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Internationale Schulbuchforschung Aufgaben, Arbeitsweise und Probleme | APuZ 36/1982 | bpb.de

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APuZ 36/1982 Artikel 1 Geschichtsschreibung und politisches Selbstverständnis Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland — Herausforderung für die Forschung Entstehung, Entwicklung, Funktionen und Tendenzen Marxistisch-leninistische Zeitgeschichte in der DDR Internationale Schulbuchforschung Aufgaben, Arbeitsweise und Probleme

Internationale Schulbuchforschung Aufgaben, Arbeitsweise und Probleme

Karl-Ernst Jeismann

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Schon im 19. Jahrhundert entwickelte sich aus der Friedensbewegung die Arbeit an internationaler Schulbuchrevision. Angesichts nationaler Feindbilder war ihr Ziel die Versachlichung der Schulbücher und des Unterrichts durch die Eliminierung von verzerrenden, stereotypen und klischeehaften Darstellungen anderer Völker im Schulbuch. Ihre Hoffnung richtete sich auf die Verbesserung der Völkerverständigung und die Erhöhung der Friedensbereitschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Arbeit im Völkerbund übernational organisiert und nach dem Zweiten Weltkrieg u. a. auch im Rahmen der UNESCO fortgeführt. — In Braunschweig entstand 1949/50 durch die Initiative Georg Eckerts, gefördert durch die UNESCO sowie durch die Hilfe der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft; Bayerischer Lehrerverein), das „Internationale Schulbuchinstitut". Nach dem Tode seines Gründers wurde es als Anstalt öffentlichen Rechts neu gegründet; es wird von sieben Bundesländern getragen. Der Aufsatz beschreibt die Zielsetzung dieses Instituts und erläutert an verschiedenen Beispielen internationaler Zusammenarbeit in der Schulbuchforschung die Arbeitsweise und die generelle Bedeutung des Instituts im internationalen Forschungszusammenhang. Er zeigt den Weg von der anfänglichen „Schulbuchrevision''zur heutigen „Schulbuchforschung'' und die Spannweite des Forschungsfeldes. Aus der Spannung zwischen Wissenschaft, pädagogischen Zielen und politischen Bedingtheiten der Arbeit ergeben sich für die internationale Schulbuchforschung und die internationale Schulbuchrevision Probleme und Schwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen. Internationale Schulbuchforschung berührt notwendig wunde Punkte nationalen Selbstverständnisses im Vergleich unterschiedlicher Vorstellungen, die das kollektive Selbstverständnis über sich selbst und von anderen Völkern enthält. Sie stellt Selbstgewißheiten in Frage und stößt darum notwendig auf Widerstand. Die Würdigung dieser Arbeit setzt also einen hohen Grad von Liberalität und Unvoreingenommenheit voraus. Insofern ist die öffentliche Reaktion auf die Ergebnisse der Schulbuchforschung nicht nur ein Test auf deren Qualität, sondern auch für die politische Kultur eines Landes.

Zur Geschichte der internationalen Schulbuchrevision

Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten aufmerksame Köpfe in der europäischen Friedensbewegung bemerkt, daß die Quelle der Belehrung für die Jugend aus den Schulbüchern keineswegs immer klar und ungetrübt floß. Das populäre und weit verbreitete, von Staats wegen beaufsichtigte und empfohlene Erziehungsinstrument Schulbuch steckte vielmehr voller Vorurteile gegenüber anderen Völkern, enthielt Verzerrungen, ungerechtfertigte Verherrlichungen des eigenen oder Herabsetzungen des anderen Landes, trug klischeehafte Vorstellungen, oft Feindbilder, in die Köpfe der Jugend und war überdies nicht frei von sachlichen Fehlern.

„Internationale Schulbuchrevision" als ein Mittel, die künftige Kriegsgefahr mit Hilfe der Erziehung zu verringern, wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einer breiten Bewegung; denn was während dieses Krieges in den kriegführenden Ländern Europas den Schülern zum Zwecke nationaler Mobilisierung in die Lehrbücher geschrieben wurde, gab nach dem Kriege Anlaß zu Besinnung und Gegenwirkung. In dem Maße, wie sich während des Krieges der überspitzte Nationalismus ad absurdum geführt hatte, wie die internationale Zusammenarbeit bedeutender wurde und ihre eigenen Institutionen ausbildete, sah sich auch der Unterricht zum Verlassen des Gettos nationaler Vorurteile und Verzeichnungen herausgefordert. Der Völkerbund selbst organisierte die Arbeit internationaler Schulbuch-revision in nationalen und internationalen Komitees

Was so einfach schien — nachprüfbare Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung ohne nationale Vorurteile zusammenzufassen —, erwies sich als schwierig. Schon die nationalen und internationalen Historikertage vor und nach dem Ersten Weltkrieg zeigten, in welch verwickelte Probleme der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftspraxis das Bemühen um internationale Abstimmung von politischen, historischen und geographischen Aussagen führte Dennoch versuchten Pädagogen und Wissenschaftler immer wieder in vielen internationalen Konferenzen, Empfehlungen für die Gestaltung der Schulbücher auf der Basis des wissenschaftlichen Forschungsstandes und unter der Norm der Völkerverständigung zu erarbeiten.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg den Skeptikern erwiesen schien, daß es ein vielleicht edles, aber nutzloses Unterfangen sei, die Menschen durch Belehrung zu bessern, Feindschaft oder gar Kriege durch Aufklärung der Köpfe zu vermindern, hat im zerstörten Nachkriegsdeutschland Georg Eckert, Professor an der Kant-Hochschule in Braunschweig, den gegenteiligen Schluß gezogen. Die UNESCO hat mit Hilfe ihrer nationalen Kommissionen nicht ohne Erfolg versucht, die Bemühungen des Völkerbundes aus der Zwischenkriegszeit im Bereich der Schulbuchrevision weiterzuführen; aber ohne das Engagement Georg Ek-kerts, ohne die ständige Arbeit des von ihm aus eigener Initiative gegründeten Internationalen Schulbuchinstituts hätte den Bemühungen zur Schulbuchrevision die lebendige und vorwärtstreibende Kraft gefehlt, die in diesem Geschäft nötig ist, wenn es nicht in den Belanglosigkeiten abstrakter Kompromißformeln auf der Ebene internationaler Kulturdiplomatie veröden soll. Georg Eckert suchte und fand Unterstützung bei Lehrerverbänden, Parteien, Gewerkschaften, Botschaften.

Das Institut hatte diese Unterstützung nötig, denn es existierte lediglich als eine weder gesetzlich noch verwaltungsrechtlich abgesicherte Suborganisation. Seine Arbeit gewann ihre Bedeutung und ihr internationales Renommee, weil eine Vielzahl von Wissenschaftlern aus vielen Ländern sich dem Ruf zur — immer unentgeltlichen — Mitarbeit nicht verschloß, sondern ihre wissenschaftliche Kompetenz und pädagogische Erfahrung in den Dienst der Verbesserung der Schulbücher mit dem Ziel einer die Völkerverständigung fördernden Versachlichung und Entzerrung der Inhalte stellte. Nach und nach entstand die umfangreichste internationale Schulbuchbibliothek in den Fächern Geschichte, Geographie und politische Bildung, die es auf der Welt gibt; es entwickelten sich vielfältige Kontakte zu Wissenschaftlern und Kulturorganisationen des Auslandes. Ein Periodikum, daß „Internationale Jahrbuch für den Ge-schichtsund Geographieunterricht'', und die Schriftenreihe des Instituts verbreiteten nicht nur die Ergebnisse der Arbeit, die „Empfehlungen", sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Untersuchungen und Diskussionen

Das „Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung"

Nach dem Tode Georg Eckerts hat das Land Niedersachsen angesichts des Umfangs und der Bedeutung der internationalen Schulbuch-arbeit das alte „Internationale Schulbuchinstitut" aus seinem ungeklärten und unetatisier-ten Zustand innerhalb der Hochschule herausgenommen und als Anstalt öffentlichen Rechts neu gegründet (1975). Dem Gründungsgesetz für das neue „Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung" traten bisher sechs weitere Bundesländer durch Vereinbarung mit dem Land Niedersachsen bei. Ein Kuratorium wurde gebildet, dem neben Vertretern der sieben Trägerländer des Instituts und Wissenschaftlern auch Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft angehören. Mit dieser Verselbständigung und neuen Konstituierung des Instituts war der Prozeß der Institutionalisierung internationaler Schulbuch-arbeit abgeschlossen. Länder der Bundesrepublik haben mit Beteiligung des Bundes ein eta-tisiertes und durch gesetzlich festgelegte Aufgaben bestimmtes permanentes Zentrum einer internationalen wissenschaftlichen und pädagogischen Forschung gegründet, die bis dahin und in allen anderen Ländern der Welt nur durch temporäre Arbeit einzelner oder Gruppen, teils unkoordiniert, teils im Rahmen von Projekten der UNESCO, getan wurde. Insofern ist das „Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung" Mittelpunkt der vergleichenden Schulbuchforschung und Schulbuchrevision für Wissenschaftler und Schulbuchautoren, für Pädagogen und Beamte der Schulverwaltungen. Das Land Niedersachsen und die Volkswagen-Stiftung haben auch durch die räumliche Unterbringung des Instituts die Möglichkeit geschaffen, die Bibliothek dem internationalen Benutzerkreis zugänglich zu machen und Arbeitstagungen durchzuführen. Das Gründungsgesetz beschreibt die Aufgaben des Instituts sehr nüchtern: „Das Institut hat die Aufgabe, durch internationale Schulbuchforschung historisch, politisch und geographisch bedeutsame Darstellungen in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland und anderer Staaten miteinander zu vergleichen und Empfehlungen zu ihrer Versachlichung zu unterbreiten." Aufgaben internationaler Schulbuch-forschung Diese Aufgabenstellung nennt den Gegenstand, das Medium und die Perspektive der Arbeit. Sie rückt die bilaterale oder multilaterale vergleichende Schulbuchanalyse sowie die Erarbeitung von Vorschlägen zur Korrektur von Mängeln ins Zentrum.

Das Gesetz bezeichnet auch die Art und Weise, in der diese Aufgabe wahrgenommen werden soll, nämlich „durch internationale Schulbuchforschung". Diese gesetzliche Verpflichtung des Instituts auf Wissenschaftlichkeit ist die sachliche Voraussetzung glaubwürdiger Arbeit; sie verweist es zugleich auf ein schwieriges Gebiet.

Die Entwicklung der Schulbuchforschung hat sich im letzten Jahrzehnt erheblich beschleunigt. Schulbuchforschung ist nicht mehr begrenzt auf das Aufspüren bestimmter Fehler oder Vorurteile zum Zwecke ihrer „Revision“. Sie ist vielmehr eine interdisziplinäre Forschungsrichtung geworden; Fachwissenschaftler, Didaktiker, Pädagogen und Sozialwissenschaftler untersuchen das Medium „Schulbuch“ unter einer Vielzahl von Fragestellungen. Es versteht sich ferner von selbst, daß die Wirkung von Schulbüchern nur zu begreifen ist, wenn man dieses Unterrichtshilfsmittel im Rahmen des gesamten Lehrplans sieht, wenn man seinen Einsatz im Unterricht und seine Bedeutung für den Lernprozeß kennt, wenn man weiß, auf welche Weise und mit welchen Zielen mit ihm gearbeitet wird, wenn man die Entstehungsbedingungen der Schulbücher und die Sachzwänge zur Kenntnis nimmt, unter denen ihre Autoren stehen.

So ist die Schulbuchrevision auf der Basis von Schulbuchforschung ein verwickelteres Geschäft geworden, als man es ehedem gesehen hat. Es gehört zur Voraussetzung der Arbeit des Instituts, die Methode internationaler Schulbuchforschung im Rahmen der allgemeinen Schulbuchforschung genauer zu entwikkeln. Nur auf diese Weise läßt sich eine tragfähige Grundlage für Schulbuchanalyse und -revision schaffen.

Daneben stellt sich ein zweites Grundproblem internationaler Schulbuchforschung: Es bedarf genauerer Einsichten in den Zusammenhang zwischen historischem, geographischem oder politischem Unterricht und den durch die allgemeine politische Kultur vermittelten, „gängigen" Vorurteilen und Fehlwahrnehmungen. Schulbuchrevision wäre blind, wenn sie nicht den eigentümlichen und komplizierten Zusammenhang von politischem Legitimationsinteresse und Identifikationsbedürfnis einerseits sowie historischer, geographischer und politischer Bewußtseinsbildung andererseits im Blick hätte.

Es ist ja nicht blanke Lüge oder pure Bosheit, welche die Verzerrungen in die Selbst-und Fremddarstellungen bringt. Der Erfolg internationaler Schulbuchrevision, wenn sie sich nicht allein auf die Beseitigung von klaren Fehlern oder böswilligen und leicht widerlegbaren Verfälschungen beschränkt, hängt von der Aufdeckung und Erkenntnis dieses je unterschiedlichen Zusammenhangs von gegenwärtigem Selbstverständnis und historischem, geographischem und politischem Weltverständnis ab. Die Schulbücher aus älteren Epochen liefern dazu ein noch gar nicht hinlänglich erforschtes Quellenmaterial. Fallstudien aus der Vergangenheit schärfen den Blick für perspektivisch begründete Wahrnehmungsdifferenzen in den Büchern verschiedener Nationen. Diese Wahrnehmungen sind nicht schlicht falsch, sondern einseitig akzentuiert. Verbesserungsvorschläge können sich deshalb nicht auf den Ersatz einzelner Passagen beschränken; sie müssen die Perspektive erweitern und ergänzen

Spätestens an dieser Stelle der abstrakten Beschreibung der Institutsaufgaben wird dem nachdenklichen Leser die Frage kommen, wie ein Institut, das diese vielfältigen Aufgaben erfüllen soll, ausgestattet sein müsse. Seine materielle Arbeitsgrundlage ist die einer umfangreichen internationalen Schulbuchbibliothek. Die personelle wissenschaftliche Kompetenz muß für jedes Forschungsprojekt neu „eingeworben" werden. Denn ein „autarkes“ Institut, das bei dieser Aufgabenstellung seinen Bedarf an wissenschaftlichen Experten selbst decken wollte, wäre ein Unding: einmal wegen der Quantitäten (Sprach-und Sachkenner), zum anderen auch deshalb, weil die Qualität der Arbeit und die Verbreitung ihrer Ergebnisse von der engen Verflechtung mit der allgemeinen wissenschaftlichen Forschung im Lande lebt. So verpflichtet das Gründungsgesetz das Institut zur Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Hochschulen. Es kann nicht nachdrücklich genug hervorgehoben werden, daß ohne die Mitarbeit vieler deutscher und ausländischer Kollegen an Universitäten und wissenschaftlichen Instituten die Aufgaben des Instituts nicht zu erfüllen wären. Zur Zeit sind in den verschiedenen internationalen Projekten des Instituts von deutscher Seite etwa 50 Wissenschaftler beteiligt. Die Qualität der Institutsarbeit steht oder fällt also mit der Fähigkeit und Möglichkeit, in der wissenschaftlichen und pädagogischen Welt den Willen zur Mitarbeit zu finden.

Die Arbeitsweise Die Arbeitsweise des Instituts bei einem bilateralen Projekt kann im idealtypischen Fall so beschrieben werden: Den Anstoß gibt entweder eine kulturpolitische Initiative, eine pädagogisch-wissenschaftliche Initiative von Verbänden, Institutionen oder auch Einzelpersonen aus anderen Ländern oder eine Initiative, die dem Forschungsspektrum des Instituts selbst entspringt.

Gespräche mit sozialistischen Staaten sind in der Regel organisatorisch einfach, weil die Partner in staatlichem Auftrag, meist betreut von der Akademie der Wissenschaften ihrer Länder, ausgesucht und finanziert werden und sich die Gespräche auf der Basis von formulierten kulturpolitischen Vereinbarungen vollziehen. Die aus anderen Ländern mit dem Eckert-Institut verhandelnden Gruppen sind entweder Vertreter von Verbänden oder hinzugezogene Fachexperten, freie Wissenschaftlergruppen, deren Kosten von kulturpolitischen Instanzen, Stiftungen, Universitäten getragen werden.

Zwischen den Arbeitsgruppen wird ein Projektentwurf vereinbart. In der Regel ist die erste Phase der Analyse der Schulbücher hinsichtlich der vereinbarten Themen und Stufen gewidmet. Aufgrund der Schulbuchanalysen werden die Fehlerquellen, Darstellungslükken, fragwürdigen Akzente usw. festgestellt. In der nächsten Phase des Projekts stellen fachwissenschaftliche Experten den jeweiligen Gegenstand auf der Basis des Forschungsstandes dar. Die Diskussion zwischen Fachwissenschaftlern und Didaktikern oder Schulbuchautoren klärt sodann die angesichts des Forschungsstandes und der Möglichkeiten von Schulbuch und Unterricht angemessenen Verbesserungsvorschläge. In dieser Phase treten die Problemzonen der Verständigung über bestimmte Interpretationen, Urteile und Akzente hervor. Die Suche nach einem Konsens auf der Basis des wissenschaftlich Richtigen und pädagogisch Möglichen, unter der Norm des für die Vertiefung des Verständnisses Erwünschten ist oft schwierig. Die Ergebnisse stehen immer unter der Ungewißheit, ob und inwieweit sie von der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit verstanden, akzeptiert oder abgelehnt werden.

Die erarbeiteten Empfehlungen werden veröffentlicht. Das Institut stellt sie Verlagen, Autoren, Kultusministerien, interessierten Fachbibliotheken und Lehrern zur Verfügung. Die weiteste Verbreitung hatten bisher die deutsch-polnischen Empfehlungen, die in einer Auflage in Höhe von ca. 500 000 Exemplaren in der Bundesrepublik publiziert worden sind. Auch die deutsch-amerikanischen Empfehlungen haben in der deutschen Fassung eine hohe Auflagenziffer.

Diese Empfehlungen wollen keine „Richtlinien" oder gar Sprachregelungen sein. Sie sollen durch ihre Überzeugungskraft wirken. Das Institut verspricht sich die größte Wirkung, wenn sie das Interesse der Lehrer, der Schulbuchverlage, der Schulbuchautoren gewinnen. Natürlich ist es erwünscht, wenn die Kultusministerien diese Empfehlungen den Verlagen zur Prüfung und freien Berücksichtigung übersenden; der Versuchung, solchen Empfehlungen eine verbindliche Kraft, etwa durch Erlasse der Kultusminister, zu wünschen, ist das Institut nie erlegen.

Die Ergebnisse der internationalen Schulbucharbeit verstehen sich als wissenschaftlicher Beitrag zur Verbesserung der Schulbücher, der dem Meinungsstreit und der Diskus-B sion nicht entzogen werden kann. Die nicht sogleich und überall meßbare Wirkung der Empfehlungen des Instituts kann nur durch diese freie Diskussion angestrebt werden.

Diese formale Beschreibung eines „normalen" Projektablaufs bringt die nur am konkreten Fall zu beschreibenden Probleme nicht in den Blick. Grob gesprochen kann man einen älteren Typus der Projekte von einem moderneren abheben: Herkömmliche Schulbuchrevision sucht die offensichtlichen Fehler, Auslassungen, Akzentsetzungen, pejorativen oder verzerrenden Deutungen bis in die Wortwahl hinein auszumerzen. Im Kontakt mit Ländern, deren Schulbücher weithin frei sind von offenbaren Verzerrungen, krassen Stereotypen oder nationalen Vorurteilen, werden jedoch auch tieferliegende Erscheinungen sichtbar. Es geht um die Aufdeckung der verborgenen Vorannahmen, der „underlying assumptions", welche die Wahrnehmung der Geschichte oder der Gegenwart des anderen Landes steuern und oft genug verzerren.

Den älteren Typ findet man z. B. in den Gesprächen mit Rumänien; auch die deutsch-polnischen Empfehlungen stehen noch in diesem Umkreis, wenngleich sie ihn durch ihren Zugriff auf die gesamte Beziehungsgeschichte schon übersteigen. Zum jüngeren Typus gehören die Arbeiten mit englischen und französischen Kollegen. Hier treten z. B. Fragen auf, wieweit eine aus der englischen Erfahrung verständliche verkürzte und unzulängliche Behandlung des Absolutismus und der modernen Staatsentwicklung in Deutschland (wie überhaupt auf dem „Kontinent") wesentliche Züge unseres politischen Systems, des Rechtswesens, der politischen Kultur unverständlich macht; wie umgekehrt etwa durch eine eigenartig deutsche, der englischen Erfahrung nicht entsprechende Gleichsetzung von Parlamentarismus und Demokratie das Verständnis der englischen Geschichte und Gegenwart in Deutschland unkritisch zum Vorbild stilisiert und also verstellt wird — die Diskussion um den sogenannten deutschen Sonderweg liegt genau in dieser Linie.

In den neuen deutsch-französischen Schulbuchanalysen wurde z. B. festgestellt, daß die deutschen Bücher, unter der Faszination der französischen Revolution stehend, die für das gegenwärtige Frankreich weitaus bedeutenderen Entwicklungen der Dritten Republik übergehen und so das politische Frankreich von heute im Bewußtsein der Schüler mit einigen Auszügen der politischen Literatur der französischen Revolution zu verwechseln lehren; in französischen Büchern (aber nicht nur dort) stellt man fest, daß die Klimax der NS-Geschichtsschreibung, welche die deutsche Geschichte im Dritten Reich gipfeln sieht, immer noch — mit negativem Vorzeichen — als Muster dient, wenngleich sich die Verfasser dessen kaum bewußt sein dürften. Vor allem die negative Beurteilung der Weimarer Republik durch das Dritte Reich spiegelt sich durch deren Nichtbeachtung oder durch das Zuschreiben einer bloßen Vorbereitungsrolle für die Herrschaft Hitlers. Daß demokratische Ansätze der deutschen Geschichte, etwa die Revolution von 1848, die Entwicklung von Parteien, Assoziationen und Selbstverwaltung, übersehen werden, gehört auf das Konto solcher unbewußten Vorannahmen.

Als letztes, wiederum anders gelagertes Beispiel ist auf die gerade erschienenen amerikanisch-deutschen Empfehlungen zur Darstellung der Geschichte beider Länder nach 1945 zu verweisen. Hier ergab die Analyse der Textbücher einen unterschiedlichen Befund: Von Amerika her gesehen „gipfelt" die deutsche Geschichte — in Quantität und Qualität der Darstellung — im „Dritten Reich". Über die Nachkriegsgeschichte wird kaum oder allenfalls nach einem journalistischen Prinzip der Auswahl von „Nachrichten" informiert: Berliner Blockade, Mauerbau. Diese schon in sich verkürzte „Ereignisgeschichte" bringt die politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse und Entwicklungen der Bundesrepublik gar nicht ins Bewußtsein. Das ist nicht nur für das gegenseitige Verständnis im allgemeinen wie für das mentale Verhältnis zwischen Verbündeten im besonderen abträglich; die Textbücher bieten auch keine Korrektur zu überkommenen und durch die Medien immer noch wachgehaltenen Stereotypen der Kriegs-und Naziperiode. Schulbuchrevision mußte also versuchen, die Grundzüge der deutschen Nachkriegsgeschichte in Form eines Katalogs von Themen und Problemen den amerikanischen Schulbuchautoren zur Beachtupg zu empfehlen. Die deutschen Bücher halten das Bewußtsein von der Geschichte der USA durch ihre Schwerpunktsetzung stark beim Unabhängigkeitskrieg fest und widmen dem modernen Amerika nur eine eng begrenzte Aufmerksamkeit. Sie richtet sich, verstärkt durch das Prinzip eines „problemorientierten" (nicht systemorientierten) Zugriffs auf kritische Bereiche: Vietnam-Konflikt, Rassen-und Bürgerrechtsproblematik, Watergate. Unterstützt durch anschauliches Material und kritische Originalstimmen aus den USA selbst, die ja reichlich zur Verfügung stehen, bieten sie zwar scharfes, aber durch Ausblendung des politischen und kulturellen Hintergrundes einseitig verzerrtes, Vorurteile förderndes Bild, das der Wirklichkeit der USA nicht gerecht wird. Hier mußte Schulbuchrevision versuchen, den deutschen Autoren die Verflochtenheit und Vielfältigkeit der Erscheinungen und deren unterschiedliche Interpretationen bewußt zu machen, damit die Einzelkritik in den Rahmen des Gesamtsystems gestellt und zutreffend bewertet werden kann.

So entstanden gemeinsame Empfehlungen, aufgeteilt nach unterschiedlichen Adressaten, die auf verschiedene Weise zu korrigieren suchten, was durch historisch begreifliche Wahrnehmungsdefizite an Verzerrungen der gegenseitigen Vorstellungen in den Büchern manifest wird.

Diese wenigen Beispiele zeigen, wie faszinierend vergleichende Schulbuchforschung sein kann, sobald sie an die tieferliegenden Determinanten öffentlich oder staatlich verbreiteter Geschichtsdarstellung gerät. Verbesserungsoder Veränderungsversuche angesichts solch tiefliegender, nicht nur die Schulbuchautoren, sondern die öffentliche Meinung des Nachbarlandes stark bestimmender Wahrnehmungsdeterminanten sind nicht nur schwerer zu formulieren, umfangreicher zu begründen, sondern auch schwieriger umzusetzen als die pragmatischen Revisionsvorschläge des älteren Typs

Die Arbeitsweise des Instituts ist jedoch mit der idealtypischen Skizzierung bilateraler Schulbucharbeit nicht hinreichend beschrieben. Die im Aufgabenkatalog des Gründungsgesetzes genannte Beratungs-und Gutachter-tätigkeit, die Unterstützung von Forschungsarbeiten und die Publizierung der Ergebnisse in der Öffentlichkeit ist ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit. Die Zeitschrift des Instituts „Internationale Schulbuchforschung", die das ältere „Internationale Jahrbuch für Geschichts-und Geographieunterricht" abgelöst hat, bemüht sich, wichtige Beiträge zur Schulbuchforschung zu veröffentlichen und zu verbreiten. Sie ist das Zentralorgan für Beiträge zur internationalen Schulbuchforschung, bietet ein Forum für divergierende Auffassungen, Raum für Rezensionen und Dokumentation interessanter, widersprüchlicher Schulbuchdarstellungen aus verschiedenen Ländern. Für die Geschichts-, Geographie-oder Sozialkundelehrer enthält sie eine Fülle von Anregungen für den Unterricht, für Kulturinstitute im Ausland bietet sie Informationen und grundsätzliche Reflexionen internationaler geistiger Zusammenarbeit.

Die Schriftenreihe des Instituts versucht, durch thematische Konzentration der Bände oder durch Monographien die Ergebnisse bestimmter Forschungsprojekte bekanntzumachen und die meist knapp gehaltenen Empfehlungen durch wissenschaftliche Darlegungen zu ergänzen. So sind z. B. zu den deutsch-polnischen Empfehlungen inzwischen fünf Bände mit Forschungsarbeiten zu den in bestimmten Empfehlungen dargestellten Themen erschienen — eine Fundgrube für den Schulbuchautor, aber auch den Wissenschaftler und den Lehrer, der sich mit dieser Thematik näher befassen möchte. Durch Schriftenaustausch und Abonnements ist das Institut durch seine Veröffentlichungen mit vielen anderen Institutionen verbunden.

Die Bibliothek erfreut sich als „Archiv" für Arbeiten zur Schulbuchforschung ständig wachsender Beliebtheit. Sie bietet Material für Staatsarbeiten und Dissertationen; sie unterstützt mit ihren Beständen, aber auch durch Beratung die Arbeiten graduierter Forscher. Dabei dient sie nicht nur dem engeren Zweck der internationalen Schulbuchrevision. Das Schulbuch ist als Quelle für die Zeitgeistforschung, für die historische Bildungsforschung, für sozialwissenschaftliche Untersuchungen über Meinungsbildung und Stereotypen zu einer wichtigen Quelle historischer und sozialwissenschaftlicher Studien geworden Ein Stipendiatenprogramm wird entwickelt, das ausländischen Forschern einen längeren Aufenthalt am Institut ermöglichen soll.

Die oben beschriebenen Projekte stehen also in einem dichten Netz wissenschaftlichen Austausches. Die Bedeutung der Bibliothek und der Beratung durch Mitglieder des Instituts wächst — auch für die Entwicklung neuer Schulbücher, wenngleich dringend zu wünschen wäre, daß sich die Autoren noch intensiver vom Vergleich mit ausländischen Büchern anregen ließen. Denn die Schulbuchproduktion ist — ebenso wie die Didaktik und Methodik der Fächer — immer noch weithin im nationalen Vorstellungskreis befangen.

Probleme internationaler Schulbuchforschung

Dieser überblick soll mit einem Blick auf Probleme und Schwierigkeiten abgeschlossen werden, die mit der Aufgabenstellung und Arbeitsweise des Instituts verbunden sind. Nicht von Schwierigkeiten äußerer Art ist die Rede, die durch die Knappheit der Ressourcen oder die umständlichen und den Ablauf internationaler Zusammenarbeit häufig sehr behindernden Verwaltungsprozeduren bedingt sind. Es geht vielmehr um die in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten. Zwei Komplexe lassen sich als besonders signifikant herausheben.

Die Vielfalt der Aufgabe Der erste ist durch die Vielfalt der Aufgabe und ihre prinzipielle Unlösbarkeit bezeichnet. Vielfältig ist die Aufgabe internationaler Schulbuchforschung, weil sie interdisziplinäre Zusammenarbeit von Erziehungswissenschaftlern, Wissenschaftlern des jeweiligen Faches und Fachdidaktikern verlangt. Die Organisation so unterschiedlichen Fachverstandes und die Zentrierung der Interessen von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen auf das besondere Medium Schulbuch (oder Unterrichtsmaterial) ist schon im nationalen Rahmen nicht einfach; unlösbar kann sie im internationalen Zusammenhang werden. Die ideale interdisziplinäre und internationale Besetzung, Durchführung und Auswertung von Konferenzen ist bislang noch nicht gefunden. Zunächst sind es die Fachwissenschaftler, die sich durch die Inhalte, die Konzeption, die Akzentsetzungen der Schulbücher angesprochen und herausgefordert fühlen, inhaltliche Verbesserungsvorschläge zu machen. Es gelingt schon nicht immer, diese fachwissenschaftliche Analyse und Kritik im Rahmen des jeweils nationalen Erziehungssystems, der curricularen Stellung des Faches und der Möglichkeiten des Unterrichts zu konzentrieren.

Schwieriger ist es noch, die Schulpraktiker und Didaktiker einzubinden, die den Umgang mit dem Buch und also seine mögliche Lernwirkung untersuchen und einschätzen können. Die Beteiligung möglichst vieler Schulbuchautoren, Verlagslektoren, Bildungsbeamten stößt auf die unterschiedlichsten Widerstände. Die Hinzuziehung von Sozialpsychologen, welche die mentalen und emotionalen Gruppenprozesse, wie sie durch bestimmte Informationssteuerung ausgelöst werden, deuten könnten, ist, wenn überhaupt, allenfalls im Nachhinein möglich.

Das Problem der „Wirksamkeit"

Da die Lehrpläne und Zielvorgaben des Unterrichts, seine Organisation und vor allem seine Praxis von Land zu Land stark differieren, kann eine gleichartige Betrachtung national unterschiedlicher Lehrbücher nur zu sehr abstrakten und lediglich auf Texte oder Bilder der Bücher reduzierten Analysen und Feststellungen führen. So kommt die internationale Schulbuchforschung im Hinblick auf ihre konkrete Quelle, das gedruckte Unterrichts-material, zwar zu sicheren und im Vergleich höchst aufschlußreichen Aussagen; sie kann auch fachwissenschaftlich und didaktisch be’ gründete Korrekturen Vorschlägen. An das eigentliche Wirkungsfeld des Unterrichtsmaterials kommt sie damit aber nicht heran. Da eine auf breiter und international vergleichender Basis angelegte Wirkungsforschung über den Einfluß von Schulbüchern ein methodisch außerordentlich schwieriges, pragmatisch schon der Kosten wegen nicht zu leistendes Unterfangen ist, muß man bei nüchterner Betrachtung feststellen, daß internationale Schulbuchforschung mit dem Ziel der Versachlichung der Bücher lediglich diese Bücher selbst erreicht. Den Unterricht als organisiertes System und als Praxis oder gar seine Wirkung in den Köpfen der Schüler zu beeinflussen, kann sie nur hoffen.

Dies ist auf den ersten Blick eine entmutigende Feststellung. Bei genauerem Hinsehen wird man die begrenzte Reichweite der praktischen Wirksamkeit jedoch eher begrüßen. Die Ergebnisse'internationaler Schulbuchforschung können nur als vermittelte Anregungen positiv wirksam werden. Ihr unmittelbares Durchschlagen auf den Unterricht könnte unerwünschte Folgen haben. Nicht nur würde Lehrern und Schülern die notwendige Freiheit der Diskussion und Meinungsbildung möglicherweise entzogen; die Versachlichungsund Verbesserungsvorschläge würden auch Gefahr laufen, sich im Medium der Unterrichts-praxis eigentümlich zu brechen. Es ist keiner noch so qualifizierten Expertenkommission möglich, im internationalen Bereich ihre oft sehr mühsam abgestimmten Vorschläge zur Darstellung von Sachverhalten in Schulbüchern auch noch so anzulegen, daß sie, der didaktischen Situation und den methodischen Zugriffen ganz unterschiedlicher Unterrichts-Systeme und Unterrichtsstile gerecht werden können. Deshalb ist die „Unlösbarkeit" der Aufgabe internationaler Schulbuchrevision im Sinne unmittelbarer Einflußnahme letztlich die Voraussetzung einer fruchtbaren und wünschbaren mittelbaren Wirkung. Denn nur über die selbständige Adaption und Verarbeitung der Vorschläge durch Verfasser von Richtlinien, Autoren von Schulbüchern und Lehrer können die Empfehlungen dem Ziel dienen, das sich internationale Schulbuchforschung als Beitrag zur Vermehrung der Ver-nunfts-und Friedensfähigkeit durch Unterricht gesteckt hat.

Die Unvollendbarkeit der Arbeit Unlösbar ist die Aufgabe des Instituts aber auch in dem Sinne, daß sie nie als erfüllt oder beendet angesehen werden kann. Setzt man einmal den Fall, daß die Unterrichtsmittel in einem oder mehreren Ländern von Fehlern, Vorurteilen, Verzerrungen, Ungleichgewichten usw. in einem hohen Grade bereinigt worden seien, so wäre doch dadurch kein glückliches Endstadium, sondern allenfalls ein befriedigendes Durchgangsstadium bezeichnet Denn die Darstellung von vergangener oder gegenwärtiger Welt in den Fächern Geschichte, Geographie und Politik kennt nicht das „gereinigte“ Bild, das, ein für allemal gültig, festgehalten werden könnte. Immer neue Deutungen und Urteile entstehen notwendig aus der Veränderung der Verhältnisse im Verlauf der Geschichte. Nicht erst jede Generation stellt ihre neuen Fragen, hat ihre eigenen Erkenntnisbedürfnisse — in viel schnellerem Rhythmus wechseln heute die Interessen-und Fragestellungen, wächst neues Wissen heran, lösen sich die Kontroversen im Bereich der Wissenschaft ab, ändern sich die Lernziele und die Bildungsvorgaben. Kurz: Vorurteile und Fehler, Stereotypen und Verzerrungen, Akzentsetzungen und Deutungen sind nicht bloße Irrtümer, die man einer reinen Wahrheit hinzufügen und also auch aus ihr eliminieren kann. Sie sind selbst integrierende Bestandteile stets verändernder Wahrnehmungen und Deutungen. Sie treten immer wieder und in immer anderer Form neu hervor. Nur ein sehr vordergründiger Optimismus könnte hoffen, sie ein für allemal abzuschaffen. Man muß akzeptieren, daß neue Erkenntnisse und Einsichten, indem sie alte Fehler korrigieren, neue Irrtümer, Einseitigkeiten, Verzerrungen kreieren. Ist die internationale Schulbuchforschung also eine Sisyphusarbeit? Sie ist eher eine Reflexionsdisziplin, die den Prozeß der nationalen Selbstvergewisserung prüfend begleitet, um ihn an Rationalität, Verständnisfähigkeit, Dis-kursivität und Humanität zu binden

Diese Aufgabe ist aber nicht durch noch so gut gelungene Direktiven zu lösen. Sie kann nur durch ständige Schärfung des Wissens und des Gewissens derjenigen angegangen werden, die den Unterricht durch Richtlinien, Curricula und Bücher vorbereiten oder ihn praktizieren.

Die Herausforderung der Selbstgewißheit Ein zweiter Problemkomplex hängt mit dem ersten zusammen, ist aber gleichwohl als eigenmächtig zu beschreiben: Internationale Schulbuchrevision, die ihr Ethos und ihr Motiv einem sokratischen Aufklärungswillen verdankt, braucht nicht lange nach Händen zu suchen, die ihr den Schierlingsbecher reichen. Im Schulbuch für die politisch bedeutsamen Fächer darf man, ohne stark zu übertreiben, die Safes nationaler Selbstbestätigungen, Selbstrechtfertigungen und Identifikationsmuster sehen. Dem Grade nach sehr verschieden, ist dies doch in allen Ländern mit zwingender Notwendigkeit so, da die heranwachsende Generation immer in den Selbstverständniszusammenhang ihres Volkes eingeführt Wird. Selbst dort, wo diesen Legitimations-und Identifikationsbestrebungen mit Hilfe des Unterrichts und seiner Mittel durch die wissenschaftliche und pädagogische Maxime der Pluralität die indoktrinierende Schärfe genommen ist, bleiben erhebliche Bestände dieser Grundfunktion der kollektiven Selbstvergewisserung durch Unterricht zurück.

Internationale Schulbuchforschung führt aber aus der Höhle der Befangenheit in liebgewordenen und Sicherheit gebenden Deutungsmustern hinaus. Sie stellt sie in Frage, konfron-tiert sie mit anderen, relativiert sie notwendigerweise und verlangt ein Heraustreten aus der gewohnten mentalen Geborgenheit. Sie kommt häufig nicht umhin, politisch für erwünscht gehaltene Deutungen und Positionen in Frage zu stellen. Sie mutet also der öffentlichen Meinung, dem gängigen Selbstverständnis, irritierende Reflexion und möglicherweise eine Neuorientierung zu. Deshalb gerät Schulbuchforschung schon in der Phase kritischer Analyse notwendig in die politische Auseinandersetzung. Wenn sie über die Analyse hinaus Veränderungsvorschläge macht, trifft sie empfindliche Nervenzentren des öffentlichen Bewußtseins. Dann entfachen sie den politischen Meinungsstreit, oft sogar die konkrete politische Tagesauseinandersetzung. Die Diskussion der deutsch-polnischen Schulbuch-empfehlungen ist ein Musterbeispiel für instrumentalisierte Verwendung von Schulbuchempfehlungen im politischen Parteien-kampf

In dieser politischen Empfindlichkeit der Schulbuchrevision liegt eine unlösbare Schwierigkeit. Bei Schulbuchgesprächen mit Staaten, deren Bildungsinstitutionen organisatorisch wie inhaltlich offiziell streng geführt werden, kommt früher oder später der Punkt, an dem eine kritische Revision des Schulbuch-textes abgelehnt wird. Es ist von deutscher Seite noch nicht recht gewürdigt worden, daß in den deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen die Kommission zu für den Kenner des politischen Systems erstaunlichen gemeinsamen Empfehlungen kam, die eine Reihe politischer Tabus bei der polnischen Lehrerschaft und Autoren offiziell in Frage stellte: so die Akzeptierung der gegensätzlichen Ansichten über den deutschen Orden, vor allem aber die deutliche Nennung der Zahl von 8, 5 Millionen Deutschen, die die Ostgebiete nach 1945 verlassen mußten. Daß es andererseits nicht ge-lang, in diese Empfehlungen den Hitler-Stalin-Pakt aufzunehmen, zeigt die Grenze der Revisionsmöglichkeiten aus politischen Ursachen.

An dieser Grenze stellt sich dann die Frage, ob Schulbuchrevision im konkreten Fall noch sinnvoll ist. So gibt es die Meinung, man möge lieber gar nicht über Schulbuchverbesserung verhandeln als Abstriche aus außerwissenschaftlichen und außerpädagogischen Gründen in Kauf nehmen zu müssen. Es gibt die andere Ansicht: man möge versuchen, soweit wie möglich zu kommen und sich lieber mit Fragmenten zufrieden geben,'als das Gespräch abzubrechen. Diese Argumentation bezieht sich eher auf die politisch-pädagogisch erhoffte Wirkung eines allmählichen Prozesses, der beide Seiten zunächst von einigen Irrtümern und Verzerrungen abbringt und schließlich — vielleicht — auch Tabus überwinden kann. Dies ist der Weg, den internationale Schulbuchforschung unter dem Postulat der Völkerverständigung gewöhnlich geht. Mit Recht — wenn es auch eine Grenze des Zumutbaren gibt, jenseits derer die Gespräche nicht mehr sinnvoll sind. Sie liegt dort, wo Grundprinzipien des wissenschaftlichen Diskurses elementar verletzt würden.

Man würde sich täuschen, vermutete man solche politischen Tabuzonen nur bei Gesprächen mit Staaten autoritärer oder totalitärer politischer Verfassung. Eingewurzelte kollektive Vorstellungen sitzen überall fest und werden publizistisch gegen Zumutungen der Revision verteidigt. Was man sich in der Form wissenschaftlicher Kontroverse oder auch publizistischer Polemik noch gefallen läßt, wird zum öffentlichen Ärgernis, sobald es um das Schulbuch geht. Dieses allgemein verbindliche Bildungsmittel zeigt dann seinen Charakter als Politikum. Die Auseinandersetzung in den international gemischten Konferenzen in der Öffentlichkeit um bestimmte Deutungen von Geschichte, um Schwerpunktsetzungen oder Auswahl der Darstellung der Länder offenbart, wie prägend bestimmte, wissenschaftlich anzweifelbare Vorstellungen sind, wie sie geradezu als denkund lebensnotwendig erscheinen, wie ihr Entzug politische Orientierungslosigkeit nach sich zieht oder gar Aggression hervorruft.

Der Zusammenhang von gegenwärtigem Selbstverständnis und Vergangenheitsdeutung im geistigen und seelischen Haushalt einzelner und ganzer Völker läßt sich hier in concreto erkennen. Es zeigen sich ganz bestimmte Figuren dieses Zusammenhanges, die sich als Identifikationsmechanismen oder Legitimationsstrategien beschreiben lassen und sich mit bestimmten Argumentationsformen verbinden

Was für die Schulbuchforschung eine interessante Erkenntnis ist, ist für die Schulbuchrevision eine Barriere, die sie nicht in einem Anlauf überspringen kann. Denn selbst wenn es gelingt, sich nach vielen Gesprächen in internationalen Kommissionen, nach langer persönlicher Bekanntschaft und gründlichem Studium der Probleme auf bestimmte Aussagen zu einigen, also gemeinsam eine weitere oder höhere Perspektive der Deutung zu gewinnen, stoßen solche Einigungen in der politischen Öffentlichkeit der Länder auf den Widerstand derer, die diesen langen Findungsprozeß nicht mitgemacht haben und also nicht nachvollziehen können oder wollen.

Diesem Streit kann internationale Schulbuch-revision nicht ausweichen, wenn sie ihrem Auftrag treu bleiben will. Sie tut gut daran, sich ihr Gegenbild vor Augen zu halten: Schulbuchempfehlungen sind ursprünglich nicht zum Zwecke internationaler Verständigung, sondern vielmehr zum Zwecke der Ausbildung nationaler Affinität gegeben worden und waren Angelegenheiten der Schulverwaltungen des 19. Jahrhunderts, aber auch einer publizistischen und wissenschaftlichen Arbeit im Dienste des „nation building". Schulbuchautoren hatten eine nationale Integrationsaufgabe und glaubten sie oft am sichersten durch Abgrenzung von anderen Nationen, durch Aufbau von Feindbildern und von Selbstwertvorstellungen zu erfüllen. Auch heute, im Zeitalter der ideologischen, nationenübergreifenden Blöcke, gibt es eine internationale Schulbuchrevision, die das herrschende Geschichtsbild oder das Geschichtsbild der herrschenden Macht um seiner politischen Wirkung willen auch anderen Staaten auferlegt.

Der Ostblock kennt eine Reihe solcher internationaler Schulbuchkonferenzen, welche die Homogenität der Kernpunkte historischer Interpretation zum Ziel haben. Diese affirmative internationale Schulbuchrevision folgt anderen politischen, erkenntnistheoretischen und pädagogischen Maximen als die vom Georg-Eckert-Institut und seinen vielen deutschen und ausländischen Gesprächspartnern betriebene Forschung. Sie hat die Existenz eines Herrschaftszentrums zur Voraussetzung und ist ohne „strukturelle Gewalt" nicht denkbar. Deshalb erzeugt sie auch keinen öffentlichen Streit. Die Schulbuchforschung, von der hier die Rede ist, kann nur durch den Verzicht auf jegliche Pression zu wirken hoffen — deshalb ist Auseinandersetzung ihre ständige Begleiterscheinung. Das heißt aber, daß auch in diesem Problem-feld die Art der Problematik selbst die Möglichkeit ihrer Überwindung in sich trägt. Die Ergebnisse der Schulbuchforschung sind der Natur ihres Gegenstandes und der tiefen, „lebensweltlichen" Verwurzelung aller historischen, geographischen und politischen Vorstellungen wegen nicht oktroyierbar. Sobald Empfehlungen als Resultat der internationalen Schulbuchforschung über die Grenze der bloßen Verbesserung faktischer Fehler hinausgehen, können sie nur als Ferment der Auseinandersetzung um die Deutung der Gegenwart in Unterricht und Bildung wirken. Das heißt, internationale Schulbuchforschung braucht eine „offene Gesellschaft", eine diskursive öffentliche Meinung, eine freie Forschung und ein Unterrichtssystem, das von zentraler Indoktrination frei ist. Solche Verbindung von staatlicher Aufsicht über das Schulwesen mit der Inanspruchnahme und Gewährung von Pluralität der Meinungsbildung, von Diskursi-vität unterschiedlicher Positionen setzt einen hohen Grad von Liberalität und Toleranz, zugleich aber einen festen Grundkonsens über politische — und moralische — Werte voraus.

Die Art des öffentlichen wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Umgangs mit den Ergebnissen internationaler Schulbuch-forschung ist ein empfindlicher Seismograph für den Zustand der politischen Kultur. Dies ist ein zwar unbeabsichtigter, aber nicht unwichtiger Dienst, den die Arbeit des Georg-Eckert-Instituts und der ihm verbundenen Wissenschaftler — bei und trotz aller Unvollkommenheiten — der deutschen Selbsterkenntnis leisten kann. Der Wunsch, daß sie wenigstens und nicht zuletzt als ein solcher Dienst überall in der Bundesrepublik begriffen wird, scheint allerdings, historia docet, allzu vermessen zu sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Carl August Schröder, Die Schulbuchverbesserung durch internationale geistige Zusammenarbeit. Geschichte — Arbeitsform — Rechtsprobleme, Braunschweig 1961.

  2. Karl Dietrich Erdmann, Internationale Schulbuchrevision zwischen Politik und Wissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 33 (1982), H. 8, S. 459— 471.

  3. Otto-Ernst Schüddekopf, Zwanzig Jahre westeuropäische Schulgeschichtsbuchrevision, 1945. 1949. Tatsachen und Probleme, Braunschweig 1966 (Schriftenreihe des Internationalen Schulbuchinstituts, Bd. 12).

  4. Siehe K. -E. Jeismann, Internationale Schulbuch-forschung. Aufgaben und Probleme, in: Internationale Schulbuchforschung, 1/1979. Vgl. hier auch die Publikationen des Duisburger Instituts für Schulbuchforschung, insbesondere die Reihe „Zur Sache Schulbuch“, hrsg. von H. E. Schallenberger, Bd. 1— 10, Ratingen 1973— 1977.

  5. Otto-Ernst Schüddekopf hat diese Probleme deutlich gesehen, a. a. O., S. 72 f.: „aber wir müssen doch das Ziel der internationalen Schulbuchverbesserung in etwas anderem sehen als nur darin, verletzende Urteile über andere Völker zu vermeiden. Es geht doch schließlich darum, ein neues Geschichtsbild zu entwickeln, für dessen Gestaltung die Ergeb-

  6. Gerd Stein, Schulbuchwissen, Politik und Pädagogik: Untersuchungen zu einer praxisbezogenen und theoriegeleiteten Schulbuchforschung, Ratingen 1977 („Zur Sache Schulbuch". Bd. 10).

  7. Wie schwierig — und notwendig — diese Arbeit ist, zeigen die deutsch-israelischen Schulbuchanalysen. Vgl. Chaim Schatzker, Die Juden in den deutschen Geschichtsbüchern. Schulbuchanalyse zur Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates Israel, Bonn 1981 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 173).

  8. Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation. Eingeleitet und ausgewählt von Wolfgang Jacobmeyer, Braunschweig 1979 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts, Bd. 26). K. -E. Jeismann, Politische Determinanten der deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen und ihre Aufnahme in der Öffentlichkeit, in: Ge-schichtsdarstellung. Determinanten und Prinzipien, hrsg. von K. -E. Jeismann und S. Quandt, Göttingen 1982.

  9. S. K. D. Erdmann, a. a. O., S. 470.

  10. Vgl. zum Zusammenhang historischer und politischer Aussagen Wolfgang Bach, Geschichte als politisches Argument. Eine Untersuchung an ausgewählten Debatten des Deutschen Bundestages, Stuttgart 1977.

Weitere Inhalte

Karl-Ernst Jeismann, Dr. phil., geb. 1925; Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Geographie in Kiel und Münster; seit 1966 o. Professor für Neuere Geschichte und Didaktik der Geschichte in Münster, seit 1978 Direktor des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Veröffentlichungen: Das Problem des Präventivkrieges im europäischen Staatensystem, 1957; Das Preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787— 1817, 1974; Geschichte/Politik, Grundlegung des historisch-politischen Unterrichts (zus. mit G. C. Behrmann u. H. Süßmuth), 1977; Friedrich Harkort, Schriften und Reden zu Volksschule und Volksbildung, 1969; Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807 bis 1819, 1969; J. W. Süwern. Die Reform des Bildungswesens, 1981; Hrsg. von: Internationale Schulbuchforschung, Zeitschrift des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung; Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts.