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Marx heute | APuZ 10/1983 | bpb.de

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APuZ 10/1983 Artikel 1 Marxismus, Revisionismus und Reformismus in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Marx heute Zur Kulturpolitik der DKP

Marx heute

Herfried Münkler

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Marx ist auch heute noch aktuell — das ist die Grundthese dieses Aufsatzes. Um diese Aktualität zu ermitteln, muß jedoch die Marxsche Theorie von einer Fülle von Deformationen, die sich in der Zeit ihrer Ausformung an den Marxismus angelagert haben, befreit werden. Ebenso sind dabei die zeitgenössischen Bedingungen, unter denen die Marxsche Theorie entstanden ist, kritisch ins Auge zu fassen. Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte des Marxismus von Kautsky über Lenin bis zu jüngsten Formen marxistisch drapierter Revolutionsromantik wird in Umrissen die Marxsche Theorie skizziert, wobei einerseits Marx'Wissenschafts-und Fortschrittsgläubigkeit sowie seine Produktionsverherrlichung dargestellt, andererseits aber auch hervorgehoben wird, daß er — an lange eher unbeachtet gebliebenen Stellen seiner Theorie — aber auch die negativen und zerstörerischen Konsequenzen des Fortschritts und der Produktivkraftentfesselung gesehen hat. Daran anschließend wird die Marxsche Forderung nach Planung und Kontrolle des „Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur" nicht im Hinblick auf die Entfesselung der Produktivkräfte, sondern hinsichtlich ihrer bewußten und verantwortungsvollen Limitierung gewendet. Dabei wird jedoch gegen die Vorstellungen einer sozialistischen Ökodiktatur kritisch eingewandt, daß diese dem Marxschen Gedanken menschlicher Autonomie nicht zu genügen vermag, sondern nur eine neue Form der Fremdbestimmung darstellt.

Marx heute — dieses aus Anlaß des 100. Todestages von Marx gewählte Thema zeigt sich bei genauerem Hinsehen doch erheblich problemgeladener, als dies auf den ersten Blick vielleicht den Anschein haben mag. Es sind nämlich zwei Unterstellungen darin enthalten, die möglicherweise nicht jeder teilen wird: Einerseits, durch die ausdrückliche Hinzufügung „heute", daß Marx im Jahre 1983 nicht mehr so gelesen werden kann wie vor 50 oder gar vor 100 Jahren, daß er also einer vielleicht aktualisierenden, auf jeden Fall jedoch kritischen Betrachtung bedarf, wenn er uns heute noch etwas sagen soll. Andererseits, indem sich dieses aktualisierende „heute" eben auf Marx und nicht etwa auf Platon, Descartes, Leibniz oder Lenin bezieht, daß er — wenn die Themenstellung mehr sein soll als die obligate Referenz in einem den „runden Zahlen" verpflichteten Gedenkjahr — auch heute etwas zu sagen hat, also einer aktualisierend-kritischen Betrachtung fähig ist. Diese zwei Prämissen der Themenstellung sollten zunächst wenigstens kenntlich gemacht worden sein, damit man weiß, worauf man sich hier eingelassen hat.

Ein zweites Problem kommt hinzu: Es ist gar nicht so ohne weiteres klar, wer oder was gemeint ist, wenn von Marx die Rede ist. Denn derjenige, der 1845 in seiner 11. These über Feuerbach apodiktisch erklärte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern" ist wie vielleicht kein zweiter in die Hände seiner Interpreten gefallen. Noch bevor die Veränderung der Welt in Marxens Namen in Gang kam, stritten sich seine Anhänger um die richtige Interpretation seines Werkes. Und nachdem diese Veränderung schließlich stattgefunden hatte, stritten sie erst recht, ob sie sich auf Marx berufen dürfe oder nicht Wie die Marxisten diese Welt verändern, so ließe sich in Paraphrase zur 11. Feuerbachthese sagen, hängt entscheidend davon ab, wie sie Marx interpretieren.

Es ist also, will man sich mit der Frage „Marx heute" beschäftigen, unumgänglich, sich zunächst — und das ist der 1. Teil des Beitrags — auf die Frage „Marx gestern" einzulassen; hierzu wähle ich den Marxismus der europäischen Arbeiterbewegung nach der Jahrhunderwende, den sich davon abgrenzenden Bolschewismus und das, was bei dem Versuch der Verwirklichung seiner Ideen schließlich daraus geworden ist. Gleichsam in Antithese hierzu möchte ich den 2. Teil des Aufsatzes „Marx selbst" betiteln, also der Frage nachgehen, inwieweit die von Marx entworfene Theorie und die von ihm empfohlene Praxis mit dem übereinstimmen, was zuvor an Strömungen des Marxismus vorgestellt worden ist, bzw. inwiefern sie sich von diesen — doch wohl geschichtlich überlebten — Gestalten ideologischen Bewußtseins unterscheiden. Würden sie darin aufgehen, so wäre auch die Frage, ob Marx heute noch etwas zu sagen hat, abschlägig beschieden und der Beitrag könnte damit abbrechen. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, so käme ich dann, im 3. Teil, zu meinem eigentlichen Thema: „Marx heute".

Marx gestern

Weniger über Marx selbst als vielmehr durch die Schriften seines Freundes und Mitarbeiters Friedrich Engels und, nach dessen Tod, die Karl Kautskys hat die Marxsche Theorie Eingang in die europäische Arbeiterbewegung gefunden Karl Kautsky avancierte schließlich zum führenden Marx-Exegeten der deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale. Wenn je einer das Monopol ver-bindlicher Marx-Interpretation besessen hat, so ist dies Kautsky gewesen, dessen Autorität selbst von Lenin lange anerkannt worden ist. Was Engels und vor allem Kautsky vermittelt haben, waren nun aber gerade nicht die kritischen, reflektierenden Passagen der Marx-sehen Theorie, die allesamt, wie die endlosen und mühseligen Diskussionen über Kapitallogik und Wertgesetz noch heute zeigen, auf einem sehr hohen theoretischen Niveau stehen, sondern überwiegend jene Stellen, in denen sich Marx, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, entweder prophetisch oder apodiktisch geäußert hat. Sie nun wurden mit dem Evolutionsglauben von Darwin und Häkkel vermischt, wodurch zuletzt die proletarische Revolution als ein „naturgesetzlich notwendiger" Vorgang begriffen Was bei Marx historisch-kritisch intendiert war, erhielt nun den Status eines Naturgesetzes, dessen Wirkungsweise verlangsamt oder beschleunigt, aber nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt werden konnte. Hatte Marx’ Wahlspruch gelautet: De omnibus dubitandum — An allem ist zu zweifeln, so galt nun als unbezweifelbar, daß der Kapitalismus unaufhaltsam seinem Zusammenbruch -zu steuere.

So war der Marxismus der II. Internationale von vornherein nicht eine um ihre schwer verständlichen Teile erleichterte Kurzfassung der Marxschen Theorie, sondern eine Weltanschauung, in der revolutionäres Bewußtsein und tiefes Vertrauen in den Gang der Geschichte eine historisch wohl einmalige Verbindung eingegangen sind. Diese Weltanschauung beruhte letzten Endes auf drei Überzeugungen: 1. Der Kapitalismus bewirkt eine gewaltige Steigerung von Produktion und Produktivität bei gleichzeitig wachsender Proletarisierung der Produzenten, der Enteignung kleiner Produktionsmittelbesitzer (Handwerksmeister, Kaufleute) und ihrer Verwandlung in Lohnarbeiter. 2. Ab einem bestimmten Punkt der kapitalistischen Entwicklung erlahmt deren Wachstumsdynamik infolge des tendenziellen Falls der Profitrate, der das zwangläufige Ergebnis der wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals ist. 3. Durch die Proletarisierung nahezu aller Produzenten und die, bei erlahmendem Wachstum, nachlassende Integrationskraft des Kapitalismus kommt es — gleichsam naturgesetzlich — zur Polarisierung der Klassen und schließlich zur Revolution, aus der zunächst die sozialistische und dann die kommunistische Gesellschaftsordnung hervorgehen werden.

Man mußte also eigentlich nur abwarten, bis dieser Punkt erreicht war und die ökonomische samt der politischen Macht dem Proletariat gewissermaßen von selbst in den Schoß fiel. Der von Reichstagswahl zu Reichstagswahl anwachsende Stimmenanteil der deutschen Sozialdemokratie schien die Richtigkeit dieser Überzeugung nachhaltig zu bestätigen. Karl Kautsky hat dem in seiner berühmten Formulierung von der Sozialdemokratie als einer revolutionären, nicht aber Revolution machenden Partei beredten Ausdruck verliehen

Nun hat freilich Marx selbst solchen Über-zeugungen Vorschub geleistet, als er im 24. Kapitel des „Kapitals" schrieb: „Diese Expropriation (Enteignung, HM) vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist viele schlägt tot... Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Ümwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs (die Enteigner, also diejenigen, die zuvor das Proletariat hervorgebracht haben, indem sie die Produzenten der Produktionsmittel beraubten und so in Proletarier verwandelten, HM) werden expropriiert.'"

Das war eine Verheißung, die in der Arbeiterbewegung begierig aufgegriffen worden ist, versprach sie doch den endgültigen Sieg des Proletariats infolge der Eigendynamik des Kapitalismus, an der kein Kapitalist, ob er wollte oder nicht, etwas würde ändern können. Und dies alles, ohne daß man sich selber einem Machtkampf auf Leben und Tod aussetzen mußte. Immerhin hätten die deutschen Arbeiter Ende des vergangenen Jahrhunderts bereits in einem solchen Kampf mehr zu verlieren gehabt als nur ihre Ketten. Ich will hier auf die sozialpsychologischen Bedingungen, unter denen diese Weltanschauung Verbreitung gefunden hat, nicht weiter eingehen, weil man dies, denke ich, recht gut nachvollziehen kann So viel aber doch: Auch das gegenwärtige Elend der Arbeiter wurde erträglich, weil ja, wie man bei Marx, Engels und Kautsky nachlesen konnte, die Antithese die zwingende Voraussetzung der Synthese war, so daß gerade das gegenwärtige Elend als Versicherung zukünftigen Glücks erfahren werden konnte. Da solche Überzeugungen nur äußerst ungern aufgegeben werden, wurden schließlich, als sich die Marxschen Prognosen nicht oder nur teilweise bestätigten, immer neue Hypothesen und Zusatzhypothesen eingefügt, die erklären sollten, warum diese Verzögerungen eingetreten waren

Es wäre jedoch verfehlt, die Verwandlung der Marxschen Theorie in eine evolutionistische Weltanschauung allein als ein Ergebnis der Schriften insbesondere Kautskys anzusehen — gleichsam als ob, wenn Kautsky nur andere (richtige) Theorien vorgetragen hätte, auch die Geschichte der Arbeiterbewegung und damit wohl die gesamte europäische Geschichte anders verlaufen wäre. Dies anzumerken erscheint mir nicht zuletzt darum nötig, weil gerade bei jenen, die sich in den letzten Jahren als Marxisten striktester Observanz geriert haben, solche Vorstellungen unterschwellig immer wieder zum Tragen gekommen sind.

Es kommt wohl nicht von ungefähr, daß die Marxsche Theorie gerade in ihrer Kautskysehen Ausprägung populär geworden ist und, mit Marx zu reden, „die Massen ergriffen hat". Ohne ihre Popularisierung durch Engels und insbesondere Kautsky hätten die Marxschen Ideen wohl niemals so breit in die Arbeiterbewegung eindringen können, wie dies Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich geschehen ist. Der Preis, der für diese Popularität gezahlt wurde, war die Vulgarisierung der Marxschen Theorie zu einer evolutionistischen Weltanschauung. Wollte man aber die Marxschen Ideen verbreiten, so war es unvermeidlich, diesen Preis zu zahlen, denn das Proletariat am Ende des 19. Jahrhundert entsprach schon nicht mehr jedem Bild, das Marx und Engels im „kommunistischen Manifest" von ihm gezeichnet hatten, als sie erklärten, es habe nichts zu verlieren als seine Ketten, aber eine Welt zu gewinnen. Auf ein solches Programm wollten sich die deutschen Arbeiter nur dann einlassen, wenn es mit allen Weihen geschichtlicher Notwendigkeit und Unaufhaltsamkeit versehen war und eine gleichsam selbsttätige Verwirklichung versprach.

Der Kapitalismus erwies sich als lebensfähiger, als dies Marx, Engels und Kautsky erwartet hatten. Zugleich vollzog sich in Deutschland, zumal unter dem Einfluß der Bismarck-sehen Sozialgesetzgebung, eine gewisse Integration der Arbeiterschaft in die bestehenden Verhältnisse. Für kritische Beobachter wurde hierbei immer deutlicher, daß die Marxsche Theorie ebenso wie das, was inzwischen daraus geworden war, den Nationalismus und seinen Einfluß auf das Bewußtsein der Arbeiter in verhängnisvoller Art und Weise unterschätzt hatte Im August 1914 zerstoben dann alle Blütenträume von einem naturgesetzlich-unaufhaltsamen, quasi automatischen Übergang zum Sozialismus, als die eben noch so mächtig erscheinende europäische Arbeiterbewegung allen Selbstverpflichtungen zum Trotz nicht in der Lage war, den Kriegsausbruch zu verhindern. Mit Ausnahme der serbischen und russischen haben alle europäischen Arbeiterparteien die Kriegspolitik ihrer Regierungen unterstützt. Erst als der Krieg sich immer länger hinzog, begann sich dies zu ändern.

Damit trat der Maxismus in eine neue Etappe seiner Geschichte: Der Stern Kautskys sank, der Lenins stieg. Dit These von der histori-sehen Notwendigkeit des Sozialismus wurde nun ersetzt durch die von einer historischen Möglichkeit; diese Möglichkeit aber gelte es entschlossen wahrzunehmen. Hatte der Marxismus Kautskys eine fast quietistisch zu nennende Einstellung nahegelegt, so forderte Lenins Konzept — bei aller Betonung der objektiven Voraussetzungen einer Revolution, die sich darin auch finden — eine aktivistischvoluntaristische Haltung; in Paraphrase zu Kautsky: Nur eine immer wieder Revolution machende Partei sei eine wirklich revolutionäre Partei.

Lenins Grundthese war, daß die Arbeiterschaft von sich aus allenfalls zu einem tradeunionistischen, einem gewerkschaftlichen Bewußtsein gelangen könne, nicht aber zu jenem revolutionären Engagenemt, das erforderlich sei, um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen Dies vermöge allein eine kleine Gruppe entschlossener Berufsrevolutionäre, die als Avantgardepartei die objektiven, aber subjektiv noch nicht bewußten Interessen des Proletariats zu verfolgen und durchzusetzen habe. Sie müsse die heroische Aufgabe erfüllen, gleichermaßen die Menschen und die Verhältnisse zu verändern. Mit diesem Konzept hat Lenin zweifellos eine Lücke der Marxschen Theorie ausgefüllt und die bei Marx unbeantwortet gebliebene Frage beantwortet, wie denn konkret die proletarische Revolution zu bewerkstelligen sei. Doch Lenin hat damit die Marxsche Theorie nicht nur ergänzt, wie dies der offizielle Leninismus darstellt, sondern sie im Kern verändert: Marx hatte sich zwar in der Frage der konkreten Modalitäten des Übergangs zum Sozialismus nie abschließend festgelegt — ein Vorzug seines konkret-historischen Denkens übrigens, der ihm nur von antihistorischen Dogmatikern als Versäumnis ausgelegt werden kann —, aber immerhin doch in seiner 3. Feuerbachthese unmißverständlich festgestellt: „Die materialistische Lehre (erg. Feuerbachs, HM) von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß die Gesellschaft daher in zwei Teile — von denen der eine über ihr erhaben ist — sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden." Von dieser Einheit zwischen der Veränderung der Umstände und der Selbstveränderung der Menschen hat sich die Leninsche Parteitheorie — etwas, was bei Marx übrigens gänzlich fehlt — unverkennbar abgesetzt, als sie die Partei als Avantgarde des Proletariats über die Gesellschaft hinaushob und zur Verwalterin der Wahrheit bestellte. In Verbindung mit der Leninschen Konzeption einer Diktatur des Proletariats, die ebenfalls grundlegend von den diesbezüglichen Vorstellungen bei Marx und Engels abweicht hat nichts stärker zur Diskreditierung der Marxschen Theorie beigetragen als ihre von Lenin vorgenommene Umformung aus einer Vision der Freiheit in eine Strategie der Herrschaft. Noch nachhaltigere Auswirkungen hatte jedoch, daß Lenin, zweifellos unter dem Eindruck der ökonomischen und politischen Rückständigkeit seines Landes und der katastrophalen wirtschaftlichen Folgen, die zunächst der Erste Weltkrieg und dann — nach der Oktoberrevolution — der Bürgerkrieg für Rußland gehabt hat, das Marxsche Ziel der Befreiung des Menschen dem der Entfesselung der Produktivkräfte aufgeopfert hat. Seine berühmt-berüchtigte Definition des Sozialismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung, sein Lob des Taylorismus und seine Rede von den zu errichtenden Kraftwerken als „Stützpunkten der Aufklärung" sprechen in dieser Hinsicht für sich. Man wird Lenin freilich zugute halten dürfen, daß er diese Verkehrung der Marxschen Ziele auf die Zeitspanne des „sozialistischen Aufbaus“ begrenzt halten wollte, um anschließend dann die eigentliche Marxsche Perspektive Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu ist es nicht mehr gekommen, und es ist sehr die Frage, ob allein Lenins früher Tod hierfür verantwortlich zu machen ist. Die humanistischen Intentionen jedenfalls, die Marx verfolgt hat, wenn er von der Entfaltung der Produktivkräfte in einer sozialistischen Gesellschaft sprach, sind in den Ländern des „real existierenden Sozialismus" bis auf den heutigen Tag unter der Perspektive ökonomischer Effizienz verschüttet — mit dem tragikomischen Ergebnis freilich, daß gerade diese Länder von ökonomischer Effizienz weiter entfernt sind als ihre kapitalistischen Konkurrenten, bei denen — nach offiziell-marxistischer Auffassung — die Entfaltung der Produktivkräfte doch nach wie vor durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse behindert sein soll. Inzwischen, das kann hier nur kurz angedeutet werden, ist der Marxismus in den Ländern des „real existierenden Sozialismus“ zu einer Rechtfertigungsideologie und „Legitimationswissenschaft" geworden zu einem von vielen Mitteln, die herrschenden Eliten an der Macht zu halten. Vor allem muß er dazu herhalten, deren Anspruch zu begründen, sie allein seien im Besitz der Wahrheit. Wo sie tatsächlich den Menschen Erleichterungen gewähren, mehr Bewegungsfreiheit, größere Konsummöglichkeiten, da gehorchen sie eher den Geboten politisch-pragmatischer Vernunft als den humanistischen Antrieben der Marxschen Theorie. Der Marxismus — als eine philosophische, ökonomische und politische Theorie — ist darüber erstarrt. Indem er sich in eine Orthodoxie verwandelte, die gemäß den jeweiligen Herrschaftsinteressen eingesetzt und modifiziert wurde, ist ihm alle Kreativität entschwunden. Solche Kreativität aber wäre erforderlich, wenn aus seiner Richtung eine tragfähige Antwort auf die Frage zu erwarten sein sollte, was Marx heute zu sagen hat. Schärfer: Wäre Marxens Theorie deckungsgleich mit dem Sowjetmarxismus, so hätte sie nichts zu sagen.

Marx selbst

Sensiblere und kreativere Marxisten wie, um mich hier auf die deutsche Tradition zu beschränken, Karl Korsch, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Ernst Bloch (zu nennen wären weiterhin Lukäcs, Gramsci und Sartre) haben angesichts dieser Entwicklung schon sehr früh die Auffassung vertreten, eine Revitalisierung der Marxschen Theorie sei allein durch den entschiedenen Rekurs auf Marx selbst zu erreichen. Indem dabei Marx (mit Hegel und Freud) gegen den offiziellen Marxismus ausgespielt wurde, wurde erstmals in dieser Deutlichkeit sichtbar, daß die Marxsche Theorie sowohl an Breite als auch an Tiefe das weit übertraf, was allgemein als Marxismus vorgetragen wurde. Diese „Zurück-zuMarx" -Bewegung in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts ist zweifellos auch dadurch möglich geworden, daß zu dieser Zeit die bisher unbekannten Schriften des frühen Marx veröffentlicht wurden, durch die sich in vieler Hinsicht das Marxbild tiefgreifend gewandelt hat. Damals ist neben den „ökonomischen" Marx der „philosophisch-humanistische" Marx getreten.

Dergleichen ist jetzt nicht mehr zu erwarten.

Die jüngst veröffentlichten Marxschen Ex-zerpte zur Technologie und Arbeitsteilung mögen zwar in Detailfragen neue Aspekte eröffnen, insbesondere hinsichtlich dessen, was in Marx'Gesamtwerk an Vorstudien eingeflossen ist, aber sie können sicherlich keine Umwälzung des Marxbildes bewirken, wie sie durch die Veröffentlichung der Marxschen Frühschriften ausgelöst worden ist. Wir werden uns also, wenn wir uns jetzt dem Abschnitt „Marx selbst” zuwenden, mit dem Marx bescheiden müssen, wie er im Prinzip seit etwa fünfzig Jahren ediert ist.

Marx, das ist zunächst festzuhalten, hat sein Werk im Zeitalter einer Wissenschaftsgläubigkeit verfaßt, die uns heute, jedenfalls was die Geistes-und Sozialwissenschaften anbetrifft, fremd geworden ist. Zusammen mit Darwin bildet er den Schlußpunkt jener heroischen Phase der neuzeitlichen Wissenschaft, an deren Anfang Kopernikus und Galilei, Machiavelli und Hobbes stehen. Ihre gemeinsame Überzeugung war, daß es eine innere Natur Gesetzmäßigkeit der Geschichte der gebe, die vermittels theoriegeleiteter Beobachtung entdeckt werden könne. Als Friedrich Engels in seiner Traueransprache an Marxens Grab diesen als den Entdecker der geschichtlichen Bewegungsgesetze neben Darwin, den Entdecker der Gesetzmäßigkeit organischer Naturentwicklung, stellte hat er noch einmal diese gemeinsame Überzeugung der neuzeitlichen Wissenschaft zum Ausdruck gebracht.

Doch auch den Marxschen Entdeckungen ist das Schicksal fast aller großen Entdeckungen der neuzeitlichen Wissenschaft nicht erspart geblieben: So umfassend ihre Erklärungskraft zunächst zu sein schien, bei der — durch diese Theorien sicherlich mitbewirkten — genaueren Beobachtung wurden neue Probleme sichtbar, ebenso wie nach Marx'Tod auch neue Probleme entstanden sind. Ich habe im ersten Teil bereits auf das Scheitern der Marxschen Prognosen hinsichtlich des bevorstehenden Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft hingewiesen. Immer neue Anbauten an das Marxsche Werk, aber auch größere Modifizierungen wurden erforderlich, um seinen Anspruch, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen erklären und prognostizieren zu können, aufrechtzuerhalten. Man kann dies, wenn man sich die Widerlegung von Marx zur Lebensaufgabe gemacht hat, so wie andere sich die Bewahrheitung von Marx zur Lebensaufgabe gemacht haben, mit einer gewissen Befriedigung und vielleicht auch Häme quittieren. In der Erfordernis zu Zusatzhypothesen ist freilich Marx nur dasselbe Schicksal widerfahren wie allen großen Theorien der neuzeitlichen Wissenschaft, die, wie Thomas Kuhn es in seiner „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" eindrucksvoll beschrieben hat sehr bald mit Zusatzhypothesen umkleidet werden mußten, um weiterhin das zu erklären, was zu erklären sie beanspruchten. Wo diese Entwicklung mit Gefühlsbewegungen wie Befriedigung oder gar Häme (und die Literatur der Marx-Widerleger ist voll davon) begleitet wird, verweist dies eher auf das Gegenteil dessen, was zu quittieren beansprucht wird: Offensichtlich ist Marx doch nicht der „tote Hund", als den man ihn, wie zuvor Hegel, apostrophiert hat. Denn der Anblick eines toten Hundes, selbst wenn dieser zuvor gebissen hat, vermag schwerlich solche Gefühlsaufwallungen zu erzeugen.

Diese Relativierung und Modifizierung seiner Analysen hätte Marx selbst freilich am we-nigsten gewundert, denn er ist sich eigentlich durchweg darüber im klaren gewesen, daß die Gesetzmäßigkeiten, die entdeckt zu haben er beanspruchte, historische Gesetze und nicht Naturgesetze waren und sich darum mit den ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen ebenfalls veränderten. Dies festzuhalten, heißt Marx gegen seine selbsternannten Verteidiger in Schutz zu nehmen, die von der ungebrochenen Applizierbarkeit der Marxschen Thesen auf die heutigen Verhältnisse reden und damit, wenn auch ungewollt, die Marxsche Theorie schwächer machen, als sie tatsächlich ist. Diese „Schwächung" der Marxschen Theorie hat offensichtlich bereits an seinem Grab begonnen, als ihn Engels mit Darwin in einem Atemzug genannt und damit den von Marx skizzierten Gesetzmäßigkeiten implizit den Status einer Naturnotwendigkeit zuerkannt hat, wie ihn Marx selbst im Prinzip gar nicht beanspruchte. Wäre dem so, so wäre Marx in der Tat ein „toter Hund", weil er allein durch den Nachweis prognostischer Fehler widerlegbar wäre. Da jedoch die Gesamtanlage des Marxschen Werkes selbstreflektiv ist, also ihre kritische Anwendung auf sich selbst einschließt, ist es auch möglich, mit Marx gegen einzelne seiner Thesen und Prognosen zu argumentieren. Dies läßt sich als ein erster Befund zum Thema „Marx heute" festhalten.

Marx hat nicht nur in einem Zeitalter der Wissenschaftsgläubigkeit, sondern auch in einem der Produktionsverherrlichung und des Fortschrittsglaubens gelebt und gearbeitet. Produktion und Produktivität sind damals zu Werten an sich avanciert. Wenn man bedenkt, daß erst das 19. Jahrhundert damit begonnen hat, sich seine Denkmäler in Stahl und Eisen zu errichten, von der Eisenbahn, der Schiffahrt über die Waffentechnik bis zum Eiffelturm und den kapitalistischen Großstädten mit ihren Fabrikgürteln wenn man also bedenkt, daß — von ersten bescheidenen Anfängen am Ende des 18. Jahrhunderts in England einmal abgesehen — erst das 19. Jahrhundert jene industrielle Revolution vollzogen hat, deren Kinder wir sind und deren Folgen wir ebenso genießen wie wir an ihnen leiden, dann wird etwas von der Euphorie verständlich, mit der sich Marx über die Entfesselung der Produktivkräfte hat äußern können. Sie war für ihn über weite Strecken gleichbedeutend mit einem entscheidenden Fortschritt in der Befreiung des Menschen. Und ebenso verständlich wird seine schroffe Zurückweisung aller romantisch eingefärbten Zivilisationskritik, für die wir heute sicherlich erheblich sensibler sind. In dieser Frage ist Marx ein Kind seiner Zeit gewesen, deren Erwartungen er ebenso geteilt hat wie ihre „Blickschranken" (Bloch).

Aber bei aller — berechtigten — Kritik, die in dieser Hinsicht an Marx geübt werden kann, ist doch auch festzuhalten, daß er die Anhäufung des Reichtums durch stete Entfaltung der Produktivkräfte nicht um der Anhäufung des Reichtums, sondern um der umfassenden Entfaltung des Menschen und seiner Möglichkeiten willen als gerechtfertigt ansah. Erst auf einem bestimmten Produktionsniveau, so seine Überzeugung, sei Freiheit für alle möglich, weil nunmehr Maschinen jene Arbeit ausführten, die in der antiken Sklavenhaltergesellschaft die Sklaven, in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft die Leibeigenen und im neuzeitlichen Kapitalismus die Lohnarbeiter auszuführen hatten. Bei aller Skepsis, die gerade in dieser Hinsicht gegenüber Marx angebracht ist, scheint dies doch ein nach wie vor zutreffender Gedanke zu sein, und die gegenwärtigen Probleme der Industrieländer im Bereich der „strukturellen Arbeitslosigkeit“, also jener Arbeitslosigkeit, die nicht aus Verwertungskrisen des Kapitals, sondern aus technischen Innovationen erwachsen ist, resultieren ja nicht unbedingt daraus, daß „zu wenig" Arbeit da wäre, als vielmehr daraus, daß man sich nicht in der Lage sieht oder sich zutraut, die Produktionsziele so zu definieren und die vorhandene Arbeit so einzurichten und zu verteilen, daß die Erleichterungen, die die technischen Innovationen auch bedeuten, tatsächlich den Menschen zugute kommen.

Wenn ich nach den kritischen Anmerkungen zu den Marxschen Prognosen auch das sagen darf: Gerade im Bereich der Automation von Produktionsprozessen, der Übernahme komplexer Steuerungen durch Mikroprozessoren und dergleichen haben sich Marxens Prognosen überaus genau bestätigt So schrieb er in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“: „In dem Maße ... wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder — deren powerful effectiveness — selbst wieder in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion ... Die Arbeit scheint nicht mehr so sehr in den Produktionsprozeß eingeschlossen als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält ... Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein.“

Aus diesen für alle Dogmatiker der Marxschen Arbeitswertlehre überaus beunruhigenden Überlegungen hat Marx dann gefolgert: „Damit bricht die auf dem Tauschwert beruhende Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordene Zeit und geschaffnen Mittel entspricht"

Zugleich hat Marx, darauf hat Iring Fetscher in jüngster Zeit mehrfach hingewiesen aber auch gesehen, daß die Entfesselung der Produktivkräfte nicht wiedergutzumachende Folgen an der Natur und am Menschen bewirken kann. So schrieb er — 1867 — im „Kapital": Die kapitalistische Produktion entwikkelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.“ Und an anderer Stelle: „Jeder Fortschritt in der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Frucht- barkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß." Auch Friedrich Engels erklärte in der „Dialektik der Natur": „Schmeicheln wir uns jedoch nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet haben, aber in zweiter und dritter hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oftjene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, Behälter der Feuchtigkeit entzogen."

Man wird also sicherlich nicht sagen können, Marx und Engels hätten die Naturzerstörung im Gefolge der Produktivkraftentwicklung nicht gesehen. Als Marx, bei aller Produktionsverherrlichung, doch die Folgen einer sich stetig steigernden Produktion für die äußere Natur ebenso wie für die innere Natur des Menschen ins Auge faßte, ist er seiner Zeit weit voraus gewesen. So weit, daß erst wir heute beginnen, diese Seite der Marx-sehen Theorie voll zu entdecken. Bemerkenswert ist eigentlich weniger, daß selbst ein Denker wie Marx den „Blickschranken" seiner Zeit unterlag, sondern vielmehr, in welch beachtlichem Maß er diese „Blickschranken" transzendiert hat. Als Ernst Bloch sich über eine „Technik ohne Vergewaltigung" äußerte, konnte er sich auf einen zwar unterbelichteten, aber durchaus vorhandenen Zug im Denken von Karl Marx berufen.

Damit bin ich bei dem mir gestellten Thema angelangt: „Marx heute". Doch erst jetzt, nachdem wir gesehen haben, daß die Marxsche Theorie nicht in den unter seinem Namen verbreiteten Gestalten ideologischen Bewußtseins aufgeht, sondern kritisch gegen sich selbst gekehrt werden kann, ja ihren eigenen Prämissen zufolge sogar gegen sich gekehrt werden muß, können wir uns diesem Thema zuwenden. Man hat gesagt, die Geschichte müsse alle 20 bis 30 Jahre neu geschrieben werden, nicht weil zwischenzeitlich neue, bislang unbekannte Quellen aufgetaucht wären — was mitunter sicherlich auch der Fall, aber hier nicht das Entscheidende ist —, sondern weil die von den tatsächlichen Ereignissen her gesehen gleiche Geschichte aus dem jeweiligen Blickwinkel späterer Zeiten jeweils eine andere ist, andere Fragen aufwirft, andere Antworten gibt. Das wird man auch auf das Werk von Marx übertragen können, das sich heute bei anderen Problemkonstellationen unter veränderten Fragestellungen neu erschließen läßt.

Marx heute

Ein Proletariat im Sinne der Marxschen Theorie ist in unserer Gesellschaft jedenfalls nicht mehr dingfest zu machen, was die objektiven Lebensbedingungen anbetrifft ebenso-wenig wie hinsichtlich der subjektiven Einstellungen. Sowohl die Zusammensetzung des „produktiven Arbeiters“ als auch seine soziale, kulturelle und politische Mentalität haben sich in den fortgeschrittenen Industrieländern anders entwickelt, als Marx dies erwartet hat. Und das Elend der Dritten Welt ist unter dem Marxschen Begriff des Proletariats eigentlich nicht zu subsumieren, da bei Marx die große Industrie und das Proletariat immer aufeinander bezogen blieben. Dementsprechend ist auch die maoistische These, die unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Dritten Welt bildeten heute das Weltproletariat, eher eine in marxistischen Begriffen gefaßte Revolutionstheorie für politisch und/oder wirtschaftlich abhängige Gebiete als eine schlüssige Fortentwicklung der Marxschen Theorie

Es gilt also, um eine Formulierung von Andr Gorz aufzugreifen, „Abschied vom Proletariat“ zu nehmen was, das möchte ich ausdrücklich betonen, nicht heißen soll, daß es in den entwickelten Industrieländern kein Elend, keine Armut und keine Ausbeutung mehr gäbe. Wer einmal jene Anzeigen gelesen hat, in denen um Patenschaften für Kinder in armen Ländern geworben wird, und dann entdeckt hat, daß dort, neben Indien, Bangladesch, Bolivien und der Zentralafrikanischen Republik, auch die USA aufgeführt sind, und wer die langen Schlangen von Hungernden in Detroit oder New York gesehen hat, der weiß dies wohl ein für alle Mal besser. „Abschied vom Proletariat" soll vielmehr heißen, Abschied zu nehmen von jenem welthistorischen Mythos eines Proletariats, das, indem es sich selbst befreit, die gesamte Menschheit befreit, und dies auf immer. Diese, hierin folge ich Karl Löwith säkularisierte Variante der christlichen Erlösungshoffnung hat zweifellos etwas im Hinblick auf die Zukunft Beruhigendes, etwas mit der geschichtlichen Entwicklung Versöhnendes, weswegen auch in den siebziger Jahren, in der Zeit der K-Gruppen, viele zuvor kritische Intellektuelle diesem Mythos des Proletariats neues Leben einhauchen wollten. Immerhin: Wer an ein solches Proletariat (bzw.dessen revolutionäre Substitute) glaubt, braucht vor der Zukunft keine Angst zu haben. Anders formuliert: Wo am Mythos des Proletariats festgehalten wird, handelt es sich um das Paradoxon eines in die Zukunft gerichteten Romantizismus, einer Nostalgie, die sich nicht an Vergangenem, sondern an Zukünftigem labt.

Soweit ich sehe, gibt es innerhalb der marxistischen Schulrichtungen zwei Möglichkeiten, auf die Nichtidentität von programmätischem Begriff und vorfindlicher Realität zu reagieren: Die eine hält der Realität vor, dem Begriff nicht zu genügen, macht also in diesem Fall der Arbeiterschaft den Vorwurf, infolge von ideologischer Rückständigkeit, Verblendung oder gar imperialistischer Bestechung dem Marxschen Begriff des Proletariats nicht zu entsprechen und seiner — noch?

— nicht würdig zu sein; die andere hingegen läßt sich, zunächst durchaus geleitet von dem in Frage stehenden Begriff, auf eine neuerliehe Untersuchung der Realität ein, um den Begriff anschließend zu modifizieren oder gänzlich zu verwerfen, in diesem Fall also zumindest Korrekturen am Begriff des Proletariats vorzunehmen. Geht man davon aus, daß Marx seinen Wahlspruch, an allem sei zu zweifeln, ernst genommen hat, und billigt man ihm zu, tatsächlich ein der dialektisch-materialistischen Theorie und nicht einem Mystizismus der Begriffe verpflichteter Denker gewesen zu sein, so steht außer Frage, daß für ihn selbst nur die zweite Möglichkeit akzeptabel gewesen wäre.

Marx heute — das heißt also, den entmythisierenden Marx, den Marx der Hegelkritik und der „Kritik der politischen Ökonomie", gegen den durch seine Anhänger mythisierten Marx zu stellen und Abschied zu nehmen von intellektuellen und mentalen Ruhestätten, deren eine der Mythos des Proletariats ist Dies ist, nimmt man einmal das Marxsche Gesamtwerk und begnügt sich nicht mit einzelnen „ad usum delphini" ausgewählten Stellen, durchaus im Sinne von Marx. Dazu nun einige Überlegungen:

Die Wachstumsdynamik des Kapitalismus, das zeigen die weltwirtschaftlichen Daten, ist erlahmt. Ob nur für einige Zeit oder auf Dauer, wird sich erweisen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, im Sinne eines vulgarisierten Marx die Forderung aufzustellen, gerade jetzt seien die Produktionsverhältnisse zu sprengen, um durch eine neuerliche Entfesselung der Produktivkräfte die ökonomischen Probleme der Weltwirtschaft zu lösen. Es fällt auf, daß in dieser Hinsicht Vulgärmarxismus und Wirtschaftsliberalismus fast einer Meinung sind — mit dem einzigen Unterschied, daß nach vulgär-marxistischer Auffassung Wirtschaftswachstum nur durch die Sprengung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, nach wirtschaftsliberalistischer Auffassung hingegen Wirtschaftswachstum nur durch deren Befestigung zu erreichen ist. Auf unterschiedlichen Wegen streben beide demselben Ziel zu. Die Gegenposition hierzu kann allein heißen: Sicherlich wird es ohne tiefgreifende Veränderungen der Produktionsverhältnisse nicht abgehen, doch deren politisch-ökonomisches Ziel kann — bei Strafe des Untergangs der Menschheit — nicht in einer weiteren Steigerung, sondern allein in der bewußten, verantwortlichen Limitierung der Produktivkräfte bestehen. Anders formuliert: Das Bedrohliche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse resultiert heute gerade nicht aus ihrer vorgeblichen Fesselung, sondern aus ihrer unkontrollierten, allein am Interesse der Kapitalverwer-tung orientierten Steigerung der Produktiv-kräfte

Als Marx auf die Steigerung der Produktiv-kräfte setzte, war er der Auffassung, dadurch werde sich ein Zustand erreichen lassen, in dem die Bedürfnisse der Menschen und die Ressourcen zu ihrer Befriedigung in ein Gleichgewicht, einen harmonischen Ausgleich gelangen werden Wir haben jedoch seither die Erfahrung machen müssen, daß die Bedürfnisse der Menschen immer wieder den Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung davongeeilt sind, daß jede Steigerung der Ressourcen zu einer Steigerung der Bedürfnisse geführt hat und ein harmonischer Ausgleich zwischen beiden nach wie vor nicht in Sicht ist Die Geschichte dieses Landes seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. Und es ist angesichts der begrenzten Ressourcen der Natur und auch eingedenk dessen, was bei Marx über die Zerstörung der Natur und des Menschen zu finden ist, sehr die Frage, ob sich die Menschen des industrialisierten Nordens dieses Nachlaufspiel auf Dauer werden leisten können. Und gleichfalls ist die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich dieses Nachholspiel länger zu leisten, denn neben der Zerstörung der Natur ist darin doch auch der Genuß zerstört worden, den die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse zuvor dargestellt hat. Was immer zu haben ist, hat den Reiz des Besonderen verloren, und der Genuß, so scheint mir, hängt ganz wesentlich am Besonderen. Damit will ich nicht die glücklich nennen, die das, was wir täglich haben, nur selten haben können, sondern möchte darauf aufmerksam machen, daß es nicht nur auf der Objekt-, sondern auch auf der Subjektseite eine Paralyse des Genusses durch die Steigerung der Ressourcen gibt, also eine Dialektik zwischen Produktivkraftentfaltung und Bedürfnisbefriedigung, die ganz gegensätzlich zu den Marxschen Erwartungen abläuft.

Mit der Steigerung der Ressourcen erfolgt die „Hegung" unserer Bedürfnisse — und Hegung heißt bekanntlich zweierlei: Begrenzung, aber auch Schutz — nicht mehr naturwüchsig, sondern ist aus Freiheit zu leisten. Dieser Übertritt aus der Naturnotwendigkeit in die Freiheit ist ja ein Gedanke, der das gesamte Marxsche Werk wie ein roter Faden durchzieht, und deswegen auch getraue ich mich, diese Überlegungen unter dem Stichwort „Marx heute" darzulegen. Zweifellos hat Marx die Folgen dieses Übertritts von der Heteronomie zur Autonomie zu wenig bedacht und allzusehr auf die „strenge Disziplin" vertraut, die sich die Menschen in der kapitalistischen Produktion gleichsam einverleibt haben, als daß er diesem Problem ausführlich nachgegangen wäre Wo aber der Glaube an die Automatismen der Geschichte, wie er sicherlich noch bei Marx zu finden ist, geschwunden ist, wo das Vertrauen zerfallen ist, daß die dialektischen Prozesse von Synthesen abgeschlossen werden, da wird deutlich, daß der Möglichkeit von Autonomie, wenn diese nicht wahrgenommen wird, eine um so schärfere Heteronomie folgt. Konkret heißt das: Wo die Menschen die Steigerung der Produktivkräfte und die Veränderung der Bedürfnisse nicht beherrschen, da beherrschen diese die Menschen. Gleichzeitig heißt dies aber auch, daß das Konzept einer sozialistischen Ökodiktatur das ohnehin eher in der stalinistischen als in der Marxschen Tradition anzusiedeln ist, nur eine andere Form des gescheiterten Übergangs zur Autonomie wäre.

Der Asketismus, der hier unter dem Stichwort einer „Hegung der Bedürfnisse aus Freiheit" anvisiert worden ist, ist also kein antihedonistischer Asketismus, sondern zielt vielmehr auf Askese in hedonistischer Perspektive er begründet keine aristokratische Ethik wie etwa bei Nietzsche, sondern eine Ethik des Gattungswesens Mensch, das um seine Voraussetzungen und Grenzen weiß. Die vor allem in den Marxschen Frühschriften zu findende Idee einer bewußten Kontrolle des „Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur" um der Selbstverwirklichung des Menschen als eines auf Autonomie hin angelegten Lebewesens willen kann also dafür fruchtbar gemacht werden, angesichts der Krise des Industrialismus (sowohl in seiner kapitalistischen wie in seiner staatssozialistischen Variante) weder in eine apathische Resignation noch in einen neuen Naturromantizismus zu verfallen, der die geheime Vernunft, die der Geschichte abhanden gekommen ist, nun in die Natur projiziert.

Vielleicht heißt dies, Marx in vieler Hinsicht gegen den Strich zu lesen, doch kommt, so scheint mir, diese Interpretation den Marxschen Intentionen erheblich näher als der evolutionistische Marxismus eines Kautsky, der um Machterwerb und Arbeitseffizienz zentrierte Marxismus eines Lenins oder die verzweifelte Suche nach revolutionären Substituten des Proletariats bei vielen marxistischen Intellektuellen in den westlichen Ländern. „Marx heute" — das heißt, Marx in vieler Hinsicht gegen den Strich zu lesen; aber die Größe und Bedeutung eines Denkers besteht wohl nicht darin, daß er alles gewußt und vorausgesehen hat, sondern vielmehr darin, daß er auch dort Antworten und Anregungen geben kann, wo für ihn selbst Unvorhergesehenes eingetreten ist. Marx, und damit kehre ich zu meiner anfänglichen Frage zurück, bedarf der aktualisierend-kritischen Betrachtung, aber er ist ihrer auch fähig. Wo nicht Götzendienst, sondern Reflexion gefragt ist, kann mehr von einem Denker zu Ehren seines 100. Todestages nicht gesagt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. überarbeitete und mit Literaturnachweisen sowie Anmerkungen versehene Fassung eines Vortrags, der am 21. Januar 1983 auf Einladung der Volksbochschule Köln im Rahmen der Veranstaltungsre‘he „Karl Marx und der Marxismus" gehalten wurde. Karl Marx, Thesen über Feuerbach; in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW) Bd. 3, S. 7.

  2. Zur Kautskyschen Ausformung der marxistischen Theorie vgl. Iring Fetscher, Marxistische Porträts Bd. 1, Stuttgart 1975, S. 81 ff. Lucio Coletti, Bernstein und der Marxismus der Zweiten Internationale, Frankfurt/M. 1981, S. 15 ff., enthält eine aus philosophischer Sicht kritische Auseinandersetzung mit Engels und Kautsky. Die politische Bedeutung des Kautskyschen Marxismus ist untersucht bei Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M. — Berlin — Wien 1974, S. 57 ff.

  3. Karl Kautsky, Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin 19202, S. 44.

  4. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 790 f.

  5. Die m. E. beste Untersuchung hierzu bietet Barrington Moore, Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, Frankfurt/M. 1982, S. 171 ff.

  6. Der wichtigste Anbau am Marxschen Theoriegebäude und zugleich seine politisch folgenreichste Erweiterung waren die Imperialismustheorien von Rudolf Hilferding (Das Finanzkapital, 1910), Rosa Luxemburg (Die Akkumulation des Kapitals, 1913) und W. I. Lenin (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916). Sie erklärten — vereinfacht zusammengefaßt — das vorläufige Ausbleiben der Marxschen Erwartungen mit dem gewachsenen Einfluß des Finanz-gegenüber dem Industriekapital (Hilferding), mit den spezifischen Austauschbedingungen zwischen kapitalistischer Produktion und „nichtkapitalistischem Milieu" (Luxemburg) bzw. sahen in der überwiegenden Mehrheit der kolonisierten Völker einen natürlichen Verbündeten des Proletariats (Lenin). Die Imperialismustheorie Luxemburgs und Lenins markierte zugleich den Bruch mit dem evolutionistischen Marxismus Kautskys.

  7. So erklärten Marx und Engels: „Sie (die große Industrie, HM) erzeugte im allgemeinen überall dieselben Verhältnisse zwischen den Klassen der Gesellschaft und vernichtete dadurch die Besonderheit der einzelnen Nationalitäten. Und endlich, während die Bourgeoisie noch aparte nationale Interessen behält, schuf die große Industrie eine Klasse, die bei allen Nationen dasselbe Interesse hat und bei der die Nationalität schon vernichtet ist, eine Klasse, die wirklich die ganze alte Welt los ist und zugleich ihr gegenübersteht." (Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 60; vgl. hierzu Tom Nairn u. a., Nationalismus und Marxismus, Berlin 1978, S. 8 ff.

  8. Vgl. Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, Frankfurt/M. 198121, S. 68 ff., sowie Jan Jaroslawski, Theorie der sozialistischen Revolution. Von Marx bis Lenin, Hamburg 1973, S. 96 ff.

  9. Marx, Thesen über Feuerbach, MEW Bd. 3, S. 5f.

  10. Vgl. Münkler, Demokratie und Diktatur, in: Merkur 10/1982, S. 1028 ff.

  11. W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Zürich 1935, Bd. 8, S. 289 ff.

  12. Vgl. Oskar Negt, Marxismus als Legitimationswissenschaft. Einleitung zu Abram Deborin/Nikolai Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, Frankfurt/M. 1969, S. 15 ff.

  13. Vgl. insbes. Perry Anderson, über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978, sowie Walter Euchner, Positionen des modernen Marxismus. Neomarxismus, Stuttgart 1972. Zur Marx-Rezeption bei Adorno und Bloch vgl. die beiden Aufsätze yon Alfred Schmidt, Adorno — ein Philosoph des realen Humanismus, sowie: Anthropologie und Antologie bei Ernst Bloch, beide in: Schmidt, Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart 1981.

  14. Marx, Die technologisch-historischen Exzerpte, historisch-kritische Ausgabe, transkribiert und hrsg. von Hans-Peter Müller, Frankfurt/M. — Berlin — Wien 1981; Marx, Exzerpte über Arbeitsteilung, Maschinerie und Industrie, historisch-kritische Ausgabe, transkribiert und hrsg. von Rainer Winkelmann, Frankfurt/M. — Berlin — Wien 1982.

  15. „Darwin entdeckte die Entwicklungsgesetze der organischen Natur auf unserem Planeten. Marx ist der Entdecker des Grundgesetzes, nach welchem die menschliche Geschichte sich bewegt und entwickelt. Marx entdeckte auch das spezielle Gesetz, nach dem die bestehende Gesellschaft entstand und untergehen wird wie alle früheren Phasen der Gesellschaft." Dann jedoch fuhr Engels fort: . Aber so wert ihm die Wissenschaft war, sie absorbierte ihn nicht ganz ... Sie war ihm vor allem ein großer historischer Hebel, eine revolutionäre Kraft im gewaltigsten, wahrsten Sinne des Wortes." Zit. nach Gustav Mayer, Engels. Eine Biographie, Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1975, Bd. 2, S. 352.

  16. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1973, S. 79 ff.

  17. Vgl. Eric J. Hobsbawm, Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848— 1875, Frankfurt /M. 1980, insbes. S. 258 ff.

  18. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen konomie, Berlin 1953, S. 592 f.

  19. Iring Fetscher, Karl Marx und das Umweltproblem; in: ders., Uberlebensbedingungen der Menschheit. Die Dialektik des Fortschritts, München 1980, S. HO ff.; ders, Fortschrittglauben und Ökologie im Denken von Marx und Engels; in: ders., Vom Wohlfahrtsstaat zur neuen Lebensqualität. Die Herausforderung des demokratischen Sozialismus, Köln 1982, S. 167 ff.

  20. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 530.

  21. Ebd„ S. 529.

  22. Engels, Dialektik der Natur, MEW Bd. 20, S. 452 f.

  23. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1973, Bd. 2, S. 807 ff.

  24. Die im Ansatz bereits bei Lenin zu findende und von Mao Tse-tung dann vollendete Umdefinition der Bauern und (nur bei Mao) dessen, was bei Marx „Lumpenproletariat" heißt, zum Proletariat im Marxschen Sinn ist mehr als ein bloßer Austausch von Etiketten gewesen, da die Eigenschaften, die Marx — zu Recht oder zu Unrecht — dem Industrieproletariat zugesprochen hatte, auf keinen Fall bei diesen neuen „Subjekten der Revolution" ausgemacht werden konnten. Zwangsläufige Folge war die entscheidende Erziehungsaufgabe, die nun der Kommunistischen Partei zugewiesen wurde (vgl. Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, S. 2314 Dies jedoch widersprach dem Programm „revolutionärer Praxis“, wie es Marx in der 3. Feuerbachthese umrissen hatte.

  25. Andr Gorz, Abschied vom Proletariat, Frankfurt/M. 1980; den wohl interessantesten Versuch, ein Proletariat im Marxschen Sinn in den modernen Industriegesellschaften ausfindig zu machen, bildet die Studie von Serge Mallet, Die neue Arbeiterklasse, Neuwied und Berlin 1972 (frz. 1963).

  26. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart — Berlin — Köln — Mainz 19736, S. 41 ff.; ebenso Leszek Kolakowski, Der revolutionäre Geist, Stuttgart — Berlin — Köln — Mainz 1972, S. 11 ff.

  27. Einen zusammenfassenden Überblick über die Krise der Wachstumsgesellschaften und die Perspektiven des Ökosozialismus geben Johano Strasser und Klaus Traube, Die Zukunft des Fortschritts. Der Sozialismus und die Krise des Industrialismus, Bonn 19812.

  28. In gewisser Hinsicht ist Engels, als er die Auffassung vertrat, der Militarismus werde durch seine eigene Dialektik ein Zeitalter ewigen Friedens heraufführen, einer vergleichbaren Perspektive gefolgt (vgl. Münkler, Krieg und Frieden bei Clausewitz, Engels und Carl Schmitt; in: Leviathan 1/82, insbes. S. 24 ff.). Sowohl im Falle der Dialektik von Produktivkraftentfaltung und Bedürfnisbefriedigung als auch in dem der Dialektik des Militarismus ist — im Lichte der Themenstellung „Marx heute" — zu fragen, ob hier nicht ein, wenn man so will, „idealistisches Residuum" vorherrscht: die Überzeugung nämlich, daß zuletzt doch der dialektische Prozeß in einer Synthese zum Abschluß gelange. Dagegen wäre Adornos Idee einer „Negativen Dialektik" zu stellen, der die Gewißheit eines solchen Abschlusses fehlt

  29. Vgl. Fred Hirsch, Social Limits to Growth, Cambridge/Mass. 1976.

  30. Das in der sozialistischen Theorie Ende des 19. /Anfang des 20. Jahrhunderts vieldiskutierte Problem, wie Marx und Kant miteinander in Beziehung zu setzen sind, is't damit neu gestellt.

  31. Vgl. Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der „Club of Rome", Reinbek 1975.

  32. In dieser Hinsicht ist vielleicht mehr als von Marx von Friedrich Nietzsche zu lernen, jenem anderen Denker, an dem sich zeigt, daß jede Zeit ihn mit eigenen Äugen zu lesen hat. Aufschlußreich hierfür sind die — aus verschiedenen philosophischen Traditionen entstammenden — Nietzsche-Interpretationen von Gilles Deleuze (Nietzsche und die Philosophie, München 1976) und Walter Kaufmann (Nietzsche. Philosoph - Psychologe - Antichrist, Darmstadt 1982). Zum Verhältnis von Marx und Nietzsche vgl. Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hrsg.), Karl Marx und Friedrich Nietzsche, Königstein/Ts. 1978.

Weitere Inhalte

Herfried Münkler, Dr. phil. geb. 1951; Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Frankfurt/M.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt. Veröffentlichungen u. a.: Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland (zusammen mit Iring Fetscher u. Hannelore Ludwig), Opladen 1981; Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 1982; Afghanistan: Legitimität der Tradition und Rationalität der Modernisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/82.