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Die Zukunft der Rüstungskontrolle. Brüche im Bündnis? | APuZ 19/1982 | bpb.de

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APuZ 19/1982 Sicherheitspartnerschaft oder Sicherheitsgegnerschaft? Die Zukunft der Rüstungskontrolle. Brüche im Bündnis? Vertrauensbildende Maßnahmen. Element einer neuen Rüstungskontrollund Abrüstungsstrategie für Europa

Die Zukunft der Rüstungskontrolle. Brüche im Bündnis?

Frank Barnaby

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

diesen Vorsprung wiederherzustellen als nukleare Waffen zu begrenzen. Das heißt mit anderen Worten, die Reagan-Administration wird keine Verträge unterzeichnen, die das Wettrüsten substantiell beeinflussen, solange die gegenwärtigen Pläne für neue Kernwaffensysteme nicht durchgeführt sind. Aber unabhängig davon, ob dieses Wettrüsten bald unter Kontrolle gebracht werden kann, besteht weiterhin die große Gefahr einer nuklearen Katastrophe. Die größten, wenn nicht die einzigen Hoffnungen, die Zahl der nuklearen Waffen in Europa zu reduzieren, beruhen auf dem SALT-Prozess. Die Regierung der Vereinigten Staaten sollte daher dem Senat die Ratifikation des SALT-II-Vertrages empfehlen, woraufhin dann die USA und die UdSSR eine neue Runde von Gesprächen über die Begrenzung strategischer Waffen beginnen müßten, welche auch die eurostrategischen Raketensysteme einschließen würde. In der Zwischenzeit wäre es für den Westen von Vorteil, wenn das von Breshnew angebotene Moratorium zur Stationierung nuklearer Waffen in Europa akzeptiert werden würde.

Übersetzung: Jörg Heinemann, Hamburg

I. Der Stellenwert von Rüstungskontrolle in der Reagan-Administration

Gegenwärtig kann man bereits nach kurzem Aufenthalt in Washington die tiefe Abneigung der Regierung Reagan gegen Rüstungskontrolle spüren. Der SALT-II-Vertrag steht selbstverständlich nicht mehr zur Diskussion, und die jetzige US-Regierung zeigt keine große Eile und nur sehr bescheidenen Enthusiasmus zur Wiederaufnahme des SALT-Prozesses. Eugene V. Rostow, der neue Direktor der Abrüstungsbehörde (Arms Control and Disarmament Agency = ACDA) im amerikanischen Außenministerium, äußerte sich dahingehend, daß neue SALT-Gespräche mit der Sowjetunion nicht unmittelbar bevorstünden. Das ursprünglich genannte Datum — März 1982 — ist nach Meinung vieler Beobachter nur deshalb während der Senatsanhörung zur Bestätigung Rostows genannt worden, um Kritiker der Verschleppungstaktik der neuen Regierung in Fragen der Rüstungskontrolle zu beschwichtigen. Sowohl Rostow als auch Rowney, der designierte amerikanische Verhandlungsführer bei den kommenden SALT-Verhandlungen, standen dem SALT-II-Vertrag derart kritisch gegenüber, daß man sich fragen muß, wie energisch sie eigentlich SALT voranzutreiben gedenken, falls der Verhandlungsprozeß überhaupt wieder in Gang kommen sollte. Wenn also sowohl der Direktor der ACDA als auch der Chefunterhändler für SALT eine derart „laue’ Haltung zum Problem der Begrenzung strategischer Waffensysteme einnehmen, so erhebt sich die Frage, welche Chancen SALT während der Amtszeit der jetzigen US-Regierung noch hat.

Tatsächlich scheint es nicht einmal eine offizielle amerikanische Vorstellung von der weiteren Vorgehensweise bei SALT zu geben. Allgemein wird angenommen, es solle in Richtung eines SALT-III-Vertrags weitergehen — oder auch eines SALT-II‘/2-Vertrags, wie ein witziger Kopf meinte. Niemand jedoch scheint sich Gedanken über die mögliche Tagesordnung für neue Gespräche zu machen: ob die neue Verhandlungsrunde auf die USA und die UdSSR beschränkt bleiben oder ob sie z. B.

Großbritannien und Frankreich einschließen sollte usw.

Diese mangelnde Initiative bei SALT ist sehr ernst zu nehmen. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie bedeutsame Fortschritte in sonstigen Verhandlungen zur Rüstungskontrolle gemacht werden sollten, bevor nicht substantielle Annäherungen bei SALT erzielt worden sind. Insbesondere werden wesentliche Ergebnisse in den Verhandlungen über die Begrenzung von Nuklearwaffen großer Reichweite in Europa (Long Range Theatre Nuclear Forces = LRTNF) während der ersten Verhandlungsphase voraussichtlich von deren Verbindung mit SALT abhängen. Bevor sich auf diesem Gebiet nichts tut, sind auch Fortschritte in den Verhandlungen über ein umfassendes Verbot von Nuklearwaffentests oder von chemischen Waffen kaum in Sicht. Diese Verhandlungen werden in der Zwischenzeit fast zwangsläufig auf kleiner Flamme gehalten. Die kurzfristigen Aussichten für Rüstungskontrolle sind also düster.

Das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR wird folglich während der nächsten Jahre dramatisch eskalieren. Präsident Reagan läßt eine für Friedenszeiten beispiellose Aufrüstung beschließen: Für den Zeitraum von 1981 bis 1986 wird eine Erhöhung des amerikanischen Rüstungshaushalts von ca. 160 Mrd. Dollar auf rund 340 Mrd. Dollar durchgepeitscht, was einem Realzuwachs von ca. 40 % entspricht. Die Bevölkerung hat erst noch den enormen Umfang dieser Ausgabensteigerung zu begreifen.

Anthony Lewis von der New York Times hat diesen Zuwachs mit dem während des Vietnam-Kriegs verglichen: „In den fünf Jahren zwischen 1965 und 1970, als Lyndon Johnson Männer und Geld nach Vietnam fließen ließ, erhöhten sich unsere Rüstungsausgaben um etwas über 24 Mrd. Dollar pro Jahr; nach heutigem Geldwert sind das 53 Mrd. Dollar. Für die fünf Jahre von 1981 bis 1986 schlägt Ronald Reagan eine Steigerung um 181 Mrd. Dollar pro Jahr vor. Mit anderen Worten beabsichtigt er, mehr als das Dreifache an zusätzlichen Finanzmitteln für den Verteidigungshaushalt bereitzustellen als in der Zuwachsphase während des Vietnam-Krieges." Wir können fast sicher sein, daß die Sowjetunion bei der Erhöhung der amerikanischen Militärausgaben mitziehen wird. Nachdem die Sowjetunion ihrer Meinung nach eine Art militärischen Gleichgewichts mit den USA erreicht hat, wird sie es nicht wieder verlieren wollen. In ihrer Perspektive hatte die KubaKrise 1962 für sie nur wegen ihrer militärischen Unterlegenheit zur Demütigung werden können, und die UdSSR wird derartiges nicht nochmals zulassen, wie groß die ökonomischen Opfer hierfür auch sein mögen.

Die sowjetischen Massenmedien bereiten die Bevölkerung bereits auf umfangreiche Steigerungen der Rüstungsausgaben vor. In Erinnerung der Invasionen aus dem Westen kann das sowjetische Volk von der Begrenzung oder gar Kürzung des Lebensstandards zugunsten der Finanzierung höherer Rüstungsbudjets leichter überzeugt werden, als dies im Westen der Fall ist.

In den vor uns liegenden Jahren sind darüber hinaus weitreichende qualitative Verbesserungen verschiedener Waffensysteme zu erwarten. Der technologische Fortschritt bei den wahrscheinlich zukünftig stationierten Waffensystemen wird voraussichtlich eine Steuerung des nuklearen Wettrüstens geradezu unmöglich'machen.

Die Ironie dabei ist, daß die Rüstungsforschung derartige Technologien zu dem Zeitpunkt verfügbar macht, da das politische Interesse an Rüstungskontrolle minimal ist und gleichzeitig riesige Steigerungen der Rüstungsausgaben geplant sind.

Die eigentliche Tragödie liegt darin, daß Präsident Ford den SALT-II-Vertrag nicht mehr ratifizierte, bevor er 1976 aus dem Amt schied — sicherlich hätte er den Senat zu einer Zustimmung bringen können. Diese verpaßte Gelegenheit mag sich einmal als die-bedeutsamste der vielen verpaßten Chancen für die Rüstungskontrolle und Abrüstung erweisen.

Die bisher wichtigste Erklärung der Reagan-Administration zur Politik der Rüstungssteuerung wurde am 14. Juli 1981 vor der Foreign Policy Association von US-Außenminister Alexander M. Haig abgegeben. Haig war in der Tat der erste hohe Regierungsbeamte, der Fragen der Rüstungssteuerung in den Mittelpunkt stellte. Er tat dies in der Absicht, Zweifel von Westeuropäern daran zu zerstreuen, ob die US-Regierung wirklich bald mit der UdSSR über LRTNF verhandeln wolle. Diese Rede war ein entschlossener Versuch, einerseits die Liberalen vom Interesse der Regierung an Rüstungskontrollverhandlungen zu überzeugen, den Konservativen andererseits — also Reagans Hauptwählerschaft — die Grenzen der Rüstungskontrollpolitik dieser Regierung aufzuzeigen.

Haigs Rede wird all jenen Interessengruppen sehr gefallen, die die Auffassung vertreten: „Zuerst Waffen", die also für eine Verschiebung neuer SALT-Verhandlungen plädieren, bis die neuen strategischen Nuklearwaffen auch tatsächlich stationiert sind. Die Befürworter von „Verhandlungen durch Stärke“ sind innerhalb der US-Regierung außerordentlich mächtig. „Es gibt kaum Aussichten für Vereinbarungen mit der Sowjetunion, die ein derart grundlegendes Sicherheitsproblem wie die Verwundbarkeit unserer landgestützten Interkontinentalraketen lösen helfen, bevor wir nicht klar zeigen, daß wir den Willen und die Fähigkeit besitzen, es ohne Rüstungskontrolle selbst zu lösen, falls das nötig sein sollte", sagte Haig. „Für uns sind durchaus nützliche Abkommen vorstellbar, mit denen sich kein Geld einsparen läßt und die nicht zur Vernichtung von Waffen führen", fuhr er fort. Weiterhin dürfe Rüstungskontrolle weder die Entwicklung eines neuen strategischen Bombers behindern noch dürfe sie „versuchen, einfach den technologischen Fortschritt einzuschränken." Der US-Außenminister brachte dann einige grundlegende Fragen zur Sprache, die er vor Beginn von Rüstungskontrollverhandlungen beantwortet wissen wollte. Die eine war das bekannte Schreckgespenst der Verifikation: „Das eigentliche Hindernis auf wirklich jedem Gebiet der Rüstungskontrolle in den siebziger Jahren war die sowjetische Weigerung, die für weiterreichende Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen notwendigen Verifikationsschritte zu akzeptieren. Die sowjetischen Zugeständnisse in dieser Frage werden wie jeder andere einzelne Faktor das Maß erreichbaren Fortschritts bei der Rüstungskontrolle in den achtziger Jahren bestimmen.“

Zweifellos ist die Frage der Verifikation ein wichtiger Aspekt bei den Rüstungskontrollverhandlungen. Die zurückliegenden Bemühungen der siebziger Jahre in diesem Bereich zeigen jedoch deutlich, daß, existiert erst einmal der politische Wille zu einem Rüstungskontrollvertrag, Verifikationsprobleme relativ leicht lösbar sind. Das Verifikationsproblem ist nur zu oft als Ausrede für mangelnde Fortschritte in der Rüstungskontrolle vorgeschoben worden.

Haig übertrieb auch die Schwierigkeiten hinsichtlich der Vergleichbarkeit sowjetischer und amerikanischer Nuklearpotentiale: „Quantitative Parität ist zwar wichtig, aber Gleichgewicht bedeutet mehr als nur Zahlen-vergleiche. Man kann nicht immer verschiedene Waffensysteme zählen, als seien sie gleichwertig. Wesentlich ist die Fähigkeit einer Seite, entscheidende Vorteile durch militärische Operationen oder durch deren Androhung zu erlangen." Es ist — z. B. von Daniel Ellsberg — darauf hingewiesen worden, daß außer Ford jeder amerikaniche Präsident seit Truman mit dem taktischen Nuklearkrieg gedroht hat: in Korea, Indochina, der Formosastraße (Quemoy), Laos, Berlin, Kuba und Vietnam. Auch Präsident Carter machte seine Entschlossenheit zum Einsatz von Nuklearwaffen klar, falls dies notwendig werde; anschließend verlegte er Flugzeugträger, mit Nuklearwaffen bestückt, in den Indischen Ozean. In jüngster Vergangenheit machte Präsident Reagan mit Nachdruck deutlich, daß eine sowjetische Herausforderung der zukünftig im Nahen Osten stationierten US-Truppenverbände unweigerlich „die Gefahr eines 3. Weltkrieges" heraufbeschwören werde. Auch die UdSSR hat, z. B. während der Suez-Krise von 1956, den Einsatz von Nuklearwaffen angedroht, aber sie hat erst seit kurzem die notwendige nukleare Parität erreicht, um solche Drohungen auch ungestraft aussprechen zu können. Wir bewegen uns deshalb in eine Phase hinein, in der beide Seiten öfter einen Nuklearkrieg androhen könnten, um ihre außenpolitischen Ziele zu erreichen. Die einer solchen Weltlage inhärenten Gefahren für die globale Sicherheit sind offensichtlich.

Außenminister Haig gab in seiner Rede ein relativ eindeutiges Plädoyer für die Kontrolle der Verbreitung von Nuklearwaffen in Länder ab, die sie noch nicht besitzen: „Nukleare Proliferation vergrößert das Risiko eines präemptiven oder zufällig ausgelösten Kriegs, sie entfernt uns von der Erhaltung eines stabilen Gleichgewichts konventioneller Streitkräfte, und sie bringt Waffen beispielloser Vernichtungskraft in krisenanfällige und unterentwik-kelte Regionen." Er griff auch die Befürworter des Exports von Atomreaktoren und nuklearen Brennelementen innerhalb der US-Regierung direkt an, die die Gefahren nuklearer Proliferation bei solchen Exporten unberücksichtigt ließen, und meinte: „Keine kurzfristigen Vorteile durch Exporteinnahmen oder regionales Prestige sind derartige Risiken wert“

Haig versuchte den Europäern zu versichern, daß „die USA ein ganzes Spektrum spezifischer Rüstungskontrollmaßnahmen und -Verhandlungen initiiert haben, die bereits laufen oder in Kürze beginnen werden. Der Vorwurf, wir seien an Rüstungskontrolle nicht interessiert oder hätten unsere Kontakte zu den Sowjets abgebrochen, stimmt einfach nicht." Aber Haig hatte keinen Erfolg mit diesen Beteuerungen, seine Rede überzeugt? nicht. Eine ganze Reihe besonderer Aspekte der gegewärtigen amerikanischen Politik — oder ihres Fehlens — beunruhigen die Europäer. Zum einen betont die amerikanische Regierung eher die Grenzen und Probleme der Rüstungskontrolle und weniger die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit. Dies wird dann meistens als Rationalisierung des tiefen Mißtrauens der Reagan-Administration gegenüber den Sowjets und als Ausdruck der Überzeugung interpretiert (die dabei fast einen religiösen Einschlag bekommt), daß bei Verhandlungen mit der UdSSR ohnehin nichts Positives erreicht werden könne. Die US-Regierung scheint a priori anzunehmen, in einem Rüstungskontrollvertrag nur die schlechtesten Ergebnisse erzielen zu können und deshalb solche Verträge um jeden Preis verhindern zu müssen. Darüber hinaus besteht aus amerikanischer Sicht die Notwendigkeit, Fortschritte in der Rüstungskontrolle vom weltweiten Verhalten der Sowjetunion abhängig zu machen: „Eine solche Bindung (linkage) ist kein Produkt amerikanischer Politik, sondern eine Tatsache des Lebens." Vorzugeben, es gäbe keine derartige Bindung, „heißt doch in der Konsequenz, daß wir zur Aufrechterhaltung des Rüstungskontrollprozesses sowjetische Aggressionen zu tolerieren hätten“, erklärte Haig. Impliziert ist, daß Fortschritte bei der Rüstungskontrolle als Belohnung der USA für das Wohlverhalten der UdSSR in internationalen Beziehungen betrachtet werden. Wenige Europäer würden dieses Vorgehen als angemessene Politik einer Supermacht im heutigen Nuklearzeitalter ansehen.

Die größte Befürchtung der Europäer jedoch ist vielleicht der Eindruck, daß nur wenige offizielle Stellen in den USA (ich habe keine einzige ausfindig machen können) glauben, daß eine Kontrolle des nuklearen Wettrüstens in absehbarer Zukunft möglich sei. Jede voraussehbare Änderung sei vielmehr eine zum Schlimmsten hin. Nuklearwaffen, dahin geht wohl die übliche Vorstellung, werden auf unbestimmte Zeit da Sein, wir werden mit ihnen leben müssen, und daran gibt es sehr wenig zu ändern.

II. Die Sicherheitslage der europäischen NATO-Staaten

Die Europäer hingegen haben natürlich sehr gewichtige Gründe, ein unkontrolliertes nu-kleares Wettrüsten zu fürchten: Das Wesen der laufenden militärtechnologischen Ent-

wicklungsprogramme und die Merkmale der letzt vor der Stationierung stehenden Nukle-arwaffen führen zunehmend zu der verbreiteten Annahme, die USA und UdSSR könnten einen Nuklearkrieg planen. Die Publizität um die Indiskretionen bezüglich der streng geheimen Präsidenten-Direktive 59 während der Wahlkampagne Carters alarmierten die Of17 fentlichkeit über amerikanische Schritte hin zu einer Strategie nuklearer Kriegführung, und weg vom Konzept der nuklearen Abschreckung durch gegenseitig gesicherte Vernichtung (Mutual Assured Destruction = MAD). Und es kann kein Zweifel bestehen, daß auch die UdSSR einer solchen Strategie der nuklearen Kriegführung zustrebt. Wesentlicher Bestandteil dieser Strategie ist die — allerdings irreführende — Vorstellung, daß ein „begrenzter Nuklearkrieg" führbar und möglicherweise militärisch sogar wünschenswert sei. Aus eben diesem Grund wird die Möglichkeit einer begrenzten nuklearen Auseinandersetzung zur Zeit zunehmend erörtert. Aber was ist ein „begrenzter Nuklearkrieg", wenn die Supermächte Europa völlig vernichten würden? Es verwundert nicht, daß die Europäer befürchten, die USA und UdSSR würden die Führung eines Nuklearkriegs in Europa planen, während sie selbst in den Sanktuarien ihrer eigenen Länder in Sicherheit bleiben. Die wichtigsten neuen, für die Stationierung in Europa bestimmten Nuklearwaffensysteme (die sog. Nuklearwaffen großer Reichweite in Europa [LRTNF] oder euro-strategischen Raketen), die SS20 auf sowjetischer, die Pershing II und bodengestützten Marschflugkörper (Ground Launched Cruise Missile = GLCM) auf amerikanischer Seite, sind Waffen zur Nuklearkriegführung, weil sie derart zielgenau sind, daß sie gegen relativ kleine Ziele — Brücken, Panzerlager usw. — und kleine gehärtete Ziele wie Führungs-und Fernmeldezentren, Nuklearwaffenlager usw. eingesetzt werden können.

Auch neue strategische Systeme für die Nuklearkriegführung kommen zur Stationierung: Eurostrategische Raketen stellen nur einen Teil einer ganz neuen Generation nuklearer Systeme zur Kriegführung dar.

Die von den USA getroffene Entscheidung zur Produktion der sog. Neutronenwaffe trägt zur Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen der Europäer über die wachsende Gefahr eines Nuklearkriegs in Europa bei. Diese Waffe hat keine einleuchtende militärische Funktion. Die üblicherweise zur Rechtfertigung ihrer Stationierung vorgeschobene militärische Bedeutung soll darin liegen, massive sowjetische Panzerangriffe über die norddeutsche Tiefebene der Bundesrepublik aufzuhalten.

Dies wäre jedoch viel besser durch den Einsatz konventioneller Waffensysteme möglich, wie z. B. präzisionsgelenkte Panzerabwehrraketen oder das , Assault-Breaker" -System, bei dem eine große Zahl präziser Submunitionsgeschosse aus dem Gefechtskopf ausgestoßen und gegen einzelne Panzerziele zum Einsatz kommen. Der schwerwiegendste Einwand gegen die Neutronenwaffe allerdings ist, daß sie eindeutig für einen frühen Einsatz bei einem Krieg in Europa vorgesehen ist. Sie wird damit eine sehr schnelle Eskalation auf eine nukleare Ebene geradezu garantieren. Darüber hinaus wird die Entscheidung über ihren Einsatz voraussichtlich an relativ niedrige militärische Dienstgrade übertragen.

Eine der Paradoxien des Nuklearzeitalters liegt darin, daß die Stationierung sehr zielgenauer Nuklearwaffen das Konzept der nuklearen Abschreckung durch ein „Gleichgewicht des Schreckens" zerstört: Nukleare Abschrekkung beruht auf der Annahme; der Gegner werde keinen Angriff ohne Vorwarnung führen, solange er annehmen müsse, daß der größte Teil seiner Bevölkerung und Industriekapazität vernichtet werden würde. Die großen Städte sind daher die Geiseln der Abschrekkung. Wenn der Gegner jedoch nicht länger das Risiko ihrer Vernichtung fürchtet, dann funktioniert das Konzept nuklearer Abschrek, kung nicht länger. Mit anderen Worten: Die Drohung verliert ihre Glaubwürdigkeit. Genau dies aber wird mit der Stationierung zielgenauer und zuverlässiger Nukleargefechtsköpfe eintreten.

Abschreckung ist im wesentlichen eine psychologische Größe. Entscheidend dabei ist, was der Gegner glaubt. Es ist unmöglich, das Konzept der nuklearen Abschreckung mit zielgenauen Waffen aufrechtzuerhalten, weil der Gegner nun annehmen wird, die Gefechts-köpfe der anderen Seite seien auf seine Streitkräfte und nicht gegen seine Städte gerichtet. Eine nukleare Kriegführung, die auf der Vernichtung feindlicher Streitkräfte beruht, wird dann die einzig glaubwürdige Politik werden.

Entwicklung und Dislozierung von Waffensy-stemen zur Nuklearkriegführung und die Einführung einer Politik der Nuklearkriegführung werden den Einfluß jener Gruppen bei beiden Weltmächten vergrößern, die einen nuklearen Krieg für „führbar und gewinnbar" halten (solche Lobbys hat es seit Hiroshima immer gegeben). Bisher waren die stationierten Nuklearwaffen so wenig zielgenau, daß sie nur als brauchbar für Abschreckungszwecke angesehen wurden, und folglich hat sich die Ansicht derjenigen noch halten können, die die Abschreckung einem Konzept der Nuklearkriegführung vorziehen.

Mit zunehmendem Einfluß der Kriegführungsfraktion werden immer weitere Nuklearwaffensysteme in taktische Militärplanungen einbezogen werden. Ist dies einmal in einem signifikanten Maß geschehen, so ist die Eskalation eines konventionellen Kriegs zu einem nuklearen Schlagabtausch geradezu unausweichlich. Ich bin der Meinung, daß ein solcher Krieg zu einem globalen Nuklearkrieg eskalieren wird, in dem alle oder doch die meisten Waffen der Nukleararsenale zum Einsatz kämen. Anderes anzunehmen, heißt zu glauben, eine Seite werde schon kapitulieren, selbst wenn noch ein großer Teil ihres Nuklearpotentials einsatzbereit bliebe. Die europäische Geschichte hingegen zeigt, daß Staaten unter derartigen Bedingungen nicht kapitulieren.

Die Nuklearpotentiale sind riesig: Die gegenwärtigen strategischen Nuklearsysteme der USA sind mit ca. 9 800 Gefechtsköpfen bestückt, die eine Sprengkraft von insgesamt 3, 4 Mrd. t TNT-Äquivalenten besitzen. Die strategischen Raketen und Bomber der UdSSR tragen ca. 7 000 Gefechtsköpfe mit einer Sprengkraft von insgesamt etwa 4, 2 Mrd. t TNT-Äquivalenten. In den Arsenalen taktischer Nuklearwaffen lagern rund 15 000 sowjetische und ca. 20 000 amerikanische Gefechtsköpfe, die zusammen nochmals rund 4, 5 Mrd. t TNTÄquivalente ausmachen. Alles zusammen sind das ca. 12 Mrd. t TNT-Äquivalente, was der Vernichtungskraftvon etwa 1 000 000 Hiroshima-Bomben entspricht oder ca. 3 t TNT für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf der Erde.

Falls die Pläne für strategische und taktische Nuklearwaffen in den achtziger Jahren verwirklicht werden, stationieren allein die USA 17 000 neue Gefechtsköpfe — ein Nettozuwachs von 15 000. Eine ähnliche Vergrößerung sowjetischer Arsenale ist zu erwarten. Die meisten dieser Gefechtsköpfe werden sehr treffsichere, auf gehärtete militärische Ziele gerichtete Waffen sein. Warum also, werden sich viele Europäer zu Recht fragen, bringen die Weltmächte viele tausend neuer Nuklearwaffen zur Kriegführung in Stellung, wenn sie nicht die Führung eines Nuklearkriegs planen?

Unter den neuen zur Stationierung vorgesehenen Nuklearsystemen der NATO befinden sich die Pershing II-Raketen und die bodengestützten Marschflugkörper, während die UdSSR die SS-20 bereits stationiert. 108 Pershing II-Raketen werden die seit 1962 stationierten Pershing I ersetzen. Die Pershing II wird mit einem außerordentlich leistungsfähigen Steuerungssystem ausgestattet sein: In der Endflugphase sucht ein Videoradargerät bei Annäherung ans Ziel das Zielgebiet ab und vergleicht dessen Bild mit einem Suchbild, das bereits vor dem Raketenstart in den Computer des Gefechtskopfes programmiert worden ist. Dieser Computer bedient dann die aerodynamischen Flügel der Rakete und steuert den Gefechtskopf mit einer für ballistische Raketen mit ca. 1 700 km Reichweite bisher unerreichten Genauigkeit ins Ziel, einer Genauigkeit jedenfalls, die fast alle gehärteten militärischen Ziele bedroht. Es handelt sich hierbei um die erste in Europa stationierte Rakete der NATO, die beachtlich tief in die UdSSR einzudringen vermag; sie kann z. B. Moskau vom Boden der Bundesrepublik Deutschland aus erreichen.

Als Folge davon wird die Dislozierung der Pershing II die Gefahr eines versehentlich ausgelösten Nuklearkriegs wesentlich vergrößern. Die Flugzeit der Rakete vom Start in der Bundesrepublik bis zum Erreichen ihrer Ziele in der Sowjetunion wird etwa 10 Minuten betragen. Erst kürzlich aber haben Zwischenfälle in den USA gezeigt, daß Frühwarnsysteme gegen Nuklearangriffe länger als 10 Minuten brauchen können, um zwischen Fehlsignalen und durch wirklich anfliegende gegnerische Raketen ausgelöste Signale zu unterscheiden. Sowjetische Frühwarnsysteme sind noch weit weniger fortgeschritten als amerikanische. Wenn also die Pershing II erst einmal stationiert sein werden, könnten in einer Krisenlage solche Fehlsignale nervös gewordene politische und militärische Führungen annehmen lassen, sie würden tatsächlich angegriffen, um daraufhin versehentlich ihre eigenen Nuklearwaffen einzusetzen.

Die in Europa zu stationierenden 464 boden-gestützten Marschflugkörper werden ebenso zielgenau wie die Pershing II sein. Obwohl sie im Unterschallbereich fliegen, sind sie relativ unverwundbar, da sie niedrig fliegen und von Abwehrradars nur sehr schwer zu orten sind.

Die SS-20, eine erstmals 1977 stationierte zweistufige, mobile Rakete, kann drei MIRV-Gefechtsköpfe (Multiple Independently Targetable Re-Entry Vehicle = MIRV) tragen, also mehrfach unabhängig zielprogrammierbare Gefechtsköpfe. Mit diesen Gefechtsköpfen liegt ihre Reichweite angeblich bei 5 000 km; ca. 300 SS-20 waren bis Anfang 1982 stationiert, wovon 60 % auf Ziele in Westeuropa, der Rest auf China gerichtet sind. Die SS-20 ist bei weitem nicht so zielgenau, wie es die neuen sogenannten eurostrategischen Raketen der USA sein werden; wir können jedoch eine stete Verbesserung ihrer Zielgenauigkeit erwarten.

Die Stationierung der neuen eurostrategischen Raketen wird also, wie wir gesehen haben, die Gefahr eines Nuklearkriegs in Europa und dessen völlige Vernichtung wesentlich vergrößern, mit anderen Worten: sie wird die europäische Sicherheit erheblich verringern. Die Reagan-Administration will diese Waffen hauptsächlich aus drei Gründen stationieren: Erstens, um „durch Stärke verhandeln" zu können. Sie jetzt nicht zu stationieren, nachdem die NATO ihre Stationierung beschlossen hat, würde — so heißt es — als Zeichen der Schwäche angesehen, woraus die Sowjetunion Vorteile ziehen werde. Dieses Argument führt uns natürlich in einen Teufelskreis, in dem beide Seite um „Stärke" konkurrieren.

Zweitens wird verkündet, das militärische Gleichgewicht in Europa — auch das der Nuklearwaffen mittlerer Reichtweite — habe sich zuungunsten der NATO entwickelt und müsse durch die Stationierung der Pershing II und Marschflugkörper in Europa wiederhergestellt werden. Tatsächlich aber gibt es hierfür keinerlei überzeugende Beweise. Die Zahlen für die Streitkräfte in Europa können für die Stützung fast jeder Behauptung herhalten. Es stimmt selbstverständlich, daß die militärische Stärke des Warschauer Pakts in den letzten Jahren zugenommen hat, aber wahrscheinlich ist dies nur geschehen, um den Westen einholen zu können. Erst die Zeit wird erweisen, ob militärische Überlegenheit das Ziel der sowjetischen Aufrüstung war oder nicht. Bis dahin jedoch sollten wir keine unbeweisbaren Mutmaßungen anstellen. Erklärungen über die relative militärische Schwäche der NATO dienen oft zur Rechtfertigung von Forderungen nach höheren Rüstungsaufgaben in westeuropäischen Ländern. Tatsache ist, daß die NATO-Staaten mehr Geld für Rüstung ausgegeben haben als die Staaten des Warschauer Pakts — nämlich 50 % mehr. Das Problem jedoch ist, daß die NATO ihre Gelder ineffizient ausgibt, ohne Koordination bei der Beschaffung von Waffensystemen oder der Standardisierung militärischen Geräts. Wenn dieses Manko behoben werden könnte, dann wären sowohl eine beachtliche Stärkung der konventionellen Streitkräfte als auch ein Abbau der gegenwärtigen Abhängigkeit von Nuklearwaffen möglich, ohne dabei die Verteidigungshaushalte zu erhöhen. Die wiederholte Untertreibung der relativen Stärke der NATO ist einfach politisch unklug, da so die westeuropäische Bevölkerung glauben könnte, sie wäre leicht durch den Warschauer Pakt zu besiegen, und das wird zweifellos die Moral der NATO unterminieren.

Der dritte von Washingtoner Regierungsbeamten genannte Grund für die Stationierung eurostrategischer Raketen in NATO-Staaten liegt in der Koppelung eines taktischen Nuklearkriegs in Europa an einen strategischen Schlagabtausch. Die Argumentation geht dahin, daß die Sowjetunion eher zum Einsatz taktischer Nuklearwaffen bereit sein werde, wenn sie in Zweifel ziehen könne, ob die USA dann überhaupt ihre strategische Nuklearstreitmacht einsetzen würden. Die Lücke zwischen den gegenwärtigen Nuklearstreitkräften der NATO in Europa und der strategischen Nuklearstreitmacht der USA werde, so heißt es, durch die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen geschlossen. Die ganze Stufenleiter der Eskalation wäre dann wieder lückenlos gesichert, und dies, sagt man, werde die Abschreckung auf allen Stufen eines Nuklearkriegs vergrößern und die Kontrolle eines Nuklearkriegs — sollte die Abschreckung versagen — erleichtern.

Dieses gewundene Argument ist das schwächste der drei. Tatsache ist, daß Nuklearwaffen wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt zum Einsatz kommen, bevor sie vom Gegner zerstört oder sonstwie außer Gefecht gesetzt werden können. Die Stationierung von Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik Deutschland, nahe an der Grenze zur DDR, wird folglich den Einsatz dieser Nuklearwaffen bereits in einem sehr frühen Stadium eines Kriegs äußerst wahrscheinlich machen. Da die UdSSR aber nicht zwischen einem vom Boden der Bundesrepublik abgefeuerten amerikanischen Nukleargefechtskopf unter alleinigem US-Kommando einerseits und dem Gefechtskopf einer von den USA aus startenden Interkontinental-rakete andererseits unterscheiden wird, wird der frühzeitige Einsatz der Pershing II sofort zu einer Eskalation der Auseinandersetzung und damit zu einem strategischen Nuklear-krieg führen. Ich jedenfalls meine, daß es ein Trugschluß ist zu glauben, ein Nuklearkrieg könne jemals begrenzt werden. Der Einsatz irgendeiner Nuklearwaffe wird vielmehr wahrscheinlich zu einem globalen Nuklearkrieg führen.

III. Die Verhandlungen über eurostrategische Waffensysteme

Generalsekretär Breschnew hat ein Moratorium bei der Stationierung der neuen Raketensysteme in Europa vorgeschlagen. So erklärte Breschnew beim 26. Parteitag der KPdSU am 23. Februar 1981: „Wir schlagen eine Vereinbarung über ein Moratorium bei der Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen der NATO-Staaten und der Sowjetunion in Europa vor, d. h. wir schlagen ein Einfrieren des bestehenden quantitativen und qualitativen Standes dieser Systeme vor, natürlich unter Einschluß der amerikanischen vorgeschobenen nuklearen Waffensysteme in dieser Region. Das Moratorium könnte sofort in dem Moment beginnen, wo Verhandlungen auf der Basis des gegenwärtigen Standes beginnen und könnte bis zum Abschluß eines dauerhaften Vertrags über die Begrenzung, besser noch, über die Reduzierung dieser Waffensysteme in Europa in Kraft bleiben. Wir machen diesen Vorschlag in der Erwartung, daß beide Seiten sämtliche Vorbereitungen für die Stationierung der jeweiligen neuen Waffen abbrechen, einschließlich der amerikanischen Pershing II-Raketen und der bodengestützten Marschflugkörper." Dieser Vorschlag wurde im Westen ganz einfach ignoriert. US-Außenminister Haig wertete ihn als Teil einer „Propagandakampagne" ab, „deren Absicht die Einschüchterung unserer Verbündeten und die Vereitelung des NATO-Modernisierungsprogramms ist.“ Diese kurzschlüssige Zurückweisung erklärt sich wohl aus der amerikanischen Auffassung, jeder Vorschlag der Sowjets schlage doch nur in irgendeiner Weise zuungunsten des Westens aus. Selbstverständlich hätte die Sowjetunion, worauf Haig hinwies, einen zeitweiligen Vorteil durch ihre bereits stationierten SS-2O. Deren Zahl jedoch wächst in der Zwischenzeit ununterbrochen: Ca. 180 waren zum Zeitpunkt von Breschnews Vorschlag stationiert, heute sind es bereits rund 300. Falls nichts zu einer Beendigung bzw. Abwendung der Stationierung der eurostrategischen Raketen bis zum gegebenen Zeitpunkt getan wird (Ende 1983), beginnen die USA mit der Stationierung der Pershing II und Marschflugkörper in Europa, während die UdSSR dann eventuell weitere 150 SS-20 und damit eine Gesamtstreitmacht von rund 450 SS-20 mit ca. 1500 Gefechtsköpfen stationiert haben wird.

Läge es nicht im Interesse der NATO, einer Einfrierung der SS-20 zuzustimmen, um dann mit aller Bereitschaft über eine Verringerung ihrer Zahl zugunsten einer Nichtstationierung der Pershing II und Marschflugkörper zu verhandeln, es sei denn, die Verhandlungen scheiterten? Was also würde die NATO verlieren, wenn sie so handeln würde?

Mancher wird die Meinung vertreten, daß die NATO Schwäche und Mangel an Entschlossenheit zeigen würde, wenn sie nach ihrem Stationierungsbeschluß und nach so vielen Diskussionen darüber den Vorschlag Breschnews für ein Moratorium annähme. Es könnte so aussehen, als gäbe der Westen — z. T. durch sowjetische Propaganda geschaffenem — politischen Druck nach. Dieser Einwand aber würde an Glaubwürdigkeit verlieren, falls der Westen das Moratorium unter der Bedingung einer angemessenen Frist für erfolgreiche Verhandlungen zum Abbau der eurostrategischen Raketen in Europa akzeptieren würde. Wenn diese mit aller Bereitschaft geführten Verhandlungen scheitern sollten, dann, so scheint mir, hätte der Westen seinerseits eine Möglichkeit zur Propaganda.

Am 18. November 1981 schlug Präsident Reagan vor, daß im Gegenzug zur Annullierung des NATO-Plans zur Stationierung bodengestützter Marschflugkörper und Pershing II alle sowjetischen SS 4, SS-5 und SS-20 abgebaut werden sollten. Ziel dieses Vorstoßes war es, westeuropäische Befürchtungen über Nukle-

prwaffen zu verringern und den Einfluß der Eriedensbewegung zu schwächen. Jedoch wurde dieses Ziel nicht erreicht. Am 21. November demonstrierten erneut 400000 Menschen in Amsterdam gegen einen Kernwaffen-krieg und nukleare Waffen.

Generalsekretär Breschnew wies inzwischen die , Null-Lösung'Reagans zurück. Sowohl das Angebot Reagans als auch die Ablehnung Breschnews waren jedoch primär taktische Schritte im gegenwärtigen sowjetisch-amerikanischen Propagandakrieg. Breschnew möchte prinzipiell die vorgeschobenen Waffensysteme der NATO in Verhandlungen einbezogen wissen. Es ist allerdings nur sehr schwer vorstellbar, wie dies in Abgrenzung von SALT-Verhandlungen und ohne Einbeziehung der Briten und Franzosen möglich sein sollte. Die USA scheinen vor einer Stationierung neuer strategischer Waffensysteme nicht zu Verhandlungen über eben diese Systeme bereit zu sein, und dann kann es zu spät sein.

In diesem Zusammenhang schlug Breschnew in seiner Rede vom Februar 1981 auch Verhandlungen über strategische Systeme vor: „Einmal bereits haben wir einen Entwicklungsstop des Trident-Raketensystems der USA und eines entsprechenden Entwicklungsprogramms in unserem Land vorgeschlagen. Der Vorschlag wurde nicht akzeptiert Als Folge davon haben die USA das neue, mit Trident I-Raketen bewaffnete U-Boot der Ohio-Klasse gebaut, während wir das entsprechende Schiff der Typhoon-Klasse bauten. Wir sind zu Vereinbarungen über die Begrenzung der Stationierung der neuen U-Boot-Klassen bereit: der Ohio-Klasse durch die Vereinigten Staaten und des entsprechenden Systems durch die UdSSR. Wir könnten uns auch über das Verbot einer Modernisierung existierender U-Boot-gestützter ballistischer Raketen und von deren Neuentwicklung verständigen." Auch dieses Angebot wurde übergangen, obwohl es für die USA von Vorteil gewesen wäre, da sie einen klaren Vorsprung in der strategischen Atom-U-Boot-Flotte besitzen.

US-Außenminister Haig kündigte während seiner Rede vom Juli 1981 ein Treffen mit dem sowjetischen Außenminister Andrei Gromyko bei den Vereinten Nationen im September letzten Jahres an, um „eine Einigung über den Beginn amerikanisch-sowjetischer Verhandlungen" über eurostrategische Raketen zu erreichen. „Wir möchten, daß sich die amerikanischen und sowjetischen Unterhändler zwischen Mitte November und Mitte Dezember dieses Jahres zum Beginn offizieller Verhandlungen treffen", sagte Haig. Nun werden Gespräche seit rund einem halben Jahr geführt. Aber in Washington läßt sich kaum eine offizielle Stelle finden, die von diesen Verhandlungen irgendeinen Einfluß auf die Stationierung der neuen Nuklearstreitkräfte in Europa erwartet.

Fussnoten

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Frank Barnaby, Dr., Prof.; Gastprofessor für Friedensforschung an der Freien Universität Amsterdam und Berater des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes (SIPR 1). Nach Forschungstätigkeit als Kernphysiker in London (University College) und bei der Forschungsgesellschaft für atomare Waffen (Aldermaston) sowie Geschäftsführung der Pugwash Conferences on Science and World Affairs; von 1971 bis 1981 Direktor des SIP-RI. Veröffentlichungen u. a.: Man and Atom; The Nuclear Age; Prospects for Peace; sowie zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der Abrüstung und Militärtechnik.