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Zur alternativen Kultur | APuZ 11/1983 | bpb.de

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APuZ 11/1983 Artikel 1 Die Bundesrepublik Deutschland: kein Provisorium — aber was sonst? Legitimationsverluste parlamentarischer Regierungen nach mehrheitsverändernden Wahlen Bürgerinitiativen in der politischen Willensbildung Zur alternativen Kultur

Zur alternativen Kultur

Roland Schmidt

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ausgangspunkt ist die These, daß jede Gesellschaft die Protestbewegungen produziert, die ihr entsprechen. Diese Beziehung wird auf drei Ebenen angedeutet: Erstens ist alternative Kultur für den einzelnen eine „Ent-Bindung von Möglichkeiten“, wenn traditionelle Orientierungen brüchig geworden sind. Zweitens ist sie auf der Ebene eines sozio-politischen Phänomens eine Form der Ausbildung neuer kollektiver politischer Identität in „entdifferenzierenden Gegenbewegungen''. Drittens ist sie in systematischer Hinsicht „Widerstand gegen die Kolonialisierung der Lebenswelt". Damit muß aber alternative Kultur gerade als heterogenes Phänomen, muß gerade in ihrer Uneinheitlichkeit gesehen werden. Unter diesem Gesichtspunkt wird eine Annäherung an alternative Kultur versucht. Im zweiten Kapitel wird das Erscheinungsbild alternativer Kultur beschrieben. Dazu wird erstens „die Alternativbewegung''als Geflecht verschiedener Strömungen und Bewegungen definiert. Diese werden zweitens mit ihrer spezifischen Systemkritik und entsprechenden Gegenentwürfen vorgestellt. Drittens werden die Ergebnisse empirischer Untersuchungen referiert; dabei wird nach Umfang und Potential alternativer Kultur gefragt, nach dem politischen Verhalten und dem Zusammenhang mit der sozialen Schichtung. Viertens werden die alternativen Projekte und das Konzept einer „alternativen Ökonomie" thematisiert Schließlich soll im dritten Kapitel ein Zugang zu Inhalten und Strukturen alternativer Kultur gefunden werden. Mit der Feststellung der Heterogenität als wesentliches Merkmal alternativer Kultur schließt sich der Bogen, der im ersten Kapitel gespannt wird. Unter dem Stichwort . Sprachlosigkeit'fällt die . Ästhetik'der Bewegung in den Blick. Diese ist nicht sprachlos, sie hat eine eigene, neue Sprache. Unter dem Stichwort . Chaos'werden Bemerkungen zur Organisationsstruktur gemacht: Wer die mangelnde Vereinheitlichung beklagt, verkennt die Chancen einer „Politik der Graswurzelrevolution". Unter dem Stichwort . Ziellosigkeit'wird der „aufrechte Niedergang der Theorie" angesprochen: Die Bewegung ist nicht ziellos, sie hat allerdings ein problematisches Verhältnis zur Theorie.

Erscheinungsbild und Strukturen I. Alternative Kultur als Reaktion und Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen „In der Politik... werden geistige Entwicklungen registriert, wenn sie sich in Wahlergebnissen niederschlagen" Peter Glotz'selbst-kritische Erkenntnis bestimmt einen Faktor der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit. Ein zweiter Faktor sind „die spektakulären und von gewalttätigen Auseinandersetzungen begleiteten Protestereignisse der Jahres-wende gar 1980/81". Sie lösten die Einsetzung einer Enquete-Kommission . Jugendprotest im demokratischen Staat" aus . Dialog mit der Jugend'ist seitdem allerorten angesagt. Nur: auf eine solche Einladung zum Dialog antwortete der Schöneberger Besetzerrat: „Die Jugend könnt ihr nicht zum Patienten machen, wenn das System krank ist" Man hüte sich also vor einer Perspektive, bei der angesichts der Hausbesetzungen nicht Wohnungsnot und verfehlte Politik, nicht Spekulation und Maklerpraktiken, geschweige denn deren Systembedingtheit als Problem gesehen wird, sondern . die Jugend-revolte‘ Wenn über alternative Kultur gesprochen wird, wird auch immer etwas über die Gesellschaft, die diese entstehen ließ, ausgesagt. Eine erste These sei schon hier versucht (sie könnte auch am Ende stehen): Alternative Kultur ist Reaktion und Antwort auf krisenhafte Entwicklungen (in) der Gesellschaft.

Demzufolge läßt sich alternative Kultur nicht verstehen ohne die Gesellschaft, in der sie entsteht. Das heißt aber auch: Jede Gesellschaft produziert die Protestbewegungen, die ihr entsprechen.

Dieses dialektische Verhältnis ist aber nicht vereinfacht aufzulösen. Triviale Bestimmungen, z. B. die Reduktion des Phänomens auf einen Generationenkonflikt, führen kaum weiter. Näher kommt man dem Problem m. E. mit den im folgenden dargestellten kurz theoretischen Ansätzen. Thomas Ziehe argumentiert von einem pädagogisch-psychologischen Standpunkt — oder besser von einem polemischen gegen „gewöhnliches Lernen". Er versucht eine „geschichtliche Lokalisierung der gegenwärtigen Kultursituation“ Zwei Tendenzen prägen diese: zum einen die „Technokratisierung von Lebensbereichen"; d. h., „zweckrational-zentralistische Organisationsstrukturen" dringen immer weiter vor und bewirken eine „Vergesellschaftung der Gesellschaft", bewirken eine „Kolonialisierung des gesellschaftlichen Binnenraums bis in die Subjekte hinein".

Die andere Tendenz ist die „Aufstörung tradierter Kultur": die Sexualmoral verändert sich, Generations-und Geschlechterrollen werden problematisiert, der traditionelle Wert der Arbeit nimmt ab. Die Macht überlieferter Wertsysteme scheint gebrochen: die Traditionsaufstörung ist auch eine „Ent-Bindung von Möglichkeiten". Um ihre Identität zu finden, müssen Jugendliche unter unüberschaubar vielen möglichen Lebensentwürfen . wählen'. Die traditionellen Orientierungen sind brüchig geworden.

Claus Offe geht den Auswirkungen der modernen Volksparteien auf die Bildung einer kollektiven politischen Identität nach. Die Konkurrenzparteien als „weltanschauungs-neutrale Machterwerbsorganisationen" spezialisieren ihre Organisationsziele, nämlich auf Wahlerfolge, generalisieren ihren sozialen Einzugsbereich, sie suchen nämlich Wählerstimmen, wo immer diese zu bekommen sind.

Wenn diese Tendenz „unerträglich" wird, entstehen „entdifferenzierende Gegenbewegungen" in denen sich politische Willenskundgebungen mit den Erfahrungshorizonten der Beteiligten decken. In diesen Protestbewegungen formulieren sich dann „durchaus neuartige kollektive Selbstdeutungen", indem bei der Unmittelbarkeit eines eigenen Lebensumkreises und dessen identitätsbildenden Strukturen angesetzt wird. Es bildet sich neue kollektive Identität durch gemeinsame Betroffenheit. Dabei sind die Anlässe und Umstände oft partikular, die Ziele und Ursachen jedoch allgemein: „Vor Ort" finden die allgemeinen Kämpfe statt.

Jürgen Habermas beschreibt die Protestpotentiale als „Widerstand gegen Tendenzen einer Kolonialisierung der Lebenswelt" Lebenswelt’ ist der Bereich der privaten Lebens-sphäre und der Öffentlichkeit; er ist „kommunikativ strukturiert", d. h„ man handelt in der Lebenswelt auf Grundlage kommunikativer Verständigung. Von der Lebenswelt abgelöst, „entkoppelt", hat sich der System-Bereich. Er ist der Bereich des Wirtschaftssystems und des bürokratischen Staates; er ist von „kommunikationsunabhängigen Medien" gesteuert: Geld und Macht; d. h. vereinfacht: über die Höhe der Steuer kann man nicht verhandeln

Die neuen Konflikte entstehen nun an den „Nahtstellen zwischen System und Lebens-welt" Das zweckrationale Handeln des Systems dringt nämlich immer mehr in die Lebenswelt ein. In der nun rationalisierten Lebenswelt prallen „Systemimperative mit eigensinnigen kommunikativen Strukturen" zusammen Die Lebenswelt . wehrt sich'. Und tatsächlich entstehen die Protestpotentiale an den Konfliktlinien, wo sie nach der These der „Kolonialisierung der Lebenswelt" zu erwarten sind: „Die neuen Konflikte entzünden sich nicht an Verteilungsproblemen, sondern an Fragen der Grammatik von Lebensformen." Wenn wir nun alternative Kultur auf der Ebene des Subjekts als „Ent-Bindung von Möglichkeiten" verstehen, auf der Ebene eines sozio-politischen Phänomens als „entdifferenzierende Gegenbewegung" und in systematischer Hinsicht als „Widerstand gegen die Kolonialisierung der Lebenswelt", heißt das in unserem Zusammenhang, daß man alternative Kultur gerade in ihrer Heterogenität betrachten muß.

II. Zum Erscheinungsbild alternativer Kultur

Verschiedene Dimensionen alternativer Kultur geben unterschiedliche Aspekte des gesellschaftlichen Phänomens an. Alternative Kultur sei hier verstanden als das gesellschaftliche Phänomen, das 1. getragen wird von , der'Alternativbewegung mit ihren vielen einzelnen alternativen Bewegungen, Strömungen und Initiativen, das 2. erscheint und greifbar wird in alternativen Projekten und deren Strukturen und das 3. bestimmt wird durch eine Alternativmentalität, d. h. durch ein breitgestreutes und weitgespanntes Spektrum von Ideen, Vorstellungen, Idealen, Werten, Einstellungen, Inhalten und Strukturen.

4. Für die Alternativszene im engeren Sinne ist die relative Abgeschlossenheit von der übrigen Gesellschaft kennzeichnend, wobei alle wesentlichen menschlichen Bedürfnisse (wie Produktion, soziale Absicherung, Information und Kommunikation) innerhalb eines solchen integralen Zusammenhangs bewältigt werden können Zu einer solchen Szene zählen höchstens Landkommunen und die großstäd-tischen Aussteiger-Gettos in Berlin oder Frankfurt. Die Autarkie dürfte jedoch auch dort oft eine Fiktion sein, wenn staatliche Subventionen und Zuschüsse die materielle Grundlage des Lebens bilden

5. Grüne und alternative Listen und Parteien sind der . parlamentarische Arm'der außerparlamentarischen Bewegungen. Ob sie die Funktion einer „Partei neuen Typs" erfüllen können, die als Instrument, „gerade konträr zu dem dominanten Formtypus der Konkurrenz-partei, außerparlamentarischen Kämpfen ein Ausmaß von ... Unterstützung" zuleitet, das sich im Brennpunkt der immer punktueller werdenden Konflikte selbst nicht mobilisieren läßt kann hier nicht weiter verfolgt werden. Jedenfalls ist der Umkreis der in ihnen politisch Engagierten nicht unbedingt identisch mit der alternativen Kultur, obwohl sich sicher personell und inhaltlich Überschneidungen und Verflechtungen ergeben. Im folgenden soll erstens die Alternativbewegung mit (zweitens) ihren vielen alternativen Bewegungen und Strömungen vorgestellt werden. Drittens werden die Ergebnisse einiger empirischer Untersuchungen referiert. Dabei wird nach dem Umfang und Potential alternativer Kultur, nach dem politischen Verhalten und dem Zusammenhang mit der sozialen Schichtung gefragt. Viertens werden die alternativen Projekte thematisiert, um schließlich einen Zugang zu Inhalt und Strukturen alternativer Kultur zu finden. 1. Die Alternativbewegung Die Alternativbewegung ist ein Geflecht verschiedener alternativer Bewegungen, Initiativen und Strömungen. Kennzeichnend ist ihre Heterogenität; gemeinsam ist ihnen aber das „Selbstverständnis als neue Bewegung, die sich Freiräume erkämpft hat und aus dem Bewußtsein moralischer Überlegenheit selbstbe-

wußt ihren Lebensraum gestalten will"

Die einzelnen Bewegungen durchdringen einander, sie sind „ideell, personell und über formelle wie informelle Kanäle vielfach untereinander vernetzt" Es gibt gemeinsame Aktionen, Treffpunkte, gemeinsame Presse, aber auch viel Abgrenzung und inhaltliche Auseinandersetzung untereinander Sichtbarer Ausdruck des „Diffundierungs-und Vernetzungsprozesses" der verschiedenen Strömungen waren die Gründungen des „Netzwerk Selbsthilfe“ und der „tageszeitung", sicher auch die Bildung der „Alternativen Listen“ und die bundesweite Gründung der Partei „Die Grünen"

Daß Grenzziehungen schwer fallen, liegt in der Natur der Sache — sowohl was die einzelnen Gruppen angeht, als auch die Eingrenzung des gesamten Phänomens. So sind in vielen Gruppen die Grenzen zur . etablierten'Gesellschaft fließend Man sollte jedoch vermeiden, die Alternativbewegung z. B. mit der Ökologie-Bewegung gleichzusetzen Auch ist sie nicht nur Jugendbewegung, denn besonders in der Friedens-und der Ökologiebewegung sind immer mehr auch andere Generationen beteiligt

Der Begriff der . sozialen Bewegung'wird hier verwendet, „da sowohl ein WIR-Gefühl aus einer Reihe gemeinsamer Grundvorstellungen heraus besteht als auch ein relativ kontinuierliches Handeln festzustellen ist". Die Bewegungen sind mit einer Repolitisierungstendenz und dem Selbstbewußtsein vom Erfolg und Anwachsen der Bewegung verbunden Wenn Jaeggi dagegen eine neue Sozialbewegung sucht, „die an die Stelle der traditionellen Arbeiterbewegung, die Massenparteicharakter angenommen hat, tritt oder treten könnte", ist seine Diagnose kaum verwunderlich: „Keine soziale Bewegung also, aber sicher ein ... politisch-kultureller Erosionsprozeß" Dennoch meine ich, Rammstedts Definition als „Prozeß des Protestes gegen bestehende soziale Verhältnisse ..., der bewußt getragen wird von einer an Mitgliedern wachsenden Gruppierung, die nicht formal organisiert zu sein braucht", kann hier gelten 2. Alternative Bewegungen und Strömungen Im folgenden sollen einige Strömungen in ihren Grundzügen dargestellt werden. Ich folge dabei im wesentlichen Joseph Hubers Aufstellung in „Wer soll das alles ändern — Die Alternativen der Alternativbewegung". Jede dieser Strömungen „beruht auf einer bestimmten Opposition gegen bestehende Krisenerscheinungen. Jede formuliert von daher eine bestimmte Systemkritik und verbindet diese mit entsprechenden alternativen Ideen und Entwürfen“

Die Bürgerinitiativen sind Träger von außer-parlamentarischen Aktivitäten meist im Umweltschutz. Ihr Ziel ist die Erhaltung von überkommenen, natürlichen, und sozialen gesellschaftlichen Strukturen gegen bürokratisch-technologische Veränderungen und die Abwehr drohender Gefahren Ihre Kritik ist in erster Linie Bürokratiekritik. Sie gilt dem Versagen von Parteien und staatlichen und großindustriellen Planungs-und Verwaltungsapparaten. Entsprechend liegen ihre alternativen Ideen in Bürgernähe und -beteiligung, in Planung und Entscheidung von der Basis aus und lokaler Selbstverwaltung.

Die Ökologiebewegung hat ihren zentralen Kritikansatz in den . Grenzen des Wachstums'. Ihre Kritik ist vor allem Industrialismus-und Technokratiekritik. Die Anti-AKW-Bewegung hat ihr Ende der siebziger Jahre wohl zum entscheidenden Durchbruch verholfen. Das ökologische Gesamtkonzept geht über den bloßen Umweltschutz hinaus und hat in der Entwicklung alternativer Technologien auch pragmatischen Modellcharakter.

Die Entwicklung alternativer Lebensstile als Selbstveränderung im persönlichen Alltagsleben ist die notwendige Ergänzung der ökologischen Systemveränderung. Mit dem Ansatz der Konsumkritik im Sinne einer kritischen, wirtschaftlichen und ökologischen Konsumentenrationalität lassen sich gemeinsame Züge ausmachen: Konsumverzicht und Ablehnung des „Konsumismus ... als eine neue Form des Totalitarismus" Es geht um die Abwendung von den Werten des . Haben'hin zu denen des . Sein'(Erich Fromm).

Die radikalere Version einer alternativen Lebensweise vertritt die Landkommunenbewe gung, in deren Begründung die Stadt-Land-Herrschaft als Ausbeutungsverhältnis eine zentrale Rolle spielt In einem ähnlichen Begründungszusammenhang steht der Regionalismus, der den „inneren Kolonialismus" kritisiert, welcher die Region zur abhängigen Peripherie der städtischen Metropolen herab-würdige. Regionale kulturelle und soziale Wurzeln werden wiederentdeckt und zu bewahren gesucht

Die Jugendbewegung hat ihren Ansatz vor allem in Jugendzentren und -häusern; allerdings wird der Begriff heute weitaus umfassender verwendet. Doch nicht zufällig hat sich der neue Jugendprotest z. B. in Zürich am . Autonomen Jugendzentrum" entzündet

Die Jugendzentrumsbewegung hat die Prinzipien der Selbstverwaltung und -Organisation, der direkten Demokratie und der Basisdemokratie verbreitet An dieser Stelle ist sicher die Hausbesetzer-Bewegung zu nennen, die nicht zuletzt Ausdruck des massiven Wunsches nach neuen Lebensformen in kollektiven Zusammenhängen ist Die Zahl der . Aktiven'ist relativ klein doch hält inzwischen nach Verlautbarung des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit mehr als ein Drittel der 4evölkerung Besetzungen leerstehender Häuser für vertretbar Nicht zuletzt die Hausbesetzungen in Berlin und die daran anschließenden Auseinandersetzungen mit der Polizei und Reaktionen der Justiz haben die aktuellen Diskussionen in Gang gesetzt

In letzter Zeit läßt sich auch eine Art Alten-bewegung erkennen, die sich nach dem Vorbild der „Grey Panthers“ mit ihren Aktionen selbstorganisiert gegen ihre Randständigkeit, Abhängigkeit und latente Unmündigsprechung zur Wehr setzt.

Die Frauenbewegung war neben der Ökologiebewegung zweifellos die politisch wirkungsvollste Strömung der siebziger Jahre. Ihre Kritik der patriarchalischen Herrschaft in Familie und Beruf stellt das gesamte gesellschaftliche System in Frage, nicht nur die Struktur der Familie. Neben sozio-ökonomischen Fragen der Arbeitsteilung gehen von der Frauenbewegung starke Impulse für ein anderes Verständnis und einen neuen Umgang mit unserer Körperlichkeit aus; die „neue Sinnlichkeit" verdanken wir der Frauenbewegung.

Habermas sieht den Feminismus als einzig offensive Bewegung „in der Tradition der bürgerlich-sozialistischen Befreiungsbewegungen" für die Verwirklichung der Gleichberechtigung, während alle anderen einen eher defensiven Charakter haben „als Widerstand gegen Tendenzen einer Kolonialisierung der Lebenswelt“

Ähnlich wie die Frauenbewegung hat auch die Homosexuellenbewegung ein ganzes Netz eigener Projekte auf die Beine gestellt und ist auch sonst aktiv an anderen Projekten beteiligt.

Inzwischen ist die Friedensbewegung zu der Bewegung mit der größten Mobilisierungskraft geworden. Die großen Demonstrationen sind Indiz genug. Personell und institutionell anfangs vor allem mit kirchlichen, besonders evangelischen Gruppen verbunden, trugen linke und grüne/alternative Gruppierungen zur weiteren Ausbreitung bei Die politische Bedeutung der Friedensbewegung wird weiter anwachsen, je näher der Zeitpunkt der geplanten Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenwaffen in Europa rückt.

Altbundeskanzler Helmut Schmidt bemängelt heute schon das Nachlassen des deutschen Drucks auf die Genfer Verhandlungen der Supermächte Die Bedeutung der Friedensbewegung wird auch in dieser Hinsicht darin liegen, die Verwirklichung der „Nach" -Rüstung politisch nicht durchsetzbar zu machen. Ihre zentrale Kritik zielt auf eine immer größere Anhäufung militärischen Vernichtungspotentials, die nicht mehr Sicherheit bringe, zielt auf die Abschreckungsdoktrin und auf die Tatsache, daß immer mehr ökologische und ökonomische Ressourcen in die Vernichtungsmaschinerie investiert werden, während immer mehr Menschen verhungern. Untrennbar mit dieser Kritik verbunden ist die Forderung nach sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen, die Rüstung und Krieg nicht länger begünstigen und die immer offenere Militarisierung verhindern.

Wesentliche Erscheinungsmerkmale der Friedensbewegung sind vor allem das offene Bekenntnis zur . Angst“, der Einsatz der Emotionen gleichsam als „Waffe“ gegen die „Sicherheitstechnokratie“, die Spontaneität der Aktionen und die Bereitschaft und Entschlossenheit des weitaus größten Teils, mit allen gewaltfreien Mitteln gegen die Stationierung neuer Atomwaffen und die entsprechenden Vorbereitungen vorzugehen Ihr Grundsatz der Gewaltlosigkeit und die Prinzipien der gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams bzw. Widerstandes sind inzwischen in viele andere Strömungen diffundiert.

Die „Dritte-Welt“ -Initiativen argumentieren ähnlich politisch. Sie beziehen ihre Kritik auf das Nord-Süd-Verhältnis als Ausbeutungsverhältnis des Kultur-und Wirtschaftsimperialismus. Viele Projekte, z. B. „Eine-Welt-Läden“, haben ihren Platz in der alternativen Kultur. Gegen Einschränkungen bürgerlicher Rechte und Freiheiten haben sich sogenannte Bürgerrechtsbewegungen gebildet; zu nennen wäre hier z. B. die „Humanistische Union“, „Initiativen gegen Berufsverbote", „Kampagnen gegen Isolationshaft", auch viele Kriegsdienstverweigerer-Organisationen, die sich gegen die Einschränkung des Grundrechts zur Wehr setzen.

Die undogmatische . Neue Linke'ist wohl am ehesten als Nachfolger der Studentenbewegung und APO späten Jahre der sechziger anzusehen. Es läßt sich eine Kontinuität maßgebender Personen des universitären und intellektuellen Milieus und der politischen Theorie feststellen, die sich der Kapitalismus-kritik widmen. Zunehmend wird ein Dialog und eine Verbindung zwischen linker und Alternativbewegung angestrebt, wie das Beispiel des . Sozialistischen Büros'zeigt. Ihre Alternative umschreibt Huber als „libertären Selbstverwaltungssozialismus“

Die Spontis, Mitte der sechziger Jahre vorwiegend im universitären Bereich auf den Plan getreten, legten wider alle Dogmatik die Traditionen der anarchistischen Theoretiker frei. Sie entwickelten den politischen Stil, der das Lustvolle betont, der von den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Betroffenheit ausgeht und die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt betont. Ihr Spruch ist: „Wir wollen alles, und zwar jetzt." Die . Stadtindianer'verkörpern Sponti-Ideale vielleicht am ausgeprägtesten

Neben der meist als „sexuelle Befreiung“ konzipierten Emanzipationsbewegung mit ihrem ausdrücklich politischen Anspruch (Freud, Reich, Marcuse) in der Folge der Studenten-bewegung entwickelte sich Anfang der siebziger Jahre eine Art Psycho-Bewegung mit einer regelrechten Explosion verschiedenartiger Therapien und Gruppen Allein ihre Aufzählung könnte Seiten füllen; man beachte nur die Kleinanzeigen der einschlägigen alternativen Presse. Die Psychobewegung ist eine Revolte gegen rationalistischen und bloßen analytischen Intellektualismus. Sie greift das Bedürfnis auf nach Hilfe in psychischen Krisen und nach Hinwendung zu einer mehr ganzheitlichen Welterfahrung, nach unversehrter Sinnlichkeit und Körperlichkeit. Religiöse Sekten und „neuer Spiritualismus“ begründen sich ähnlich, liegen aber ideell und personell außerhalb des „alternativen Spektrums". 3. Ergebnisse empirischer Untersuchungen Ende April 1981 stellt die Konferenz der Innenminister der Länder fest, daß das jugendliche heute breiter Protestpotential sei als am Ende der sechziger Jahre und weiter zunehme Zahlenangaben haben allerdings begrenzte Aussagekraft; es mehren sich die Vorbehalte gegen die Wahrnehmungsfähigkeit konventioneller repräsentativer Erhebungen angesichts neu aufkommender sozialer Bewegungen und ihrer Erscheinungsformen Einige Ergebnisse empirischer Untersuchungen seien dennoch referiert.

Daten zu Umfang und Potential Die m. E. umfassendste, wohl auch methodisch gründlichste Untersuchung liegt mit einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von Christian Krause, Detlef Lehnert und Klaus Jürgen Scherer vor. Ihre Ergebnisse lassen den „großen Einfluß der alternativen Kultur“ deutlich werden, „die nicht leichtfertig als unbedeutendes Randphänomen Frankfurts oder Berlins abgetan werden darf“

Die Studie geht der subjektiven und objektiven Zugehörigkeit zur Alternativkultur nach und leuchtet den „Zwischenkulturbereich“ aus:

— 80 bis 90 % der Studenten tolerieren die alternativen Wertvorstellungen, wobei etwa für die Hälfte die . soziokulturelle Integration'überwiegt, während bei der anderen Hälfte bereits starke Affinitäten zur Alternativkultur vorherrschen

— Fast ein Viertel aller Studenten nimmt für sich in Anspruch, selbst im weitgehendem Umfang alternative Lebensformen zu praktizieren

— Diese Subjektive Einschätzung vollziehen noch mehr Befragte, als bei Zugrundelegung soziokultureller Kategorien tatsächlich der alternativen Kultur angehören. Die Autoren entwickeln auf der Basis aller Dimensionen der Alternativkultur fünf soziokulturelle Typen, die den Grad alternativer Gesamtorientierung zum Ausdruck bringen. Die soziokulturelle Typologie erbrachte folgende Verteilung: Typ A: affektiv-integriert 4, 8 % Typ B: gleichgültig-integriert 14, 8% Typ C: kritisch-integriert 32, 8 % Typ D: zwischen den Kulturen 36, 2 % Typ E: alternativkulturell 11, 9% Demnach gehören 11, 9% der Studenten der alternativen Kultur an. In Frankfurt sind es sogar 20, 1 %, in Bonn dagegen nur 5 %, in Berlin 13, 5 %

— Nur eine Minderheit von 5 % vertritt die . Auffassung einer ideologischen Überhöhung des alternativen Lebens“.

— Ebenso lehnen nur etwa 5% die neuen Lebensformen grundsätzlich ab

— überraschend wirkt, daß die Studenten im Zwischenkulturbereich mit 36, 2 % die größte Gruppe darstellen. Dieser Typ ist weder ganz der alternativen Kultur zuzurechnen, noch vertritt er durchgehend die Auffassungen der Mehrheitskultur; zwar werden bereits gesellschaftliche Werte entscheidend in Frage gestellt, dies hält sich jedoch mit einer kritischen Distanz zur Alternativkultur die Waage Interessant ist das Ergebnis in zweierlei Hinsicht: Einerseits gewinnt damit das Phänomen alternativer Orientierung weiter an Bedeutung, denn insgesamt bei fast 50 % sind deutliche Einflüsse alternativer Einstellungen vorhanden; andererseits weist dies darauf hin, daß die Übergänge zwischen . Mehrheitskultur'und Alternativkultur tatsächlich fließend sind

Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. In einer Shell-Studie wird ein Potential der Alternativkultur festgestellt, das für den repräsentativen Querschnitt der Jugendlichen bei etwa 10 Prozent liegt, bei Oberschülern und Studenten einige Prozentpunkte höher

Greiffenhagens Angabe eines Protestpotentials von 27, 3%, die auf einer Untersuchung von Kaase und Marsh beruht, ist wohl in diesem Zusammenhang nicht vergleichbar, da diese eine Typologie des politischen Verhaltensrepertoires darstellt

Oltmanns zitiert eine Allensbach-Umfrage von 1978, die den Anteil jugendlicher „Aus-Steiger" mit 13% der 17-bis 23jährigen angibt

Eine repräsentative Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung macht 15% der Jugend der Bundesrepublik Deutschland aus, „die nicht in das Modell der obrigkeitlichen Wohlstands-demokratie passen, die sich auch nicht eingepaßt haben. Sie sind das Protestpotential unserer Tage. Diese Jugendlichen haben zur Demokratie in der Bundesrepublik, zur industriellen Leistungsgesellschaft und zu den sozialen und wirtschaftlichen Wertorientierungen eine wesentlich kritischere Einstellung und lehnen das gesamte . System'der Bundesrepublik mehr oder weniger ab. 15 Prozent das sind immerhin 1, 3 Millionen Jugendlicher von 14 bis 21“

Die Zahlenangaben liegen also zwischen 10 und 15%. Zweifellos jedoch werden Gedankengut und alternative Lebenspraxis von einem noch viel größeren Teil der Jugend aufgenommen

Analyse des politischen Verhaltens

In der Analyse des politischen Verhaltens der Studenten treffen Krause/Lehnert/Scherer einige Feststellungen von beträchtlichem politischen Gewicht:

— die Alternativkultur selbst entscheidet sich klar zu 74, 8% dafür, daß die Bunten/Alternativen Listen ihre Vorstellungen am ehesten vertreten; die SPD wird hier fast überhaupt nicht mehr genannt (5, 6%);

— die Studenten „zwischen den Kulturen" sind auch in bezug auf ihre Parteiorientierung weder ganz „integriert" noch bereits „alternativ": Sie stehen zwischen der Sozialdemokratie (36, 3%) und den Bunten/Alternativen Listen (44, 9%); .

— die auf die Sozialdemokratie orientierten Studenten befinden sich am häufigsten im Bereich der „kritisch-integrierten“ soziokulturellen Werthaltungen (TypC: 46, 6% SPD-Präferenz); — die affektiven Gegner der Alternativkultur sind zu über 50% der Meinung, daß die CDU ihre politischen Vorstellungen am ehesten vertritt — Die Entwicklung der Wahlentscheidung der Alternativkulturmitglieder seit 1972 (die Studie erschien 1980) ist geprägt durch eine einbruchartige Abwendung von der Sozialdemokratie. Diese Tendenz setzt sich auch in der Zwischenkultur fort; sie verstärkt sich, schreiben die Autoren 1980, bei „einer Verhärtung der bisherigen Politik" und bei einer realen Chance alternativer Wahlmöglichkeit, denn die Studenten „zwischen den Kulturen“ hätten überwiegend bisher das „kleinere Übel" gewählt (52, 1 %) • — Im Zusammenhang des Themas ist der Hinweis wichtig, daß es sich bei der Alternativkultur überwiegend um ein Phänomen der Aktivierung handelt Fast niemand empfindet seine . Alternativität“ subjektiv als einen apolitischen Rückzug; eher wird in dem alternativkulturellen Lebensstil durchaus auch ein Weg gesellschaftlicher Veränderung gesehen. Entsprechend steigt mit zunehmender Alternativität auch das politische Interesse

— Die Universität hat als Institution, über die sich gesellschaftspolitische Identität bildet, für die Alternativkultur nur noch geringe Bedeutung Geistes-und sozialwissenschaftliche Fachrichtungen sind in der Alternativkultur stark überrepräsentiert

Alternativkultur und soziale Schichtung Empirisch ergibt sich ein klarer Zusammenhang zwischen Alternativkultur und sozialer Schichtung: In der Alternativkultur sind vor allem die Studenten aus traditionellen Mittel-schichten stark überrepräsentiert. Studenten aus der Arbeiterklasse und aus dem Großbürgertum sind deutlich unterrepräsentiert. Die . neuen Mittelschichten'sind überproportional im Bereich des kritisch-integrierten Typs anzutreffen

Ein deutlicher Zusammenhang besteht auch mit einer familiären Sozialisation, die deutliche Defizite aufwies. Die Abwendung von den traditionellen soziokulturellen Werten erfolgt um so stärker, je problemreicher die Beziehungen zum Elternhaus waren. Die Konflikt-ursache liegt darin, daß das Elternhaus sich den Kindern als Orientierungsgröße, auch im „Sinne des konfliktorischen Aufarbeitens", entzog In dem Maße, in dem der elterliche Einfluß auf die Kinder abnahm, stieg die Bedeutung einer „Gegensozialisation“ 4. Alternative Projekte Joseph Huber legt ein anderes Verständnis der Alternativbewegung zugrunde: „Definitiv zu fassen“ bekomme man diese „in ihren Strukturen, das heißt, in ihren selbstorganisierten Projekten von Landkommunen und Handwerkskollektiven über Läden, Kneipen, therapeutischen und künstlerischen Gruppen bis hin zu politischen Komitees". Alternativ-bewegung bedeutet hier „die Gesamtheit aller selbstorganisierten Projekte, deren Mitglieder sich von einzelnen, mehreren oder allen ihren Ideen der genannten Strömungen mehr oder weniger umfassend leiten lassen" Sogenannte autonome Arbeitskollektive, in der Mitte der siebziger Jahre verstärkt aufgekommen, sind Kleinbetriebe mit wenigen Arbeitern. Die Fluktuation ist meistens hoch, die Lebensdauer gelegentlich noch sehr kurz, es wird sehr viel experimentiert und improvisiert. Beispiele solcher Arbeitskollektive sind die vor allem in Großstädten entstandenen Kfz-, Fahrrad-und Elektrowerkstätten, die Tischlerei-, Taxi-, Transport-und Entrümpelungskollektive, die biologischen Lebensmittelläden, Druckereien, Buchläden, Kneipen und Cafs. Das Selbstverständnis dieser Kollektive basiert auf dem Versuch, bestehende Karriere-und Konsummuster durch neue Werte wie solidarische Kooperation und Selbstverwirklichung zu ersetzen

1980 gab es in der Bundesrepublik und West-Berlin etwa 11 500 Projekte mit etwa 80 000 aktiv Engagierten. Unter Hinzurechnung der Sympathisanten schätzt Huber den quantitativen Umfang der Alternativbewegung auf 300 000 bis 400 000 Menschen. Die meisten Projekte sind im Bereich der Dienstleistungen (70%) und der politischen Arbeit (18%) angesiedelt, dagegen nur 12 % in der Produktion. Den Schwerpunkt der Tätigkeit bildet weiter . Kopfarbeit’ (71 %) und nicht . Handarbeit’ (29 %).

Bei einem Vergleich der Verteilung alternativer Projekte mit der Verteilung der Arbeitsstätten in den Betrieben und sonstigen privaten und öffentlichen Institutionen zeigt sich zweierlei: Erstens werden bei gut 60 % der Alternativ-projekte (gegenüber 5— 10 % im . System] politische Inhalte, das heißt gesellschafts-und lebensverändernde Ansprüche transportiert. Damit sind die Verdikte manch . linker'Kritiker schnell entkräftet, die Alternativbewegung sei . unpolitisch'.

Zweitens scheint an den unterschiedlichen Anteilen von Produktion und Dienstleistungen die Entwicklung zu einer nachindustriellen Dienstleistungsgesellschaft erkennbar. Damit käme der Alternativbewegung eine Avantgarde-Funktion'zu: „von der Produzentenavantgarde des Proletariats, wie sie in den Arbeiterparteien organisiert war, zu der Konsumentenavantgarde, wie sie sich in den Projekten der Alternativbewegung organisiert." Allerdings wäre die Grundannahme einer solchen Systemausdehnung durch „Dienstwirtschaft" weiteres Wachstum

Die „balancierte Dualwirtschaft“

Alternative’ Theoretiker fordern dagegen eine „balancierte Dualwirtschaft" mit einer entsprechenden Lebensstil-und Systemveränderung Die Dualität besteht dabei zwischen dem institutionellen Wirtschaftssektor einerseits, in dem registrierte Arbeit als Erwerbstätigkeit geleistet wird, und dem informellen Sektor andererseits, in dem gemeinschaftliche und individuelle, in der Regel nicht bezahlte Eigenarbeit geleistet wird, z. B. Hausarbeit, Nachbarschaftshilfe, Freizeitarbeit etc.

Ziel einer dualwirtschaftlichen Perspektive ist „die Wiedereinbettung der Technosysteme in das soziale Leben". Die Balance besteht in einer „symbiotischen Komplementarität zwischen den Wirtschaftssektoren, zwischen Lohnarbeit und Eigenarbeit, zwischen professioneller Fremdarbeit des Marktes und persönlichen Eigenleistungen der Lebensgemeinschaften“

Nun sind am „unteren Rand der Kleinstrukturen des Systems, dort besonders an der Naht-stelle zwischen formellem und informellem

Sektor" 73), die alternativen Projekte angesiedelt, die in ihrer Struktur mal mehr dem einen, mal mehr dem anderen Sektor entsprechen

Professionelle Projekte 25 % Duale Projekte 35 % Freizeitprojekte 40 % Duale Projekte sind teilweise markt-und teilweise subsistenzorientiert, arbeiten teils für . draußen'und teils . für sich'; ihre Mitglieder ziehen z. T. einen Verdienst aus dem Projekt, z. T. auch nicht; sie arbeiten teils regelmäßig, teils nur gelegentlich mit Die dualen Projekte nehmen eine zentrale Position ein, nämlich im Übergangsfeld zwischen dem informellen und dem formellen Sektor und könnten so Ansatzpunkte ökonomischer Veränderung zu einer Dualwirtschaft sein.

Allerdings ist gerade das Konzept der Dual-wirtschaft äußerst umstritten, zumindest, wenn es sich — angesichts der Massenarbeitslosigkeit — als ökonomische Alternativ-strategie auf den informellen Sektor konzentriert und den formellen vernachlässigt. Rudolf Hickel kritisiert, gerade auch die Entfremdung im Bereich der traditionellen Erwerbswelt sei abzubauen. Dies dürfe nicht „linksalternativ" liegen gelassen werden. Weiterhin befinde sich der informelle Sektor in finanzieller Abhängigkeit und könne nur insularen Charakter beanspruchen

Veränderung durch eine „alternative Ökonomie“? Bislang allerdings die alternativen scheinen Projekte als Ansatzpunkt zur Veränderung des industriellen Wirtschaftssystems sowieso nur beschränkt tauglich Die Vorstellung einer „alternativen Ökonomie", eines „autonomen Wirtschaftsbereichs" oder gar einer „Gegenökonomie" erweist sich als Trugbild, denn diese ist „direkt oder indirekt fast völlig von öffentlichen Mitteln“ abhängig Nur ein Viertel der . Aktiven'lebt von ihren Projekten — und das mehr schlecht als recht Der chronische Kapitalmangel muß oft durch Mehrarbeit und Konsumverzicht wettgemacht werden: „Dilettantismus, Psychochaos, uneffektive Selbstausbeutung, extremer Konsumverzicht, Sozialstaats-und sonstige Subventionsabhängigkeit" tragen zu einer sehr unguten Entwicklung bei, nämlich zur Ausdehnung des doppelten Arbeitsmarktes und einer Doppelwirtschaft (statt einer Dualwirtschaft): Im formellen Sektor gibt es die guten Jobs, mit guter Bezahlung, mit gesicherten Arbeitsbedingungen, Kündigungsschutz und Krankenversicherung — eben die Errungenschaften der Arbeiterbewegung —; im informellen Sektor dagegen bildet sich ein neuer Stand aus: . alternative'Tagelöhner und Almosenempfänger ohne soziale Sicherheiten

Offensiv geht der Berliner Arbeitskreis zur Finanzierung von Alternativprojekten gegen die Gefahr vor: Die Alternativprojekte „proklamieren das Ende ihrer Bescheidenheit“. Mit beschäftigungspolitischen, wirtschafts-, stadt-, jugend-und sozialpolitischen Argumenten fordern sie die Förderung alternativer Projekte in Höhe von erst einmal jährlich 20 Millionen DM, in naher Zukunft 40 bis 50 Millionen! Die Mittelvergabe soll über den Arbeitskreis erfolgen, „dem die Mittel pauschal und ohne Auflagen zugewendet werden, und der autonom über die Mittelverwendung entscheidet"

Bescheidenheit ist denn auch nicht vonnöten, wenn die Alternativprojekte inzwischen eine bedeutende — aber auch zwiespältige — Rolle als para-sozialstaatliche Einrichtung wahrnehmen Sie gelten auch in . etablierten'Kreisen als Modell „präventiver Sozialarbeit", denn . Hilfe zur Selbsthilfe'ist ihr Programm, und sie vermögen gerade . schwierige Fälle'zu integrieren, was sozialstaatliche Einrichtungen auch mit höherem finanziellen Aufwand oft nicht zuwege bringen. Sie entlasten Arbeitsmarkt und Sozialstaat gleichermaßen Ihre damit auch systemstabilisierende Funktion kompensieren sie zu Recht durch eine offensive Strategie.

Viel eher als die Systemreform scheinen die Projekte bisher einer „allgemeinen Lebensreform" zu dienen: „Selbstveränderung betreiben sie um vieles wirksamer als Systemveränderung. Ihre Erfolge liegen also nicht in der Weiterentwicklung der Produktionsweise, sondern mehr in der alltäglichen Lebens-und Arbeitsweise.“ Dies kann nicht die Antwort auf die ökonomische Krise sein; es ist dennoch ein wichtiger und notwendiger Anstoß.

III. Inhalte und Strukturen alternativer Kultur: Bemerkungen und Fragmente

Alternative Kultur ist aber nicht die Summe der über sie erhobenen empirischen Daten. Sie läßt sich zwar in den Projekten näher fassen, ist aber auch so nicht inhaltlich zu fixieren. Die Alternativkultur hat keine einheitliche Ideologie; ihre . Ideologie'ist die Un-Einheitlichkeit, ist die Nicht-Ideologie.

Deshalb möchte ich formulieren: Die Alternativkultur zu begreifen, heißt ihre Ungreifbarkeit zu begreifen. Soziale Bewegung läßt sich eben kaum statisch feststellen, ihre Dynamik ist kaum zu fixieren, ihre Heterogenität kaum zu homogenisieren, ihre Vielfalt kaum zu vereinheitlichen; ihre Erscheinungsformen sind kaum unter einen Begriff zu fassen: Der Zugang zu Inhalten und Strukturen alternativer Kultur muß fragmentarisch bleiben. 1. Zum Stichwort Sprachlosigkeit:

Die . Ästhetik'der Bewegung „Sprachlose Ohnmacht an allen Fronten", seufzt die Frankfurter Rundschau nach einer Life-Sendung des ZDF am 11. Februar 1981 zum Thema: „Eine neue Jugendrevolte?". Die Sendung, die vorzeitig abgebrochen wurde, geriet zu einem der seltenen Glanzlichter im grauen Fernseh-Alltag, über die Jugendrevolte wurde nicht (nur) geredet, sie wurde im Studio gemacht: Der Rasen der . bundesdeutschen Wohlanständigkeit'und des . Fernseh-Biedersinns', der Ausgewogenheit und Hofberichterstattung'wurde von den eingeladenen Hausbesetzern nicht nur ungeniert betreten, sondern auch lustvoll zertrampelt.

Sprachlos war aber niemand in der Diskussion. Alle Beteiligten konnten ihren Standpunkt redegewandt und selbstsicher darstellen. Nicht die Sprachlosigkeit, meint Jörg Bopp, sondern die Sprachverschiedenheit und die Verständnisunfähigkeit waren der Konfliktpunkt Der Abbruch der Sendung war realistischer Ausdruck der Dialogunfähigkeit beider Seiten.

Die Eidgenössische Kommission stellt denn auch fest: „Die Jugendunruhen haben sehr viel mit Sprachlosigkeit zu tun. Aber die Jugendbewegung ist keineswegs sprachlos.“ Die Verweigerung akzeptierter Dialog-und Konfliktmuster mag sprachlos machen, aber sie selbst ist nicht sprachlos. Die Jugendlichen haben eine neue, eigene Sprache, oder vielmehr: Sie sprechen viele verschiedene Sprachen, die nicht „die herrschende" ist „Auf jeden Fall steht A für Auf und B für Bruch. C steht für Chaos formuliert Benny Härlin

Die Verweigerung akzeptierter Kommunikation schafft alternative Kultur. In Zeitungen, auf Hauswänden, im Umgang miteinander, in der alltäglichen Sprache, in den Formen von Aktionen und Happenings findet eine Art Kulturrevolution statt: „Die Ästhetik der Bewegung zeigt sich in der Totalität ihrer Ausdrucksmittel, die sich als Anweisungen auf ein ganzes und intaktes Leben verstehen. Man . besetzt'die Wände, die man bewohnt, mit Bildern eigener Ängste und Wünsche, meist spontan, manchmal in kunstmäßiger Absicht.... Dennoch ist der Eindruck der Geschlossenheit, zu der sich dieser Wildwuchs zusammenfügt, bestechend auch für das . künstlerische'Auge: Diese Organe demonstrieren nicht nur für den Traum, daß Anarchie machbar sein kann, sie belegen ihn."

Dennoch: „Die ästhetische Reflexion der Jugend-Bewegung legt, was Wahrnehmung auslösen könnte, in einem Museum exotischer Objekte ab." Die Ästhetik der Bewegung ist auch politisch. Eine Beschränkung auf nur ästhetische Qualitäten würde die politischen Qualitäten alternativer Kultur verkennen.

Dann wären auch Wolfgang Kraushaars Zweifel an der „eigentlichen Zielsetzung" der Alternativkultur angesichts des Wandels „des Realisierungsmediums für die politischen Ab-sichten, vom revolutionären Kampf zum alternativen Kulturbetrieb", kaum mehr von der Hand zu weisen: „Denn hierbei vollzog sich nicht einfach nur eine Akzentverschiebung vom Attribut . politisch'auf das Attribut . kulturell', sondern zugleich auch ein entscheidender Ebenenwechsel von der Politik zur Ästhetik und damit von der Praxis zur Anschauung."

Doch es scheint, Kraushaar geht von einem traditionellen Politikverständnis aus und wirft der Alternativkultur vor, dieses nicht zu haben. Er kritisiert gerade ihre Stärke. Seine Trennung von . politisch'und . kulturell’, von Politik und Ästhetik, von Praxis und Anschauung scheint mir ein Beispiel zu sein für die „Disjunktion von Wollen und Handeln", die Offe als „Strukturprinzip der bürgerlichen Demokratie" bezeichnet hat Es wäre dann vielleicht schon ein Zeichen wachsender politischer Identitätszerstörung, nimmt man ein „Realisierungsmedium für die politischen Absichten“ zur Prämisse. Instandbesetzer z. B. schaffen in der Regel nicht neuen Wohnraum, um politische Absichten zu transportieren, sondern um ganz konkret Wohnungsnot zu beheben und neue Wohnformen zu leben, d. h. sie verhalten sich nicht primär taktisch. Alternativkultur ist also oft nicht . Realisierungsmedium', sondern unmittelbare Realität 2. Zum Stichwort Chaos: Die Politik der Graswurzelrevolution „Es gibt Wurzelunkräuter, die sind lästig und kaum ausrottbar. Sie verbreiten sich durch unzählige Wurzeln (= Rhizome) unterhalb der Erdoberfläche, die zu einem dichten Geflecht verwachsen ... Es nützt nichts, einzelne Triebe herauszuziehen. Solange noch die winzigste Wurzel im Boden ist, werden neue Triebe sprießen." Dieses Bild für eine alternative Strategie ist einfach und klar. Es bedeutet die Organisationsstruktur des Chaos.

Alternativ bedeutet hier: anders leben, als der Status quo der nachbürgerlichen Gesellschaft es den Individuen vorgibt, anders kämpfen als die überlieferte revolutionäre oder reformistische Politik — anders nach Form und In-halt Form und Inhalt haben die unterschiedlichsten Ausprägungen; alle haben eines gemeinsam: der Angriffspunkt ist regional, lokal — „punktuelles Gewimmel, ungreifbar, bewegliches Territorium, gleichwohl Territorien, unzugänglich für den homogenen Raum". Alle Aktionen, defensive oder militante, sind heterogen und auf Diffusion, auf allgemeine Verbreitung und Partizipation hin angelegt

In der neuen Organisationsstruktur haben weder Drahtzieher noch Rädelsführer das Sagen; in den einzelnen Gruppen besteht gleichwohl ein fester Zusammenhalt. Politik und Privates fällt zusammen, wenn die . Politiker'zusammenwohnen. Die Meinungsbildung ist gekennzeichnet durch offene Diskussion und Konsensbildung ohne Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip; wenn dies nicht klappt, bleiben Widersprüche stehen; beim Berliner Besetzerrat z. B. erfolgte dann die Dezentralisation. All dies ergibt „ein Geflecht von Beziehungen, das zwar größere und kleinere Knoten hat, aber keine Zentren. Es ist in seiner Meinungsbildung ausgesprochen schwerfällig, doch in seiner Aktionsfähigkeit schnell, phantasievoll und vor allem: unberechenbar''

Diese Organisationsstruktur korrespondiert mit einem neuen Politik, konzept': „Politik der ersten Person". Politik wird nicht über, sondern in den Köpfen der Bürger gemacht wird nicht nur mittels der Projekte, sondern vor allem in ihnen getrieben. Huber beschreibt die Politik der Graswurzelrevolution so: Die Subkultur verlege sich auf außerparlamentarische und oft auch außergesetzliche bzw. vorgesetzliche Handlungsweisen. Ihr Vorgehen folge quasi instinktiv anarchischen Impulsen. Es sei spontaneistisch, nicht langatmig organisiert; es sei emotional, nicht immer gerade rational durchkalkuliert; es sei eher bauernschlau als planvoll-strategisch und folge subkulturellen Lustprinzipien und nicht dem, was , den Etablierten'als Realität gilt Der Vorwurf, die Alternativen seien Chaoten, sie seien unberechenbar und deshalb nicht ernst zu nehmen, zielt ins Leere; er hat Ver-spätung, weil die Adressaten sich selbst so sehen: Benny Härlin schreibt: „Unsere Power ist auch, daß wir wenig zu verlieren haben“, ist gerade, keine Stellvertreterpolitik zu machen, keine gemeinsame Überzeugung zu haben und unberechenbar zu sein

Wer „in der vielschichtigen und unstimmigen Radikalität der Bewegung unauflösliche, die Handlungsfähigkeit der Bewegung lähmende Widersprüche“ sieht, verkennt, daß „gerade diese widersprüchliche Offenheit die Bewegung befähigt, die Teilinteressen unmittelbar Betroffener an den empfindlichsten Schwachstellen der Gesellschaft... zu mobilisieren" Wer die mangelnde Vereinheitlichung beklagt, verkennt das interne Organisationsprinzip, verkennt diese „Politik der kleinen Feuerstellen''

Wir haben lange genug über Entfremdung geredet; Versuche, diese aufzuheben, und sei es auf winzigen Inseln, haben allemal Berechtigung Fraglich bleibt vorerst nur, wie weit die gesellschaftlichen Prozesse reichen, die auf diesem Wege ausgelöst werden. Muschg stellt die ernst zu nehmende Frage: Kann sich das Chaos ausbreiten, ohne sich zu verzehren? 3. Zum Stichwort Ziellosigkeit: Der aufrechte Niedergang der Theorie Klar formulierte und logisch geordnete Ziele „der Bewegung" gibt es nicht „Wir wollen keine Ideologie, gar nichts, einfach Luft haben, ... wir wollen atmen können", erklärte Hans Pestalozzi dem STERN Oder in der krassen Sprache der Berliner Spontis: „Wir haben keine Böcke auf Dogmas.“

Die Bewegung deshalb ziellos zu nennen, scheint fragwürdig. Wer auf die Suche nach einem geschlossenen Gesellschaftsentwurf der Alternativkultur geht, wird enttäuscht; er wird höchstens Bruchstücke finden. Daß die Bewegung in weiten Teilen theorielos sei, darin stimmen Aktivisten und Theoretiker überein. Ungleich verteilt ist nur der Schmerz, den diese Aussage zufügt. So recht betroffen scheinen vorerst nur die Theoretiker zu sein, „denn für . altlinke Hirnwichser'gibt es in der Bewegung zwar kein Berufsverbot, doch erst recht keine Planstellen"

Getrübt ist denn auch das Verhältnis zwischen Alternativen und der , 68er-Generation. Die einen werfen den , Apo-Opas“ vor, diese hätten immer noch nicht begriffen, wofür sie kämpften Die anderen entdecken angesichts ihrer . Widersacher'den „Neuen Sozialisationstypus", forsch „NST‘ abgekürzt. Dieser Typ sei zu kontinuierlicher Polit-Arbeit nicht fähig, sein „narzißtischer Charakter" erschöpfe sich in unstetem Spontitum, ausgeprägtem Individualismus und Ungeduld

Die Theorielosigkeit in weiten Teilen der Alternativkultur ist nicht durch mangelnde Theorieangebote erklärbar; die Alternativkultur verweigert sich vielmehr der Adaption theoretischer Gebäude. Das Begriffsinstrumentarium stünde ja bereit, die Regale in den Seminaren wären jeder Nachfrage gewachsen: die Traditionen marxistischer Analyse, Reich, Habermas, Marcuse usw. wären fruchtbar zu machen. Tilman Spengler weist darauf hin, wie naheliegend, wie passend doch deren Begriffe in der jetzigen Stimmung wären: Entfremdung von der Arbeit, vom Staat, Konsum-zwang, Warenfetischismus, Selbstbestimmung, Kolonialisierung der Lebenswelt, Eindimensionale Gesellschaft, radikale Verweigerung, neue Sensibilität usw. Ein ganzer Steinbruch liege für die Bewegung brach. Alles sei schon fein säuberlich vorgedacht, doch so rechte Begeisterung löse das Theoriewerk bei denen, die es betreffen könnte, nicht aus.

Sie kennen es gar nicht

Bislang jedenfalls war wenig Bereitschaft zu erkennen, so etwas wie eine intellektuelle Kontinuität herzustellen. Am Angebot also liegt es nicht; weite Teile verweigern sich den Theorien von vornherein. Die Rede ist von einer „neuen Politik, die aus dem Bauch herauskommt" Ein Argument überzeugt nicht mehr allein durch die Strenge der Gedanken-führung, die Brillanz der Formulierung und seine kritische Kraft, sondern durch die „Verbindung mit lebensgeschichtlicher Authentizität, die es vermitteln kann"

Persönliche Erfahrung statt Theorie heißt die Devise. Michael Rutschky beschreibt in seinem Essay „Erfahrungshunger“ die Abkehr von der „Utopie der Allgemeinbegriffe", von der Theorie zur Erfahrung, die sich seit dem Ende der sechziger Jahre vollzieht. Eine neue, eine „negative Utopie" entsteht: „eine Utopie der Unbestimmtheit, des Vagierens, der Strukturlosigkeit und Entgrenzung. Jederzeit muß jede Veränderung möglich sein. Vor dem Hintergrund dieser Utopie erscheint alles, was nach Bestimmung, Schema, Identität aussieht, schon auf den ersten Blick als Inbegriff von Einschränkung und Entfremdung.“ Die Utopie der Unbestimmbarkeit habe sich in den siebziger Jahren „mit einer derart unwiderstehlichen Überzeugungskraft durchgesetzt, daß jede fixierte Formulierung schon als Verrat an dieser Utopie erscheint. Deshalb muß jede Formulierung inauthentisch wirken; die hungrige Suchbewegung geht weiter" Der „Niedergang der Theorie“ und die Einsetzung des „Bauchs als Avantgarde" birgt Gefahren in sich. Denken, zumal politisches, so meint man, könne kaum aus dem Dilemma helfen. Diese antiintellektualistische Tendenz steckt auch in dem Wahlspruch der Berliner Fabrik-Kommune: „In einer Stunde der Tat steckt mehr Wirklichkeit als in dem Gerede von Jahren.“ Die Forderung einer alternativen Zeitung: „Wir müssen wieder lernen, vorwärts zu träumen“ droht nach rückwärts auszuschlagen, wenn sie irrational bleibt.

Der . Niedergang der Theorie'kann nur ein aufrechter Niedergang sein, wenn diese dialektisch . aufgehoben'wird; d. h. im dreifachen Wortsinn von . aufheben'(bewahren, beseitigen und emporheben): sie muß bewahrt bleiben, wenn sie in Frage gestellt und ein anderes Verhältnis zu ihr gesucht wird.“ Der Traum ist nur nach vorwärts gerichtet, wenn er nicht Vergangenes nach-träumt, sondern Zukunft vorwegnimmt, wenn er Utopie einholt, wenn er, wie Ernst Bloch sagt, Antizipation ist „Wird doch der Blick nach vorwärts gerade stärker, je heller er sich bewußt macht. Der Traum in diesem Blick will durchaus klar, die Ahnung, als rechte, deutlich sein. Erst wenn Vernunft zu sprechen beginnt, fängt die Hoffnung, an der kein Falsch ist, wieder an zu blühen. Das Noch-nicht-Bewußte selber muß seinem Akt nach bewußt, seinem Inhalt nach gewußt werden, als Auf-dämmern hier, als Aufdämmerndes dort. Und der Punkt ist damit erreicht, wo gerade die Hoffnung, dieser eigentliche Erwartungsaffekt im Traum nach vorwärts, nicht mehr nur ... als bloße selbstzuständliche Gemütsbewegung auftritt, sondern bewußt-gewußt als utopische Funktion.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Peter Glotz, Staat und alternative Bewegungen, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur . Geistigen Situation der Zeit', Bd. 2, Politik und Kultur, Frankfurt a. M. 1979, S. 474— 488, hier S. 478.

  2. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Jugendprotest im demokratischen Staat. Zwischenbericht 1982 der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages gemäß Beschluß vom 26. Mai 1981, Bonn 1982, S. 17.

  3. Schöneberger Besetzerrat, Damit ihr wißt, wo’s lang geht, in: Frankfurter Rundschau vom 3. 12.

  4. Vgl. Klaus Dörre, Jugendprotest und Jugendpoliuk. Zur Reaktion der Bundestagsparteien, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 26, 1981, H. 11, S. 1369— 82.

  5. Thomas Ziehe und Herbert Stubenrauch, Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Ideen zur Jugend-situation, Reinbek 1982, S. 25 ff.

  6. Claus Offe, Konkurrenzpartei und kollektive politische Identität, in: Roland Roth (Hrsg.), Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen, Frankfurt a. M. /New York 1980, S. 26— 42, hier S. 30ff.

  7. Ebd., S. 35 ff.

  8. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981, bes. S. 575ff, hier S. 579.

  9. Ebd., z. B. S. 470 ff.

  10. Ebd., S. 581.

  11. Ebd., S. 575.

  12. Ebd., S. 576; vgl. dazu auch Joachim Raschke, Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/1980, S. 23— 45.

  13. Vgl. auch Christian Krause, Detlef Lehnert und Klaus Jürgen Scherer, Zwischen Revolution und Resignation. Alternativkultur, politische Grund-strömungen und Hochschulaktivitäten in der Studentenschaft, Bonn 1980, S. 189.

  14. Ebd., S. 190.

  15. Vgl. auch Josef Huber, Wer soll das alles ändern 1 Die Alternativen der Alternativbewegung, Berlin 1980, S. 44 f.

  16. Claus Offe, a. a. O. (Anm. 6), S. 41.

  17. Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/81, S. 3— 15, hier S. 3.

  18. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 26.

  19. Bundesministerium, a. a. O. (Anm. 17), S. 3.

  20. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 27.

  21. Vgl. dazu empirisch Krause, Lehnert, Scherer, a. a. O. (Anm. 13), S. 203.

  22. Vgl. auch empirisch ebd., S. 156.

  23. Vgl. Jörg Bopp, Trauer-Power. Zur Jugendrevolte 1981, in: Kursbuch 65, Berlin 1981, S. 151— 168, hier S. 167.

  24. Krause, Lehnert, Scherer, a. a. O. (Anm. 13), S. 191.

  25. Urs Jaeggi, Drinnen und draußen, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), a. a. O. (Anm. 1), S. 443— 473, hier S. 470.

  26. Otthein Rammstedt, Soziale Bewegung — Modell und Forschungsperspektiven, in: Hans Matthöfer (Hrsg.), Bürgerbeteiligung und Bürgerinitiativen, Villingen 1977, S. 447— 475, hier S. 449.

  27. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 10 ff.

  28. Bundesministerium, a. a. O. (Anm. 17), S. 4.

  29. Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften, Berlin 1978, S. 63.

  30. Vgl. auch Norbert Klugmann, Einfach leben, in: Kursbuch 60, Moral, Berlin 1980, S. 119— 130; vgl. auch Bernd Leineweber, Karl-Ludwig Schibel, „Die Alternativbewegung", in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.). Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung, Frankfurt a. M. 1978, S. 95— 128.

  31. Bundesministerium, a. a. O. (Anm. 17), S. 6.

  32. Vgl. Balz Theus, Spiel mit dem Feuer. Ein Jahr Jugendbewegung in Zürich, in: Michael Haller (Hrsg.), Aussteigen oder rebellieren. Jugendliche gegen Staat und Gesellschaft, Reinbek 1981, §. 49— 70.

  33. peter Schulz-Hageleit, Auf der Suche nach neuen Formen des gemeinsamen Lebens, in: Frankfurter Rundschau vom 15. 7. 1981.

  34. Vgl. Benny Harlin, Von Haus zu Haus — Berliner Bewegungsstudien, in: Kursbuch 65, Der große Bruch — Revolte 81, Berlin 1981, S. 1— 28, hier S. 14.

  35. Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Jugend in der Bundesrepublik heute , Aufbruch oder Verweigerung? Auszüge in: Frankfurter Rundschau vom 3. 12. 1981, S. 10— 12.

  36. Vgl. dazu jüngst: Joseph Scheer/Jan Espert, Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei — Alternatives Leben oder Anarchie?, München 1982.

  37. Vgl. Uwe Wesel, Der friedliche und der unfriedliche Bruch des Friedens, in: Kursbuch 65, Berlin 1981, S. 29- 49. Auszüge erschienen auch in: Der spiegel, 37/1981 unter dem Titel „Krieg der Justiz 8585n die Jugend".

  38. Zur Hausbesetzer-Bewegung vgl. auch noch: Jans Halter, Niemand hat das Recht, in: Michael «aller, a. a. O. (Anm. 32). S. 99— 113.

  39. Habermas, a. a. O. (Anm. 8), S. 578 f.

  40. Vgl. auch Wilfried von Bredow, Zusammensetzung und Ziele der Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 24/82, S. 3— 13.

  41. Interview mit Helmut Schmidt in: Frankfurter Rundschau v. 10. 12. 1982.

  42. Vgl. Günther Schmid, Zur Soziologie der Friedensbewegung und des Jugendprotestes. Strukturmerkmale — Inhalte — Folgewirkungen; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24/82, S. 15— 30, hier S. 29 f. Zur Friedensbewegung vgl. auch: Marianne und Reiner Grönemeyer (Hrsg.), Frieden vor Ort, Frankfurt a. M. 1982.

  43. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 25; vgl. auch Christel Neusüß, Der „freie Bürger“ gegen den Sozialstaat? Sozialstaatskritik von rechts und von Seiten der Alternativbewegung, in: Probleme des Klassenkampfes, Nr. 39/2, 1980, S. 79— 104.

  44. Vgl. Scheer/Espert, a. a. O. (Anm. 36), S. 19 ff., zur „TUNIX-Veranstaltung mit einem interessanten Dokument.

  45. Vgl. Jörg Bopp, Der linke Psychodrom, in: Kursbuch 55, Berlin 1979, S. 73 ff.

  46. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 27. 4. 1981.

  47. Vgl. Bundesministerium, a. a. O. (Anm. 17), S. 11

  48. Krause, Lehnert, Scherer, a. a. O. (Anm. 13) S. 194.

  49. Ebd., S. 198.

  50. Ebd., S. 194.

  51. ) Ebd., S. 203.

  52. Ebd., S. 198.

  53. Ebd., S. 201.

  54. Ebd., S. 202 f.

  55. Vgl. Bundesministerium, a. a. O. (Anm. 17), S. 11.

  56. Vgl. Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland, München 1979, S. 112 und S. 366 ff.

  57. Vgl. Bundesministerium, a. a. O. (Anm. 17), S. 11.

  58. Stephanie Hansen und Hans-Joachim Veen, Auf Suche nach dem privaten Glück, in: Die Zeit, Nr. 37, 1980.

  59. Vgl. Bundesministerium, a. a. O. (Anm. 17), S. 11.

  60. Krause, Lehnert, Scherer, a. a. O. (Anm. 13), S. 209.

  61. Ebd., S. 210.

  62. Ebd., S. 211 f.

  63. Ebd., S. 218 f.

  64. Ebd., S. 214 f.; vgl. auch die Autoren zu den . Spontis, S. 119 ff., und ihr . Strukturmodell der Klassen, Schichten und Berufsgruppen', S. 113.

  65. Ebd., S. 215f.

  66. Ebd., S. 217.

  67. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 27.

  68. Krause, Lehnert, Scherer, a. a. O. (Anm. 13), S. 195.

  69. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 28 ff.

  70. Ebd., S. 34; vgl. auch Joseph Huber, Die verlorSe. n 1e 25Uffn. schuld der ÖkologBie, Frankfurt a. M. 1982, S. 125ff

  71. Z. B. Johannes Berger jüngst in seinem Referat euf dem Bielefelder Kongreß , Zur Zukunft der Ar-•'n ygl. Joachim Eisbach, Die Zukunft der Arbeit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 82, H. 11, S. 1359— 73, hier S. 1364 f. Zur dualen Ökonomie auch: Andr Gorz, Abschied vom Proletariat, Frankfurt a. M. 1980.

  72. Joseph Huber, Die Dualwirtschaft, in: Deutsche Volkszeitung v. 21. 10. 1982.

  73. Ebd., S. 41.

  74. *Ebd., S. 42.

  75. Rudolf Hickel, über die Zukunft der Arbeit, in: Deutsche Volkszeitung vom 21. 10. 1982; die Titel von Hickel und Huber (Anm. 72) sind gekürzte Fassungen ihrer Referate auf dem Bielefelder Kongreß (vgl. Anm. 71).

  76. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 64.

  77. Ebd., S. 112.

  78. Ebd., S. 44 f.

  79. Ebd., S. 55.

  80. Der Arbeitskreis „Finanzierung von Alternatiy; Projekten“, in: Frankfurter Rundschau vom 6. 7. 1981.

  81. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 113.

  82. Arbeitskreis, a. a. O. (Anm. 81).

  83. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 64.

  84. Bopp. a. a. O. (Anm. 23), S. 155 f.

  85. Eidgenössische Kommission für Jugendfragen, Thesen zu den Jugendunruhen 1980, in: Frankfurter Rundschau vom 12. 2. 1981.

  86. Härlin, a-a. °-(Anm. 34), s-15.

  87. Adolf Muschg, Die Macht der Phantasie, über Hie sthetik des Jugendprotests — am Beispiel der türicher „Bewegung“, in: Haller, a. a. O. (Anm. 32), 8. 179— 194, hier S. 183 f.

  88. Ebd„ S. 181.

  89. Wolfgang Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ-und Fluchtbewegung, in: Kraus-haar, a. a. O. (Anm. 30), S. 8— 67, hier S. 39.

  90. Offe, a. a. O. (Anm. 6), S. 31.

  91. Die Strategie der „Fraueninitiative 6. Oktober“, zit in: Frankfurter Rundschau vom 12. 6. 1982; vgl. auch zur . erkenntnistheoretischen'Qualität des Begriffs: Gilles Deleuze und Flix Guattari, Rhizom, Berlin 1977.

  92. Peter Brückner, Thesen zur Diskussion der . Alternativen“, in: Kraushaar, a. a. O. (Anm. 30), S. 68 bis 85, hier S. 68.

  93. Jaeggi, a. a. O. (Anm. 25), S. 466, der J. F. Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten, Berlin 1977, S. 81, anführt.

  94. Harlin, a. a. O. (Anm. 34), S. 24 f.

  95. Jaeggi, a. a. O. (Anm. 25), S. 469 f.

  96. Huber, a. a. O. (Anm. 15), S. 57 und S. 77.

  97. Härlin, a. a. O. (Anm. 34), S. 24 f.

  98. Harry Tallert, Protest als Programm — Aspekte der Öko-Bewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/80, S. 12— 30, hier S. 29.

  99. Tilman Spengler, Der Bauch als Avantgarde — über den aufrechten Niedergang der Theorie, in: Kursbuch 65, Berlin 1981, S. 179— 188, hier S. 187.

  100. Jaeggi, a. a. O. (Anm. 25), S. 466.

  101. Muschg, a. a. O. (Anm. 88), S. 190.

  102. Eidgenössische Kommission, a. a. O. (Anm. 86).

  103. Spengler, a. a. O. (Anm. 100), S. 183.

  104. Jörg R. Mettke, Selbstbespiegelungen, über die Gegenöffentlichkeit der alternativen Presse, in: Haller, a. a. O. (Anm. 32), S. 156— 178, hier S. 173.

  105. Spengler, a. a. O. (Anm. 100), S. 180.

  106. Härlin, a. a. O. (Anm. 34), S. 15.

  107. Vgl. Hubert Seipel, Offene Feindschaften, in: Haller, a. a. O. (Anm. 32), S. 83; vgl. auch Walter Hollstein, Autonome Lebensformen, in: Haller, a. a. O. (Anm. 32). S. 197— 216, hier S. 213 f„ zu: Wolfgang Harich, Zur Kritik der revolutionären Ungeduld; vgl. vor allem auch Ziehe, a. a. O. (Anm. 5), S 69 ff„ der sich mit den Mißverständnissen in der Debatte um den Narzißmus auseinandersetzt, die sich auf seinen Beitrag beziehen: Thomas Ziehe, Pubertät und Narzißmus, Frankfurt a. M. 4/1981. Er plädiert inzwischen für die Abschaffung des Ausdrucks „neuer Sozialisationstyp". Sein Ansatz sei damals gerade eine Diskussion für den Narzißmus & ewesen und nicht gegen ihn.

  108. Spengler, a. a. O. (Anm. 100), S. 181.

  109. Ebd., S. 183

  110. Bopp, a. a. O. (Anm. 23), S. 37.

  111. Michael Rutschky, Erfahrungshunger, 1980, S. 52.

  112. Ebd., S. 58.

  113. So der Titel von Spengler, a. a. O. (Anm. 100).

  114. Beide Zitate: Mettke, a. a. O. (Anm. 105), S. 170. Köln

  115. Emst Bloch, Das Frankfurt a. M. 4/1977, S. 163. Prinzip

Weitere Inhalte

Roland Schmidt, geb. 1955; Studium der Politischen Wissenschaft, Germanistik und Soziologie an der Universität Bonn. Beschäftigt sich vor allem mit Fragen der „Neuen sozialen Bewegungen".