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Entwicklungsmöglichkeiten in Polen | APuZ 31/1981 | bpb.de

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APuZ 31/1981 Polen zwischen Beharrung und Erneuerung Entwicklungsmöglichkeiten in Polen

Entwicklungsmöglichkeiten in Polen

Zdenek Mlynäf

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Artikel analysiert die Entwicklungsmöglichkeiten in Polen ohne Rücksicht auf das Problem einer möglichen sowjetischen militärischen Intervention. Die Krisenentwicklung in Polen wurde einerseits durch spezifische Faktoren verursacht, andererseits sind jedoch ihre Wesenszüge keine polnische Besonderheit: Es zeigte sich, daß die Industriearbeiterschaft im Kampf um elementare materielle und sozialpolitische Forderungen auch im „realen Sozialismus" auf ihre traditionelle Waffe zurückgreifen kann — zum Massenstreik und zur eigenen, von der kommunistischen Partei unabhängigen Organisation. Das bedroht den im ganzen Sowjetblock funktionierenden Mechanismus, der die relative Stabilisierung der sowjetischen Systeme während der siebziger Jahre ermöglichte. Diese Stabilisierung stützte sich auf passive Konformität der breiten Bevölkerungsschichten, die durch einen bestimmten materiellen Lebensstandard und durch soziale Sicherheit (vor allem Ausschluß von Arbeitslosigkeit) sowie durch Verdrängung aller kritischen und oppositionellen Kräfte aus der offiziellen politischen Struktur erreicht wurde. In der gegenwärtigen Lage Polens können die herrschenden Schichten nicht mehr mit den bisherigen Mitteln herrschen und die beherrschten Schichten haben noch keine eigenen Mittel, um zu herrschen. Sie stellt die Embryonalstufe einer — nach Lenin — revolutionären Situation dar. Keine der beteiligten wichtigsten politischen Kräfte (die offizielle politische Macht in Polen, die Gewerkschaft „Solidarität”, die katholische Kirche, die wichtigsten außenpolitischen Kräfte) wünscht sich jedoch eine soziale und politische Revolution mit allen innen-und außenpolitischen Konsequenzen. Deshalb wurden bisher auch alle Konflikte durch Kompromisse gelöst. Diese Entwicklung führte jedoch schon zu gewissen Systemänderungen: Die unabhängige Gewerkschaft „Solidarität" (die keineswegs lediglich eine Gewerkschaftsbewegung darstellt) wurde zum Bestandteil des politischen Systems. Dabei ist die monopolistische Stellung der kommunistischen Partei geblieben; eine gewaltsame Durchsetzung ihres eigenen Willens ohne Rücksicht auf den der beherrschten sozialen Kräfte ist jedoch als Grundmethode der politischen Herrschaft künftig nicht mehr möglich. Das Grundproblem der jetzigen Lage in Polen läßt sich daher verkürzt so ausdrücken: Es geht darum, ob es auch im „realen Sozialismus" gelingt, auf Dauer ein institutionales System zu schaffen, das soziale und politische Gegensätze und Konflikte als normale und andauernde Angelegenheit anerkennt und das in der Lage sein wird, diese Konflikte durch immer neue Abkommen und Kompromisse zwischen der Macht und den beherrschten sozialen Kräften dauerhaft zu lösen. Die Bedingung dafür ist natürlich, daß es weder zu einer revolutionären Eruption und zum Zusammenbruch der jetzt bestehenden gesellschaftspolitischen Strukturen kommt, noch zu einem Versuch, die Situation gewaltsam in den Zustand vor dem Herbst 1980 zurückzudrehen. Ein derartiger Versuch würde in jedem Fall nur eine sehr kurzfristige Lösung bedeuten; an ihrem Ende stünde dann mit um so größter Wahrscheinlichkeit eine unbeherrschbare Eruption des bisherigen sozialpolitischen Systems.

Es ist verständlich, daß sich im Zusammenhang mit der Krise in Polen das Interesse des Westens vor allem auf die Frage konzentriert, ob es zu einer sowjetischen militärischen Intervention kommen werde. Die Folgen eines derartigen Eingriffs wären in der heutigen internationalen Lage sicher in vielerlei Sicht unerwünscht — auch für die Moskauer politische Führung. Überlegungen über die Möglichkeit einer sowjetischen militärischen Intervention sollten jedoch nicht dazu verleiten, nicht mehr über andere, wesentliche Aspekte der gegenwärtigen Entwicklung in Polen nachzudenken. Ich möchte in diesem Beitrag versuchen, einige Züge der polnischen Krise zu analysieren, ohne Rücksicht auf das Problem einer sowjetischen militärischen Intervention.

Einige Überlegungen in der westlichen Publizistik erwecken manchmal den Eindruck, für Polen käme in seiner jetzigen Lage nur eine einzige Entwicklungsalternative in Frage: in Richtung auf eine pluralistische politische Demokratie und auf eine Unabhängigkeit vom gesellschaftlich-politischen Modell sowjetischen Typus. Ich vermute, daß die Perspektive der polnischen Entwicklung nicht so einfach ist — und gerade darin besteht zum Teil die Hoffnung, daß es zu keiner sowjetischen militärischen Intervention kommen wird. Dabei bin ich überzeugt, daß wichtige Veränderungen in Polen stattfinden werden, die auf lange Sicht auch die Entwicklung in anderen Ländern des sowjetischen Blocks beeinflussen können. Die Veränderungen, die dabei erreicht werden können, sind jedoch begrenzt.

I. Polen und seine Nachbarn: Gleiches und Unterschiedliches

Das gesellschaftlich-politische System Polens zeichnete sich schon längst vor der gegenwärtigen Krise durch einige historisch bedingte Besonderheiten im Vergleich mit anderen Ländern des sowjetischen Blocks aus. Dazu gehören als auffälligste: der ausgedehnte Sektor privater Landwirtschaft, engere Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, der außerordentliche ideelle und politische Einfluß der katholischen Kirche, die weniger scharfen Repressionen gegenüber den Kritikern des Regimes.

Diese Besonderheiten werden im Westen oft als Voraussetzungen für eine liberalere oder demokratischere Entwicklung angesehen, als sie z. B. in der UdSSR, in der heutigen Tschechoslowakei oder in der DDR erwartet werden können; und diese positive Wertung einiger spezifischer Züge des polnischen gesellschaftspolitischen Systems hat ohne Zweifel dazu beigetragen, daß die Einschätzung des Regimes Gierek im Westen oft zu wohlwollend war: Die westliche Publizistik weckte bei ihren Lesern nicht gerade die Erwartung, daß das polnische Regime unter dem Druck einer von den Massen getragenen Unzufriedenheit zusammenbrechen würde. Es wurde vielmehr die Illusion genährt, das Regime in Polen sei stabiler, als es in Wirklichkeit war; sein Stabilitätsgrad wurde fälschlicherweise mit dem Ungarns verglichen, weil bei oberflächlicher Betrachtung beide Regime „liberalere Züge" aufzuweisen schienen als andere Länder des sowjetischen Blocks.

Werten wir die Dinge nicht nach dem Motto „der Wunsch ist der Vater des Gedankens", so sind jene so häufig angeführten besonderen Züge des polnischen Systems keineswegs eindeutig positiv. Der ausgedehnte Privatsektor in der polnischen Landwirtschaft ist nicht nur Ausdruck einer Beschränkung staatlicher Allmacht, sondern sicher auch eine der Ursachen für den katastrophalen Zustand der polnischen Volkswirtschaft, weil unter dem bestehenden System den Privaterzeugern verwehrt wird, sich effektiv zu entfalten. Die politische Macht ist einerseits nicht in der Lage, die priB vate Landwirtschaft durch eine kollektivierte (nicht einmal von dem geringen Qualitätsgrad der sowjetischen) zu ersetzen; andererseits fürchtet sie — aus grundsätzlichen politischen Überlegungen —, den privaten Landwirten effektives Wirtschaften zu gestatten, macht ihnen das Leben schwer und unterdrückt sie als „fremdes Element“. Das Ergebnis ist, daß die Produktivität der landwirtschaftlichen Erzeugung noch mehr stagniert als in den benachbarten Ländern des sowjetischen Blocks.

Auch die ausgedehnteren wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen sind in Wirklichkeit im Falle Polens deformierte Beziehungen. Die Fähigkeit Polens, sich ökonomisch auf westlichen Märkten zu behaupten und sich in die westliche Arbeitsteilung einzuordnen, ist genau so beschränkt und schlecht wie bei seinen Nachbarn; viel größer ist eigentlich nur seine Verschuldung im Westen. Wegen des Ausmaßes dieser Verschuldung müßte die polnische Wirtschaft eigentlich weitaus eindrucksvoller in den Westen integriert sein — in Wirklichkeit jedoch ist sie voll in den Rahmen des RGW integriert Das kann nur zur faktischen Unfähigkeit führen, die Schulden an den Westen abzutragen, und zu einer allgemein geringen Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft — beides wiederum ausgeprägter als bei den Nachbarn Polens im sowjetischen Block.

Auch in ideologischer und politischer Hinsicht sind einige polnische Besonderheiten Ausdruck eines nicht funktionierenden Systems. Eine wirklich souveräne Stellung hat weder die kommunistische Partei noch die katholische Kirche; und noch weniger haben sie die Gruppen sogenannter Dissidenten, obwohl diese in Polen stärker toleriert werden als in den Nachbarländern. Da jedoch das ganze politische System nicht als pluralistisches System angelegt ist, sondern sein Funktionieren einen autokratischen Souverän in der ideologisch-politischen Sphäre voraussetzt, ist das Ergebnis ein Zustand, in dem das politische System noch weniger effektiv funktioniert als in den Nachbarländern im Ostblock. Die Konflikte zwischen formalen und informellen Strukturen sind in Polen stärker; der Unglauben an die Fähigkeit der offiziellen Strukturen, die gesteckten Ziele durchsetzen zu können, ist hier hartnäckiger und noch weiter verbreitet; und von dieser Skepsis sind Beherrschte und Herrschende gleichermaßen befallen. Korruption, Zynismus und Apathie sind das Ergebnis eines derartigen Zustandes viel eher als wachsende liberal-demokratische Wertorientierungen.

Betrachten wir die Dinge aus dieser Sicht, so beruht die Bedeutung der skizzierten spezifischen Züge des polnischen Systems nicht darin, daß durch sie Wege zu einer größeren Demokratisierung eröffnet würden, sondern im Gegenteil darin, daß sie seine Instabilität verdeutlichen. Ein nicht funktionierendes System ist nämlich notwendig immer ein instabiles System. Aus der Sicht des sowjetischen Blocks als Ganzem ist unter diesen Umständen die hervorstechendste Besonderheit Polens schon seit einigen Jahren, daß es das schwächste Glied einer Kette ist (und dieses kann, wie Lenin zu sagen pflegte, die ganze Kette beeinflussen). Schon aus diesem Grunde müssen sich die Nachbarstaaten des Sowjetblocks über die polnische Entwicklung größere Sorgen machen, als dies an sich im Hinblick auf die Unterschiede, die zwischen ihnen und Polen bestehen, notwendig erschiene. Das nicht funktionierende System in Polen hat nämlich etwas ans Licht gebracht, was letztlich keine polnische Besonderheit ist, sondern irgendwann allen Ländern des sowjetischen Blocks wieder-fahren könnte: Das System erwies sich als unfähig, vor allem der Industrie-Arbeiterschaft ein Lebensniveau zu garantieren, das aus jener einflußreichsten gesellschaftlichen Gruppe der Bevölkerung eine soziale Stütze der bestehenden politischen Struktur werden ließe. Dabei zeigte sich, daß die Industriearbeiterschaft im Kampf um elementare materielle Forderungen und soziale Sicherheiten auf ihre traditionelle Waffe zurückgreifen kann — zum Massenstreik und zu politischen Forderungen. Das ist allerdings etwas, was gerade zu Beginn der achtziger Jahre die gesellschaftspolitischen Systeme sowjetischer Bauart im ganzen Sowjetblock an einer äußerst empfindlichen Stelle trifft. In neuerer Zeit erreichten nämlich die politischen Regime in diesen Ländern ihre relative Stabilität gerade dadurch, daß sie das Interesse breitester Bevölkerungsschichten an höherem Lebensniveau (im Sinne von Konsum und sozialer Sicherheit) mit ihrem eigenen Interesse an der politischen Loyalität dieser Schichten verknüpften.

Der allgegenwärtige politische Terror der Stalinzeit konnte nur deshalb durch selektive Repression gegenüber kleinen oppositionellen Gruppen ersetzt werden, weil gegenüber der riesigen Mehrheit der Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten ein neuer Mechanismus angewandt wird, der politische Loyalität bzw. Neutralität und Passivität sichert: Es geht — allgemein gesagt — um die Mechanismen, durch die Menschen im Konsumstadium der Industriezivilisation zur Konformität gebracht werden.

In den sowjetischen Systemen besteht dieses Konsumstadium allerdings erst in seiner sehr frühen Anfangsperiode; es handelt sich um eine eigentümliche Kombination von Konsumorientierung und ungenügenden Möglichkeiten, die sich entwickelnden Bedürfnisse tatsächlich zu befriedigen. Das soll jedoch nicht bedeuten, daß es unmöglich wäre, einen äußerst wirksamen Mechanismus der Ausnutzung dieser Orientierung zu schaffen. Im Gegenteil: Unter den Bedingungen eines knappen Warenangebotes kann ein derartiger Mechanismus mit politischen Interessen viel wirksamer verflochten werden als in einer . Konsumgesellschaft des Überflusses".

Die relative Stabilität der sowjetischen Regime in den letzten fünfzehn Jahren beruht auf einem eigenartigen „Gesellschaftsvertrag": Der Bürger verpflichtet sich, keine politischen Rechte zu beanspruchen, die über den Rahmen hinausgehen, der von der politischen Macht festgelegt wurde, formelle Loyalität gegenüber der politischen Macht zu äußern und teilzunehmen am verbindlichen Ritual der Bejahung aller ihrer innen-und außenpolitischen Schritte. Dafür garantiert die politische Macht dem Bürger ein bestimmtes materielles Lebensniveau, soziale Sicherheit (vor allem Ausschluß der Arbeitslosigkeit) und im ganzen ein ruhiges Privatleben.

Wer diesen ungeschriebenen Vertrag einhält, muß mit der politischen Macht nicht in Konflikt geraten. Wer ihn verletzt, wer es ablehnt, sich am formalisierten Ritual der Übereinstimmung zu beteiligen und politische Freiheiten und Rechte fordert, verliert die Garantien seiner sozialen Sicherheiten und das damit zusammenhängende private Lebensniveau. Diskriminierungen im Beruf, existentielle Benachteiligungen — das sind Mittel, die im gesellschaftlichen Maßstab die politische Loyalität (oder genauer: Passivität) von Millionen Menschen in den Ländern des sowjetischen Blocks erzwingen. Nur gegenüber denen, für die das alles nicht genügt, wendet die politische Macht dann auch gerichtliche Repressionen in politischen Prozessen an.

Damit sich die Stabilität des Regimes jedoch auf einen „Vertrag“ dieser Art stützen kann, muß der Staat fähig sein, für die entscheidende Mehrheit der Gesellschaft ein Lebensniveau tatsächlich zu sichern, das mögliche oppositionelle Stimmungen pazifizieren kann. In dem Augenblick, wo dies nicht mehr gewährleistet ist, bricht der Hauptpfeiler der relativen Stabilität des Systems zusammen. Zu welchen Konsequenzen dies führt, zeigt anschaulich gerade die gegenwärtige Entwicklung in Polen.

Auch ohne die polnischen Ereignisse haben die achtziger Jahre aus dieser Sicht im sowjetischen Block äußerst unfroh begonnen. Alle Staaten des Blocks haben offiziell angekündigt, daß sich das Wachstum der Produktion und die Erhöhung des Lebensniveaus schon im Plan auf ein Minimum beschränken würden; es wurde sogar schon die Erhaltung des bestehenden Lebensniveaus und nicht dessen Erhöhung zur offiziellen Parole erhoben. Dies traf den ganzen Mechanismus, der politische Loyalität mit materiellem Lebensniveau verknüpfte. Die Furcht, dieser Mechanismus werde in Zukunft nicht in der Lage sein, die Stabilität wenigstens in einem Ausmaß wie in den siebziger Jahren zu sichern, ergriff die Machteliten schon vor den Ereignissen des polnischen Herbstes.

Die Massenstreiks in Polen, die sowohl die Anerkennung unabhängiger Gewerkschaftsorganisationen als auch den Sturz einer ganzen Führungsgarnitur und den Antritt einer neuen erzwangen, haben bei den Machteliten der Nachbarstaaten mit Sicherheit zu Bestrebungen geführt, ähnliche Tendenzen in ihren Ländern zu unterdrücken — Bestrebungen, die polnische Ansteckungsgefahr um jeden Preis zu isolieren. Es kann gar nicht bezweifelt werden, daß auch der Ruf nach einer militärischen Intervention, wie er unverblümt in der tschechoslowakischen Presse und zwischen den Zeilen in der Presse der UdSSR und der DDR geäußert wurde, unmittelbar mit dieser überängstlichen Reaktion zusammenhängt: Weder 1970 noch 1976 fühlten die Eliten der Nachbarstaaten eine solch starke Furcht vor einer möglichen Entwicklung wie der in Polen wie heute, denn damals war die eigene ökonomische Lage nicht so labil, und es war möglich, die Entwicklung in Polen rasch einzudämmen. Die Machteliten aller Länder mit einem politischen System sowjetischer Bauart werden vor die Notwendigkeit gestellt sein, das Problem zu lösen, wie einer ähnlichen Destabilisierung des Systems (wie der in Polen) „zu Hause" vorgebeugt werden könne. Diese Herausforderung wird ebenso unausweichbar sein wie jene andere Mitte der fünfziger Jahre, als nach dem Tode Stalins der bis dahin stabilisierend wirkende Mechanismus des Massenterrors beseitigt werden mußte.

Damit soll nicht gesagt sein, daß die Machteliten in diesen Ländern nun den Weg einer Entwicklung zur Demokratie zu beschreiten gedächten, daß also eine neue Ära „der Liberalisierung" anbräche. Es besteht im Gegenteil die Möglichkeit, daß sie einen Ausweg in einer partiellen Rückkehr zum Mechanismus des politischen Terrors versuchen könnten. Die Probleme der Stabilisierung der eigenen gesellschaftlich-politischen Systeme unter den Bedingungen der achtziger Jahre werden diese Eliten jedoch schließlich und endlich lösen müssen. Eine gewisse Bewegung wird in diesen Systemen, die sich in den vergangenen zehn Jahren durch eine außergewöhnliche Stagnation und Unbeweglichkeit ausgezeichnet hatten,'im Zusammenhang mit der polnischen Herausforderung daher real, ja notwendig sein. Es steht fest, daß die Richtung dieser Bewegung nicht allein von innenpolitischen Faktoren der Länder des sowjetischen Blocks, sondern auch von Faktoren der internationalen Lage beeinflußt werden wird, die sich ebenfalls in den achtziger Jahren in bestimmten Zügen neu und bislang auch nicht ganz übersichtlich konstituiert.

Im Rahmen dieses Beitrags läßt sich also nicht einmal in groben Zügen abschätzen, in welche Richtung schließlich die Bewegung in den sowjetischen Systemen gehen wird.

II. Der Druck „von unten" und die Grenzen von Systemveränderungen in Polen

Im Unterschied zum „Prager Frühling" von 1968, der als Reform „von oben", aus einer Initiative von Reformströmungen innerhalb der offiziellen Machtstrukturen begonnen hatte, entstand die gegenwärtige Entwicklung in Polen ausschließlich auf Druck „von unten", von gesellschaftlichen Kräften, die außerhalb der offiziellen Machtstruktur stehen. In der Praxis zeigte es sich auf diese Weise, daß die Methode, mit der sich die gesellschaftspolitischen Systeme vom sowjetischen Typus in den siebziger Jahren stabilisiert hatten und die darin bestand, daß alle kritisch, reformistisch und oppositionell wirkenden Kräfte aus der herrschenden Partei und den offiziellen politischen Strukturen hinausgedrängt wurden, nur begrenzten, befristeten Erfolg haben kann. In diesem Sinn bestätigte die polnische Entwicklung vom Herbst 1980 an die Richtigkeit jener politischen Orientierung, die vor Jahren besonders von Adam Michnik theoretisch formuliert worden und in der Praxis am ausgeprägtesten von der unter dem Kürzel KOR bekannten Gruppe vertreten worden war. Diese Orientierung setzte zu Recht voraus, daß nach der Niederlage der Reformbewegung innerhalb der Kommunistischen Parteien des Sowjetblocks ein Weg zur Weiterentwicklung nur durch Druck von unten eröffnet werden könne, durch einen Druck, der sich außerhalb der Partei und außerhalb der offiziellen Strukturen bilden würde.

Polen war das einzige Land des sowjetischen Blocks, in dem während der siebziger Jahre bereits zweimal — im Dezember 1970 und im Sommer 1976 — die politische Möglichkeit eines derartigen Drucks in der Praxis bestätigt worden war. Das verlieh den kritischen und oppositionellen gesellschaftlichen Kräften jenes Selbstvertrauen, das in andern Ländern (insbesondere in der Tschechoslowakei nach 1968) fehlt. Mit der Forderung nach freier Bildung und Tätigkeit von Institutionen, die unabhängig wären von offiziellen Strukturen, identifizierten sich dabei nicht nur kleine intellektuelle Gruppen, sondern die bedeutendsten sozialen Kräfte des Landes: die Arbeiterschaft der großen Industrieballungszentren und die privat wirtschaftenden Bauern.

Ihre Verkörperung ist nun die unabhängige Gewerkschaft „Solidarität".

So ist eine Lage entstanden, in der es zwar in der Tat um eine neue Form der Gewerkschaftsbewegung, keineswegs jedoch allein um eine Gewerkschaftsbewegung geht: Es handelt sich um die prinzipielle Möglichkeit der Institutionalisierung des politischen Willens sozialer Kräfte, die in der offiziellen institutionalisierten Struktur überhaupt nicht vorhanden sind oder wenigstens nicht in genügendem Maß ihre Interessen und Bedürfnisse äußern und gegenüber der politischen Macht durchsetzen können. Das konkretisiert sich in der breiten Skala politischer Forderungen, die von den unabhängigen Gewerkschaften vorgebracht werden: Sie reichen von klassischen Arbeits-und Sozialproblemen bis hin zu Pressefreiheit und Freiheit der Religionsausübung; sie umfassen praktisch alle sozialen Gruppen und politischen Gruppierungen (z. B. durch die Forderung, alle politischen Häftlinge freizulassen, die sich auch auf die Repräsentanten offen nationalistischer und antisowjetischer Gruppen bezieht). Die offiziellen Machtstrukturen erwiesen sich dabei als unfähig, die Entstehung und Entfaltung dieser für sie unerwünschten neuen Institution zu unterbinden, denn dies hätte zu einem offenen Machtkonflikt mit der stärksten sozialen Gruppe der polnischen Gesellschaft geführt.

Es ist kein Wunder, wenn durch diesen Zustand die Machthaber Polens und der Nachbarländer äußerst beunruhigt sind. Soweit sie diese Situation aus der Sicht ihrer offiziellen Ideologie, des „Marxismus-Leninismus", werten, müssen sie sich an Lenins Charakteristik einer revolutionären Situation erinnern; diese ist dann eingetreten, wenn die herrschenden Schichten mit den bisherigen Mitteln nicht mehr herrschen können und die beherrschten Schichten mit den bisherigen Mitteln nicht mehr beherrscht werden wollen. Die gegenwärtige Lage in Polen stellt in der Tat die Embryonalstufe einer solchen — nach Lenin revolutionären — Situation dar.

Was könnte jedoch im heutigen Polen eine sozial-politische Revolution bedeuten, d. h. ein Zustand, in dem das bestehende gesellschaftspolitische System einem eruptiven Zerfall ausgesetzt würde und die real existierenden sozialen und politischen Kräfte offen ihre Forderungen formulieren und sie in der Praxis verwirklichen würden? Es könnte nur die Entfernung der kommunistischen Partei von der Macht bedeuten, den Zerfall dieser Partei als Organisation der Machtelite (im Sinne einer besonderen sozialen Gruppe). In der Sphäre der sozial-ökonomischen Beziehungen müßte das einerseits neue Formen kollektiven Eigentums bedeuten, andererseits die forcierte Entwicklung eines starken privaten Eigentums-sektors in der Landwirtschaft, im Dienstleistungsbereich und in einem Teil der Industrie. Als ideologische Orientierung käme im heutigen Polen wohl am ehesten eine christlich-soziale Ausrichtung im weitesten ideologisch-politischen Sinn des Wortes in Frage, die sich auf die Dauer zu sozialdemokratischem Reformismus, Selbstverwaltungskonzeptionen und liberalen Auffassungen von politischen Rechten und Freiheiten entwickeln würde. Die Formulierungen L. Kolakowskis von einem konservativ-liberalen Sozialismus, die heute eher als literarisches Bonmot aufgenommen werden, drücken eine derartige Möglichkeit ziemlich genau aus.

Es läßt sich kaum vorstellen, daß — käme es wirklich zu einer sozial-politischen Revolution dieser Zielsetzung (und erst recht im Falle ihres Sieges) — Polen „ein festes Glied des War-schauer Bündnissystems" bliebe, zumindest nicht in dem Ausmaß und Sinn, wie sich dies die politische Führung in Moskau als unabdingbare Voraussetzung „freundschaftlicher Beziehungen" vorstellt. Die logische Konsequenz einer solchen Revolution wäre ein vollkommen souveräner, unabhängiger polnischer Nationalstaat, der, könnte er wirklich nur dem Willen seiner Bürger entsprechend entscheiden, kein untergeordnetes Glied des sowjetischen Blockes bliebe. Darüber spricht zwar heute niemand — darum muß jene Deduktion doch nicht unrichtig sein.

An dieser Stelle muß jedoch eine unmißverständliche Frage gestellt werden: Wünscht heute überhaupt jemand eine derartige soziale und politische Revolution in Polen? Wenn wir kleine extremistische Gruppen, die immer und in jeder Gesellschaft existieren, außer acht lassen, muß die Antwort auf diese Frage eindeutig „Nein“ lauten. Weder in Polen noch auf der Bühne der gegenwärtigen Politik Europas oder der Welt gibt es eine politisch relevante Kraft, die eine derartige Entwicklung begrüßen würde. In Polen selbst — um es genauer zu sagen — wünscht sich eine Entwicklung mit derartigen Konsequenzen weder die offizielle politische Macht noch die Kirche noch die unabhängige Gewerkschaft „Solidarität". Gleiches gilt für die kritischen und oppositionellen Gruppen mit größerem Einfluß, wie z. B. die KOR. Es gibt auch keine soziale Schicht in der polnischen Gesellschaft, die sich mit derartigen Vorstellungen von der Entwicklung der jetzigen Lage identifizieren würde. Nicht etwa, weil irgendeine der Forderungen einer hypothetischen Revolution keinen eigenen Träger hätte: Im Gegenteil, alle diese Forderungen haben ihre Träger und sind daher auch latent in der gegenwärtigen polnischen Situation vorhanden. Aber es gibt keinen Träger dieser Forderungen, der sich gleichzeitig nicht bewußt wäre, wie vollkommen irreal sie sind. Vielmehr existiert das klare Bewußtsein, daß die Orientierung auf eine derartige soziale und politische Revolution die unwiderrufliche Niederlage der jetzt entstandenen Bewegung und die nationale Katastrophe anstelle positiver Veränderungen der Verhältnisse in Polen bedeuten würde.

Aus der Sicht der internationalen politischen Kräfte ist die Situation weitaus komplizierter und widersprüchlicher; sie hat jedoch einen gemeinsamen Nenner: Keine einzige der politischen Kräfte von Gewicht im heutigen Europa ist durch ihre Interessen verknüpft mit einem revolutionären Zusammenbruch des gesellschaftspolitischen Systems in Polen. Tatsache ist, daß alle politischen Kräfte, die sich in der europäischen Politik engagieren, ein Interesse daran haben, daß die politische Lage kalkulierbar bleibt. Eine Revolution in Polen würde dagegen notwendigerweise die Situation unberechenbar machen.

In der innenpolitischen Entwicklung Polens von September 1980 an war das Bewußtsein, daß eine Revolution gegen das bestehende System unerwünscht und unrealistisch sei, die wichtigste Basis aller praktischen Erfolge, die bisher von den kritischen und oppositionellen sozialen und politischen Kräften erzielt werden konnten. Vom Verlauf der Streiks und der mit ihnen verbundenen Verhandlungen über die Abmachungen zwischen Regierung und unabhängigen Gewerkschaften bis zum sich fortsetzen'den Kampf um die Verwirklichung der durch die Abmachungen garantierten Veränderungen gab gerade das Bewußtsein von der Notwendigkeit des Kompromisses den Grundton an.

Dies war und ist allerdings verbunden mit beträchtlichen Schwierigkeiten und gewiß auch mit der Gefahr, daß ein für beide Seiten annehmbarer Kompromiß zu einer drängenden Situation nicht früh genug gefunden werden kann. Beiden Seiten des Konflikts werden dadurch neue, manchmal ganz und gar paradoxe Aufgaben auferlegt: Sowohl die aufbegehrende Opposition wie die offizielle politische Macht müssen oft geradezu gegensätzlich zu dem auftreten, was die abstrakte Logik ihrer eigenen Ausgangsposition und die gewohnten Methoden ihres eigenen Handelns erheischen würden.

Für die Kräfte, die gegen das System opponieren und Systemveränderungen anstreben, besteht das Grundparadox darin, daß, je größer ihr Erfolg in der Anfangsphase ist, in der die Möglichkeit von Systemveränderungen eröffnet wird, desto höher die Ansprüche an die Änderung der Methoden ihres Wirkens in der zweiten Phase sind, in der der Kompromiß erreicht ist. Ohne eine derartige Änderung, die in gewissem Sinn auch die Zielorientierung der politischen Aktionen einschließt, droht diesen Kräften in der zweiten Phase ein Mißerfolg. Für die politische Hauptkraft im heutigen Polen — die unabhängige Gewerkschaft „Solidarität" — besteht eben darin das Schlüsselproblem für die nächste Zukunft. Die Voraussetzungen für ihre Erfolge bestanden darin, daß sie Streiks und Streikandrohungen dazu nutz34 te, die politische Macht zum prinzipiellen Rückzug zu bewegen und damit zur Legalisierung unabhängiger Gewerkschaften. Dadurch eröffneten sich Möglichkeiten für Systemänderungen. Wäre die Leitung der streikenden Arbeiter in dieser Grundfrage — der Anerkennung oder Nichtanerkennung des Rechts auf unabhängige Gewerkschaften — auf Bedingungen irgendwelcher Art, durch die die Zulassung der neuen Gewerkschaft in die Zukunft verschoben worden wäre (in eine Situation, in der ein Generalstreik für die Macht keine aktuelle Gefahr dargestellt hätte), eingegangen, hätte der Weg für Systemveränderungen kaum freigemacht werden können.

Gleichzeitig war jedoch der Sieg der „Solidarität“ schon von dieser ersten Entwicklungsphase an eine bestimmte Art von Kompromiß. Er bestand in der Anerkennung der „führenden Rolle der kommunistischen Partei im Staate" durch die unabhängige Gewerkschaft. Die einzige kompromißlose Alternative zu diesem Kompromiß wäre die soziale und politische Revolution gewesen. Einer derartigen Alternative verschloß die Abmachung zwischen Streikenden und Regierung Tür und Tor. Dieser Kompromiß schloß jedoch nicht die Möglichkeit aus, einen Weg zu Systemveränderungen in dem Sinn zu eröffnen, daß die unabhängigen Gewerkschaften als Komponente des politischen Systems eine qualitativ andere Stellung erhielten als die bisherige Gewerkschaft, die in jeder Hinsicht dem Partei-und Staatsapparat unterworfen war.

Aber gerade dadurch, daß die unabhängige Gewerkschaft in der ersten Phase einen prinzipiellen Erfolg errang (die Anerkennung ihrer Existenz durch den Staat), veränderte sich ihre eigene Stellung: sie wurde ein Teildes politischen Systems; sie hörte auf, eine außerhalb der offiziellen politischen Struktur stehende Kraft zu sein. Dadurch veränderten sich jedoch auch in bestimmten Richtungen — nicht in allen — die Ziele, die sie sich stellt, und die Methoden, mit denen sie sie erreichen kann. In einem gewissen Sinn nahm sie die Stelle ihres ehemaligen Konkurrenten ein — der bisherigen offiziellen Gewerkschaft; dieser Konkurrent zerfiel und hörte auch formell auf, Partner der politischen Macht zu sein, wogegen die „Solidarität" eben diesen Platz einnahm.

In der zweiten Entwicklungsphase, in der es um die Durchsetzung weiterer schrittweiser Systemveränderungen geht und gehen wird, bleibt die unabhängige Gewerkschaft daher sicherlich eine Pressionskraft; sie kann sich jedoch allein darauf nicht beschränken wie in der ersten Phase, als sie den Charakter eines Streikkoordinationsausschusses hatte. Auch der Streik selbst kann künftig nicht die einzige, in bestimmten Situationen nicht einmal die Hauptmethode zur Durchsetzung ihrer Ziele sein. Kurzum: Sie ist eine Pressionskraft mit Mitverantwortung für die gesellschaftspolitische Entscheidung und Entwicklung im ganzen Land geworden und daher auch dafür, ob die wirtschaftliche, soziale und politische Lage im Land z. B. einen Generalstreik als Form des Drucks auf die Staatsmacht notwendig macht oder nicht.

Sollten die Führung der neuen Gewerkschaft (oder wenigstens ihre Mehrheit) und die Mehrheit ihrer Mitglieder diese Veränderung ihrer eigenen Situation, die gerade durch ihren prinzipiellen Sieg eingetreten ist, nicht richtig erkennen, könnte in den weiteren Phasen der Entwicklung auch das bedroht sein, was schon mit Erfolg errungen worden ist. Praktisch erscheinen die Unterschiede im Begreifen der neuen Situation nach außen als Auseinandersetzungen über das sogenannte radikale oder gemäßigte Anpacken einer ganzen Reihe von Fragen. Es geht vornehmlich darum, ob die Hauptwaffe — der Streik und der Generalstreik — immer wieder angewandt werden soll bzw. wie oft und zur Durchsetzung welcher Ziele sie angewandt werden kann und darf. Der charismatische Arbeiterführer des polnischen Herbstes, Lech Walesa, muß immer wieder die Schwere dieser Situation erleben, wenn er in der Gewerkschaftsführung überstimmt wird.

Die Kräfte der offiziellen Machtstruktur, institutionell repräsentiert vor allem durch die Kommunistische Partei und den Staatsapparat (trotz aller innerer Differenzierungen innerhalb dieser Institutionen), stehen vor einer anderen, für sie jedoch nicht weniger schweren paradoxen Situation. Je mehr sie in der ersten Phase der Entwicklung der Grundmethode ihres bisherigen Wirkens abschworen — des gewaltsamen Durchsetzens des eigenen Willens ohne Rücksicht auf den Willen der be35 herrschten sozialen Kräfte —, um so erfolgreicher erzielten sie im Konflikt einen Kompromiß und behaupteten sich in der Rolle eines Partners der oppositionellen Kräfte. In der zweiten Phase, in der der Kompromiß bereits erreicht ist, müssen sie dagegen, um ihre Rolle nicht zu gefährden, aktive Verteidiger jener Elemente des Kompromisses werden, die von den opponierenden Kräften anfangs nur ungern und unter dem Druck der Situation angenommen worden waren.

Die Grundfrage ist jedoch, wie und mit welchen Methoden der eingegangene Kompromiß in der Praxis eingehalten werden kann. Solange die offiziellen Machtstrukturen (oder wenigstens die entscheidende Mehrheit in ihrem Rahmen) nicht begreifen, daß auch für sie eine neue Situation gerade dadurch entstanden ist, daß sie sich nicht als absolute Macht, sondern nur als eine von zwei Seiten eines Kompromisses behaupten konnten, können sie in den weiteren Phasen auch das bedrohen, was sie in der ersten Phase erreichten. Die Konflikte, die daraus in der Praxis immer wieder in konkreten Fragen entstehen, werden als Konflikte zwischen reformistischen und konservativen Kräften innerhalb der offiziellen Machtstrukturen an den Tag treten. Es geht vor allem darum, ob die Machtstrukturen begreifen, daß der erreichte Kompromiß die Ausgangsbasis darstellt für eine weitere Entwicklung und nicht einen stabilen Dauerzustand ohne innere Dynamik, ohne Perspektive auf Systemveränderungen, daß eine gewaltsame Durchsetzung des eigenen Willens ohne Rücksicht auf den Willen der beherrschten sozialen Kräfte als Grundmethode der Herrschaft in einem System nicht mehr möglich ist, das sich gerade wegen dieser Methode als in jeder Richtung nicht funktionsfähig erwiesen hat.

Die offizielle Machstruktur und ihre Repräsentanten sind dabei — im Unterschied zu den oppositionellen Kräften — direkt abhängig nicht allein von den Reaktionen der inneren gesellschaftlichen Kräfte in Polen, sondern auch — und oft vor allem — von den Reaktionen des Machtzentrums in Moskau. Ihre Situation ist daher sicher schwieriger als die der aufsässigen Opposition. Dies ist aber die einfache Folge der Tatsache, daß sie die offizielle Machtelite darstellt, die unmittelbar für die bisherige Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand Polens die Verantwortung trägt.

Das Grundproblem der jetzigen Lage in Polen läßt sich daher verkürzt so ausdrücken: Es geht darum, ob es gelingt, auf Dauer ein institutionelles System zu schaffen, das Gegensätze und soziale und politische Konflikte auch im System des „realen Sozialismus" als normale und ständige Erscheinung anerkennt und das in der Lage sein wird, diese Konflikte durch immer neue Abkommen und Kompromisse zwischen der Macht und den beherrschten sozialen Kräften und nicht durch deren Unterdrückung dauerhaft zu lösen.

Die Bedingung dafür, daß diese Lösung überhaupt möglich ist, ist natürlich, daß es weder zu einer Eruption und zum Zusammenbruch der jetzt bestehenden gesellschaftspolitischen Strukturen kommt noch zu einem gewaltsamen Versuch, die Situation in den Zustand vor dem Herbst des Jahres 1980 zurückzudrehen (z. B. durch eine sowjetische militärische Intervention, aber auch ohne sie durch die Mobilisierung innerer politischer Kräfte).

Was für konkrete institutionelle Formen und Methoden des politischen Lebens dabei gefunden werden, kann weder aus den Typen der pluralistischen Demokratie in anderen Ländern noch aus der abstrakten Logik des sowjetischen politischen Systemmodells abgeleitet werden. Es kann angenommen werden, daß beide Komponenten sowohl unterdrückt wie vertreten sein werden — in Form eines Kompromisses, der sich als Resultante aus den konkreten sozialen und politischen Kraftlinien bilden wird, wie sie gerade nur im heutigen Polen bestehen. Eine ganze Reihe derartiger historisch spezifischer Einflüsse wirken im heutigen Polen fort (im Rahmen dieses Beitrags können sie leider nicht analysiert werden). Nur am Rande sei bemerkt, daß einer dieser Faktoren, die katholische Kirche in Polen, die Sonderstellung einer Institution mit einem riesigen ideell-politischen Einfluß auf die Gesellschaft hat und gleichzeitig weitgehend unabhängig ist von der gegenwärtigen Form des Konflikts zwischen der Macht und den sozialen Kräften der Arbeiter-und Bauernschaft. Beide Seiten des Konflikts suchen daher notwendig in ihr eine Art Stütze und verleihen ihr damit die Rolle eines eigentümlichen VerB mittlers von Kompromissen, sei es auch mit nur begrenzten Möglichkeiten. Gerade die Sonderinteressen der Kirche selbst, die weder mit den Interessen der Macht noch mit denen der Oppositionskräfte identisch sind, machen es auch möglich, daß die Kirche in einem gewissen Maß zur Findung von Kompromissen beiträgt, auch wenn sich dabei Marx im Grabe und Lenin in seinem Mausoleum umdrehen müßten.

Es besteht also Hoffnung, daß sich etwas Neues im Rahmen der gesellschaftspolitischen Systeme des sowjetischen Blocks herausschält. Der Zustand, der dabei in Polen erreicht werden könnte, unterscheidet sich von den Vorstellungen, die von den Reformatoren in der KP 1968 gehegt worden waren. Diese hatten versucht, zielstrebig, nach ideologisch motivierten Programmen, ein aus ihrer Sicht optimales gesellschaftspolitisches System zu schaffen, das die sozialen Strukturen sowjetischen Typs mit den politischen Strukturen pluralistischen Typs kombiniert hätte. Beherrscht waren diese Programme von der Vorstellung einer Harmonie zwischen den sozialen Kräften an der Basis und einer aufgeklärten, „wissenschaftlich agierenden" politischen Macht. In Polen eröffnet sich die Hoffnung, es könnte hier ein System entstehen, das die Möglichkeit ständig neuen überwindens der Dauerkonflikte zwischen den beherrschten sozialen Kräften und der politischen Macht durch Kompromisse böte — eine Vorstellung, die vielleicht wesentlich realistischer ist als die tschechoslowakische von 1968.

Polen wäre dabei nicht einfach ein zweites Ungarn. In Ungarn herrscht, kurz gesagt, ein System, das auf der Basis des sowjetischen Modells im ganzen erfolgreich eine Politik als Kunst des Möglichen betreibt in dem Sinn, daß es im Keim einige Konflikte dämpft und mit dem Hinweis auf die Erfahrung aus dem Jahre 1956 (und die der benachbarten Tschechoslowakei von 1968) bei der latenten Opposition das Bewußtsein erhält, daß real nicht mehr zu machen sei. Langfristig gesehen ist dies jedoch eher ein Rezept, wie man Menschen ein erträgliches Leben in einer Sackgasse einrichtet, als eine Perspektive auf eine innere Dynamik des Systems. Polen dagegen beinhaltet heute eine Hoffnung, daß gerade dieser inneren Dynamik wegen die Tore, die aufgestoßen worden sind, auch geöffnet bleiben werden, wenn auch unter Schwierigkeiten, mit dem Zwang zu immer neuen Kompromissen mit ständigen Gefährdungen. Wenn diese Hoffnung sich erfüllt, könnten die polnischen Ereignisse den Beginn einer neuen Entwicklungsphase der gesellschaftlichen Systeme des sowjetischen Blocks bedeuten.

Es bleibt schließlich noch eine Alternative — eine nicht sehr wahrscheinliche, aber dennoch mögliche. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es auch heute gelingt, ähnlich wie nach dem Fall Gomulkas 1970, schrittweise mit Hilfe schlechter Kompromisse die Entwicklung zurückzudrehen. Das würde jedoch in jedem Fall nur eine sehr kurzfristige Stabilisierung bedeuten; an ihrem Ende stünde mit um so größerer Wahrscheinlichkeit eine unbeherrschbare Eruption des bisherigen gesellschaftspolitischen Systems. (Das Manuskript wurde im April 1981 abgeschlossen.) Berichtigung In dem Beitrag von Hans Rattinger, Strategieinterpretationen und Rüstungskontrollkonzepte, B 28/81, wurden auf Seite 30 in der Tabelle 1 die beiden vertikal gesetzten Bezeichnungen „NATO“ und „Warschauer Pakt" leider vertauscht. Der im gleichen Beitrag in Anmerkung 24 genannte Aufsatz von Manfred Opel ist in „Aus Politik und Zeitgeschichte" B 8/78 und nicht in B 28/77 veröffentlicht worden.

Fussnoten

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Zdenk Mlyn, geb. 1930, tschechischer Politologe; 1966— 1968 Leiter des Forschungsteams der Akademie der Wissenschaften in Prag für die Forschung der Entwicklung des politischen Systems; 1968 einer der Autoren des Aktionsprogramms der KP und Sekretär des Zentralkomitees der KPÖ; 1970 aus der KPC ausgeschlossen und durch Berufsverbot betroffen; 1977 Emigration nach Österreich; z. Z. Gastprofessor an der Universität Bremen.