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Rußland und die staatliche Einheit Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert | APuZ 9/1982 | bpb.de

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APuZ 9/1982 Artikel 1 Industriekultur in Deutschland Das Beispiel der Region Nürnberg Rußland und die staatliche Einheit Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert Das deutsche Element in der Arbeiterbewegung de*r USA Zur Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten Gebaute Umwelt und soziales Verhalten Die Bedeutung der gebauten Umwelt für das Zusammenleben der Menschen Wohnungsbau und Wohnungsbaupolitik in der Bundesrepublik Deutschland Haben wir wieder eine Wohnungsnot? Die Situation am Wohnungsmarkt

Rußland und die staatliche Einheit Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert

Rex Rexheuser/Karl-Heinz Ruffmann

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Von allen Groß-und Weltmächten hat allein Rußland durchgängig, aber auch besonders intensiv und folgenreich auf Deutschlands Wege von staatlicher Zersplitterung zur Einheit im 19. Jahrhundert und von der Einheit zu neuer Spaltung im 20. Jahrhundert eingewirkt. Sein Verhalten zur deutschen Frage bestimmte sich vor 1870/71 wie seit 1944/45 aus drei Konstanten: seiner räumlichen Dauerstellung als Deutschlands Nachbar, seiner exzentrischen Stellung zu den beiden großen europäischen Revolutionen der Neuzeit, seiner zeitweisen Vorrangstellung nach zwei europäischen Weltkriegen. Trotz Kontinuität und Intensität russischer Einflußnahmen haben die deutschen Entwicklungen bis 1870 und seit 1945 dennoch nicht einfach dem Willen der östlichen Groß-und Weltmacht gehorcht. Die auf Dauer berechnete Nachkriegsordnung von 1815 wollte Deutschland zersplittert halten und konnte doch seine Einigung nicht hindern. Die provisorische Nachkriegsordnung von 1945 setzte umgekehrt Deutschlands Einheit voraus und führte doch zu seiner Spaltung. Beidemal widersprach die spätere Entwicklung einem ursprünglichen Arrangement, dem Rußland seine wohlerwogene Zustimmung gegeben hatte. Die Gründe für seine Nachgiebigkeit hingen im 19. wie im 20. Jahrhundert mit Grenzen zusammen, die Rußland als Großmacht und als Bürgerkriegspartei gesetzt waren. „Gewollt" haben Stalin und seine Nachfolger die deutsche Teilung so wenig, wie Alexander II. die deutsche Einigung „gewollt" hat. Beidemal spielte die ökonomische Komponente — als Moment der Schwäche — eine wesentliche, aber nicht ausschlaggebende Rolle. Entscheidend war beidemal der Primat der Politik im russischen Handeln. Gemessen an der Vergangenheit des russisch-deutschen Verhältnisses erscheinen die Hindernisse, die einer Herstellung staatlicher Einheit für (Rest-) Deutschland in absehbarer Zukunft entgegenstehen, immens. Die Gründung des Bismarckreiches war, obwohl sie Europa fraglos tief verändert hat, weniger Umsturz als ein Ereignis des Übergangs und der Vermittlung in einem dazu noch fähigen Zeitalter bzw. internationalen System. Die deutsche Spaltung seit 1945 ist demgegenüber Ausdruck und Produkt der starren Frontbildung eines alles durchdringenden Ost-West-Konflikts, d. h. einer qualitativ neuen, so noch nicht dagewesenen politischen und gesellschaftlichen Zweiteilung Europas. Ohne deren Überwindung gibt es keine Chancen für die staatliche Einigung eines Landes, das von dieser neuartigen Systemgrenze geteilt wird. Jede künftige Lösung aber wird mitentschieden werden von Rußland als der Macht, bei der seit jeher ein Hauptschlüssel zur deutschen Frage liegt.

Seitdem Europa sich daran gewöhnt hat, im Nationalstaat die Normalform seiner politischen Existenz zu sehen, ist an Deutschland bekanntlich alles zur Frage geworden, vieles eine Frage geblieben: seine Grenzen nach außen und seine Grenzen im Innern, die Beziehung zwischen der einen Kultur-und mehreren Staatsnationen, der Bau seiner sozialen und politischen Verfassung, das sonderbar wechselhafte Verhältnis der Deutschen zu sich selber. Wir heben aus diesem Knäuel seit zweihundert Jahren wiederkehrender, nie auf Dauer beantworteter Fragen das Teilstück eines — freilich zentralen — Einzelproblems heraus: die Frage der deutschen Einheit im 19. und 20. Jahrhundert, gesehen von Rußland her. Sagt man es verkürzend und in der parteiischen Sprache der Nationen, so hat Deutschlands Weg im 19. Jahrhundert von staatlicher Zersplitterung zur Einheit, im 20. Jahrhundert von der Einheit zu neuer Spaltung geführt. Wir suchen mit einem Vergleich zwischen den Jahrhunderten den besonderen und sehr hohen Anteil zu bestimmen, den die eine Großmacht Rußland an beiden Prozessen genommen hat.

Rußland stand mit seiner Einwirkung fraglos nicht allein. Die deutschen Veränderungen sind immer eine Funktion der internationalen Politik gewesen, nicht erst die Teilung im 20. Jahrhundert, die Überrest und zugleich Zerfallsprodukt einer großen Koalition ist, sondern auch schon die Einigung im 19. Jahrhundert, die nur zustande kam, weil nacheinander alle Großmächte ihr freiwillig oder gezwungen die Zustimmung gaben. Rußland hat dennoch im Kreis der äußeren Teilhaber eine ausnehmend starke und beharrende Stellung gewahrt. England ist — zumindest im Vergleich zur östlichen Flügelmacht Europas — jedesmal im Hintergrund geblieben; einst weil es Vorgänge auf dem Kontinent vorrangig un-7 Der Beitrag wurde erstellt für ein internationales Historiker-Symposion „Die Deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert", das Professor Josef Becker (Universität Augsburg) mit finanzieller Unterstützung der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung vom 23. bis 25. September 1981 in Augsburg durchführte. — Das Fehlen eines Anmerkungsapparates wird, wie wir hoffen, kompensiert durch die Literaturhinweise am Beitragsende, denen unschwer die im Text genannten Autoren bzw.deren Arbeiten zu entnehmen sind. ter überseeischem Gesichtspunkt verfolgte, später weil es bloß als Juniorpartner eines Stärkeren sich auf dem Kontinent noch Geltung verschaffen konnte. Aus dem gleichen Grund trat Frankreich, nachdem es die Einigung tief beeinflußt hat, bei der Teilung weit zurück. Österreich hörte im 20. Jahrhundert auf, als Großmacht zu bestehen. Die Vereinigten Staaten schickten sich im 19. Jahrhundert erst von ferne an, Großmacht zu werden. Einzig Rußland hat den Status durchgängig besessen oder doch so viel davon behauptet, daß es auf Deutschlands Wege zur Einheit wie in die Teilung anhaltend und folgenreich einwirken konnte.

Fragt man, warum es von seinen Möglichkeiten so nachdrücklich Gebrauch machte, stößt man auf einige grundlegende Gegebenheiten, die sich in zwei Jahrhunderten zwar vielfach abgewandelt, aber stets wieder erneuert haben. Einen ersten Fixpunkt liefert das geographische Datum: Deutschlands bald unmittelbare, bald nahe Nachbarschaft zur russischen Westgrenze. Fürs Kalkül der Macht, dem sich noch niemand auf dieser Erde entzogen hat, war Deutschland mithin politisches und militärisches Vorfeld des Ostens, eine Zone erhöhter Sicherheitsempfindlichkeit, der jede russische Regierung besondere Aufmerksamkeit zuwenden mußte, sie mochte in Petersburg oder Moskau sitzen und ihre Sicherheit defensiv verstehen oder in der Offensive finden. Die Nötigung war um so größer, als Rußland dreimal in anderthalb Jahrhunderten — 1812, 1914, 1941 — in einen europäischen Weltkrieg verwickelt war, den es nach Westen hin zu führen hatte.

Auf russische Siege in diesen Kriegen — 1815 über Napoleon, 1945 über Hitler — geht ein zweites Grunddatum der russisch-deutschen Konstellation zurück. Alexanders Einzug in Paris, das Vordringen der Roten Armee bis zur Elbe machten Rußlands politisch-militärische Stellung nach Westen so stark, daß ihm jedes-mal eine entscheidende Stimme zukam, als über die Nachkriegsordnungen Europas entschieden wurde. Eingeschlossen in diese Ordnungen und zugleich einer ihrer Kernbestandteile war beidemal die deutsche Frage. Wie die Einigung sich unter den Ausgangsbedingun12 gen von 1815 vollzogen hat, so die Teilung unter jenen von 1945.

Daß schließlich der Kampf mit Napoleon zugleich ein Krieg gegen die Französische Revolution, das Unternehmen Barbarossa auch ein Krieg gegen die Russische Revolution gewesen ist, führt auf einen letzten Fixpunkt im russisch-deutschen Verhältnis. Obwohl Ruß-land, in der Terminologie der Oktoberrevolution gesprochen, 1815 die feudale Reaktion, 1945 den sozialistischen Fortschritt verfocht, blieb es doch vor seinem Frontwechsel wie danach Partei in einem internationalen Bürgerkrieg. Mehr noch, es hat immer, als letztes Bollwerk des Ancien rgime wie als erster „sozialistischer Staat" der Welt, an der exponiertesten Stelle dieser Kriege gekämpft und aus dem Anspruch, Vorkämpfer einer Partei zu sein, nicht nur rhetorische Rechtfertigungen, sondern auch wirksame Energien gezogen. Deutschland aber lag jedesmal im unmittelbaren Frontbereich des internationalen Bürgerkriegs. Es war deshalb im 20. Jahrhundert vom revolutionären Hegemonialanspruch Rußlands so unmittelbar betroffen wie von seinem gegenrevolutionären im 19. Jahrhundert.

Die in beiden Hegemonialansprüchen enthaltenen „Unverzichtbarkeitsvorstellungen und ihr Schutz von Infragestellung" (G. Wettig) im außenpolitischen Bezugsrahmen, oder noch genauer: in einem jeweils besonderen internationalen System, als dessen Hauptverfechter und -garanten Petersburg bzw. Moskau auftraten, waren Grundlage und Richtschnur keineswegs nur, aber vor allem auch der russischen Deutschlandpolitik in der Zeit vor 1870/71 und seit 1944/45.

Auf eine Formel zusammengezogen, bestimmte sich Rußlands Verhalten zur deutschen Frage mithin aus drei Konstanten: seiner exzentrischen Stellung zu den beiden großen Revolutionen der Neuzeit, seiner zeitweisen Vorrangstellung nach zwei europäischen Weltkriegen, seiner räumlichen Dauerstellung als Deutschlands Nachbar. Jedes einzelne der drei Momente hätte genügt, die deutsche Einheit zum russischen Thema zu machen. Daß alle drei Momente sich ständig zu einem Zusammenhang verknotet haben, erhob die deutsche Frage zu einem Hauptthema der russischen Politik und erklärt, warum niemand von außen die deutschen Antworten so kontinuierlich und nachhaltig beeinflußt hat wie Rußland.

Das heißt freilich nicht, daß die Entwicklungen aufs Jahr 1870 hin und vom Jahre 1945 her einem russischen Kalkül entsprochen oder gar Rußlands Willen gehorcht hätten. Eher trifft das Gegenteil zu. Die auf Dauer berechnete

Nachkriegsordnung von 1815 wollte Deutschland zersplittert halten und konnte doch seine Einigung nicht hindern. Die provisorische Nachkriegsordnung von 1945 setzte umgekehrt Deutschlands Einheit voraus und führte doch zu seiner'Spaltung. Beidemal widersprach die spätere Entwicklung einem ursprünglichen Arrangement, dem Rußland seine wohlerwogene Zustimmung gegeben hatte.

In der Tat fand es dafür 1815 so stichhaltige Gründe wie 1945, auch wenn die Improvisation von Potsdam dem russischen Interesse weniger weit entgegengekommen ist als das Friedensvertragswerk von Wien. Bekanntlich hat der Kongreß von 1815 mit Einrichtung des Deutschen Bundes das westliche Vorfeld der konservativen Vormacht so geordnet, daß sie gegen Herausforderungen von außen wie innen optimal gesichert schien. Als lose Vereinigung souveräner Fürsten schloß der Bund die revolutionären Alternativen des Nationalstaats und der Volkssouveränität, die der Autokratie auf dem ganzen Kontinent nicht erwünscht waren, von Deutschland jedenfalls aus. Als ein Subsystem von Staaten, das zwei größere mit vielen kleineren zusammen-spannte und damit den österreichisch-preußischen Dualismus ebenso am Leben wie in der Balance hielt, neutralisierte der Bund machtpolitisch das europäische Glacis des Zaren-reichs. Überdies ließ Rußland von Polen, dessen Masse es selber nahm, zwei bescheidene Stücke an Österreich und Preußen fallen, gerade genug, daß die kleineren Partner sich bereit fanden, das volle Risiko der Teilung mit ihm gemeinsam zu tragen. Und wenn trotz allem einer der beiden an irgendeiner Stelle, in Polen, auf dem Balkan, in Deutschland, sich aus dem russischen Interesse zu lösen suchte, konnte Petersburg immer noch auf den Beistand des Rivalen hoffen, in Wien gegen Berlin, in Berlin gegen Wien. Die kleineren deutschen Fürsten, stets in Sorge vor den zwei großen, waren ohnehin geneigt, sich an die noch größere Schutzmacht im Osten anzulehnen.

Was das Zarenreich aus der deutschen Zersplitterung nach 1815 gewann, war mithin mehr als eine Reihe von (Einzel-) Vorteilen. Sie bot ihm ein ganzes Gefüge von Sicherheiten und Handhaben, das sich im traditionellen Muster der Machtpolitik ebenso verwenden ließ wie gegen systemgefährdende Bedrohungen durch die Revolution. Wie wirksam die Kombination im kritischen Augenblick zu werden vermochte, erfuhr am empfindlichsten Preußen an seinem kleindeutschen Unionsplan 1849/50, als es zum ersten Male, schon in der Weise Bismarcks, nur ohne dessen artisti13 sehe Robustheit, konservative Revolutionspolitik zu treiben suchte. Der Anlauf scheiterte zuletzt am russischen Veto. Daß aber Petersburg mit Gewalt nur zu drohen brauchte, ohne sie einsetzen zu müssen, rührte zuerst daher, daß Preußens Vorgehen schon in Deutschland selbst alle Gegenkräfte, die im System des Bundes angelegt waren, aufgeregt und gegen sich in Front gebracht hatte — den Konkurrenten Österreich, den Partikularismus der Kleinstaaten und die Partei der Gegenrevolution mitten am Berliner Hof. Der freiwillige Zusammenhalt so vieler und so verschiedenartiger Interessenten schob dem Zaren wie von allein die Rolle des Schiedsrichters zu. Er hat sie sofort qufgenommen und dafür gesorgt, daß sich in Olmütz 1850 die Wiener Ordnung von 1815 wieder herstellte. Es andere denkbar, dem war keine die Vorteil Rußlands und dessen Selbstherrschaft besser hätte dienen können.

Für die mitteleuropäische Ordnung, mit der Rußland und das Sowjetsystem seit 1945 leben, gilt das sicher nicht in gleichem Maße. Zwar ist Moskau heute zugefallen, was Petersburg nie besessen hat: direkte militärische, politische und wirtschaftliche Kontrolle über deutsche Angelegenheiten. Dafür erreichte der mittelbare Einfluß, den Rußland im 19. Jahrhundert, wollte es nicht nackte Gewalt brauchen, allein aufbieten konnte, Deutschland in seiner Gesamtheit. Unter sowjetischer Verfügung stehen hingegen nur Teile von Deutschland, etwa die Hälfte seines einstigen Territoriums, nur ein Drittel seiner überlebenden Menschen, sogar nur ein Viertel seiner wirtschaftlichen Kapazität. Die anderen, weit gewichtigeren Anteile liegen seit 1945 nicht bloß außerhalb des Moskauer Zugriffs, vielmehr drohten sie von Anfang an, Beute und Stützpunkt eines Gegners zu werden, der westlichen Koalitionspartner Rußlands im Zweiten Weltkrieg, die in Moskau insgeheim nie aufgehört hatten, als Klassenfeind zu gelten, und bald nach Kriegsende auch offen wieder so behandelt wurden.

Die sowjetische Politik hat deshalb zu Deutschlands Spaltung immer Alternativen gesehen, die für Rußland wie für den Sozialismus marxistisch-leninistischen Zuschnitts womöglich vorteilhafter und jedenfalls nicht nachteiliger gewesen wären. Man konnte, ohne den eigenen Besatzungsteil preiszugeben, über ganz Deutschland ein Kondominium mit den Koalitionspartnern errichten und versuchen, aus den westlichen Teilen möglichst viel östlichen Nutzen zu ziehen. Eine andere denkbare Lösung war, daß Mittel-und Westdeutschland eins blieben und formelle Selbständigkeit bekamen, aber politisch und militärisch neutralisiert wurden. Und schließlich, im Vergleich, die optimale Variante, eine Ausdehnung der sowjetischen Kontrolle auf Deutschland im ganzen. Wie man weiß oder doch annehmen darf, hat Moskau seit den Konferenzen von Teheran und Jalta nach-oder nebeneinander alle drei Möglichkeiten im Auge gehabt — anfangs und wohl noch übers Jahr 1945 hinaus das Experiment des Kondominiums, dann in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre die Neutralisierung und als ein Wunschbild, das man vermutlich zu jeder Zeit, wäre die Gelegenheit danach gewesen, gern verwirklicht hätte, den Einschluß ganz Deutschlands ins Sowjetsystem.

Im Lichte dieser Möglichkeiten nimmt sich die Wirklichkeit der Teilung wie ein Status minor aus, als Variante der Bescheidung. Und genau in diesem Sinne war, wie jüngste Forschungsergebnisse erweisen, die Teilung in Ost-und Westdeutschland in der Tat nur ein „Ersatzmodell" (v. Buttlar) für die Sowjetunion. Sie hält zwar politisch bis heute jene Linie, die sie 1945 militärisch erreicht hat. Bei Kriegsende schienen sich aber viel weitere Aussichten zu öffnen — auf ein ungeteiltes Deutschland, das entweder von der Sowjetunion zu beeinflussen war oder fest von ihr kontrolliert wurde oder als ein Puffer zum Westen jedenfalls die Sicherheit des Ostens erhöhte. Von Rußland her gesehen, war deshalb Deutschlands Teilung, die sich seit 1945 herausgebildet hat, nicht so ganz verschieden von Deutschlands Einigung, wie sie bald nach 1850 in Gang gekommen ist. Obwohl die zwei Wege in entgegengesetzte Richtungen liefen, stellte es sich der östlichen Großmacht beidemal so dar, daß eine deutsche Nachkriegskonstellation, die ihr höchst günstig war, von einer minder vorteilhaften verdrängt wurde. Warum Rußland sich bestimmen ließ, dieser doppelten Verschiebung nachzugeben, hatte jedesmal vielfältige Gründe — und damals ganz andere als heute. Sie hingen aber beide-mal mit Grenzen zusammen, die Rußland sowohl als Großmacht wie als Bürgerkriegspartei gesetzt waren. Im 19. Jahrhundert sind diese Grenzen bald nach 1850 sichtbar geworden, nicht lange nach Olmütz, als es noch einmal so ausgesehen hatte, als ob der Einfluß des Zaren in Mitteleuropa schrankenlos sei. Im 20. Jahrhundert kamen diese Grenzen bald nach 1945 zutage, nicht lange nach einem Sieg, der Rußland zum Herrn des ganzen Kontinents zu machen schien.

Rußlands Entscheidung gegen Deutschlands Einheit hatte seit 1815 auf hauptsächlich drei Voraussetzungen geruht: einer Gesamttendenz des Handelns, die nach innen wie außen verfassungspolitisch autoritär, sozialpolitisch konservativ war, einer unangefochtenen Militärmacht und einer Bündniskonstellation, in der Petersburg mindestens auf Wien oder Berlin, häufig auf beide, rechnen konnte. Wie eng diese Voraussetzungen untereinander verklammert waren, lehrte das eine Jahrzehnt von 1854 bis 1863, als sie nacheinander hinfällig wurden. Im Krimkrieg stellte Österreich sich diplomatisch und fast schon militärisch auf die Seite der Gegner. Beim Polenaufstand, als Bismarck Rußland erst bewaffnete Hilfe anbot, um es dann, von Frankreich und England unter Druck gesetzt, diplomatisch im Stich zu lassen, erwies auch Preußen sich nicht als verläßlichster Freund. Zur drohenden außenpolitischen Isolierung kam der militärische Ausgang des Krieges, ein doppelt gefährlicher Rückschlag, weil niemand die Niederlage als unglücklichen Zufall erklären konnte. Sichtbar für jedermann war sie eine Folge struktureller Schwächen, nicht nur im eigentlichen Heerwesen, sondern in Wirtschaft und Gesellschaft des Zarenreichs überhaupt. Im Vergleich zu anderen Großmächten, in deren Kreis es sich seit Peter d. Großen hinaufgekämpft hatte, ist Rußland zwar immer schon sozial-ökonomisch im Rückstand gewesen. Die Autokratie hatte aber durch Teilanpassungen an westliche Standards und eine rigorose Anspannung der menschlichen und dinglichen Ressourcen des riesigen Landes sich ein Militärpotential geschaffen, das in den blutigen Konkurrenzkämpfen der Großmächte noch bis über die Schwelle des 19. Jahrhunderts mithalten konnte. Seither indes war durch Kapitalismus und industrielle Revolution der militärtechnische Vorsprung des Westens so drastisch angewachsen, daß die russischen Substitute Selbstherrschaft und Masse den Ausgleich nicht mehr herzustellen vermochten. Petersburg mußte nach 1856 wählen, ob es den Großmachtanspruch nach außen preisgab oder im Innern einen neuen Anpassungsschritt wagte, der wirtschaftlich und sozial weiterging und mehr veränderte als je ein Eingriff seit Beginn des 18. Jahrhunderts. Alexander II. entschied sich, wie bekannt, zur inneren Reform, nicht nur um der äußeren Stellung willen, doch wesentlich auch aus diesem Grunde.

Freilich war das erst eine Rechnung auf die Zukunft. Für die Gegenwart hat der Entschluß zur Reform das außenpolitische Handlungsvermögen Rußlands noch weiter herabgesetzt, als es durch Niederlage und Isolation ohnehin schon gemindert war. Denn Reformen kosteten Geld, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr viel mehr noch, als etwa Preußen zu Beginn des Jahrhunderts in vergleichbarer Lage hatte aufwenden müssen. An Eisenbahnen zum Beispiel war damals noch kein Gedanke gewesen, und die Lasten der Bauern-befreiung trug dort nahezu allein das Dorf selbst. In Rußland, wollte man nicht Ruin und Revolte der Bauern riskieren, mußte der Staat für sie mit einspringen. Er mußte sich auch des Eisenbahnbaus annehmen, schon weil die Konkurrenten es inzwischen getan hatten und ihnen keine Armee mehr gewachsen war, die sich langsamer bewegte als auf Schienen. Allein aus Eisenbahnbau und Bauernbefreiung, von anderen Reformkosten zu schweigen, entstanden deshalb dem Fiskus nach 1856 plötzlich und in enormer Höhe Mehrbelastungen, die den Kriegsminister zu einem friedfertigen Manne machten. Miljutin wußte so gut wie der Finanzminister Reutern, daß Rußland sich vorläufig auf äußere, schon gar auf kriegerische Verwicklungen nur einlassen dürfe, wenn es um Existenzfragen ging.

Was freilich nach außen eine Existenzfrage war, nahm sich, nachdem die innere Reform beschlossen war, merklich anders aus als in den Jahrzehnten zuvor. Solange die Autokratie aus Furcht vor der großen Revolution auch kleine Reformen gescheut hatte, war — beinahe — jede soziale, nationale, konstitutionelle Verschiebung, die sich jenseits der russischen Grenze ereignete, diesseits als eine Bedrohung erschienen. Aus dem inneren Immobilismus entsprang hochgradige gegenrevolutionäre Spannung nach außen, jener nervöse Hang zur Intervention, der die ganze Regierung Nikolajs I. kennzeichnet und ihn zum „Gendarmen Europas" gemacht hat. Mit Alexanders liberalen Reformen ist diese Spannung nicht beseitigt, aber spürbar gemindert worden. Weil Rußland dem Westen innenpolitisch näherrückte, konnte es außenpolitisch um einiges gelassener mit ihm umgehen. Insofern hat das kritische Jahrzehnt seit 1854 nicht nur das Interventions vermögen der Selbstherrschaft geschwächt. Es hat zugleich auch ihr Interventionsbedürfnis herabgesetzt.

Der Sowjetunion ist ein Krimkrieg bis heute erspart geblieben. Auch ihre innere Stabilität hat bisher, sehr im Unterschied zu den sowjetischen Hilfsstaaten in Osteuropa, niemals seit 1945 ernstlich gewankt. Dennoch stieß Moskau nach außen auf macht-und systempolitische, darunter auch wirtschaftliche Grenzen, die seinen Handlungsraum ähnlich beengen, wie es einst Petersburg widerfahren ist, als es in die Niederlage und unter Reformdruck geriet. Seitdem die Vereinigten Staaten sich 1945 entschlossen, in Europa politisch und militärisch anwesend zu bleiben, hat die Sowjetunion einen Widerpart auf ihrem westlichen Vorfeld, der jeden Schritt, den sie hier versuchen mag, mit hohen Risiken belädt. Das stärkste knüpft sich an die modernen Waffen. Zwar ist Amerikas Vorsprung in atomarer Rüstung, der 1945 für einen Augenblick die Krimkriegssituation dramatisch zu erneuern schien, von der Sowjetunion bezeichnenderweise rasch und ohne systembelastende Folgen ausgeglichen worden. Die Balance des Schreckens, unter und von der Europa seit Mitte der fünfziger Jahre lebt, hat aber die russische Politik nicht erfolgreicher gemacht und ist einer der entscheidenden Gründe, warum sie in Deutschland über die Demarkationslinie von 1945 nie hat vordringen können.

Scheiden aber die Drohungen mit Gewalt oder ihr Gebrauch als grenzverändernde Mittel aus, macht sich doppelt nachteilig für die Sowjetunion geltend, daß sie als Bürgerkriegspartei seit 1945 in sonderbar gespaltener Lage ist. So unangreifbar das Sowjetsystem sich bisher überall dort erwiesen hat, wo es einmal etabliert war, so wenig hat es jenseits dieses Bannkreises zu freier und gutwilliger Nachfolge einzuladen vermocht. Jedenfalls in Europa überwog sehr bald die Ablehnung, ein Antikommunismus, der -ma elementarer dem nipulierende nicht viel nachzuhelfen brauchte. Es wird sich daran auch nichts ändern, solange das Quantum an Freiheiten und Gütern, das die konkurrierenden Systeme ihren Bürgern gewähren, in Ost und West so ungleich verteilt bleibt wie noch bis zum heutigen Tag. Zumal in Deutschland, wo die Systemgrenze mit keiner Sprach-und Nationsgrenze zusammenfiel, lange durchlässig war für die Menschen und den Fluß der Informationen nie unterbrochen hat, sind Systemvergleiche immer zu Lasten des Ostens gegangen. Zusammen mit dem machtpolitischen Veto, das ihm die amerikanische Großmacht entgegensetzte, haben sie die sowjetische Deutschlandpolitik auf Dauer in die Zonengrenzen von 1945 wie in einem Getto eingeschlossen. Moskau konnte nur halten, was es damals mit Gewalt und noch unter der Zustimmung seiner Kriegsalliierten in die Hand bekommen hatte. Bei jedem Versuch, westlich darüber hinauszugreifen, ist die russische Politik seither gescheitert, weil sie Gewalt nur noch um den Preis der Selbst-bedrohung hätte gebrauchen dürfen und Zustimmung um gar keinen Preis mehr gefunden hat.

Nicht nur für das sowjetische Optimalziel ungeteilter Kontrolle über ganz Deutschland ergab sich deshalb nie eine Aussicht auf Verwirklichung. Auch die bescheidenere Chance eines — wie immer gearteten — alliierten Kondominiums war spätestens seit 1947 verspielt. Und bei den ebenfalls erfolglosen Neutralisierungsofferten zu Beginn der fünfziger Jahre handelte es sich, wie noch kurz zu erläutern sein wird, wohl in erster Linie um diplomatische Schritte, die helfen sollten, den inzwischen längst eingeleiteten Rückzug auf die „Ersatzlösung", eben auf die deutsche Teilung, propagandistisch abzusichern.

Als Nahtstelle und „Scharnier" (v. Buttlar) der Entwicklung, die von der Erhaltung der Einheit ausging und zur Teilung führte, erwies sich das Jahr 1946. In ihm stritten die Sowjetunion und die USA nicht allein, nicht einmal primär darum, ob es erlaubt oder nicht erlaubt sei, Reparationen aus der laufenden Produktion zu entnehmen. Das Problem der Wirtschaftseinheit hat den Bruch in Deutschland veranlaßt, aber nicht verursacht. „Denn der Versuch der Russen, sich in den westlichen Zonen Bastionen zu schaffen, begann schon vier Wochen nach der Kapitulation; wäre er nicht mit dem folgenlosen Gewinnungskonzept betrieben worden, so hätte er, auch ohne den Reparationseklat, den Akkord der Sieger beendet. Das Scheitern der zunächst gewählten Methode änderte aber nichts an der Geltung des weiterhin angesteuerten Ziels” (v. Buttlar). Dieses macht-und ordnungspolitische Ziel, Gesamtdeutschland in den eigenen Einflußbereich einzufügen, wollten aber auch die USA für sich erreichen. Solange nun — bis weit in das Jahr 1946 — Moskau wie Washington meinten, ihre jeweiligen gesamtdeutschen Absichten verwirklichen zu können, suchten sie noch Verständigungsmöglichkeiten zu erkunden. Für den Fall des Scheiterns trafen sie jedoch gleichzeitig Vorkehrungen, die eine kürzere oder längere Teilung Deutschlands zumindest in Kauf nahmen.

Daß diese nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst von niemandem gewollte Teilung zwischen 1947 und 1949 in einem vielschichtigen Interaktionsprozeß Zug um Zug bis hin zur Errichtung von zwei deutschen Staaten herbeigeführt wurde, war nicht zuletzt Folge der inzwischen in Moskau vorherrschenden Auffassung, daß das im Krieg bewährte Bündnis mit den Westmächten keine tragfähige Grundlage der sowjetischen Sicherheit mehr darstelle. Diese Einschätzung wurde durch den offenkundigen Mangel an Bereitschaft der USA verstärkt, die UdSSR am atomaren Geheimnis teilhaben zu lassen. Auch und gerade deshalb konnte ein alliiertes Einvernehmen über Deutschland nicht hergestellt werden, und insofern war die Teilung Deutschlands nicht Ursache, sondern Funktion und Produkt jenes in der Tat hochgradig „asymmetrischen Konflikts" (W. Link), den wir als „Kalten Krieg" zu bezeichnen pflegen. Wohl hielten zunächst beide Kontrahenten an ihrem Streben, zumindest aber an ihrem Anspruch fest, beherrschenden Einfluß in Gesamtdeutschland zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurde frühzeitig auf östlicher Seite das „Brückenkopf-Konzept entwickelt, dem auf westlicher Seite das „Magnet" -Konzept spiegelbildlich entsprach. Bekanntlich war jedoch beiden Konzepten ebensowenig Erfolg beschieden wie der von der Sowjetunion seit 1950, auch über ostdeutsche Kanäle, ins Spiel gebrachten und im Frühjahr 1952 dem Westen als diplomatisches Angebot unterbreiteten Idee eines neutralen wiedervereinigten Deutschland, die, wie nicht nur der Vollständigkeit halber hinzuzufügen ist, 1946/47 für Moskau — wie für Washington — (noch?) keine akzeptable Vorstellung zur Lösung der deutschen Frage gewesen war.

Mit der gewiß gewichtigen Einschränkung, daß die der Forschung Verschlossenen einschlägigen Akten in sowjetischen Archiven möglichenfalls zu neuen Einsichten und Urteilen veranlassen oder gar zwingen, darf wohl aufgrund unseres derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes als gesichert gelten, daß die Auffassung von einer 1952 verpaßten Chance zur Wiedervereinigung, was den real-geschichtlichen Vorgang anbelangt, unhaltbar ist. Die offziellen sowjetischen Noten an die Westmächte vom 10. März und 9. April 1952 verfolgten zwei Zielsetzungen, denen als gemeinsames Hauptmotiv, als wichtigste Trieb-kraft ein höchst verständliches, seit 1941 allerdings fast traumatisch gesteigertes Sicherheitsbedürfnis zugrunde lag: Einmal sollte die drohende, unmittelbar bevorstehende politische und militärische Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem verhindert werden. Zugleich und vor allem aber dürfte es Moskau darum gegangen sein, auf eindrückliche Weise den Westmächten und — indirekt — Bonn die Verantwortung für die Spaltung Deutschlands zuzuschieben sowie die weitere Sowjetisierung der DDR und deren feste Einbindung in den Ostblock zu rechtfertigen und zu erleichtern. Selbst wenn man Anlaß zu haben meint, diese beiden Zielsetzungen anders zu gewichten, und darüber hinaus darauf verweist, daß das sowjetische Angebot sogar den eigenen Besatzungsteil Deutschlands zur Disposition zu stellen schien, steht inzwischen soviel zweifelsfrei fest: Das den Westen keineswegs überraschende, vielmehr hier — in noch dazu erheblich massiverer Form — längst erwartete Neutralisierungsangebot Moskaus von 1952 stieß in Washington, in London und erst recht in Paris von vorne-herein auf Ablehnung und fand in Bonn, bei schon deshalb höchst eingeschränktem Verhaltensspielraum der Bundesregierung, keinen hinreichenden Widerhall. (Davon zu unterscheiden ist die bundesdeutsche Wirkungsgeschichte; mit ihr verhält es sich ähnlich wie mit dem vom realgeschichtlichen Vorgang ebenfalls klar abzugrenzenden Rapallo-Mythos). Wenn sich aber die deutsche Einheit unter keiner der Bedingungen, die Moskau stellen mochte, durchsetzen ließ, hatte es bloß noch die Wahl, den Bedingungen der Gegenseite nachzugeben oder auf den Status quo zu insistieren. Da zur Kapitulation vor dem Westen weder innen-noch außenpolitisch ein Anlaß bestand, entschied die Sowjetunion sich folgerichtig und gewissermaßen notgedrungen zur Beharrlichkeit. Erhaltung des Status quo hieß nun freilich, daß sich Deutschland auf die Dauer an der vorläufigen Demarkationslinie von 1945 teilte. Die endgültige Option für diese Lösung vollzog die Sowjetunion im Sommer 1955 mit der öffentlichen Erklärung Chruschtschows in Ost-Berlin, die Frage der deutschen Wiedervereinigung sei kein Gegenstand für weitere Verhandlungen der Großmächte, sondern ausschließlich Angelegenheit der beiden deutschen Staaten. Da über diese Teilungs-oder Wiedervereinigungsfrage seit 1955 in der Tat auf keiner internationalen Konferenz mehr verhandelt worden ist — auch dann nicht, wenn Konflikte in und um Deutschland die Großmächte zu solchen Konferenzen führten —, hat Moskau zweifellos die Entscheidung getroffen, die „deutsche Frage" von der Tagesordnung der internationalen Diplomatie zu streichen und die Teilung als eine „Realität" zu deklarieren, mit der Deutsche und Nichtdeutsche sich abfzufinden hätten.

Insofern darf man sagen, die Teilung sei Ergebnis der sowjetischen Politik. Sie ist es aber nur im Sinne einer Nebenfolge, die unter den gegebenen Umständen unvermeidlich war, nicht ein Primärziel, das Rußland sich bewußt gestellt und planmäßig verwirklicht hätte. „Gewollt" haben Stalin und seine Nachfolger die deutsche Teilung so wenig, wie Alexander II. die deutsche Einigung „gewollt" hat. Beides hat man geschehen lassen und hingenommen, weil, damals wie heute, weder die Großmacht noch die Bürgerkriegspartei Rußland stark genug war, es zu verhindern. Beidemal spielte die ökonomische Komponente — als Moment der Schwäche — eine wesentliche, aber nicht ausschlaggebende Rolle. Entscheidend war beidemal der Primat der Politik im russischen Handeln. Aber anders und stärker als (im Jahrzehnt) nach 1854/56 gerieten (im Jahrzehnt) nach 1944/45 in der Deutschlandpolitik Sicherheits-und Expansionsinteresse in Widerspruch. Nachdem sich mithin die Teilung als unvermeidlich herausgestellt hatte, es spätestens seit 1955 keine realen Alternativen zu ihr gab, ist von der Sowjetunion alles getan worden, daß nun wenigstens ihr Teilstück, die DDR, sich nach innen und außen konsolidiere. Bei diesem bescheideneren Vorsatz rückten alle Trümpfe auf die Seite Moskaus. Das Gleichgewicht des Schreckens wirkte sich hier zu seinen Gunsten aus, und das Sowjetsystem machte nicht seine Abstoßung nach außen geltend, sondern sein ungemeines Vermögen zu innerer Stabilität, das ihm nicht zuletzt dank seiner Herrschaftsmittel und -methoden eigen war.

Nur die Zukunft kann lehren, ob die paradoxe Rechnung des Westens aufgeht und aus den zwei Staaten noch einmal ein einziger wird, wie es einst den 39 Staaten, die seit 1815 im Deutschen Bund mit-und gegeneinander Politik getrieben haben, oder doch den meisten von ihnen widerfahren ist. Gesehen von der Gegenwart her, erscheinen die Hindernisse immens. Sie steigen noch höher, wenn wir sie ein letztes Mal an der Vergangenheit des russisch-deutschen Verhältnisses messen.

Die Gründung des Bismarckreiches, gewaltsam vollzogen, mit halbrevolutionären Mitteln nach innen und von weitreichenden Folgen nach außen, hat Europa fraglos tief verändert. Dennoch war sie weniger Umsturz als ein Ereignis des Übergangs und der Vermittlung, und dem Umstand, daß Übergänge und Vermittlungen damals in Europa (aus gleich noch zu benennenden Gründen) möglich waren, ist es — nebem dem Geschick eines erstaunlichen Mannes — vor allem zu danken, daß sie nach außen wie innen gelingen konnte. Die deutschen Kriege ließen sich führen um begrenzter Ziele willen, ohne das Risiko unbegrenzbarer Zerstörung. Das vereinte Deutschland wurde zwar eine stärkere Großmacht als das alte Preußen, aber keine neue, und solange es sich noch hütete, Hegemonialansprüche zu stellen, konnte es alle Spielräume des Manövrierens nutzen, welche die Konkurrenzgemeinschaft der fünf Großmächte ihren Mitgliedern seit jeher offenhielt. Und so bitter nach innen und außen an den Fronten des europäischen Bürgerkriegs gekämpft wurde, überwogen Übergänge und Zwischenlösungen auch hier die eindeutigen Siege und Niederlagen. Das Nationalprinzip ließ sich mit der Monarchie so gut vereinen wie mit der Republik. Zwischen Absolutismus und Volkssouveränität lag der Mittelweg des konstitutionellen Königtums, und bevor der industrielle Kapitalismus rein zu sich selber kam, konnte er mit den vormodernen politisch-sozialen Ordnungen mühelos in die unklarsten Mischungsverhältnisse treten.

Nichts von dieser Freiheit der Bewegung hat sich in der Gegenwart Europas erhalten. Anstelle der fünf großen Mächte beherrrschen es zwei, die übergroß geworden sind. Das lockere Gefüge der Pentarchie ist verdrängt von der starren Frontbildung des einen und alles durchdringenden Ost-West-Konflikts, d. h. von einer qualitativ neuen, so noch nicht dagewesenen politischen und gesellschaftlichen Zweiteilung Europas. Denn so gleichartig die industrielle Basis jenseits und diesseits der Grenze geworden ist, zwischen den politisch-sozialen Systemen, die sie trägt, stehen ausschließende Gegensätze von solcher Schärfe, daß sie bisher von keiner Reformbewegung auf einer Seite und keinem Entspannungsversuch, der zwischen ihnen unternommen wurde, überbrückt werden konnten. Nicht weniger als das müßte aber geschehen, wenn ein Land, das von dieser neuartigen Systemgrenze geteilt wird, sich je wieder einigen soll. Die Aussichten sind bescheiden genug. Was immer jedoch die Zukunft Deutschlands sein mag, sie wird jedenfalls mitentschieden werden von jener Macht, bei der seit jeher ein Hauptschlüssel zur deutschen Frage liegt — von Rußland.

Literaturhinweise

Anregungen, Informationen und Belege zum Thema insgesamt, das unter dem hier gewählten Frageaspekt wohl noch nicht behandelt worden ist, enthalten: die Schrift von W. Conze, Das deutsch-russische Verhältnis im Wandel der modernen Welt, Göttingen 1967; ferner der Aufsatz von G. Wettig, Kontinuität und Wandel der russischen Deutschland-Politik 1815 bis 1969, in: B. Meissner\i. G. Rhode (Hrsg.), Grundfragen sowjetischer Außenpolitik, Stuttgart u. a. 1970; sowie schließlich — in begrenztem Umfang — der Sammelband von W. Markert, Deutsch-Russische Beziehungen von Bismarck bis zur Gegenwart. Stuttgart 1964.

Für die Zeit von 1815 bis 1870/71 wird v. a. verwiesen auf: das Standardwerk von W. E. Mosse, The European Powers and the German Question, 1848— 1871, Cambridge 1958, und die Zusammenfassung bei B. Jelavich, Rußland und die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung, in: GWU Jg. 1968. Wichtige Belege für Rußlands militärische Handlungsschwäche und deren außenpolitische Folgen bei L. I. Narohnickaja, Rossija i vojny Prussii v 60-ch godach XIX v. za ob-edinenie Germanii , sverchu, Moskva 1960, und P. A. Zajonfkovskij, Voennye reformy 1860— 1870 godov v Rossii, Moskva 1952. Zum Verhältnis zwischen Reformproblem, gesellschaftlichen Tendenzen und Außenpolitik im Zarenreich sind heranzuziehen die Spezialuntersuchung von D. Beyrau, Russische Orientpolitik und die Entstehung des Deutschen Kaiserreiches 1866— 1870/71 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München, Reihe: Geschichte, Bd. 40), Wiesbaden 1974, und zusammenfassend D. Geyer, Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860— 1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 27), Göttingen 1977; sowie D. Beyrau, Der deutsche Komplex: Rußland zur Zeit der Reichsgründung, in: E. Kolb (Hrsg.), Europa und die Reichsgründung (= Historische Zeitschrift, Beiheft 6 N. F.), München 1980. Zur Konvention Alvensleben 1863 gibt den neuesten, dank polnischer Publikationen sehr erweiterten Kenntnisstand H. W. Rautenberg, Der polnische Aufstand von 1863 und die europäische Politik. Im Spiegel der deutschen Diplomatie und der öffentlichen Meinung, Wiesbaden 1979 (das gründlich gearbeitete Buch löst sich nur zögernd von der überlieferten, auf Bismarck selbst zurückgehenden Überschätzung des Abkommens bei deutschen Autoren).

Aus der Fülle mehr oder weniger ergiebiger Untersuchungen zur sowjetischen Deutschlandpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ragen hervor und wurden vorrangig berücksichtigt: die einschlägigen Kapitel des von D. Geyer herausgegebenen Osteuropa-Handbuchs: Sowjetunion. Außenpolitik 1917— 1955 und 1955— 1973, 2 Bde, Köln-Wien 1972/76; die auf umfassender Quellenkenntnis fußende Studie von R. Fritsch-Bournazel, Die Sowjetunion und die deutsche Teilung, Opladen 1979, die klar und überzeugend Grundzüge, Ziele und Motive der sowjetischen Deutschlandpolitik von 1945 bis 1979 herausarbeitet, was für die besonders wichtige und vielschichtige Anfangsphase jetzt im Detail die Dissertation von W. von Buttlar, Ziele und Zielkonflikte in der sowjetischen Deutschlandpolitik 1945— 1947, Stuttgart 1980, leistet, und zwar im unmittelbaren Anschluß an die vorzügliche Habilitationsschrift von A. Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1975; ferner G. Wettig, Die Parole der nationalen Einheit in der sowjetischen Deutschlandpolitik 1942— 1967 (= Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien Nr. 33/1967), Köln 1967; ders.. Die politischen Überlegungen bei der ostdeutschen Wiederbewaffnung 1947— 1952, in: Militärgeschichte seit 1945. Aspekte der deutschen Wiederbewaffnung bis 1955, Boppard 1975 und ders., Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage 1965— 1976. Einvernehmen und Konflikt im sozialistischen Lager, Stuttgart 1976; sowie speziell zum Komplex „Stalin-Noten vom Frühjahr 1952" der gerade erschienene Beitrag von H. Graml, Die Legende von der verpaßten Gelegenheit. Zur sowjetischen Notenkampagne des Jahres 1952, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29. Jg. (1981), Heft 3, der erstmals amerikanische diplomatische Korrespondenzen aus dem Jahr 1952 auswertet; die im Druck befindliche Erlanger Dissertation von P. März, Die Bundesrepublik zwischen Westintegration und Stalin-Noten. Zur deutschlandpolitischen Diskussion 1952 in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der westlichen und der sowjetischen Deutschlandpolitik (= Erlanger Hist. Studien Bd. 7), Frankfurt/M. —Bern 1982; sowie G. Wettig, Die sowjetische Note vom 10. März 1952 — Wiedervereinigungsangebot oder Propagandawerkzeug (Sonderveröffentlichung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien), Köln 1981 — Als leider wissenschaftlich nicht so geglücktes Pendent zur gerade genannten Arbeit von R. Fritsch-Bournazel ist zu nennen: V N. Belezki, Die Politik der Sowjetunion in den deutschen Angelegenheiten in der Nachkriegszeit 1945— 1976 (aus d. Russ.), Ost-Berlin 1977. — Ursachen und weltpolitische Grundbedingungen des . Kalten Krieges'skizziert und interpretiert ebenso eigenwillig wie überzeugend W.

Link, Das Konzept der friedlichen Kooperation und der Beginn des Kalten Krieges, Düsseldorf 1971.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Rex Rexheuser, Dr. phil. habil, geb. 1933, wiss. Angestellter am Institut für Geschichte (Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte) der Universität Erlangen-Nürnberg. Jüngste Veröffentlichung: Dumawahlen und Lokale Gesellschaft. Studien zur Sozialgeschichte der russischen Rechten vor 1917, Köln—Wien 1980. Karl-HeinzRuffmann, Dr. phil, geb. 1922, o. Professor für osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg; 1957— 1962 wiss. Mitarbeiter und (seit 1959) Studienleiter des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln; seit 1962 Mitglied von dessen wiss. Direktorium und 1972— 1981 auch Mitglied des wiss. Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Veröffentlichungen u. a.: Das Rußlandbild im England Shakespeares, Göttingen 1952; (zus. mit H. -J. Lieber) Der Sowjetkommunismus. Dokumente. 2 Bde, Köln—Berlin 1963/64; Kommunismus in Geschichte und Gegenwart. Ausgewähltes Bücherverzeichnis, Bonn 19662; Sowjetunion, München 1972; (zus. mit O. Anweiler) Kulturpolitik der Sowjetunion, Stuttgart 1973; Sowjetrußland 1917— 1977. Struktur und Entfaltung einer Weltmacht, München 1981’, Sport und Körperkultur in der Sowjetunion, München 1980.