingen wir dort hinein und haben Decken rausgenommen, mehrere Decken, und fanden auch noch Karnickelfelle, aus denen Handschuhe und Ohrenschützer gemacht wurden. Davon nahmen wir auch noch ein paar mit und damit haben wir die Kinder verkleidet. Da sahen die Kinder aus wie Eskimos, so etwas, so ein Bild gibt es ja gar nicht mehr, so armselig sahen sie aus, Carlo, und dann alles Lumpen, Hosen von großen Männern haben wir unten abgeschnitten und haben sie unten mit Schnüren zugebunden, Schuhe, solche, die wir gefunden haben, alles haben wir ihnen angezogen, damit sie uns nicht erfrieren.

Und dann gingen wir zu Fuß, Carlo, in dem Schnee, und dann kamen wir in Oberschlesien an, in Oberschlesien! Diese Strecke von da bis dort, das kann man alles so schnell erzählen, dauerte aber Wochen! Das dauerte ja Wochen, bis wir dort ankamen. Was wir dann alles dazwischen mitgemacht haben! Da haben wir einen General im Schlitten und seine Armee mit Pferden getroffen, das waren sehr wahrscheinlich Kosaken. Der General, der lachte sich einen schiefen Bauch über die Kinder! Wie ist das möglich, waren ja auch mehrere Kinder, waren ja an die 12/13, wenn nicht mehr.

Kamen ab und zu auch wieder die deutschen Flugzeuge, die schossen auf die Russen, da mußten wir immer von der Straße weg und unter die Bäume und Eis und Schnee, das flog in der Luft herum. Ein Kradfahrer, der kam, ein Russe, und wir stellten uns unter einen Baum, der war gerade richtig, sonst wären wir vielleicht drangewesen, und der fuhr mit dem Motorrad. Da schoß das deutsche Flugzeug auf ihn, er stürzte vom Motorrad, ist ihm aber nix passiert, er hat sich in den Chausseegraben reingerollt, in den Schnee, und dann fing er noch an ... also wir wären deutsche Schweine. Ja, und wir gingen immer weiter.

Jetzt waren wir in Oberschlesien, da habe ich zu meinen Brüdern gesagt, hier können wir uns doch wenigstens mit den Leuten verständigen, nicht? Hier kann man doch etwas verlangen, hier kann man doch was sagen. Wir hatten ja vor, bis Frankfurt an der Oder zu kommen, dort bleiben und versuchen, etwas zu arbeiten, bis der Krieg beendet ist, dann gehen wir weiter nach Köln. Denn wir haben schon im Lager damals vereinbart, sollte jemand von uns hier lebend raus kommen und werden wir auseinandergerissen, eine Gruppe geht da und eine Gruppe geht dort. Die frugen ja nicht, ist dies ein Verwandter, ist das der Vater? Dann treffen mer uns in Köln, das ham mer vereinbart. Gut! Und in Frankfurt, da wollten wir dann vorübergehend bleiben.

Abends kamen wir in ein leeres Haus. Da drin waren Kohlen und Holz, und ein Ofen war da drin, den haben wir angemacht, hm, hatten wir uns noch so Hindenburglichter organisiert, die haben wir auch angemacht, Kartoffeln dort gekocht. Es wurde morgens. Wir beeilten uns mit aller Kraft, damit wir nach Frankfurt konnten obwohl in manchen Städten noch Widerstand geleistet wurde. In Beuthen z. B., in Hindenburg, da wurde noch schwer geschossen. Aber wir wollten jetzt endlich mal frei sein und hier raus. Ich und mein Bruder gingen als erste aus dem Haus, morgens, und standen schon auf der Straße. Carlo, und das war das Unglück! Denn wären wir nur eine Minute noch in dem Haus geblieben, wären die zwei Russen mit den Gefangenen, die sie bei sich hatten, vorbeimarschiert. Ja, das waren Zivile, die sie dort aus diesen Häusern festnahmen. Ja, und wir dazu. „Also dawai, dawai! 1', ja, wir sollten uns dort anschließen. Hab ich zu dem Russen gesagt: „Ja, wir gehören ja garnicht dazu, wir kommen aus dem Lager! Nich? Ihr Russen habt uns ja befreit, wollt Ihr uns wieder festnehmen?" Der verstand das nur nicht, und da sagte der Deutsche, der Oberschlesier: „Das könnt Ihr denen gar nicht klarmachen. Am besten, Ihr kommt mit, und das sagt Ihr dem Kommandanten." Da gingen wir mit. Wir haben aber nicht verraten, daß da noch mehr drin sind in dem Haus, sonst wären die ja auch noch mit dabeigewesen, verstehst Du? . Jetzt komm mal mit," sagte ich zu meinem Bruder, „der versteht bestimmt Deutsch, der ist ein Dolmetscher, der wird uns ja dieses und jenes sagen.“ Na schön, wir gingen mit. Diese zwei brachten uns aber nicht zum Kommandanten, sondern die brachten uns zum Güterbahnhof, in Toss war nämlich ein Gleis, und dort, Carlo, waren Fässer, verstehst Du, solche großen Fässer, und da war Monopol-Spiritus drin, 96 %igen Schnaps und Wodka war da drin! Ein Lastwagen kam und holte fünf neue Fässer. Aber jetzt, wo bleibt denn da ne Pumpe? Nix da! Wir bekamen einen Eimer und einen Draht. Ich war der Jüngste, ich mußte da oben hin. Da war eine Plattform, wo ich mich draufstellen konnte. Da drin, Carlo, wenn ich dort reingestürzt wäre, wäre ich weggewesen, so tief war das, nich? Ja, da waren so 10 000 Liter drin. Jetzt kannst Dir vorstellen, Carlo, wie das damals war: Mit dem Eimer, ein scharfer Wind, und die Gefangenen mit dabei. Ich war dort oben und tauchte diesen Eimer dort hinein, nahm ihn raus, so weit konnte ich mit dem Arm überhaupt nicht reichen, weil der Ballon, das war doch ein Waggon, da mußte ich diesen Eimer an der Seite runterrutschen lassen. Wir alle waren am Zittern vor Kälte, auf so einem Gleis, da ist es noch kälter. Es wurde stockfinster, wurde Nacht, Carlo, bis diese fünf Fässer voll waren; es waren solche große Fässer, und es dauerte eine Ewigkeit mit dem Eimer, und mindestens drei Viertel ging daneben!

Da kam einer der Jungens aus dem Haus, der wollte nach uns sehen. Den haben sie auch festgenommen, den Jungen. Ich ging zu diesem Offizier und hab ihm gesagt, der Junge, der wär krank. Der konnte etwas Deutsch, der Offizier. Der Junge hätte auch keinen Schal und nichts, der gehöre auch nicht zu uns, der ist ja noch zu jung. Der soll nach Hause gehen und sich nen Pullover anziehen, und einen Schal, dann kommt er wieder. Da ließ er ihn wieder laufen, der Junge wußte nun, wo wir sind, verstehst Du? Uns haben sie in ein Gefängnis gebracht, da waren noch mehr Gefangene.

Die Menschen dort waren anständig. Die sagten, hier haben wir zwei Zigeuner, die sind hier unschuldig drin — das waren ja Soldaten —, die haben nichts zu essen, und da gaben uns diese was zum Essen. Und morgens früh, Carlo, da wurde der Transport aufgestellt. Die Frauen und die kleinen Kinder, die standen ja dort, und der Offizier, der sahs doch, daß wir nicht dazugehörten, trotzdem nahm er uns mit. Der hatte einen Marschbefehl, mußte uns nach Gleiwitz bringen. Gut. Ich hatte überhaupt nichts bei mir, da durfte ich ihm seinen Koffer tragen, von dem Offizier und von einem Soldaten. Unterwegs machten wir Rast, das war so ungefähr nach 25 km. Jetzt war aber die Kaserne überfüllt. Da ging der Offizier hin, nahm ein Beil und, dort drüben stand eine Villa, hat die Tür eingeschlagen. Dort haben sie uns alle reingepfercht, verstehst, bis morgens. Morgens wieder raus, und da hab ich dem Offizier alles vorgebracht: „Ich gehöre nicht hier zu.“ Da sagt der zu mir, er muß mich hinbringen, muß dem Kommandanten Bescheid sagen, und dann sollte ich mit meinem Bruder mit ihm wieder zurückgehen. Weil — er sah ja die Kinder und die Frauen nicht! Aber dieser Offizier wurde in der Nacht abgelöst und es kam ein anderer, der wußte ja überhaupt von nichts! Das war ein Pech! Der Offizier hatte mich gekannt, der hatte auch die Kinder gesehen; aber der ihn abgelöst hat, der wußte von nichts, und der andere hatte es sehr wahrscheinlich vergessen, ihm zu sagen.

Nun war ich drin. Zuerst haben wir ja dann in der Kaserne geschlafen, mein Bruder und noch so ungefähr 50 oder noch mehr Menschen waren in dem Raum da drin. Dann wurden von oben alle Spinde, alle Gepäckstände, alles Inventar, was in dieser Kaserne war, aus dem Fenster geworfen auf den Kasernenhof, und unten waren wieder andere, die das dann aufschichteten. War alles kaputt! Schubladen waren noch voll mit Schreibmaterial und alles mögliche. Ich hab da drin gesucht, da hab ich noch ne Packung Zigaretten gefunden, war prima, nich? Ja, dann gingen wir hin und her, hin und her, ja, was heißt das? Waren so ungefähr an die 35 oder 40 Tausend Menschen! Im Treppenflur, überall haben sie geschlafen. Aber da sagten die Deutschen: „Hier bleiben wir nicht lange. Die wollen nur mal feststellen, wie stark noch die deutsche Armee ist. Und dann können wir wieder nach Hause." Denen wurde auch gesagt, sie dürften sich für 8 oder 14 Tage Lebensmittel mitbringen. Da drin gabs nämlich nichts zu essen. Wir hatten gar nichts gehabt, verstehst Du, wir hatten gar nichts!

Ich war dann am Organisieren da drin, nicht? Da war so ne Kumpe mit Kartoffeln, und die wurde bewacht, aber ich kam ab und zu immer noch dran, verstehst Du? Und Holz war genug da, und wir haben uns auch dort mal 'n Feuerchen jemacht, paar Kartoffel rein, so hab ich mich mit meinem Bruder dort über Wasser gehalten. Da war denn einer, dem ich ne Zigarette gab, und der gab mir wieder ein Stück Brot dafür, das hab ich dann wieder mit meinen Bruder geteilt. Wir haben gehungert noch und noch, aber jetzt waren wir ja Hunger gewohnt, Carlo, vom Lager aus, nicht? Und da war 'n Stück Brot schon viel für uns, nicht? Konnte man mit leben. Der Mensch, der kann seinen Körper da drauf einstellen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, Carlo.

Meine Familienangehörigen und die Kinder und der andere Bruder, die hatten Angst gehabt, uns zu besuchen; die sind dann weiter-marschiert, und wir blieben da drin. Ist ja verständlich, nicht? Da ließ ich mich zu einem Dolmetscher bringen. Sagte: „Ich gehöre nicht hierbei", habe ihm alles erzählt, wies ergangen ist, von wo ich herkomme, aus Köln und dies und alles. Dann hat der Dolmetscher mich vorgebracht zum Kommandanten. Er hatte, weiß jetzt nicht, Carlo, war es der linke Arm oder war der rechte Arm, also ein Armstumpf hat er gehabt, und an einem Gürtel trug er einen kleinen Browning. Der Dolmetscher hat ihm das alles erklärt. Der Lagerkommandant konnte auch etwas deutsch, nicht so ganz gut, aber man konnte ihn verstehen. Er frug mich: „Wo Du warst im Lager?“ Hab ich ihm gesagt: Lublin, Belcec, Tschenstochau und — all die Namen hab ich dort erwähnt, Radom, usw. Gut! „Wer Dich hat befreit?" Gab ich ihm zur Antwort: „Die russische Armee". Gut. „Du Russen auch dankbar?" Gab ich zur Antwort: „Sehr, Herr Kommandant, sehr!" „Karascho! Wo Du bist jetzt?" . Jetzt bin ich in Gleiwitz". „Was ist Gleiwitz?" „Gleiwitz ist Stadt", gab ich ihm zur Antwort. „Ne pani mais (also: ich versteh nicht)". Ja, da fing wieder er an: „Wer Dich hat befreit?“ „Russische Armee“. „Du Russen dankbar?" „Sehr dankbar!" „Wo Du bist jetzt?“ „Gleiwitz". „Was ist Gleiwitz?" „Gleiwitz ist Stadt". Wurde immer böser, Carlo, weil ich gar nicht antwortete, was der gern hören wollte. Ich wußte auch nicht, was ich ihm sollte antworten. Wieder von vorn, Carlo, so machte er mit mir mindestens an die vier-oder fünfmal diese selben Sätze. Dann sagte ich zum Schluß nicht mehr Gleiwitz. „Wo Du bist jetzt?" „Oberschlesien". „Karascho, karascho, gut. Oberschlesien, Oberschlesien, Oberschlesien“. „Was is Oberschlesien?“ , Ja, Oberschlesien is Oberschlesien!" War schon wieder falsch, Carlo, weißt Du. Dann nachher sagte er mir: „Gleiwitz! Oberschlesien ist Deitschland, was ist?", habe ich jesacht: „Deutschland". „Warum Du nicht nach Rußland? Warum Du zurück nach Deutschland?" Was sollt ich jetzt machen? Habe ich gesacht: „Ja, Herr Kommandant, ich habe doch in Rußland keine Leute!" Und da stand er auf, Carlo, mit der einen Hand gab er mir eine Ohrfeige, Carlo, das Trommelfell wär mir bald geplatzt. „Die Russen für Dich keine Leute?“ sagte er zu mir, aber in welchem Ton! Kann ich gar nicht nachahmen, Carlo, der blieb wie, wie so 'n Wolf, verstehst Du, so, so nervös, der hätte mich da umbringen können in dem Moment, wo ich gesagt habe: „In Ruß-land habe ich keine Leute". „Du arbeiten bei Deitsch, Du arbeiten bei Russen. Raus!" Und da griff er mit der einen Hand zur Pistole, dort, da war ich schnell raus! Wäre die in seiner Hand gewesen, da hätte er abgefeuert, so eine Wut hatte der, Carlo, so eine Wut, weil ich sagte: „In Rußland habe ich keine Leute“. Carlo, stell Dir vor, mein Gott!

Nun sagten aber die anderen Kollegen dort, die Deutschen: „Wir bleiben nicht mehr lange hier. Die wollen nur wissen, wie stark die Front noch ist. Und dann werden, können wir nach Hause gehn.“ Das passierte nicht. Dann warn mer da drin, Carlo, mehrere Wochen. Solange! Und dann kamen wir dort in Dnjepropetrowsk an. Nun kannst Dir aber diese Strecke nicht vorstellen, Carlo. Wir waren so ungefähr 40 Mann in einem Güterwaggon. Man konnte sich nicht rühren, aber es war gut, sonst wären wir erfroren. Der Wagen war zu, nur auf der einen Seite war ein Brett, eine Öffnung für, für Bedürfnisse. Und da war so ein kleiner Ritz, da konnte ich durch diese Spalte mit einem Auge was sehen, aber das wurde so kalt, daß mir bald das Auge zufror. Wir fuhren immer tiefer nach Rußland hinein. Dann blieb die Maschine auf einer freien Geländestrecke stehn, und wir haben etwas Wasser bekommen. Das war denn so ein Pumpwerk. Die Soldaten, die da drin waren, die schrien nach Wasser, nichts zu trinken da drin; zu essen haben wir auch nichts bekommen außer dem, was wir noch hatten.

Und dann war in unserem Waggon einer ge. storben, da hämmerten die Leute an die Tür, manche konnten Polnisch sehr gut, die Ober-schlesier verstanden die Russen sehr gut. Da blieb mal wieder der Zug stehen auf freiem Gelände. Die haben gemeldet, daß ein Toter da drin ist, Carlo, da wurde die Tür aufgemacht, der Tote wurde einfach rausgeworfen, kullerte die Böschung runter, unten im Schnee, da war er weg, und der blieb da, da hat sich kein Mensch mehr drum gekümmert, die Tür wurde wieder zugemacht, der Riegel vor und es ging weiter — ja, soviel war ein Menschenleben wert! Gar nichts!

Dann kamen wir in Djepropetrowsk an. Wir waren im Anfang 1 500 Mann, die wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe ging in eine Fabrik, das war eine ganz große Fabrik, eine Eisengießerei. Wir kamen in eine Brükkenbauabteilung, Brücken wurden da zusammengeschmiedet und geschweißt. Wenn die Teile fertig waren, haben wir die Reste vom Schweißen abgeschlagen mit einem Meißel, und da lagen die Spritzer von vor Jahren noch da. Davon hab ich nachher unten Löcher in den Schuhsohlen gehabt. Da gabs nix, womit ich das zumachen konnte. Nichts zu finden. Ich schaute mich überall um, ein Stück Leder oder sonst was, aber nichts war da? Nun sah ich dort zwei dicke Eisenstäbe, Carlo, die waren gekrümmt, und da war von einem Wasserschlauch eine Manschette darum.

Ich nahm diese runter und machte sie auseinander, da war sie so breit wie die ganze Schuhsohle. Mensch, wat ist dat für ein Gutes! Kannste wunderbar drauf laufen! Jetzt muß ich aber noch eine haben! Da fasse ich den anderen Eisenstab hier mit dieser Hand an, und wie ich sie hochziehen wollte, da bleib ich kleben. War Strom drin! Bleib ich kleben. Menschenskinder! Die Russen, die waren von mir drei Meter, Carlo, die waren dort am Hämmern und am Nieten und Schweißen — ich hab sie nicht rufen können. Es kam kein Laut mehr raus, und ich hing da fest! Die Hand ging auch nicht auf, ich könnt auch nicht winken und gar nix machen, ich war doch bloß am Jappen, aber niemand konnte mich hören, keiner wußte, was mit mir los ist, und dann drückte das alles auch am Herz, als wenn da zwei Hände drin wären. Ich dacht'mir noch: „So, jetzt ist Ende!" und wurde ohnmächtig. Nachher lag ich dort auf einem Flachträger, und die Russen standen um mich herum, die hatten mich auch naß gemacht, mit Wasser. Dann kam ich wieder zu mir, nur der eine Arm, der schmerzte. Davon habe ich diese Narben, Carlo. Siehste, diese hat sich eingebrannt. Und die Wunde wollte nie heilen und war tief bis auf 'n Knochen, es dauerte monatelang, bis das verheilt war. Na schön, das war der Unfall!

Dann wurde dieses Lager aufgelöst, und wir kamen in ein anderes Lager. Auch dort war eine Eisengießerei, dort kam ich hinein. Alles mit der kaputten Hand, alles damit gegossen. Und der Mann, den ich bei mir hatte, ein Herr Räsgen, das warn sehr kräftiger, der wurde auch immer schwächer und immer schwächer, und nachher ist er gestorben. Dann habe ich einen kleinen Mann hinzubekommen, der wußte von gar nix. Es war im Winter. Die Formen werden einen Tag vorher gemacht, dann zum Trocknen abgestellt; wenn großer Frost ist, zieht aber der Frost da hinein, und da muß man vorsichtig sein, langsam eingießen, langsam, aber immer durchgehend gießen, keine Pause machen, sonst gibts einen Schock. Das hab ich ihm gesagt. Und der arme Kerl, Hahn hieß der, Hahn aus Bayern, der arme Kerl hatte kein Lebensfeuer mehr gehabt, so kaputt war der. Und Carlo, er goß zu schnell, und da ist die Form explodiert. Ich flog in die Eisen hinein, in die Formen und all das Zeug, und dann kam dieses Feuerwerk von oben wieder runter, deswegen hab ich den ganzen Rücken voll Narben und hab mir das Bein verbrannt. Und dem armen Kerl, dem ist es in die Stiefel oben reingekommen, er hat sich auf 'n Boden herumgewälzt, und bis wir den Stiefel ausgezogen hatten, war das Bein total verbrannt. Er kam ins Krankenhaus, ich habe ihn nicht mehr gesehen. Ich weiß jetzt nicht, Carlo, kam er davon oder ist er gestorben.

Ich konnte dann nicht mehr arbeiten, ich hab auch noch 'n Malaria-Ausbruch bekommen. Im Sommer kamen wir mal mit mehreren Hundert Mann auf eine Kolchose und haben dort Kartoffeln geerntet. Da standen wir in einer Reihe von mehreren Hundert Mann, und das war ein Feld wie ein Meer und dann wurde uns gesagt, hier wachsen Kartoffeln. Wir sollten das Kraut rausreißen, damit die Kartoffel-pflüge, die da durchfahren, die Kartoffeln finden. Und unten waren ganz dicke Kartoffeln. Das haben wir dann auch gemacht; wir blieben einige Tage auf dieser Kolchose. Wir schliefen im Freien unter einem Scheunendach auf Stroh. Da gabs Moskitofliegen, wir waren ja südlich vom Schwarzen Meer, und im Sommer gab es dort an die 40 Grad Hitze. Die Malaria brach bei mir aus, aber ich kam nicht ins Krankenhaus, sondern nur in die Verbandsstelle im Lager. Mein Gott, nun wurde einer aufgegriffen, der aus einem anderen Lager weggelaufen war. Der kam zu mir zum Gießen. Der war so groß wie ich, Carlo. Ein herzensguter Mensch! Unterschütz hieß der, Paul oder Stefan Unterschütz. Ein prima Kerl! Er war ja fremd, und ich wußte dort so ein bißchen Bescheid, da könnt ich mir schon mal was organisieren. Da waren auch alte Frauen, die gaben mir schon mal 'n bißchen Tabak, oder 'n bißchen Brot, son bißchen Kascha oder Maismehl, ja in der Eisengießerei war es schon möglich zu kochen, dann gab ich dem Unterschütz auch die Hälfte davon, vom Tabak usw., und da war er ganz freundlich. Der konnte Russisch schreiben und lesen, Carlo.

Also der Unterschütz wird jetzt Lagermeister. Lieber Carlo, kannst Du mal die Schlechtigkeit sehn, am liebsten hätt er mich umgebracht, ich weiß nicht, warum, ich hab ihm doch geholfen und hab mit ihm zusammen gearbeitet, der sagte auch noch zu mir: „Steinberger, wenn ich drankomm, weil ich Russisch kann, für Nachschlag und det alles, dafür sorge ich!"

Jetzt hatt ich ja noch die Brandwunden, hab ich bis 40 Grad Fieber gehabt. Zeigte das meinem Gießmeister, der war aus dem Ural, ein kräftiger Mann, aber ein herzensguter Mensch. Hab ihm gesagt, daß ich krank bin. Da durfte ich zum Arzt. Ich erhielt eine Bescheinigung und durfte mich im Lager aufhalten. Ich hab die Decke genommen und mich damit zugedeckt. War ja kaputt. Da kommt der Unterschütz rein, ich soll jetzt die Apparate nach der Fabrik tragen. Hab ich gesagt: „Herr Unterschütz, ich bin krank. Ich hab heute 40 Fieber gehabt, ich glaube, ich hab jetzt noch 39. Die andern, die solln dat doch machen". „Ich fordere Sie auf, Sie müssen aufstehn, Sie Schlaf-mütze, Sie Faulenzer!" Son Dreck hat er mir ins Gesicht geschleudert, Carlo. Da kam ein Offizier rein, dem hab ich gesagt: „Ja aber, ich kann doch nicht, das geht doch nicht, ich hab doch Fieber und bin doch heut auch von der Arbeit befreit worden!" Carlo, tatsächlich kommt er und nimmt mich mit!

In diesem Lager war ein Karzer, ein Gefängnis; die Wände hinten und an der Seite waren aus Beton. Das Dach war aus Eisen und die Vorderfront auch aus Eisen. Da drin war ne kleine Tür. Im Sommer konnte man es da drin nicht aushalten, da gingste kaputt drin, Carlo! — und auch im Winter, wenn es draußen 20/30 Grad kalt war. Da nimmt er mich, Carlo, und ich geh mit. Ich dachte ja, die Bescheinigung, die hab ich ihm nicht gezeigt, ich dachte, er nimmt sie und vernichtet sie. Nun dacht ich, er bringt mich zum Offizier wegen Gehorsams-verweigerung. Nein, aus sich selber heraus, das ist ein Sadist, geht er hin. Jetzt hat er ja auch keinen Schlüssel gehabt, denn wenn da keiner drin war, war auch kein Schloß drauf. Er geht hin, macht die Tür auf mit dem Draht und schubst mich da hinein und dreht den Draht vorne zu. Ich war da drin! Ohne daß es einer wußte. Ich war kaum drin, da fing mein Schädel an zu brummen vor Kälte, Carlo. Da war ein Sarg aus Blech, für die Toten. Den hab ich aufgemacht. Ich war der Meinung, da ist Stroh drin oder ne Decke. War aber nichts drin. Carlo, und dann hab ich geschlagen und geschrien. Drüben war ein Posten. Der hatte ein Stück Schiene, ein Eisen, der war auch am Hämmern, es kam aber keiner. Fing immer wieder an zu Poltern, nahm den Holzlatschen und hab auf diese Tür geschlagen und geschlagen; und wenn jetzt hier alles zusammenbricht, aber hier drin bin ich morgen tot. Es hörte mich aber niemand. Ich rannte immer gegen die Tür und schlug mit dem Holzschuh gegen den Draht von außen, so daß ich ihn bald fassen konnte und hab den Draht da aufgedreht; endlich war die Tür offen und ich ging raus.

Und drüben, da war son Pissoir, verstehste, ohne Dach oben. Und weil die nun immer diese sauren Suppen aßen, mußten die die ganze Nacht laufen. Da ging das hin und her wie die Ameisen. Der Posten hat mich gesehn, als ich da rausging, der hat mich aber nicht zum Stehen aufgefordert; der dachte vielleicht, der muß mal! Verstehst. Und ich war da zwischen denen und ging dann mit zurück. Ich nahm mir die Decke, wickelte die um mich herum, legte sie zweimal zusammen, nahm die Filzstiefel und zog sie an, und mummelte mich so ein, Carlo, verstehst Du, wie 'n Zweizentnermann, so dick war ich. Wenn der Unterschütz jetzt kommt und sperrt mich wieder ein, verstehst Du, dann leg ich mich schlafen da drin. Da sagten die andern noch: „Steinberger, Du wirst eingesperrt. Du kommst so leicht nicht mehr raus. Du bis da rausgegangen, und der hat Dich eingesperrt. Der hat zu sagen hier im Lager.“

Kam der Morgen, und er nimmt mich mit und bringt mich zum Offizier. Der Kompat war auch dort, und der konnte mich so gut leiden! Der sah mich doch immer draußen im Freien, wenn er Besuch abstattete in der Fabrik, wie ich mit dem Jesko, der gestorben ist, gearbeitet hab an den Maschinen, und da hat er seine Freud, und manchmal hat er mich gerufen und mir ne Zigarette gegeben, verstehst Du, das ist jetzt ein Mann, der hilft Rußland aufbauen, verstehst Du, und der könnt mich gut leiden. War immer am Lachen, wenn er mich gesehn hat, 'n hohes Tier, große Auszeichnung, Nah kampfspange, der hatte hier oben drei ode vier Sterne gehabt. Dann hat er sich das alles angehört. Was ich denn dazu zu sagen hätte Ich konnte ja schon Russisch. Deutsch konn er ja auch. Hab gar nichts gesagt, nahm dieser Schein raus, dem mir der Arzt gegeben hatte Und mein Meister vom Ural schaut sich der an, schaut ihn an, sagte: „Wieso kommen Sie denn und machen uns Vorschriften! Went dieser Mann vom Arzt und von seinem Meister frei hat, wie können Sie den Mann dann einsperren?''Hat ihn anjeschrien, anjeschrien noch und noch!

Ja, ich hab mich dann wieder hingelegt, hat nichts mehr gemacht, bis ich wieder zum Arzt mußte; ich hatte kein Fieber mehr, aber ein oder zwei Tage hab ich frei gehabt. Und da sah ich, Carlo, zwei Männer von der NKWD kom men, die haben den Herrn Unterschütz ge. nommen zum Verhör. Und dann sah ich, Carlo von der Baracke aus durchs Fenster, daß sie ihm die Jacke auszogen, Carlo, und ihn dort eingesperrt haben in diesen Bunker, wo ich drin war! Da haben sie ihn eingesperrt. Und als er morgens raus kam, Carlo, da war er blau, so verfroren. Und da mußte er es zugeben. Er war bei der SS, Scharführer muß er gewesen sein, das haben die alles ausgeforscht durch diese Quälerei, durch diesen Frost hat er es zugeben müssen. Da kam er ins Lager III. Als wir entlassen wurden, mußte er noch drei Jahre dort bleiben.

Dann kam ich noch in eine andere Eisengießerei, nach Kaganowitsch. Dort habe ich bis 1948 gearbeitet, Carlo. Einmal kam ich hunds-müde ins Lager zurück von der Arbeit, habe mich auf die Matratze hingelegt, da kommt ein Russe rein, ein Posten. „Dawai!“ Und mußten alle aufstehen. Da hab ich dem Posten gesagt „Ich komm grad von der Arbeit". Ich soll ruhig sein, sagt er, ich soll mitkommen. Und dann bin ich bei der Arbeit zusammengebrochen. Die dachten, ich will nicht mehr. Und dann kam der eine Posten mit ner Latte und schlug auf mich ein, als ob ich ein Tier wär. Sie haben mich halbtot geschlagen, Carlo. Und dann kam ich dort auch wieder in das Gefängnis. Dort lag ich, wußte von nichts mehr.

Am anderen Tag war wieder die Entlausung alle 14 Tage, und die Kameraden haben mich mitgenommen. Könnt kaum noch laufen. Dort kam ich an der Verbandsstelle vorbei, da hat die Ärztin mich gerufen, und dann ham se festgestellt, ich bin schwerkrank! Und übermüdet und erschöpft. Und dann kam ich endlich ins Krankenhaus, Carlo. Dort war ein Professor, der konnte Deutsch. Der war aber noch niemals in Deutschland, und der saß manchmal bei mir am Bett und ich mußte erzählen, und er gab Antwort und frug immer, ob er Fehler macht. Der ordnete an, ich soll ein Stück Weißbrot bekommen und anstatt einen Löffel Zucker zwei Löffel Zucker. Das geschah aber immer nur dann, wenn er da war! Wenn er nicht da war, hab ich auch dieses Schwarzbrot bekommen.

Dann ging ich ein bißchen spazieren in diesem Gelände. Da beobachtete ich, daß aus einer Mauer dort, vor diesem Krankenhaus, daß da Menschen herkommen! Ein Fußweg! Da hab ich beobachtet 'n kleines Mädchen mit ’n Korb, das kam mit einer Frau mit 'n Kind, und die hatten einen Eimer. Dann kam wieder jemand, der hatte auch was gehabt. Und dann sah ich da ein Loch! Ich ging auch dort hinaus, hatte aber die Kleider angehabt vom Krankenhaus, bin zu den Leuten hin und bettelte! Carlo, ich bekam dann von den Leuten Brot, Äpfel und Tomaten und alles mögliche. Die sagten, ich sollte immer kommen. Carlo, ich hab manchmal Bauchschmerzen gehabt, so viel hab ich runtergeschluckt. Hunger!

Der Professor sagte zu mir: „Steinberger, Sie müssen immer viel Spazierengehen! Dann werden Sie wieder stark, Steinberger!“ Der wußte ganz genau, was ich tat, ich kam ja auch immer wieder zurück! Dann habe ich zu ihm gesagt: „Herr Professor, kann ich denn nicht hier bleiben, hier im Krankenhaus? Ich kann doch hier auch den Kranken helfen, irgendwie saubermachen. Vielleicht in der Küche, vielleicht Kartoffeln schälen. Beschäftigung gibts doch, nicht? Ich bin doch Musiker von Beruf; ich möchte nicht mehr in die Eisengießerei!“ Sagt er: „Läßt sich machen!" Und dann kam ich dann zu einer Transportfirma. Carlo, dat war ne schöne Arbeit. Die Wagen faßten so ungefähr 31/2 Tonnen. Wir fuhren zum Flughafen, zum Hafen von Dnjepropetrowsk und entluden dort Rundeisen, Kanteisen, Roheisen aus den Fabriken, und alles mögliche. Da fuhren wir auch nach Saboroschik, das war so ungefähr eine Tagesreise. Einmal hin und einmal zurück, war Feierabend! Und 3 1/2 Tonnen laden, das geht ja immer! Und bei dieser Arbeit konnte ich mir dann auch etwas organisieren! Auf dem Güterbahnhof wurden auch Gemüse und Kartoffeln entladen, zwischen den Gleisen lagen die Kartoffeln, die könnt man sich schon mal in die Taschen stecken, die Russen sagten ja nix, und man könnt mal 'n Stück Brot organisieren. Die Kartoffeln konnte man bei uns im Lager kochen, da war ja 'n Ofen drin. Dort hätt ich es aushalten können.

Im Jahre 49 oder Anfang 50, da mußten wir, Carlo, das ganze Lager saubermachen, schmücken, usw., die Schuhe wurden gelackt und poliert, die Haare wurden geschnitten, Bretter wurde angeschafft, Kanthölzer, da waren Facharbeiter und Leute von allen Branchen, und die haben dort das ganze Lager instand gebracht. Und dann kam der Tag, da kam der Max Reimann zu uns ins Lager und ein höherer Offizier. Ein Rednerpult mit Mikrofon war aufgestellt worden. Wir saßen alle auf diesen selbstgezimmerten Bänken, und da wurden Bilder aufgestellt von Marx und Lenin und Stalin, so groß wie Häuserwände, so groß! Und dann sprach er zu uns: „Kameraden, ich bin Deutscher wie Ihr es seid, und ich bringe Euch eine frohe Botschaft! Einen Erlaß vom großen Stalin! Ihr seid jetzt von nun an alle freie Menschen! Ihr müßt aber noch Geduld haben. Es sind sehr viele, die nach Hause fahren, das Jahr 1950 schreiben wir nicht mehr voll durch! Es sind sehr viele, und wenn diese Züge hier in Dnjepropetrowsk eintreffen, werden Eure Wagen angehängt und ab geht es Richtung Heimat! Wer hierbleiben möchte und will, der wird als politischer Bürger anerkannt und hat die gleichen Rechte! Die SS-Leute bleiben noch drei Jahre hier, im Lager III." Und da ham mer vor Freude geweint! Da gab's ein Essen, Carlo! Da gab's Brot und gab Original-Militärverpflegung, Eintopf mit Büchsenkonserven, mit Fleisch, konnst soviel essen, soviel wie Du wolltest. Brot, keine Stücke mehr, halbe, nich, ham se uns jebracht zum Essen. „Und wer jetzt noch arbeiten möchte," sagte der Max Reimann, „der verdient wie ein Russe! Man weiß ja nicht, wie lange es noch dauert. Ob Ihr jetzt nun hier im Lager bleibt oder noch etwas arbeiten geht. Wer will, natürlich! Frei seid Ihr! Ihr müßt es nicht!"

Da dachte ich mir, wie lange wird es noch dauern? Ich war ja noch 'n bißchen jetzt bei Kräften, weil ich bei der Transportfirma war, dacht ich: „Geh noch 'n bißchen arbeiten, dann kannste Dir ja unterwegs noch was kaufen!" Und dann ging ich noch ein paar Wochen arbeiten, Carlo. Ich bekam so ungefähr 250 Rubel. Mit 20 Rubel hast 'n Brot kaufen können.

Beim Abmarsch wurden wir nochmal gesiebt auf diesem Lagerplatz. Die bauten dort zwei Tischchen auf, in der Mitte war so viel Raum, daß man da durchgehen konnte. Links und rechts saß jemand, ein hoher Offizier auf der einen, auf der anderen Seite saß ein Arzt. Und da mußte man den Oberkörper freimachen und die Hände auf den Kopf legen und da durchgehn, und die schauten unter die Arme. Ich war der Meinung, die suchen Filzläuse, Carlo. Die suchten aber etwas anderes. Die suchten nach Tätowierungen, nach Nummern, bei mir fanden sie aber nichts! Aber ich war trotzdem verdächtig wegen meiner Größe. Alle anderen standen auf, und marsch, die gingen raus mit Gesang. Die gingen jetzt zum Bahnhof, dort standen die Waggons zum Abfahren. Und ich stand hier mit noch einem Ingenieur. Da kamen zwei Soldaten mit einem höheren Rang, die nahmen den Ingenieur mit und der Posten nahm mich mit nach vorn in die Wache. Jetzt hab ich mir überlegt: „Der Zug, der fährt, und für mich alleine machen sie keinen Transport. Für was muß ich eigentlich hier sein?" Ja, und das wußt ich nicht und der Posten, der wußte das auch nicht. Und da kam dann ein Offizier, ich bin aufgestanden, stramm gestanden und hab zu ihm jesacht: „Wat ist das für ein Kultur, was Ihr habt? Mich behalt Ihr hier nicht, ich bin doch Zigeuner, ich gehör doch, von Anfang an gehörte ich nicht hierher!" Mir war doch jetzt alles gleich, was die machen, dann solln se mich erschießen, ich bleib doch nicht in Rußland! Oder in das Lager III, da geh ich doch nicht hin. Natürlich war der Offizier sehr beleidigt, der wollte mich ins Gesicht schlagen! Da sagt er zu mir: „Politschit!" Das heißt: „Warten!" Und dann ging der weg. Der Posten gab mir etwas Tabak, gab mir etwas Zeitung, rauchte — eine ganze Stunde, Carlo! Jetzt war ich am Phantasieren: Ist der Zug schon weg? Für mich alleine machen sie doch keinen Transport! Jetzt bleib ich hier in Rußland, aber die solln mich hier nicht lebend haben! Arbeiten tu ich nix mehr!

Schluß! Und dann kam einer! Der war im Range eines Majors, Carlo, ein ganz hagerer, großer Mann! Der kommt dort rein, da ruft der Posten dort, ich soll aufstehn, und ich stand! Fing der an, mit mir zu sprechen, ich verstand ihn nicht, Carlo, es war nicht Russisch, es war nicht Deutsch. Kam nicht mehr dahinter! Und in Wirklichkeit sprach er mit mir die Zigeunersprache. Damit hatte ich nicht gerechnet, all die Jahre hab ich überhaupt nicht meine Sprache gesprochen! Carlo! Und dann sagte er zu mir: „Halrom, rakan", das heißt: „Wenn Du ein Zigeuner bist, dann sprich!" Ja, das ist was anderes, und da fing ich an. Na, da waren wir gleich per Du. Da hab ich ihm alles erzählt in meiner Muttersprache. Wie ich hierher gekommen bin, daß ich unschuldig bin und all dieses und jenes. Und da hat er zu dem Offizier gesagt, zu dem Kommandanten vom Lager: „Was hier gemacht worden ist, das ist großes Unrecht! Den hätte man überhaupt nicht mitnehmen dürfen!" Sagte der Major zu mir: „Aber jetzt fährst Du nach Hause. Wenn ich gewußt hätte, daß Du hier drin bist, hätt ich Dich längst rausgeholt, aber das wußte ich nicht".

Ja, und dann gingen wir, kamen am Bahnhof an, da war der Zug noch da! Der Zug war noch zwei Tage dort, Carlo! Bis die Lokomotive kam, verstehst Du? Auf dem toten Gleis! Und alle Türen und Fenster waren auf, ich saß draußen mit ihm, dem Major, auf dem Bauholz, war schön warm! Da saßen wir beide. Ich mit dem hohen Offizier. Wieso war das alles möglich? Wieso hat man hier nicht nachgeforscht? Nun, warum man mich solange festgehalten hat Carlo, das war auch aus dem Grund, daß wir nämlich einen deutschen Namen haben, Fritz Peter Steinberger. Die Russen nannten die Deutschen „Fritzi“. Wir nennen sie „Iwan". So ein Wort, das beweist, daß Du ein Deutscher bist. Das war der Fehler! Und dann durfte ja jeder auch mal nach Hause schreiben. Wenn es auch ein Jahr gedauert hat, aber Antwort haben sie bekommen. Aber ich konnte ja nicht schreiben, weil ich keine Familienangehörigen draußen hatte, denen ich hätt schreiben können. Die kamen ja mit mir alle in das Konzentrationslager! Idi wußt ja überhaupt nicht, ob noch einer lebt! Und jetzt waren die der Meinung: Man hat ihn angetroffen, er hat keine Ausweispapiere bei sich gehabt, in Glejwitz, keinen Entlassungsschein, gar nichts! Keinen Fetzen Papier, nicht, und in Zivil! Jetzt hielten die Russen uns beide, meinen Bruder und ich, für ehemalige SS-Leute, weil wir so groß waren. Deswegen suchten die auch immer unter unseren Armen, was wir sind! Und schreiben tat ich auch nicht: Und bei uns war keine Post vorhanden und gar nix, Carlo, das sind die ganz Schlimmen! Ja, deswegen hielten sie mich als letzten mit dem Ingenieur zurück. Ich dürft dann endlich auch fahren, und so kam ich bis Frankfurt an der Oder. Dort bekam ich 50 Mark, und da wurde Propaganda gemacht: „Wenn die nochmal zu Euch sagen, Ihr sollt Gewehre in die Hand nehmen, dann schmeißt die Gewehre weg, oder gebt die Gewehre ihnen, die sollen selber kämpfen", und son Zeug. Da war ein Magazin, und mit diesen 50 Mark, da wollt ich mir 'n Paar Strümpfe kaufen, ich hab die ganze Zeit in Rußland keine Strümpfe gesehn. Sagte das Mädchen zu mir: „Wo fahren Sie denn hin?" „Ja, ich fahre nach Westdeutschland, nach Köln". Sagte sie: „Kaufen Sie nicht, die sind hier zu teuer. Dort, wo Sie hinkommen, kostet son Paar drei. Mark, und hier kosten sie 20 oder 25 Mark. Kaufen Sie sich lieber etwas Brot dafür. Oder sonst-was, was Sie für notwendiger halten". Dachte ich, ich bin Dir dankbar, hab ich mir nur Fisch gekauft und Tabak und so was. Dann kam ich aber nach Friedland-Göttingen, da bekam ich auch 50 Mark, Carlo. Da wurden wir empfangen mit Blasmusik, das Rote Kreuz, und da gabs Kakao, gabs belegte Brötchen und gabs dies und das, alles konnte man dort kaufen. Endlich kam ich dann in Köln an. Es war I abends. Und als erste traf ich die Klara, und dann schrie die! . Wir waren da schon wieder auf demselben Platz, in Bickendorf. Auf diesem Platz standen wieder welche mit Wagen, manche in Wohnbaracken, manche in Omnibuskarosserien. Wohnungen gabs ja damals j sowieso keine in Köln. Und ich hatte kein Obdach und gar nix, ich schlief unter dem Wagen, hab mich zugehängt mit Decken, erbärmlich und sehr elendiglich. Und dann bekam ich von meinem Bruder — der kam dann an, der Bruder, den ich damals nicht verraten habe — eine Geige geschenkt. Mit dieser Geige hab ich dann eine kleine Kapelle wieder gegründet, eine Geige, ein Kontrabaß und zwei Gitarren, und da gingen wir so durch die kleinen Lokale, und einer ging mit dem Teller rund, und da gabs schon mal 'n paar Groschen. Hatte man wenigstens etwas für Kaffee zu kochen und dergleichen für 'n Augenblick.

Und so hat sich die Lage allmählich verbessert, und gings bergauf; dann habe ich auch etwas Haftentschädigung bekommen, das waren so ungefähr 8 000 Mark, davon hab ich mir 'n Wohnwagen gekauft. Hab dann ein Mädchen kennengelernt, meine heutige Frau, die Amschla. Zwei Söhne haben wir — ja, Carlo, das also war mein Lebenslauf.

Fussnoten

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