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Macht, Herrschaft, Gewalt. Differenzierungen der Politischen Soziologie | APuZ 24/1981 | bpb.de

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APuZ 24/1981 Artikel 1 Freiherr vom Stein Macht, Herrschaft, Gewalt. Differenzierungen der Politischen Soziologie

Macht, Herrschaft, Gewalt. Differenzierungen der Politischen Soziologie

Kurt Lenk

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In politischen Diskussionen werden die zentralen sozialwissenschaftlichen Kategorien Macht, Herrschaft und Gewalt oft wenig spezifiziert oder gar synonym gebraucht. Vielfältig besetzt von Vor-Urteilen, enthalten sie ein Potential an Reizmomenten, die sie nur allzuoft in die Nähe bloßer Polemik bringen. Dies gilt insbesondere für den Cewaltbegfiff. Gegenüber dem amorphen Begriff der Macht stellt Herrschaft sich als eine institutionalisierte, verrechtlichte und damit auf Dauer angelegte Struktur von Beziehungen dar, die zu ihrer Begründung einer Legitimation bedarf. Als der für industrielle Gesellschaften vorherrschende Typus kann der der bürokratischen Herrschaft gelten. Sie erscheint als Inbegriff einer rein legalen und formal-rationalen Herrschaftsstruktur. Die universelle Verwendbarkeit, die Beliebigkeit der von ihr verfolgten Zwecke sowie ihre „Neutralität" lassen Bürokratien für heutige Gesellschaften unentbehrlich erscheinen. Die Differenzierung und Konkretisierung dieser Schlüsselkategorien anhand von Beispielen liefert eine Perspektive für die Bestimmung des Politischen: Zwar kann nicht geleugnet werden, daß die Verfügung über bestimmte Machtpotentiale zu den notwendigen Voraussetzungen allen politischen Handelns gehört, doch ist umgekehrt politisches Handeln nicht einfach auf Machthandeln reduzierbar. Macht ist eine notwendige, doch keine zulängliche Bedingung politischen Handelns.

Zur Notwendigkeit einer Begriffsklärung

Ob in der Politikwissenschaft oder in der Soziologie, in mehr empirisch oder theoretisch orientierten Zusammenhängen: stets werden Kategorien ins Spiel gebracht, deren Bedeutung einfach vorausgesetzt wird, die aber, sieht man näher hin, alles andere als eindeutig genannt werden können.

Es gehört zu den elementaren Regeln wissenschaftlicher Diskurse, sich über die Wahl der Grundbegriffe Klarheit zu verschaffen, weil sonst das berühmte „Aneinander-Vorbeire-den" unweigerlich die Folge wäre.

Da Wissenschaft davon lebt, zur Klärung bestimmter Zusammenhänge beizutragen und dieser Versuch mit den Mitteln der Sprache und ihrer Begriffe geschieht, gehört die Frage nach dem Gehalt und Sinn solcher Begriffe zur wichtigsten Voraussetzung für jede weitere Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Themen. Wer damit beginnt, Schlüsselbegriffe wie „Macht", „Herrschaft“ und „Gewalt" unter die Lupe zu nehmen, wird entdecken, daß sie alles andere als geklärt, sondern vielfältig besetzt sind von zahlreichen Vorab-Definitionen, Vor-Urteilen, Emotionen; solche Begriffe enthalten ein Potential an Reizmomenten, die sie nur allzu oft in die Nähe des bloß Propagandistischen, Wertbeladenen und Ideologischen bringen, was eine Verständigung nicht gerade erleichtert. Schon darum ist es zweckmäßig, sie nicht einfach als vorgegebene Größen hinzunehmen, sondern sie daraufhin abzuklopfen, was in sie an historischen Erfahrungen und Bestimmungen eingegangen ist, welches ihre Erkenntnisfunktion sei und inwieweit sie sich zur Klärung der jeweils gemeinten Zusammenhänge eignen.

Auch wenn niemand das Monopol besitzt, durch Definitionen bestimmte Begriffsfelder sozusagen zu „beschlagnahmen“, so kann es als sicher gelten, daß bei allen Kontroversen sich doch eine Art innerwissenschaftlicher Basis-konsens darüber finden läßt, in welcher Weise es sinnvoll und zweckmäßig ist, sich bestimmter Kategorien im sozialwissenschaftlichen Diskurs zu bedienen. Dafür ist es notwendig, dem nachzugehen, was bei politischen und sozialen Kontroversen gemeint ist, worum der Streit geht, wie die Fronten verlaufen und welches die Perspektiven der heutigen Diskussion sind.

Politische Soziologie Wo es um die Lösung politischer Grundprobleme geht, ist die Soziologie ebenso zuständig wie die Politische Wissenschaft, die Sozialphilosophie ebenso wie die Sozialpsychologie, die Politische Ökonomie ebenso wie die Staatslehre. Worauf es allein ankommt, ist die Frage, in welchen der genannten Teilgebiete der Sozialwissenschaften die jeweils besseren und produktiveren Orientierungsmöglichkeiten bereitliegen.

Es geht heute nicht mehr um Fächer und ihre Grenzen, sondern um bestimmte Fragestellungen und ihre fächerübergreifenden Richtungen und Bezugspunkte. Wer im Ernst eines der Grundprobleme der Politischen Soziologie aufnimmt, wird rasch feststellen, daß er gar nicht umhin kann, sich in einer Reihe von Nachbarwissenschaften umzusehen, um sich dort Rat und Aufschluß zu holen.

Ein Rückblick auf die Geschichte dieser interdisziplinären sozialwissenschaftlichen For-

schungsänsätze zeigt, daß um die Jahrhundertwende, der Anfangsphase einer reifen industriellen Gesellschaft in den westlichen Staaten, eine Reihe wichtiger Beiträge erschienen, wozu u. a. die Arbeiten von Thorstein Veblen (zum Klassencharakter und Lebensstil der Oberschichten) und Moisei Ostro-gorski (zur modernen Parteienstruktur) gehören. Ein zweiter Anlaß für die Herausbildung einer Politischen Soziologie war der Erste Weltkrieg, in dessen Gefolge eine Fülle von Krisenphänomenen sichtbar wurden, die zu erneuter Reflexion drängten.

Ein drittes entscheidendes Datum war die Zeit der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Nach 1945 hat u. a. Harold D. Lasswell über die Verteilung und Ausübung der Macht in der Gesellschaft („Politics: Who gets What, When, How") weiterführende Fragen gestellt, die dann u. a. von Reinhard Bendix und Seymour Martin Lipset aufgegriffen wurden, teils in Anknüpfung an Bestimmungen Max Webers.

In der deutschen Nachkriegssoziologie waren es vor allem Autoren wie Otto Stammer, Wolfgang Abendroth, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Urs Jäggi u. a., die sich grundsätzlicher Fragestellungen der Politischen Soziologie annahmen.

In der Bundesrepublik erhielt die Politische Soziologie wichtige Impulse durch Probleme, die mit der Renaissance der Politischen Ökonomie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre im Zuge der Studentenrevolte aufkamen. Die bis dahin in der Politikwissenschaft dominierende Institutionenkunde wurde nun durch eine Themenpalette abgelöst, die mehr den Prozeßcharakter der Politik betonte. Die Statik einer bloßen Betrachtung von Staatsorganen wurde verlassen zugunsten einer dynamischen Perspektive, bei der im Vordergrund des Interesses demokratische Willensbildungsprozesse standen, wie sie in der politischen Meinungsforschung und in der Wahlsoziologie analysiert werden. In Interessengruppen, politischen Parteien sowie in dem, was man als „Politische Kultur" bezeichnet, spielen Fragen der Willensbildung eine entscheidende Rolle. Hinzu kamen seit Beginn der siebziger Jahre Analysen zu aktuellen Themen des politischen Extremismus, des Terrorismus und Anarchismus, wie sie verstärkt an-gesichts von Gewalttaten seit den ausgehenden siebziger Jahren betrieben wurden. Damit war zugleich auch eine Verbindung herge. stellt zu dem Fragenkreis, der unter der Forschungsthematik der „Politischen Psychologie* die Bedeutung von Gruppenprozessen für die Politik, etwa Fragen nach der politisch mobili. sierbaren Aggressivität, behandelt. Gefragt, wer zu den „Klassikern" der Politi.sehen Soziologie gehört, wird man unweiger. lieh auf eine Ahnenreihe stoßen, die bei den Stammvätern des modernen Sozialismus be. ginnt, über Autoren wie Alexis de Tocqueville Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca und Robert Michels hin zum epochemachenden Werk Max Webers führt, von dem sich dann die seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts anhebenden Versuche zu einer systemati.sehen Erforschung politischer Prozesse, ihrer Ursachen und vielfältigen Formen herleiten. Zumindest gibt es keinen neueren Autor, der nicht bestimmte Aspekte des Weberschen Beitrags zur Politischen Soziologie rezipiert hätte. So wäre etwa auf Theodor Geiger und Karl Mannheim hinzuweisen, die, wie zahlreiche Sozialwissenschaftler der Weimarer Republik, ab 1933 zur Emigration gezwungen waren. In der Bundesrepublik ist seit Ende der sechziger Jahre eine verstärkte Aufmerksamkeit für das vielschichtige und höchst komplexe Werk Max Webers zu beobachten. Die Publikationen zur Herrschaftstheorie, Staatslehre und Bürokratieanalyse Webers sind mittlerweile kaum mehr übersehbar.

Zum Politikbegriff Das Besondere an den Fragestellungen der Politischen Soziologie ist die Einbeziehung des Subjektaspekts in die Analyse der sozialen und politischen Wirklichkeit. Ob es um die Formen der Oligarchiebildung in großen Organisationen, um Prozesse der Willensbildung'oder Entscheidungsfindung geht — stets gerät bei diesen Analysen der Gesichtspunkt in das Zentrum der Betrachtung, wie sich Objektives und Subjektives zueinander verhalten; ob die Subjektseite des Geschehens überhaupt eine von der sozialen Realität abgrenzbare „Sphäre 1 darstellt oder ob nicht vielmehr beides nur zwei Seiten des gleichen Vorgangs unter anderem Blickwinkel und verschiedener Perspektive sind.

So gesehen ist die Politische Soziologie eine äußerst komplexe Wissenschaft, da sie es un-B ternimmt, eingefahrene Arbeitsteiligkeit zwischen einer Reihe von Einzeldisziplinen innerhalb des weiten Spektrums der Sozialwissenschaften nicht‘zur verbindlichen Richtschnur ihrer Fragestellungen zu nehmen. „Das Politische" wird hier nicht begriffen als ein eigener, gesonderter Sachbereich, sondern als eine bestimmte Verfassung, ein spezifischer Aggregatzustand der Gesellschaft. Das zeigt sich etwa an dem Problem, wann eine Frage zu einer „politischen" wird und unter welchen Bedingungen dies geschieht. Grundsätzlich ist kaum ein Aspekt des menschlichen Zusammenlebens von der Möglichkeit ausgenommen, in bestimmten Situationen zu einer „politischen Frage“ zu werden. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn entgegengesetzte Interessen aufeinandertreffen und dadurch eine bestimmte Form des Machtgleichgewichts, das bis dahin toleriert wurde, ins Wanken gerät. Erst dann werden aus sozialen Beziehungen politische Probleme im Sinne eines neuen Aggregatzustands der Gesellschaft. In der Regel spricht man über gesellschaftliche Tatbestände erst dann, wenn irgend etwas mit ihnen nicht mehr „in Ordnung" zu sein scheint, vergleichbar einem „gesunden" Menschen, der erst dann Organempfindungen bewußt erfährt, wenn deren Funktionen im Gesamtorganismus aus irgendwelchen Gründen gestört sind.

Da als der primäre Gegenstand Politischer Soziologie die unauflösbare Interdependenz gegeneinander-und zusammenhandelnder Individuen und Kollektive gelten kann, gehen — gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt — in die wissenschaftlichen Aussagen unsere jeweiligen Wertungen (im Sinne der Perspektivität unserer Erkenntnisinteressen) mit ein. Hinzu kommt, daß Politische Soziologie, wie alle Sozialwissenschaften, mit den Begriffen des alltäglichen Lebens operiert, die von sich aus bereits bestimmte Optionen, Tönungen und emotionale Komponenten enthalten.

Diese Besetztheit der meisten Begriffe durch Alltagswahrnehmungen bringt es z. B. mit sich, daß soziale Strukturen und Beziehungen meist bereits als „verdinglichte" oder „personalisierte“ Größen eingeführt werden. So vermag unsere Sprache die interpersonalen Beziehungsstrukturen, als welche wir das Geflecht der sozialen Beziehungen und Verhältnisse zu begreifen hätten, in der Regel nur in groben Vereinfachungen wiederzugeben. Begriffe wie „Universität“, „Partei“ oder „Verein" zeigen: die Begriffsbildung verfährt so, als ob es sich um feste Gegenstände handle wie etwa „Baum“, „Haus“ oder „Sportplatz“. Hierin besteht die eigentliche Schwierigkeit einer Sozialwissenschaft wie der Politischen Soziologie: Mit der Sprache der räumlichen Dingwelt Zusammenhänge auf den Begriff zu bringen, dabei jedoch die Fassade dieser begrifflichen Verdinglichung zu überwinden

„Macht" als politische Kategorie

Nicht nur gehört „Macht“ mit „Interesse", „Herschaft", „Politik“, „Partei", „Elite" zu den zentralen Kategorien des Politischen: Sie ist die fundamentale Kategorie der Politischen Soziologie bis heute geblieben.

Seit einigen Jahren läßt sich ein erneutes Interesse an der Konkretisierung solcher Schlüsselbegriffe beobachten. Ein Grund hierfür dürfte wohl darin zu suchen sein, daß nach den (etwas ermüdenden) Versuchen einer „Staatsableitung" (von einer verkürzten Position marxistischer Politischer Ökonomie her) wieder Phänomene ins Blickfeld rücken, die massive gesellschaftliche Strukturen (wie Mentalitäten und Ideologien) erneut zum Vorschein bringen. Die Differenzierung und Operationalisierung des Machtbegriffs gehört daher auch in der jüngsten Literatur zu einer zentralen Aufgabe Politischer Soziologie.

Zu Recht wird von manchen Autoren auf die Allgegenwärtigkeit des Machtphänomens in der Gesellschaft hingewiesen. Diese Universalität kommt dann ins Blickfeld, wenn man die Merkmale der Macht im einzelnen untersucht. Dazu gehören u. a. über-und Unterordnung, Sanktionsgewalt und Gehorsam, Führung und Gefolgschaft.

Die Vieldimensionalität des Machtbegriffs wird deutlich, sobald danach gefragt wird, wer bzw. was Träger von Macht sein kann und wie Macht sich begründet: sei es durch psychi-sche/physische Überlegenheit, durch soziales Prestige, Wissen, Geschicklichkeit, Besitz oder durch die Verfügung über materielle Güter und Dienstleistungen u. ä. m. Als persönliche Macht und Organisations-macht, als Macht der Normen — je nachdem, ob Macht im Rahmen von Kleingruppen, in Großorganisationen oder in strukturell-gesellschaftlichen Beziehungen auftritt (als „Klassenmacht" z. B.) — kann sie völlig unterschiedliche Formen annehmen.

Der Begriff der Macht ist „amorph", d. h. er bleibt inhaltslos ohne Angabe der Umstände und Bedingungen, unter denen sie sich entfaltet Alle denkbaren Qualitäten des Menschen, alle möglichen Konstellationen können jemanden in die Lage versetzen, seinen gegen andere gerichteten Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen oder sich die Verfügung über ein knappes Gut anzueignen, um hierdurch Macht zu erhalten.

Machterwerb In welchen Schritten vollzieht sich Machterwerb; wie kann es geschehen, daß wenige Macht über viele gewinnen? Welche Situationen begünstigen solche Machtbildungsprozesse? Wie können oft nur geringe Vorsprünge einiger Menschen gegenüber einer Mehrheit ausgebaut werden zur Macht über andere, so daß etwas Macht mehr wird und aus mehr Macht eine Machtkonzentration, ein Macht-monopol? Wie können viele in die Abhängigkeit weniger geraten und wie kann das dabei entstehende Machtgefälle sich zu Herrschaftsstrukturen institutionalisieren, die das Machtgefälle schließlich als gerechtfertigt, als legitimiert erscheinen lassen?

Solche Fragen sind gesamtgesellschaftlich nur schwer beantwortbar. Gleichwohl lassen sich aus der Beobachtung überschaubarer Gruppenprozesse Aufschlüsse gewinnen, die zumindest im mikrosoziologischen Bereich das Dunkel der Machtbildung etwas klären helfen. Ein möglicher Schritt hierzu wäre die Rekonstruktion von alltäglichen Gruppenaktionen und -Situationen, die jeder nachvollziehen kann.

Wie Macht entsteht, mag in Anlehnung an ein Beispiel von H. Popitz veranschaulicht werden Ausgegangen werden soll von der Situation der Passagiere eines Mittelmeerschiffs, denen nur eine begrenzte Zahl von Liegestühlen auf dem Sonnendeck zur Verfügung steht (die also während der Fahrt auf die „knappen Mittel" angewiesen bleiben, die ihnen in Form von Liegestühlen geboten werden): a) Ausgangssituation: Man ist freundlich zu. einander, besetzt nur freigewordene Stühle undgibt diese ohne weiteres für andere Passagiere frei, wenn man aufsteht und sich an einen anderen Ort des Schiffes begibt. Da nicht alle zur gleichen Zeit das Bedürfnis haben, in Ruhelage zu verharren, gibt es zwar stets eine größere Nachfrage nach freigewordenen Liegestühlen; man nimmt dies in Kauf, da ein jeder davon ausgehen kann, daß er nach einiger Wartezeit wieder in den Besitz irgendeines Stuhlesgelangen wird(= genossenschaftliche Form des Umgangs ohne Konkurrenzrituale und ohne Besitzansprüche). b) Symbolische Inbesitznahme durch „Dauerbenutzer'': Wenn im Fortgang der Fahrt die Sonnenseite zum begehrtesten Ort des Schiffs wird, kann es geschehen, daß jene Liegestuhl-benutzer, die für einige Zeit ihren Platz verlassen, diesen mit irgendeinem Gegenstand belegen, um so anderen Interessenten zu verdeutlichen, daß das erworbene Nutzungsrecht auch bei Abwesenheit seines Besitzergreifers in der Verfügungsgewalt ein-und derselben Person verbleiben soll. Genügt das Kennzeichen durch liegengelassene Gegenstände im Stuhl nicht, so kann als nächste Maßnahme die Bitte an den jeweiligen Nachbarn treten, doch über den Stuhl solange zu „wachen“, bis derBe-nutzer ihn wieder zu belegen gedenkt. Auf diese Weise kann nun allmählich eine Art Solidarität unter den „beati possidentes“, den glücklichen Besitzern entstehen, die in dergegenseitigen Übernahme von Überwachungsfunktionen sich derart darstellt, daß eine Minderheit von Dauerbenutzern gegen eine Mehrheit von ausgeschlossenen Interessenten sich abgrenzt und wechselseitig darin beisteht, das Privileg der Nutzung gegen „Außenstehende" zu verteidigen. Es entsteht also eine Art Schutz-und Trutzgemeinschaft unter den Dauerbenutzern, die ihre Rechte nicht mehr als bloß individuelle, sondern als ihre „gemeinsamen" Rechte ansehen. Indem jeder dem anderen zu helfen bereit ist, „dessen" Rechte während seiner Abwesenheit wahrzunehmen und ein jeder erwarten darf, daß ihm dieser Schutz „seines" Nutzungsrechts ebenso zugutekommt, bildet sich eine Solidargemeinschaft der Dauerbenutzer (vergleichbar etwa einer Bürgerwehr). c) Arbeitsteilung und Entstehung einer Dienstleistungsgruppe: Da es auf einem Mittelmeerschiff auch Passagiere gibt, die das Schiff irgendwann verlassen, werden ab und zu Liegestühle frei. Inzwischen ist die Gruppe der Besitzenden so eng zusammengerückt, daß sie auch die freiwerdenden Stühle als die zu jhrem“ Verfügungsbereich gehörende Gesamtmasse ansieht. So kann es geschehen, daß ein Konsens darüber entsteht, Stühle nur an solche „Neulinge" zu vergeben, die sich auch verpflichten, hauptamtlich das Wächteramt zu übernehmen, so daß eine Arbeitsteilung zwischen „Benutzern" und „Wächtern" entsteht. Eine neue Organisation ist entstanden: Es gibt eine Kerngruppe von Altbevorrechtigten, denen nicht nur ein Dauerrecht auf die Benutzung ihres Stuhls „zusteht", sondern die auch von einer bestimmten Anzahl eigens dazu ernannter Wächter ihr Recht für die Dauer der Fahrt gleichsam „garantiert" erhalten. d) Szenenwechsel: Angenommen, während eines Menüs, zu dem sich alle Liegestuhlbenutzer in den Speisesaal begeben haben, strömt in einem Hafen eine neu eintreffende Besucher-gruppe auf das Schiffsdeck und bringt sich, ungeachtet der seitherigen Privilegienordnung, „handstreichartig" in den Besitz der Stühle. Da diese neu ankommende Gruppe mit den Verhältnissen auf dem Schiffvertraut ist, rückt sie alle Stühle näher zusammen, baut aus den übriggebliebenen eine Art Schutzwall und harrt der Dinge, die durch die überraschten und durch den Verlust ihrer Nutzungsrechte plötzlich ihrer „Privilegien" beraubten Passagiere auf sie zukommen. Angenommen, die neuen Besitzer rekrutieren sich aus beflissenen Mini-Mafiosi, so könnte man sich vorstellen, daß sie die Nutzungsrechte nur gegen solche Passagiere auf Zeit abzutreten bereit sind, die dafür eine bestimmte Gebühr entrichten. So entsteht möglicherweise allmählich ein schwunghafter Handel mit freiwerdenden Liegestühlen. Es finden sich Kassierer, die eine gemeinsame Kasse verwalten, am Ende abrechnen und den Erlös dem „Boß" aushändigen. Der wiederum kann, aufgrund seiner Monopolstellung, bei steigender Nachfrage die Preise hochschrauben, da sich nach geraumer Zeit die Verkehrs-form des Liegestuhlverleihs so eingespielt hat, daß es Neuankömmlingen, die von der Ausgangstage keine Ahnung haben, so erscheinen mag, als sei dieses System schon immer so gewesen. Sie fügen sich daher der „Monopolstellung" der Verleiher, entrichten ihre Gebühr und finden deren Höhe vielleicht sogar schon deswegen berechtigt, weil dadurch die große Zahl der Interessenten sich auf die der Zahlungskräftigeren vermindert, was ein Anstehen, Drängeln und sonstige Unbequemlichkeiten für die Zahlungskräftigeren und -willigen gar nicht erst aufkommen läßt.

Fragt man nun, wo in diesem vierstufigen Gruppenprozeß Macht entsteht, so wird man sagen können, daß in der Ausgangssituation (freier Zugang in genossenschaftlicher Form) und selbst nach der symbolischen Besitznahme durch Dauerbenutzer von „Macht“ im eigentlichen Sinne noch kaum gesprochen werden kann. Setzt ihr Vorhandensein doch immer voraus, daß die Verfügung über knappe Mittel durch eine Minderheit sich gegen die Rechte der von bestimmten Privilegien ausgeschlossenen Passagiere richten muß. Erst von dem Augenblick an, wo die Dauerbenutzer ihre Verfügungsrechte auch auf die von ihnen selbst nicht benutzten, leergewordenen Stühle ausdehnen und durch ein Vergabesystem mittels „Wächter" ein Monopol beanspruchen, dem andere sich beugen, entsteht eine Macht-pyramide: — Dauerbenutzer — Neulinge (Wächter) — Ausgeschlossene. Daß dies aber noch eine verhältnismäßig lose Form einer ersten Machtkonstellation darstellt, mag man schon daran erkennen, daß die beauftragten Wächter sich ebenso wie die Alteingesessenen zum Menü unter Deck begeben, um dann verblüfft nach ihrer Rückkehr nicht bloß den Verlust ihrer Privilegien festzustellen, sondern sich plötzlich einer in sich homogenen, geschäftstüchtigen Clique von Eindringlingen gegenübersehen, die nicht bloß durch symbolische Handlungen (Liegenlassen von Gegenständen auf verlassenen Stühlen), sondern durch einen Schutzwall von Liegestuhlmauern sich gegen die Außenwelt abschirmt und durch bestimmte, von einem Boß festgelegte Gebührenordnung den Zugang zu freigewordenen Liegestühlen reglementiert, daß heißt aber: hier besteht eindeutig ein Machtverhältnis zwischen einer kleinen, in sich festgefügten Clique und einer inhomogenen, diffusen Zahl von Interessenten, die erst nach Entrichtung einer Gebühr in den Genuß eines Liegestuhls gelangen können. Ermöglicht wird diese Machtbildung durch die Verfügungsgewalt über knappe Mittel im Sinne eines Monopols. Um von „Macht" im eigentlichen Sinne sprechen zu können, bedarf es darüber hinaus der Bereitschaft jener von den Nutzungsrechten Ausgeschlossenen, die sich der neuen Machtlage zu fügen willens sind, sowie eines anhaltenden Interesses an der Nutzung der Liegestühle. Gesetzt den Fall, es zöge ein Sturm auf, die Passagiere müßten alle schnell das Deck verlassen, so wäre mit einem Mal die gesamte Struktur der Machtbe-Ziehungen verschwunden: Das Monopol oder die „Machthaber“ lösten sich ebenso in nichts auf wie die Fügsamkeit der Interessenten; der schönste Liegestuhl wird zu einem belanglosen Ding, wenn durch einen jähen Wetterumschlag das Deck unbenutzbar geworden ist. Die Strukturen der Machtbildung könnte man also, ausgehend von diesem sehr vereinfachenden Beispiel, als die Durchsetzung eines bestimmten (Um-) Verteilungssystems ebenso knapper wie gefragter Mittel beschreiben. Drei deutlich voneinander unterscheidbare Strukturmerkmale von Machtbeziehungen lassen sich dabei bezeichnen:

1. die überlegene Organisationsfähigkeit bestimmter Gruppen („elitäre Minderheiten");

2. das Bestehen exklusiver (weil andere ausschließender) Verfügungsgewalten über knappe und begehrte Güter (Monopolbildung);

Prozesse der Anerkennung des Machtgefälles seitens der von der Machtausübung Betroffenen (Legitimierung der Macht im Sinne von Herrschaftsbeziehungen).

Erst mit der zunehmenden Abhängigkeit Außenstehender entwickeln sich Machtstrukturen zwischen Monopolisten und Ausgeschlossenen, aber auf Zugang angewiesenen Interessenten. So verfestigen sich mit der Durchsetzung bestimmter Verteilungsmonopolei auch die Machtstrukturen, d. h. bestimmte Mittel lassen sich als Instrumente der Machtausübung gebrauchen.

Macht und soziale Ungleichheit Es gibt viele Möglichkeiten, sich dem Phänomen politischer Macht zu nähern. Eine davon geht aus von der geschichtlichen Erfahrung, daß alle bisherigen Gesellschaften und kulturellen Ordnungen geprägt sind von dem zentralen Merkmal der Ungleichheit. Zumindest in allen differenzierten Gesellschaften, die uns bekannt sind, ist die ungleiche Verteilung von Macht, Reichtum und Wissen ein unübersehbares Charakteristikum.

In der Struktur sowohl der zeitgenössischen kapitalistischen als auch der „real existierenden sozialistischen" Gesellschaften sind die immateriellen und materiellen Güter, die zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse dienen, ungleich verteilt. Nun ist diese Tatsache in vorindustriellen Agrargesellschaften in der Regel nichts Ungewöhnliches, da in diesen ja die Ökonomie der Armut herrschte. Die Frage nach den Gründen der sozialen Ungleichheit konnte dort noch mit dem Hinweis auf den un. entwickelten Stand der Produktivkräfte beantwortet und gerechtfertigt werden: Es ent-sprach gleichsam einer „Naturnotwendigkeit* daß in derartigen Gesellschaften auch Macht ungleich verteilt war.

Anders ist dies in entwickelten Industriege. Seilschaften. Hier hat sich die durchschnittli. ehe Arbeitsproduktivität (das Sozialprodukt) derart vergrößert, daß die Reduzierung des Übermaßes an sozialer Ungleichheit als real möglich erscheint und damit die Veränderung des Machtgefälles selbst. Erst hierdurch wird die scheinbare Selbstverständlichkeit der sozialen Ungleichheit zu einer zentralen Frage Sie lautet: „Welche gesellschaftlichen Institutionen und Prozesse sind es, die in hochindustrialisierten Gesellschaften die Aufrechterhaltung eines Übermaßes an sozialer Ungleichheit ermöglichen, obwohl die Reduzie. rung dieses Übermaßes im Interesse der durch die Ungleichheitsverhältnisse benachteiligten Bevölkerungsmehrheit liegt und prinzipiell auch möglich sein müßte? ” 3)

Unter diesem Aspekt der sozialen Ungleichheit erscheint Macht als ein Merkmal oder eine Dimension sozialer Ungleichheit, die aus der unterschiedlichen Verfügungsmöglichkeit über das Denken und Verhalten anderer Menschen entsteht. Wer das Handeln anderer zu 'bestimmen vermag, ist demnach mächtig, wer dazu nicht in der Läge ist, gilt als ohnmächtig. Analog hierzu ist die Ungleichverteilung von Reichtum und Armut identisch mit der Frage nach der Verfügungsgewalt über die Produkte menschlicher Arbeit; die Ungleichverteilung von Wissen schließlich zeigt sich in der unterschiedlichen Verbreitung von Informationen. Macht kann somit „jede wesentliche Beeinflussung heißen, die ein Bestandteil der Gesellschaft über einen anderen ausübt bzw. ausüben kann, ohne daß dieser in der Lage ist, sich dem Einfluß zu entziehen"

So definiert, gehören zum Phänomen der Macht drei Grundelemente:

1. die Träger der Macht, von denen Einfluß ausgeht („Machthaber");

2.der Machtprozeß;

3. die Beeinflußten („Machtadressaten"). ßei den „Machthabern" lassen sich agierende und nichtagierende unterscheiden, je nachdem, ob durch beobachtbare Aktionen bestimmte Wirkungen hervorgerufen werden, oder ob allein an den Reaktionen anderer zu erkennen ist, daß von einem Machtträger ein Einfluß ausgeübt wird.

Es lassen sich beabsichtigte und nicht beabsichtigte Machtwirkungen unterscheiden. Als nicht beabsichtigt können indirekte Konsequenzen von Handlungen gelten. Ferner erlaubt der Machtprozeß eine Unterscheidung nach potentieller Macht und aktueller (manifester) Macht.

Es ist unerheblich, ob der Machthaber seinen Willen tatsächlich durchsetzt oder ob er die Fähigkeit besitzt, Macht auszuüben. Die „Chance" dazu als solche genügt, um von einem Machtprozeß zu sprechen.

Macht kann auch dadurch demonstriert werden, daß bestimmte Entscheidungen von den Machthabern bewußt unterlassen werden. Dieses „Non-Decision-Making" als „die andere Seite" der Macht bedeutet, daß bestimmte Konfliktstoffe und „brisante Themen" taktisch aus dem politischen Entscheidungsprozeß herausgehalten werden. Doch sind dies ebenso Machtprozesse — nur kommen sie gerade durch die Unterbindung bzw. Verdrängung von Machtkonflikten zustande. Der Grundgedanke hierbei ist, daß Mächtigere durch Beeinflussung von Prozeduren und Regelungen (= Verfahrensweisen) die Weichen rechtzeitig so stellen können, daß für sie problematische oder gefährliche Themen nicht im Entscheidungsprozeß auftauchen. Durch Propaganda, gezielte Informationssperren u. ä. m. können solche verdeckten Formen der Machtausübung stattfinden.

Machthandeln Im Gegensatz zum Politikbegriff der Antike und der praktischen Philosophie, für den das Streben nach einem höchsten Gut, dem „Gemeinwohl", Sinn und Ziel allen politischen Handelns war, kennt die neuzeitliche Politik-theorie (seit Machiavelli und Hobbes) kein derartiges allgemein verbindliches Fundament mehr. Für moderne Autoren wird oft das nackte Selbsterhaltungsinteresse, das sich im unbegrenzten Streben nach Macht ausdrückt, zur Wurzel und zum Wesen allen politischen Handelns. Die menschliche Natur, so wie sie empirisch sich darstellt, nicht irgendwelche Normen der praktischen Vernunft, werden hier zum Richtmaß politischer Theoriebildung. Eindeutig dient diese neue, materialistisch orientierte Perspektive in der Theorie des Thomas Hobbes als Grundlage der Politikbestimmung. Für ihn ist menschliches Glück kein Zustand, sondern „ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstandes nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand treibt". Getreu dem Motto: „wer rastet der rostet" wird hier ein Porträt vom modernen kapitalistischen Wirtschaftsund Erwerbsbürgertum entworfen, wie es in dieser Drastik wohl nirgends sonst zum Ausdruck kommt. Damit wird Macht als das Streben nach immer mehr Geltung, Ansehen oder Einfluß in ihrer Eigendynamik begriffen bis hin zu einer völligen Formalisierung dieses Machtstrebens, das sich letztlich gegenüber den individuellen Bedürfnissen verselbständigt und die Oberhand gewinnt.

Hobbes hat erkannt, daß es bei allem Machtstreben nicht einfach um Machterlangung geht, sondern um die sicherste Lösung auch der künftigen Chancen fortwährender Macht-erweiterung. Macht ist hier eine gesellschaftliche Dynamik, die zwar einerseits — als „Machtstreben“ — zur Natur des Menschen gehört, andererseits aber, höchst prekär, in ihrem Bestand darauf angewiesen ist, von Seiten der anderen jeweils anerkannt und respektiert zu werden. Macht erscheint daher nicht als Besitz, sondern als eine Art Kapital, dessen Anlagemöglichkeiten ständig umkämpft und bestreitbar sind, so daß jede Form des Sichausruhens auf einmal erworbenen Machtpositionen dem gesellschaftlichen und politischen Selbstmord gleichkäme.

Hobbes hat dieses Motiv wie folgt formuliert: „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der Grund hierfür liegt nicht immer darin, daß sich ein Mensch einen größeren Genuß erhofft als den bereits erlangten, oder daß er mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, daß er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann. Daher kommt es auch, daß Könige, deren Macht am größten ist, ihre Anstrengungen darauf richten, diese im Innern durch Gesetze und nach außen hin durch Kriege zu sichern, und ist dies erreicht, so folgt ein neues Verlangen." Dies ist eine treffende Beschreibung des Prinzips der bürgerlichen Eigentumserwerbsgesellschaft!

Die Ursachen, die zu dieser Formalisierung des Politischen zum bloßen Machthandeln geführt haben, sind vielfältig. Sie hängen mit der Auflösung eines politischen Kosmos zusammen, wie ihn in der griechischen Antike die Polis und im Mittelalter die ständisch-monarchische Ordnung noch kannten. Erst mit deren Zerfall entstanden, gleichsam als Ersatzinstitutionen, die neuzeitlichen absoluten Staaten, in denen das Machtmonopol als das Ergebnis einer Konzentration von Machtmitteln den Inhabern staatlicher Gewalt zugefallen war. Es gab nun, aus der Perspektive der miteinander rivalisierenden, einander bekriegenden Machtstaaten kaum ein Ziel, das nicht zum Inhalt politischen Handelns hätte werden können: Veränderung und Erhaltung gesellschaftlicher Strukturen ebenso wie die Durchsetzung imperialer Ansprüche durch die Anwendung kriegerischer und kolonialer Gewalt. Politisches Handeln vollzieht sich stets im Rahmen bestimmter historisch-sozialer Bedingungen; es kann folglich nicht aus sich selbst, d. h. isoliert verstanden werden. Vielmehr gehört zum Begriff des politischen Handelns der der gesellschaftlichen Beziehung hinzu. Insofern ist politisches Handeln auf Öffentlichkeit hin angelegtes und damit die Interessen anderer betreffendes Handeln. Was zwischen Menschen sich abspielt, ihr „Interesse", gehört zum Kern des politischen und sozialen Handelns. Wie das politische Handeln selbst, so darf auch Macht als eine soziale Beziehung gelten, bei der einander entgegenstehende Willens-richtungen als bewegendes Prinzip fungieren. Hierher gehört Max Webers Bestimmung, wonach „Macht jede Chance" bedeutet, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht Doch beschränkt sich der Inhalt sozialer Beziehungen, die als Machtverhältnisse sich darstellen, keineswegs auf dieses formale Element, sondern Macht umschreibt ebenso die aktive, bewußte Gestaltung der Gesellschaft und der Natur, da hier in der Regel zweckgerichtete Willen tätig sind.

Eine abschlußhafte Definition des Politischen durch das ihr spezifische Mittel: die Machtbe-Ziehung,bleibt letztlich doch unbefriedigend!

Nicht geleugnet werden kann, daß politisches Handeln im Medium von Machtbeziehungen sich vollzieht, auch gehört das Element des Zwanges in seinen verschiedenen Formen zu solchen Machtbeziehungen — doch: genügt diese Bestimmung des Politischen?

Abstrahiert diese Gleichsetzung von politi.

schem Handeln mit Machthandeln nicht von einer Reihe weiterer, nicht weniger wichtiger Bestimmungen des Politischen? Auch wer da-

von ausgeht, daß die Verfügung über bestimmte Machtchancen und -mittel zu den Voraussetzungen politischen Handelns ge.

hört, wird die Mittel und die Bedingungen po.

litischen Handelns mit dem Politischen selbst nicht umstandslos gleichsetzen dürfen.

Von Macht kann dort gesprochen werden, wo es eine Über-und Unterordnung, d. h. Machthabende und von der Macht Ausgeschlossene gibt. Voraussetzung der Machtstellung können u. a.sein: Verfügungsmöglichkeiten über knappe Mittel, die begehrt sind, und die damit gegebene Kompetenz zur Verteilung dieser Mittel. Das Machtpotential ist somit gebunden an die Chance, allgemein anerkannte Verteilungsprozeduren erfolgreich durchsetzen zu können. Dazu gehört bei allen Beteiligten die Anerkennung der jeweiligen Machtstrukturen, die ebenso eine gegenseitige Anerkennung der Privilegierten wie die Gehorsamsbereitschaft der minder Mächtigen den Machthabern gegenüber bedeutet. Gestützt werden Machtordnungen durch verschiedene Formen des Legitimitätsglaubens. Dazu gehören vor allem 1. die Unterlegenheitslegende (Machthaber und Machtunterworfene können nicht auf gleicher Ebene verglichen werden);

2. die Legende von der funktionalen Gleichheit (ein jeder dient der Ordnung an seinem Platz; jede Leistung ist gleich notwendig zur Erhaltung der Ordnung);

3. die Legende der Chancengleichheit: Jeder ist seines Glückes Schmied und muß daher einmal klein anfangen („Marschallstab im Tornister"). Für die Rechtfertigung von Machtordnungen gilt: So wie die Machthaber im Sinne dieser Ordnung „tun müssen“, was sie wollen, so „wollen" die Unterworfenen, was sie müssen. Durch die Anerkennung der Machtverhältnisse seitens der Unterworfenen wird vermieden, daß die Mächtigeren fortwährend als Unterwerfende auftreten und die Unterworfenen ständig unterworfen werden müssen. Dies ist für die Herausbildung sozialer Gewißheiten erforderlich: Die Legitimitätsgewißheit der Privilegierten wird gestützt durch das Einverständnis der Machtunterworfenen mit der Machtordnung.

Machtbeziehungen bilden in der Regel komplexe Beziehungsgefüge, eher einer Balance zu vergleichen als einem statischen Verhältnis. So hat Norbert Elias im Hinblick auf das Machtphänomen von einer „Machtbalance" gesprochen Er weist darauf hin, daß alle menschlichen Beziehungen aus einem solchen Element fluktuierender Machtbalance bestehen und daß diese Tatsache als solche zu trennen sei von ihrer moralischen Bewertung.

„Macht“, begriffen als die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" (Max Weber), findet sich in nahezu allen gesellschaftlichen und privaten Bereichen; sei es in Krankenhäusern, Schulen, Vereinen, und — nicht zuletzt — auch in der Familie. Sie kann hier sogar, weil personengebunden, oft direkter und unkontrollierter ausgeübt werden als im politischen System, das in der Regel „Positionsmacht" kennt. Von „politischer" Macht im engeren Sinne spricht man erst dann, wenn von ihr die Lebensinteressen bzw. die Existenz einer erheblichen Zahl von Bürgern betroffen sind. Dies setzt stets einen gewissen Konzentrationsgrad der Machtmittel voraus.

Der strukturelle Machtbegriff setzt den Zwang der Verhältnisse selbst als entscheidenden Machtfaktor. „Machthaber" sind hier nicht bestimmte Individuen, sondern soziale, ökonomische, politische u. ä. Strukturen oder Normen. So hat der amerikanische Soziologe C. W. Mills den Machtbegriff dahin anonymisiert, daß er darunter die in hierarchisch orga-nisierten Gesellschaften — auf Grund der Konzentration und Reichweite der zur Verfügung stehenden Machtmittel — eintretende Situation des Ausgeliefertseins an Entscheidungen begreift, für die keiner mehr persönlich verantwortlich zu nennen ist Was früher einmal „göttliche Fügung" oder „Schicksal“ hieß, wird in modernen Gesellschaften auf Seiten der Machtunterworfenen zum politischen Alltag. In ähnliche Richtung zielt Johan Galtung mit seiner Definition der „strukturellen Gewalt" Wie immer man Macht definiert: Zu ihren Voraussetzungen gehören u. a. eine Hierarchie (Mächtigere bis Ohnmächtige), bestimmte Machtmittel (z. B. Ressourcen, Medien, Verwaltungsapparate, militärische Ausrüstung), Chancen der Machtausübung sowie ein zeitlicher Prozeß, in dem der Einsatz der Machtmittel geplant und durchgeführt wird. Schließlich gehört zu den Merkmalen der Macht stets eine Sanktionsgewalt, die im Konfliktfall aufgrund bestimmter Entscheidungen manifest werden kann.

Faßt man nicht die Macht, sondern die Gewalt als die zentrale Kategorie des Politischen, so erscheint Macht als eine Spielform von Gewalt neben Herrschaft, Autorität, Terrorismus, Unterdrückung, Ausbeutung, Zwang u. a. m. Als Gegensätze wertet demgegenüber Macht und Gewalt Hannah Arendt; sie sieht in der Macht — im Gegensatz zur Gewalt — die notwendige Bedingung aller sozialen und politischen Ordnungen. Denn zur Macht gehöre ihre Institutionalisierung, die sie in Abhängigkeit bringt von der Akzeptanz durch eine Mehrheit. Macht hängt demnach ab von der Zahl der sie stützenden Anhänger; Gewalt hingegen von der Kraft der Werkzeuge „Macht“ und „Gewalt" sind ebenso wie „Macht" und „Herrschaft" zwar miteinander verwandte, aber durchaus nicht identische Begriffe.

Herrschaft und Staatsgewalt

Zwei Extrempositionen lassen sich im Blick auf den Begriff und die Bewertung von Herrschaft deutlich voneinander unterscheiden: Zum einen die auf jüngste historische Erfahrungen mit totaler Herrschaft gründende Konzeption, die einen Abbau nicht demokratisch legitimierbarer Herrschaft anstrebt; zum andern jene, die unter Verweis auf die Notwendigkeit von Autorität und Herrschaft in allen Gesellschaften aufgrund der ständig drohenden Auflösung aller Ordnungen, die über-haupt erst Rechtssicherheit, Freiheit und Leben der Bürger garantieren, politische Herrschaft um jeden Preis zu stabilisieren sucht. Ohne sie, so wird gefolgert, gäbe es einen Rückfall in das Zeitalter des Faustrechts, in Anarchie und Chaos.

Droht für die Verfechter der auf Herrschaftsabbau und Herrschaftslosigkeit ausgehenden Richtungen die Gefahr eindeutig von einem Zuviel staatlicher Herrschaft, so sehen umgekehrt die Vertreter der herrschaftsfreundlichen Position das Übel gerade in der Auflösung und im Abbau von Herrschaft, weil diese als gleichbedeutend mit jeglicher Rechtssicherheit gesehen wird.

Offenbar liegt diesen kontroversen Positionen ein grundverschiedenes Bild von der Natur und Verfassung des Menschen, seiner Lernfähigkeit und Soziabilität zugrunde.

In der Geschichte der politischen Theoriebildung läßt sich dieses Neben-und Gegeneinander mit den beiden Traditionssträngen des „Hobbismus" und des „Rousseauismus" plakativ so kennzeichnen: Hobbismus als die Grundannahme, wonach die Menschen von sich aus weder friedfertig noch vernünftig sind, daher allein durch Autorität und Herrschaft zum Frieden gezwungen werden müssen; Rousseauismus als die Prämisse der Lernfähigkeit des Menschen mit der Zielvorstellung einer Auflösung von Herrschaft in ein die Freiheit und Gleichheit aller verbürgendes Gesetz. „Macht“ und „Herrschaft"

In der Perspektive der von Max Weber getroffenen Bestimmung von Macht als der „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen", liegt es, Macht als das Vermögen zu bezeichnen, Ziele und Erwartungen anderer auch gegen ihren Willen zu definieren. Demgemäß wäre Herrschaft jener Zustand, in dem die Erwartungen derer, über die Macht ausgeübt wird, sich dem Zustand des Sich-Fügen-Müssens auch in ihrem Bewußtsein angepaßt haben. Die Machtverhältnisse haben sich im Herrschaftsverhältnis im Sinne einer Macht-balance so eingespielt, daß die Beziehungen zwischen den Mächtigeren und den weniger Mächtigen den Charakter des Selbstverständlichen angenommen haben.

Somit bedeutet Herrschaft stets zugleich auch Begrenzung von Macht. Da Macht die Tendenz besitzt, sich ständig auszudehnen, müssen ihre Träger notwendig danach streben, sie zu stabilisieren. Dies kann nur so geschehen, daß die Rollenerwartungen der von einer Machtbeziehung Betroffenen zu einem voraussehbaren Erwartungszusammenhang und Verhalten verfestigt werden. Geschieht dies so ist aus einer Machtbeziehung ein Herr-'

Schaftsverhältnis geworden.

Der Prozeß, der zur Verfestigung von Macht-beziehungen zu Herrschaftsstrukturen führt kann als Institutionalisierung bezeichnet werden. Jede Form der Institutionalisierung von Macht führt zu ihrer Verfestigung, aber auch zu ihrer Begrenzung. Herrschaft ist hier sozusagen zweiseitig verankert: Sie verpflichtet nicht bloß die Herrschaftsunterworfenen, son-dern ebenso auch die Herrschenden. Machtbeziehungen stellen eine primär asym-metrische Beziehung dar, da es hier überlegene und Unterlegene gibt (Befehl — Gehorsam), während das Herrschaftsverhältnis über die Asymmetrie hinaus einen reziproken Charakter trägt, da die Beherrschten nicht allein wegen der Überlegenheit der Herrschenden gehorchen, sondern weil das Herrschaftsverhältnis selbst zumindest dem Scheine nach als beiderseitige Verpflichtung erscheint. Diese Verpflichtung und Reziprozität ist ein wesentliches Ergebnis der Institutionalisierung von Machtbeziehungen zu Herrschaft. Machtmittel werden nunmehr als Sanktionsmittel definiert und damit in ihren Möglichkeiten begrenzt. Da Herrschaft stets an Befugnisse und darauf bezogene Positionen gebunden ist und diese Positionen sich in einer bestimmten Ordnung zueinander befinden, gehört zur Herrschaft das Moment der Institutionalisierung, die aus Herrschaftspositionen eine Herrschaftsstruk-Zur werden läßt. Herrschaft und Rangordnung, Herrschaft und Organisation gehören daher eng zusammen.

Für die spezifische Qualität von Herrschaftsformen ist nicht von Bedeutung, daß in ihnen auch Machtbeziehungen vorzufinden sind oder daß in aller Herrschaft auch ein Gewalt-potential angelegt ist, das der Durchsetzung von Herrschaftsordnungen — in letzter Instanz — dient, sondern vielmehr, daß Herrschaft stets — auf Dauer angelegte Beziehungen herstellen will („Ordnung"), — der Institutionalisierung bedarf und — nur durch Zustimmung der Beherrschten aufrechterhalten werden kann (Legitimitätsbedarf der Herrschaft).

Insofern ist Herrschaft weder eine reine Ge--waltbeziehung noch ein bloßes Machtverhält-i nis. Zwar sind in allen Herrschaftsformen Gewalt und Macht als Teilmomente latent vor-22 handen, doch sind beide nicht kennzeichnend für das Spezifikum einer Herrschaftsordnung. Ihr charakteristisches Merkmal ist die Tatsache, daß sich hier das Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten in der Form dauerhafter, geregelter Rechtsbeziehungen darstellt. Ihnen liegt eine mehr oder minder große Palette sanktionierter Normen zugrunde, deren Durchsetzung nur im Ausnahmefall durch die Anwendung von Gewaltmaßnahmen erzwungen werden kann und soll.

Auch wo Kampf und Rivalität um Macht stattfinden, gelten kodifizierte Verfahrensregeln für die Austragung solcher Konflikte. Denn die Herrschaftsordnung bildet einen Rahmen, innerhalb dessen die miteinander in Beziehung tretenden (konkurrierenden bzw. konfligierenden) Individuen und Gruppen ihre jeweiligen Interessen durchsetzen können. So sollen die in staatlichen Ordnungen zur Verfügung stehenden Zwangsmittel (Polizei, Justiz) erst dann zum Zuge kommen, wenn alle anderen Herrschaftsmittel (Konsensbildung, Kompromiß, Vertrag) erfolglos geblieben sind. Auch dann, wenn dies geschieht, erscheint Gewaltanwendung nur gerechtfertigt, um der verfassungsmäßig festgelegten Ordnung des Rechts und dem Gesetz erneut unumschränkte Geltung zu verschaffen. In modernen Staaten ist die Anwendung solcher Zwangsmittel monopolisiert, weshalb sie als der Prototyp politischer Herrschaftsordnungen gelten dürfen

In der Tat dient in der Politischen Soziologie der moderne Staat, wie er sich seit der Renaissance entwickelt hat, als das Modell politischer Herrschaft. Auch in seiner Form als Verfassungs- und Rechtsstaat bedeutet er keineswegs den Verzicht auf Gewalt, sondern ihre Regulierung und Beschränkung durch bestimmte Rechtsformen und Verfassungen.

Herrschaft und Institution Wird der Begriff der Herrschaft als institutionalisiertes Machtverhältnis bestimmt, so bedarf es einer Vorstellung davon, was in diesem Zusammenhang „Institutionalisierung" und „Institution" bedeuten soll. Es gibt primär gesellschaftliche (etwa Familie, Privateigentum) und politische Institutionen (z. B. Wahlen, Verfassungen, Staatsorgane), und es wäre zu fragen, was ihnen gemeinsam ist. Institutionen weisen eine spezifische Struktur auf, die sich daraus ergibt, daß in ihnen auf Dauer angelegte, geregelte Formen menschlichen Zusammenhandelns vorherrschen. Von den in einer Institution kooperierenden Individuen wird die grundsätzliche Übereinstimmung über bestimmte Verhaltensformen und -erwartungen („Spielregeln“) vorausgesetzt, die einen — innerhalb der jeweiligen Institution geltenden — Konsens schafft. Diese Übereinstimmung bildet die gemeinsame Grundlage des Handelns aller in Institutionen lebender Mitglieder. Werden in Institutionen Entscheidungen getroffen, so erfolgt in der Regel deren Anerkennung durch die von diesen Entscheidungen Betroffenen. Diese Legitimierung von Entscheidungen durch Zustimmung oder Akzeptierung als (auch in ihren Konsequenzen) verbindlich für alle Mitglieder gehört zu den wichtigsten Funktionen einer Institution.

Faßt man den Institutionenbegriff in dieser Weise, so ergibt sich eine enge Berührung mit anderen politischen Begriffen, wie z. B. „politische Struktur", „politische Ordnung" oder „Verfassung". In all diesen Begriffen geht es um die Bezeichnung bestimmter Rahmenbedingungen, innerhalb deren sich politische Handlungs-und Entscheidungsprozesse abspielen. Bereits hieraus ergibt sich, daß Institutionen auf Dauer angelegte Einrichtungen darstellen, deren Zweck darin besteht, relativ beständige Regelungen für das Zusammenhandeln ihrer Glieder zu schaffen. So läßt sich die allgemeinste Funktion politischer Institutionen dahin bestimmen, daß sie Verläßlichkeiten schaffen, politisches Handeln bis zu einem gewissen Grade berechenbar und voraussehbar machen und damit der Beliebigkeit und Willkür individueller Ziele Schranken setzen. Im Hinblick auf den einzelnen spricht man in diesem Zusammenhang von einer Entlastungsfunktion weil sie ihn davon befreien, in den wechselnden konkreten Situationen sich immer neu entscheiden zu müssen.

Legitimation und Herrschaft Stabilität und Krise politischer Ordnungen gehören zu den Standardthemen der Politischen Soziologie. Stets kommt dabei das Problem ins Spiel, wann und unter welchen Bedingungen eine politische Herrschaft als rechtmäßig („legitim") gelten könne, worin die Kriterien für 1 deren Legitimität zu suchen seien, und weiter: ob es einen Zusammenhang zwischen der Legitimität einer Herrschaft und ihrer Stabilität gibt.

Offensichtlich verbindet sich mit der Vorstellung von der „Rechtmäßigkeit" einer politischen Herrschaftsordnung der Gedanke, daß ihre — wie auch immer zustandegekommene — Legitimität eine Art Bindekitt nicht bloß im Sinne der Verbandsintegration, sondern auch eine Art höherer Instanz sei, auf die Herrschende wie Herrschaftsunterworfene sich berufen können. Und in der Tat erscheint eine für legitim gehaltene Herrschaft auf Dauer wirksamer als eine illegitime. Es gilt als Erfahrungssatz, daß keine Herrschaft auf Dauer möglich ist, ohne bei den Unterworfenen als legitim zu gelten.

Der Grund hierfür liegt darin, daß Legitimität den Konsens und die Zustimmung zu den Herrschaftsakten verstärkt und damit die Ausübung von Herrschaft erleichtert. Eine von der Aura der Rechtmäßigkeit umgebene Herrschaft kommt offenbar mit einer geringeren Sanktionsgewalt aus, wodurch Legitimität ihrerseits wieder zu einem Mittel der Geltungssicherung von Herrschaft werden kann. Im Staatsrecht unterscheidet man zwischen zwei Formen der Legitimität: einer äußeren und einer inneren. „Äußere" Legitimität besagt soviel wie die Respektierung der Grenzen eines Staates von Seiten der Nachbarstaaten, seiner Bewohner ebenso wie der aller anderen, die seine Staatsgrenzen passieren. Sie meint vor allem die Anerkennung der Hoheitsbefugnisse eines Staates auf seinem Territorium. „Innere Legitimität" hingegen hat es mit der Anerkennung der Rechtmäßigkeit eines bestimmten politischen Regimes bzw. eines Regierungssystems zu tun und hängt mit der Frage zusammen, inwieweit das Volk, die Gesellschaft, am Zustandekommen einer Regierungsform und der Entscheidungen der Träger staatlicher Gewalt beteiligt ist. Innere Legitimität ist somit auch davon abhängig, inwieweit sich die Interessen der Mehrheit einer Gesellschaft in den politischen Entscheidungen und Gesetzen wiederfinden (Repräsentationsprinzip). Für den modernen Staat ist das Legitimitätseinverständnis durch eine für alle Bürger geltende Rechtsordnung die spezifische Form des Legitimitätsglaubens. Der Beachtung dieser Rechtsordnung wird durch eine eigens hierfür bestellte Justiz-und Polizeigewalt Nachdruck verliehen.

Die bis heute zu beobachtende Tendenz zur Verstaatlichung der Rechtsnormen ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, in dem Träger von Zwangsgewalt (Stämme, Sip. pen, Familien usw.) ihre Macht über den ein. zelnen allmählich einbüßten und sich damit als Rechtsinstanz auflösten. Was eintrat, war eine zunehmende Monopolisierung der Kompetenz für die Schlichtung von Streitigkeiten gemäß einer einheitlichen Rechtsordnung. Es entstand damit die Grundlage für jenen Herrschaftstyp, den Max Weber als „rationale“ Herrschaft bezeichnet, weil in ihr nicht mehr der Glaube an eine bestimmte Person, deren Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern primär das Einverständnis mit einer gesatzten Ordnung die Grundlage des Herrschaftsverhältnisses bildet.

Bürokratie Gegenüber feudaler und ständischer Fürsten-herrschaft kann bürokratische Verwaltung in legalen Herrschaftsformen in doppeltem Sinne als „rationale" Herrschaftsform bezeichnet werden: Einmal, weil sie rechtlich begründet wird und Recht als Herrschaftsgrundlage vernünftiger erscheint als die vorangegangene Traditionsgeltung oder gar die „Willkürgeltung" charismatischer Herrscherpersönlichkeiten. Demgegenüber ist für politisches Handeln einer legalen Staatsverwaltung die Anwendung und Durchsetzung von Rechtsnormen kennzeichnend; es ist kalkulierbar und frei von persönlicher Willkür. Dem Recht gehorchen und nicht der Willkür von Personen, besitzt für die Herrschaftsunterworfenen eine neue Qualität: Sie sind nicht mehr bloß Untertanen, sondern zugleich Bürger, sobald sie selbst Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnen. Zum zweiten gilt die legale Herrschaft als „rational", weil ihr Herrschaftsinstrument, die bürokratische Verwaltung, sich durch eine besondere Zweckmäßigkeit auszeichnet. In dieser allen vorangegangenen Herrschaftsmitteln überlegenen Zweckmäßigkeit liegt offenbar der Grund ihrer Unentbehrlichkeit für jede moderne Gesellschaft.

Trotz der Kennzeichnung der öffentlichen Verwaltung als einer „rationalen" Form der Herrschaft ist Webers Urteil über bürokratische Herrschaftsformen doch vorwiegend kritisch: Die Tendenz zur zentralen Bürokratisierung bezeichnete er als ein „Gehäuse für die neue Hörigkeit"; ferner wies er auf die zunehmende Innovationsfeindlichkeit einer etablierten Beamtenherrschaft hin.

Als der für industrielle Gesellschaften bedeutsamste und wichtigste Herrschaftstyp kann wohl der der bürokratischen Herrschaft gelten. Es spricht manches für die Annahme, daß alle politischen Systeme mit zentralistischer Organisation sich zumindest darin einander angleichen, daß in ihnen Verwaltungsapparate existieren, in denen Beamtenstäbe als Exekutivorgane gesetzlicher Regelungen tätig sind. Jede Form der Verwaltung, ob öffentlich oder nichtöffentlich, arbeitet nach bürokratischen Regeln. Und es ist gerade diese universelle Verwendbarkeit, die Beliebigkeit der Zwecke, für die das Herrschaftsinstrument Bürokratie sich einspannen läßt, die ihrer Unentbehrlichkeit in heutigen Gesellschaften zugute-kommt. Verwaltungsapparate, einmal als effiziente Regelungsinstrumente für alle möglichen Zwecke errichtet, entwickeln ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Sie können, losgelöst von den mit ihnen ursprünglich verbundenen Absichten, getrost weiterexistieren, ja, aus ihrem Eigenleben völlig neue Schein-Zweck-setzungen produzieren, die ihre Effizienz und Existenzberechtigung „beweisen".

Bürokratien tendieren dazu, eine gewisse Eigengesetzlichkeit zu entwickeln und schließlich zum Selbstzweck zu werden. Die Herrschaft von Bürokratien ist schon darum so schwer zu verringern oder gar zu beseitigen, weil an ihrer Oberfläche, in den alltäglichen Verfahrensweisen, Richtlinien, Erlassen und Maßnahmen im Detail, formal gesehen, alles „mit rechten Dingen zugeht" und dieses hohe Maß an formaler Rationalität jeden Einwand gegen deren Sinn und Bestimmung zum Schweigen bringt. Was so effizient ist, so gut bis ins einzelne durchdacht und organisiert, muß — so meint man — doch wohl einen „höheren" Sinn haben, wogegen Kritik sich oft als altmodische Nörgelei, als bloße Nostalgie ausnehmen mag.

In der Tat gerät, unter den Bedingungen des heutigen Sozialstaats, eine pauschale Kritik an der Existenz öffentlicher Verwaltung nur allzu leicht in den Widerspruch des Zugleich-Verdämmens und dennoch auch wieder Fordern-Müssens: Die Klage über die Anonymität, Undurchsichtigkeit und Übermacht bürokratischer Staatsapparate schlägt doch auch rasch wieder um in den Ruf nach Hilfe von Seiten irgendeiner Behörde, die Dinge regeln und Bereiche schützen soll, bürokratisch organisierter Instanzen, an die man sich hilfesuchend wendet, denen man doch zugleich ausgeliefert bleibt.

Die Diskrepanz zwischen „Behördenlogik" und Bürgerinteressen ist systembedingt, Folge der Arbeitsteiligkeit, des Handelns nach Verwaltungsvorschriften. Man könnte einen Grund für die oft seltsam anmutende Bürokratenlogik im fortschreitenden Prozeß sektoraler Verengung und Parzellierung von Vorgängen sehen, bei der die Stelle (das Amt) A von den Verfahrensmaximen der Stelle B keine Notiz nimmt, beide sich vielmehr so verhalten, als handle es sich nicht um die gleichen Personen, denen sie ihre Dienste zukommen lassen. Vielmehr wird der etwa Wohnung-und Stellungsuchende streng arbeitsteilig, bürokratisch konsequent, auseinandergerissen in den einen Teilbürger, der Arbeit, und in einen zweiten, der Wohnung sucht. Daß diese beiden Hälften „zufällig" ein und dieselbe Person ausmachen, ist demgegenüber belanglos und „gleichgültig".

Seitdem Staaten und staatsähnliche Formen der Zentralisierung von Macht und Herrschaft existieren, gibt es auch Verwaltungsapparate im Dienste der Erhaltung solcher Herrschaft. Neu sind heute lediglich der hohe Grad und das Ausmaß, Umfang und Reichweite bürokratischer Verwaltung, die in fast alle Lebensbereiche vordringt und kaum einen Sektor des privaten Daseins ausspart.

Dies hat dazu geführt, von der Totalität einer „verwalteten Welt“ zu sprechen, in der wir seit geraumer Zeit leben. Es gibt, sieht man sich genau um, immer weniger rechtsfreie Räume, in denen noch nicht irgendwelche Grenzpfähle die Herrschaftsgebiete abgesteckt haben

Der Weberschen Theorie zufolge entsprechen sich nicht allein legale Herrschaft und Bürokratie, sondern beide besitzen eine strukturelle Affinität zur kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft, in deren Gefolge sie sich entwickeln konnten. Die marktorientierten Konkurrenzmechanismen zwingen zur selben formalen Rationalität, die sowohl der Gesetzgebung als auch dem bürokratischen Handeln zugeschrieben wird.

Je größer und flächendeckender die Verwaltungsapparate in modernen Großgesellschaften, um so formaler werden auch die gesetzli-chen Vorschriften, da sie es gestatten, alle anliegenden Einzelfälle unter allgemein geltende Regeln zu subsumieren. „Objektivität" in diesem Sinne kann nur heißen: Berechenbarkeit des jeweiligen Maßes an Leistung, bezogen auf die Lage des Falls, die wiederum nur durch den Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen zu erkunden ist. Gefordert hierfür sind eine Vielzahl von Abstraktionsleistungen, wie sie im Recht und in der Rechtsfindung, soweit sie rationalen Gesetzen gehorchen, an der Tagesordnung sind. Rechtsprechung in einem System bürokratischer Herrschaft ist nur effizient, sofern sie auf der Grundlage eines einheitlich geltenden Rechtssystems erfolgt, dessen universelle Anwendung durch die Justiz nur in Rahmen kodifizierter Verfahrensregeln möglich ist (Subsumtionsprinzip).

Die Abstraktheit dieser Regeln garantiert Berechenbarkeit und soll es ermöglichen, von einer zentralen Spitze her die Prozeduren ihrer Anwendung erfolgreich zu kontrollieren.

So ist es auch zu verstehen, daß eine einmal perfekte Bürokratie ein soziales Gebilde darstellt, das nur außerordentlich schwer wieder aufzulösen ist. Die spezifischen Formen arbeitsteiliger Kooperation, gefaßt in die Regeln verfahrenstechnisch „objektiver" Gesetzmäßigkeiten, führen bei allen Beteiligten — Bürokraten wie Herrschaftsunterworfenen — zu einer bestimmten Mentalität, die auf die Inne-haltung der überkommenen und daher gewohnten Normen und Reglements programmiert ist. Zumal die Beamten, doch nicht nur sie, werden eingestellt auf das gehorsame Sich-Fügen in jene Ordnungen, die, wenn der bürokratische Mechanismus einmal gestört ist, diesen wieder zum „Einschnappen" bringen.

Besonders in Deutschland ist die Bindung an Tradition und Ideologie des Obrigkeitsstaates bekanntlich eine starke Klammer, die über Generationen hinweg sehr unterschiedliche politische Verfassungen überdauert hat. Zwar ist die Bürokratie keineswegs ein Spezifikum der deutschen Geschichte, doch hat sie hier, schon aufgrund der langandauernden Viel-staaterei, im Laufe der Zeit eine besondere Bedeutung gewinnen können. Der preußisch-deutsche Beamtenstaat wurde von oben nach unten gebaut, durch absolut regierende Fürsten mit Hilfe einer eingespielten Bürokratie. Der von da ausgehende Hang, primär von oben nach unten zu denken, hat sich hierzulande auch auf die hierarchische Apparatur des Beamtenstabes fortgepflanzt (Tucholsky: „Es ist das Schicksal eines jeden Deutschen, vor dem Schalter zu stehen und seine Sehnsucht, dahinter zu sitzen").

Bürokratie — Diener oder Herrscher?

Die Frage nach der Verselbständigung der Verwaltungsapparate gegenüber ihrem ursprünglich instrumenteilen Charakter, d. h. das Problem, wieweit eine umfangreicher werdende und durch Fachwissen qualifizierte Bürokratie gegenüber ihrer Bestimmung als eines „neutralen“ Instruments zu einem eigenen Machtzentrum werden konnte, ist ein zentraler Gegenstand der Bürokratieanalyse und -kritik.

Grundlage und eigentliche Quelle der politischen Machtstellung bürokratischer Apparate ist das sachverständige Geheimwissen des Fachbeamten. Allerdings gilt dies, von der Binnenstruktur her gesehen, nur für die Ministe-rialbürokratie, kaum für das Heer der Beamten, die zwar zur Geheimhaltung verpflichtet, doch deswegen nicht schon als Teilhaber bürokratischer Herrschaft zu bezeichnen sind. Gleichwohl erscheinen sie oft, zumindest in ihrem Selbstverständnis und Außenstehenden gegenüber, als Geheimnis-und Hoheitsträger.

Durch die Geheimhaltung ihrer Kenntnisse und Absichten sucht die Bürokratie, wem immer sie dient, ihre Überlegenheit noch zu steigern; deshalb das Erfordernis des Ausschlusses der Öffentlichkeit. Hinter dem Begriff des „Amtsgeheimnisses" verbergen sich zwar oft nur Absicherungstendenzen gegen rivalisierende Interessen oder aber die auf Kontrolle bedachte Parlamentsöffentlichkeit. Doch wirkt sich das Mittel der Geheimhaltung zweifellos als Machtsteigerung im Sinne der Reputation des bürokratischen Apparats aus, wodurch etwa aufkommenden Widerständen gegen geplante Maßnahmen vorgebeugt werden soll. Machtstellung und Machtbewußtsein der Amtsträger in einer Bürokratie steigern ihrerseits die Macht der Gesamtorganisation, so daß die auch durch Disziplinarmaßnahmen sanktionierte Geheimhaltungspflicht zu einer wichtigen Quelle innerbürokratischer Kohäsion werden kann.

Für die Tendenz bürokratischer Apparate zur Verselbständigung lassen sich eine Reihe von Gründen anführen:

1. Die spezifische Aufgabenteilung zwischen politischer Führung und Verwaltung: Politische Führungspositionen werden in der Regel unabhängig von Kriterien fachlicher Qualifi-Ration der Minister besetzt Hierdurch kann das überlegene Fachwissen der Bürokratie zur Grundlage ihrer Machtstellung werden: die Minister kommen und gehen, die Verwaltungsapparate aber bleiben und entwickeln eine gewisse Resistenz gegen politische Zwecksetzungen von außen (Geheimhaltung, Beharrungstendenz, Reformfeindlichkeit usw.). Es ergibt sich so auch die Möglichkeit, vorgegebene politische Zwecksetzungen zu unterlaufen oder zu boykottieren.

2.

Die Regierung wechselt in Demokratien westlichen Musters in regelmäßigen Abständen: Das Postulat politischer Neutralität der Staatsgewalt erweist sich in der Praxis als irreal (Beispiel: Roosevelt konnte seine New Deal Politik erst durchsetzen, als er eine vollständig neue Beamtenschaft ernannt hatte). Neue Verfahrensweisen und -Vorschläge werden oft mit dem Argument abgelehnt, sie seien verwaltungstechnisch undurchführbar.

3. Fachwissen, Sachinformation und Verfügung über Sachmittel gibt der Verwaltung die Chance, sich politischer Steuerung zu entziehen und verschafft ihr ein gewisses Maß an Autonomie. Dies kann u. U. dazu führen, daß sie sich auch der Kontrolle seitens der Öffentlichkeit und des Parlaments entzieht.

4. Die konkurrierende Versuche einer externen Einflußnahme auf die öffentliche Verwaltung eröffnen für diese Bündnischancen, die sie im eigenen Interesse nutzen kann. Das gleiche gilt für eine Zersplitterung der politischen Kräftegruppierungen eines Landes (wie z. B. Italien), wo die politische Integrationskraft der Regierung derart nachläßt, daß die Verwaltung ihren Entscheidungsspielraum dementsprechend erweitert.

Es gibt viele Wege von der relativen Autonomie der öffentlichen Verwaltung zu ihrer Verselbständigung. Als Mittel gegen diese Tendenz bieten sich die Reform der Parlamente — etwa durch den Ausbau ihrer wissenschaftlichen Dienste — oder aber, weit wirksamer, die Mobilisierung einer bewußten politischen Öffentlichkeit als Kontrollinstanz der Exekutive und ihrer Bürokratie an (z. B. Bürgerinitiativen). Zur Bürokratiekritik Es wäre blind, die Bürokratien heute einfach zu dämonisieren. Weder stimmt die verbreitete Annahme, die staatliche Bürokratie sei zu allen Zeiten demokratiefeindlich und reaktionär gewesen, noch läßt sich die konservative These aufrechterhalten, bürokratische Einrichtungen seien eine Erfindung des Sozialismus zur Aushöhlung und Überwindung der „freien Marktwirtschaft". Ohne staatliche Bürokratien wäre eine Entmachtung der alten Feudalordnungen zugunsten liberaler und demokratischer Verfassungsordnungen gar nicht möglich gewesen. Zugleich schufen diese staatlichen Bürokratien die Voraussetzungen für die Bindung der staatlichen Administration an die Gesetzmäßigkeiten eines Rechtsstaates, ohne den demokratische Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert sich gar nicht hätten entfalten können.

Die verfassungsmäßige Bindung des Gesetzgebungsprozesses an den Willen der Volksvertretung sowie die Kontrolle der Exekutive hinsichtlich der Gleichbehandlung der Bürger und der Nachprüfbarkeit staatlicher Maßnahmen gehören zu den unbezweifelbaren Leistungen bürokratischer Organe. Feststeht, daß sie ein Mehr an Rationalität bei der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten ermöglicht hat, trotz der ebenso unleugbaren Tatsache ihrer Neigung zur Konservierung überkommener Herrschaftsstrukturen.

Aufgrund dieser Differenzierung läßt sich Bürokratiekritik danach unterscheiden, welche politischen Zielsetzungen sie verfolgt — jene, die öffentliche Sektoren und Kontrollen zugunsten der Stärkung privatwirtschaftlicher Positionen abzubauen bestrebt ist; — zum andern jene, die der Verselbständigung bürokratischer Apparate entgegenzuwirken sucht. Sie unterschlägt nicht, daß dort, wo wirtschaftlich Schwächere in ihrer sozialen Existenz bedroht sind, bürokratische Sicherungen (etwa zur Durchsetzung sozialstaatlicher Garantien) längst unerläßlich wurden.

Eine pauschale Verdammung „der" Bürokratie verwischt solche entscheidenden Differenzen und kommt dadurch Bestrebungen entgegen, die mit dem Abbau von Bürokratie letztlich den Abbau sozialstaatlicher und demokratischer Rechte bewirken möchten.

Gewalt und Herrschaft

Während sich die tradierten Sozialwissenschaften eingehend mit den Phänomenen Macht, Herrschaft und Bürokratie beschäftigten, ist das Gewaltphänomen erst in der jüngsten Forschung zu Aktualität gelangt. So vor allem in der Politischen Psychologie, Friedensforschung und Kriminologie. In der Regel wird die direkt-persönliche (= personelle) Gewalt von einer indirekt-strukturellen unterschieden. Dieser Unterscheidung liegt die Frage zugrunde, ob es beim Vorliegen von gewaltförmigen Konflikten ein eindeutig auszumachendes Subjekt gibt, von dem Gewalt-handlungen ausgehen. Die Folgen direkter und indirekter Gewalt sind oft identisch. Durch beide Formen können Menschen in ihren Rechten beeinträchtigt oder vernichtet werden. Der Unterschied liegt darin, daß im Falle von „struktureller Gewalt" die sozialen Verhältnisse (ungleiche Macht-, Einflußund Lebenschancen) Menschen derart bedrücken, daß ihre Lebenserwartung drastisch reduziert und ihre Entwicklungsmöglichkeiten und Lebenschancen entscheidend geschmälert werden.

Strukturelle Gewalt liegt gewiß stets dann vor, wenn Menschen vorzeitig sterben, nicht weil man sie mit gezielten Aktionen — etwa durch Blockade und Boykott — dem Hungertod aussetzt, sondern aufgrund ungleicher Verteilung von Gütern für die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse. Zwar lassen sich auch hier oft Machteliten als wesentliche Ursache solcher Zustände ausmachen, doch ist deren Gewalt mit der stummen Gewalt identisch, die in die Struktur der Herrschaftsverhältnisse eingebaut ist.

Statistisch läßt sich die Existenz struktureller Gewalt u. a. an der niedrigen Lebenserwartung diskriminierter Gesellschaftsschichten, an hoher Säuglingssterblichkeit, am Ausmaß des Analphabetismus, an spärlichem Prokopf-Einkommen und ähnlichen Sozialdaten ablesen, die bekanntlich für die Mehrheit der Menschen in den Ländern der Dritten und Vierten Welt zutreffen.

Direkte Gewalt läßt sich unmittelbar beobachten; die strukturelle hingegen erkennt man meist erst an ihren Folgen. Auch gibt es eine Form des Rassismus, die man als sozusagen institutioneile Gewalt bezeichnen kann: Sie ist weit subtiler als die direkte Form, gleichwohl auf Dauer nicht weniger zerstörerisch für die diskriminierten Bevölkerungsgruppen. Sie stellt sich weniger in einzelnen Aktionen der etablierten Kräfte dar als in deren Gesamtver. halten (z. B. Politik der Apartheit, mangelnde Berufschancen u. ä. m.).

So ist in einer Gesellschaft, in der die Lebens-erwartung der Oberschichten doppelt so hoch ist wie die der Unterschicht, Gewalt manifest, auch wenn deren Akteure nicht sichtbar sind. In einer statischen Gesellschaft kann strukturelle Gewalt lange Zeit über als naturgegeben erscheinen: Ungleichheit der Lebenschancen wird erst dann zur wahrgenommenen und reflektierten Ungerechtigkeit, wenn die Mög-lichkeit des Vergleichs für die Unterprivili. gierten gegeben ist.

Aggression und politische Gewalt Der Gewaltbegriff blieb lange Zeit hindurch darauf fixiert, Gewalt mit Gewaltantun gleichzusetzen. Dabei ging man von der Vorstellung eines autonomen Subjekts aus, das als unmittelbare Quelle von gewaltsamen Handlungen gelten konnte. Doch wird hierdurch eine Dimension von Gewalt ausgeblendet, die man als Gewalterleiden bezeichnen könnte. Wird Gewalt als eine bloß physische Bedrohung oder als Angriff auf Leib und Leben verstanden, so hieße dies, sie auf Aggressionsakte einzuschränken. Nur dort von Gewalt zu sprechen, wo direkte Gewalt im Sinne eines manifesten Angriffs ais Anwendung physischer Gewalt von Seiten eines Aggressors vorliegt, gilt der heutigen Friedensforschung als anachronistisch. Vielmehr ist gegenwärtig ein erweiterter Begriff von Gewalt in der Politikwissenschaft und Politischen Soziologie bestimmend, der der Mehrdimensionalität des Gewaltbegriffs gerecht zu werden versucht.

Dimensionen der Gewalt Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat vorgeschlagen, Gewalt nach sechs Fragestellungen zu unterscheiden:

1. nach physisch-psychischer Gewalt (z. B. Lügen, Gehirnwäsche, Indoktrination);

2. nach negativer bzw. positiver Einflußnahme (z. B. werden in einer Konsumgesellschaft Bedürfnisse erzeugt und Belohnungen versprochen); 3. nach der Frage, ob es ein Objekt gibt, das verletzt wurde oder nicht (Androhung physischer Gewalt);

4. nach der Frage, ob es ein handelndes Subjekt gibt oder nicht (personelle/strukturelle Gewalt);

5. nach intendierter und nicht intendierter Gewalt (sichtbar oder nicht präsent);

6. nach manifester oder latenter Gewalt (Frage der Verantwortung für die herrschende Gewalt).

Strukturelle Gewalt liegt stets dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Entfaltungsmöglichkeit. Gewalt ist demnach die Ursache für die Differenz zwischen dem, was — aufgrund gegebener technischer und kultureller Voraussetzungen — sein könnte und dem, was ist.

Die Vermeidbarkeit des aktuell gegebenen Grades struktureller Gewalt bemißt sich am jeweiligen Stand der technisch-wissenschaftlichen Einrichtungen, die zur Verfügung stehen, um gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen.

Eine mit der Galtungschen Definition vergleichbare Differenzierung liegt mit Herbert Marcuses Unterscheidung von gesellschaftlich-notwendigem und zusätzlichem Zwang vor. „Zusätzlicher Zwang“ herrscht in einer Gesellschaft dann, wenn ihre fundamentalen Institutionen so beschaffen sind, daß sie die Nutzung der vorhandenen materiellen und intellektuellen Mittel für die optimale Entfaltung der menschlichen Existenz nicht gestatten.

Zum sozialdarwinistischen Politikbegriff Einem populären Mißverständnis zufolge sind alle politischen Fragen letztlich nur Machtfragen und alle politische Macht beruhe allein auf Gewalt. Motto: Die Bajonette regieren die Welt. Mit dieser suggestiven Vorstellung verbindet sich meist auch die Übernahme eines sozial-darwinistischen Überlebensmodells, wonach alles politische Leben eine einfache ! Fortsetzung des Kampfes ums Dasein im Tierreich sei. Wie dort die physische Überlegenheit und Stärke, so schaffe hier Gewalt die einzig verläßliche Grundlage aller Ordnungen in der Politik.

Dem naturalistischen Politikverständnis liegt eine fatale Verwechslung zugrunde, die aus der Gleichsetzung der Anwendung von Gewalt mit ihrer Androhung entspringt. Selbst zu Kriegszeiten besteht in der Regel die Besiegung des Gegners nicht in seiner völligen Vernichtung, sondern in der erfolgreich hervorgerufenen Überzeugung von der eigenen Überlegenheit, die den Feind zur Kapitulation zwingen soll. Gewalt dient so meist als Drohpotential, als Mittel zum Zweck. Sie ist Instrument der Politik, nicht aber mit dieser identisch.

Nicht die Gewaltanwendung selbst, sondern die Furcht vor der gegnerischen Gewalt ist das eigentliche strategische Mittel bei politischen Auseinandersetzungen. Das politische Machtverhältnis stellt sich als vielschichtiger Einsatz propagandistischer, symbolischer und begrenzter Aktionen dar, die sich nicht auf die naturalistische Politikvorstellung reduzieren lassen.

Die Entmischung von Recht und Gewalt, die Terror provoziert, läßt eben jene Gemütsstimmung und Unruhe entstehen, wie sie für den Naturzustand — nach bürgerlichen Naturrechtslehren — kennzeichnend war: in ihm hatte ein jeder Furcht vor einem gewaltsamen, jähen Tod, da nichts als allgemeinverbindlich gesichert galt. Die „Rechte“ der Faust waren das Recht schlechthin: Gewalt und Recht waren eins. Wer Gewalt hatte, brauchte nicht lange nach deren Rechtmäßigkeit zu fragen: er nahm sich, was ihm „zustand".

Bereits vor einem halben Jahrhundert empfand Sigmund Freud das als eine Lebensfrage, womit wir es heute überall in der Welt zu tun haben, wenn von Krieg, Terror und politischer Gewalt die Rede ist: „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions-und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden . himmlischen Mächte', der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, München 1970, S. 10f.

  2. Zum folgenden vergleiche Heinrich Popitz, Prozesse der Machtbildung, Tübingen 1968.

  3. Reinhard Kreckel, Soziologisches Denken, Opladen 1975, S. 56.

  4. Stefan Hradil, Die Erforschung der Macht, Stutt. gart-Berlin-Köln-Mainz 1980, S. 22.

  5. Thomas Hobbes, Leviathan, Frankfurt a. M. -Berlin-Wien 1976, S. 75.

  6. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studien-ausgabe, Köln-Berlin 1964, Erster Halbband, S. 38.

  7. Norbert Elias, a. a. O., S. 76 ff., 90 ff.

  8. Vgl. C. Wright Mills, Die amerikanische Elite, Hamburg 1962, S. 389 ff.; ders., Die Konsequenz, München 1959, S. 21 ff.

  9. Vgl. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek bei Hamburg.

  10. Vgl. Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, S. 44 ff.; dies, über die Revolution, München 1963, S. 232 ff.

  11. Vgl. hierzu Kurt Lenk, Staatsgewalt und Gesellschaftstheorie, München 1980.

  12. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch, Berlin 19443, S. 62f. s ders., Die Seele im technischen Zeitalter, Reinbek 1957, S. 17 ff.; ders., Anthropologische Forschung, Reinbek 1961, S. 50 ff., S. 70 ff.

  13. Zum Problem der „Verrechtlichung" vgl. Rüdiger Voigt, Mehr Gerechtigkeit durch mehr Gesetz?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/81.

  14. Vgl. hierzu Johano Strasser, Grenzen des Sozial-staats?, Köln-Frankfurt am Main 1979, S. 37 f.

  15. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1929), in: ders., Abriß der Psychoanalyse, Frankfurt am Main-Hamburg 1955, S. 190f.

Weitere Inhalte

Kurt Lenk, Dr. phil. habil., geb. 1929, Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Veröffentlichungen u. a.: Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt—Neuwied 19788; „Volk und Staat". Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1971: Theorien der Revolution, München 19812; Politische Wissenschaft. Ein Grundriß, Stuttgart u. a. 1975; Staatsgewalt und Gesellschaftstheorie, München 1980; über Konservatismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/80.