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Eine kritische Wahl | APuZ 14/1983 | bpb.de

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APuZ 14/1983 Eine kritische Wahl Zwischen Stabilität und Wandel

Eine kritische Wahl

Werner Kaltefleiter

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Ergebnis der Wahl vom 6. März ist im wesentlichen eine Folge der langfristigen Entwicklung des deutschen Parteiensystems. Die internen Auseinandersetzungen der SPD seit Anfang der siebziger Jahre haben zu einer ständigen Erosion ihres Wählerpotentials und dementsprechend zu einer Stärkung der CDU/CSU geführt, die nur durch politische Einzelereignisse von Zeit zu Zeit unterbrochen wurde. Darüber hinaus hat die lange Regierungstätigkeit der SPD zur Entstehung der Grünen/Alternativen-Bewegung geführt, die eine weitere Schwächung der SPD zur Folge hatte. Mit dem Bemühen um Reintegration der Grünen läuft die SPD Gefahr, über einen längeren Zeitraum die politische Mitte nicht mehr ansprechen zu können. Der Koalitionswechsel hat die FDP in eine Existenzkrise geführt, die mit dem Wiedereinzug in den Bundestag noch keineswegs beendet ist Die FDP kam nur als Darlehnsnehmer der CDU ins Parlament.

Anmerkungen zur Bundestagswahl 1983

Tab. 1

„Kritische Wahlen 1'ist ein Begriff der Wahlforschung, mit dem tiefgreifende Umwälzungen im Wählerverhalten bezeichnet werden, die über den Wahltag hinaus für einen langen Zeitraum die Struktur eines Parteiensystems bestimmen Die Bundestagswahl von 1953 war eine solche kritische Wahl; sie wurde in der Literatur als das „deutsche Wahlwunder" bezeichnet weil sie die Transformation des deutschen Parteiensystems von einem Vielparteiensystem Weimarer Provenienz in ein alternierendes Parteiensystem fast angelsächsischer Art einleitete.

I. Der Wahltriumpf der CDU/CSU

Tab. 2

Vieles spricht dafür, daß die Wahl vom 6. März rückblickend ähnlich eingeordnet werden wird. Da ist zunächst der Triumpf der Unionsparteien. Mit 48, 8 Prozent erzielten sie formal ihr zweitbestes Ergebnis, nur übertroffen von Adenauers Kantersieg mit 50, 2 Prozent im Jahre 1957. Aber auch diese 48, 8 Prozent täuschen noch über die wahre Stärke der Union hinweg. Ein Blick auf die Erststimmen zeigt eher ihre wirkliche Stärke. Helmut Kohl wollte die Koalition mit der FDP fortsetzen, und genügend seiner Wähler empfanden wie er und hievten die FDP souverän über die 5-Prozent-Grenze. Man hat in der Vergangenheit häufig von Leihstimmen der SPD für die FDP gesprochen. Dieses Mal hat die Union wie ein großer Bruder seine kleine Schwester auf den Arm genommen und ins Parlament getragen, das heißt, das wirkliche Potential der CDU/CSU lag am 6. März bei etwa 53 Prozent.

Um diesen Triumpf der Unionsparteien zu verstehen, muß man sich zwei weitere Tatsachen bewußt machen. Große Wahlerfolge einer Partei waren in der Vergangenheit in der Bundesrepbulik — ähnliches gilt aber auch für andere Länder — in der Regel Personalplebizite, Kanzlerwahlen, wie man in Deutschland zu sagen pflegt. Es schmälert den Triumph von Helmut Kohl nicht, wenn man feststellt, daß, anders als seine Vorgänger im Kanzleramt, er in der Wählerschaft noch keine weit über die Anhänger seiner Partei hinausgehende Resonanz fand. Etwa 52: 48 lautete die Verteilung auf die Frage nach dem gewünschten Bundeskanzler unmittelbar vor der Wahl Das war kaum anders zu erwarten, denn der Amtsbonus des Bundeskanzlers konnte nicht in wenigen Monaten aufgebaut werden; dazu bedarf es einer längeren Zeit unumstrittener Kanzlerschaft. Diese war Helmut Kohl jedoch bislang nicht vergönnt Mit der Entscheidung der neuen Koalition durch frühzeitige Neuwahl eine quasi plebiszitäre Bestätigung des Koalitionswechsels zu bekommen, war mit der Wahl Helmut Kohls am 1. Oktober der Wahlkampf zur Bundestagswahl 1983 eingeleitet, wenn auch bis kurz vor dem Wahltermin es ausreichend Unsicherheit und Diskussion darüber gab, wie diese Neuwahlen herbeizuführen seien und ob der eingeschlagene Weg letztlich auch verfassungskonform sein würde. Das aber bedeutete zugleich, daß Kohl nicht einen Tag die Chance hatte, sich als über den Parteien stehender Staatsmann zu profilieren und damit Zustimmung bis weit in die Reihen der Opposition zu finden. Eine solche unumstrittene Kanzlerschaft steht Helmut Kohl jetzt bevor-, er wird bald in den Genuß des entsprechenden Amtsbonus kommen, wobei dies allerdings für das zukünftige Wahlverhalten erst bei der nächsten Bundestagswahl wieder von größerer Bedeutung sein wird, da auch hochangesehene Bundeskanzler in Landtagswahlen bislang nur bedingt Wahllokomotiven für ihre eigene Partei waren. Um so größer ist der Triumph des Parteivorsitzenden Helmut Kohl, denn dieses Wahlergebnis bedeutet eine inhaltliche Identifizierung von etwa 55 Prozent der deutschen Wählerschaft mit den von der Union verkörperten Grundlinien deutscher Politik.

Bei einer Analyse des Wettbewerbs zwischen Kohl und Vogel ist ergänzend hinzuzufügen, daß beide Kandidaten die fast gleiche Unterstützung bei den Wählern ihrer eigenen Partei fanden, daß aber Kohl deutlich die Mehrheit der FDP-Anhänger und der potentiellen Wechselwähler gewann, während Vogel von etwa 80 Prozent der Anhänger der Grünen und gar über 90 Prozent der Grünen-Wähler präferiert wurde. Diese Zahlen signalisieren eine Zustimmung zu den Kandidaten, die der Wirklichkeit jedoch nicht ganz entspricht Fragt man nach, ob man lieber einen anderen Kanzlerkandidaten gehabt hätte, so erklären nur etwa 53 Prozent ihre Zufriedenheit mit den beiden Kandidaten, wobei besonders bei den SPD-und FDP-Wählern eine gewisse Distanz zu den beiden Kandidaten Kohl und Vogel zu beobachten ist. Während unter den CDU/CSU-Wählern die Unterstützung von Kohl immerhin zwei Drittel betrug und die stärkste Alternative Strauß lediglich auf etwa 11 Prozent kam, war Vogel nur für 43 Prozent der SPD-Wähler die erste Wahl; 48 Prozent hätten Schmidt vorgezogen. Auch 23 Prozent der FDP-Wähler und 26 Prozent der potentiellen Wechselwähler sahen in Schmidt noch ihren Lieblingskandidaten, wobei interessanterweise anzumerken ist, daß unter den FDP-Wählern sich auch 16 Prozent für Stoltenberg aussprachen.

Eine Analyse des Bildes der Kandidaten im einzelnen, also der ihnen entgegengebrachten Sympathie und der ihnen zugetrauten Leistungsfähigkeit (siehe Tabelle 4 und 5), bestätigt dieses Bild: Der Schatten Helmut Schmidts lag über dem Duell zwischen Kohl und Vogel. Dies stützt die Hypothese, daß die SPD mit einem Kanzlerkandidaten Schmidt deutlich besser abgeschnitten hätte. Zur kritischen Analyse der SPD zu dieser Wahl muß dementsprechend gehören, warum ihr Schmidt nicht mehr zur Verfügung stand. Um den Triumph der CDU/CSU zu erkennen, ist ein weiteres hinzuzufügen: Zu den traditionellen Merkmalen des deutschen Wahlverhaltens gehört, daß die Unionsparteien in den älteren Altersgruppen, die SPD bei den jüngeren überwiegt. Noch nie aber gab es eine „jüngere" Wählerschaft in Deutschland als am 6. März 1983. Die geburtenstarken Jahrgänge, die auf den Arbeitsmarkt drängen und dort ein Hauptsorgenkind der deutschen Politik sind, haben auch die Struktur der Wählerschaft verändert. Das sprach eigentlich für die SPD und die Grünen und verdeutlicht jetzt um so mehr den Umfang des Triumphes der Union.

Um die Wählerbewegung, die zu diesem Wahlergebnis der Union führte, zu verstehen, ist es zunächst notwendig, in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland etwas weiter zurückzugreifen. Bereits 1976 hatte die CDU/CSU mit 48, 6 Prozent ein Wahlergebnis erreicht, das dem von 1983 nahekommt. Sie verfehlte damals nur knapp die Mehrheit der Mandate. Dieser Erfolg der Union, nach der schweren Wahlniederlage von 1972, als die CDU/CSU zum'ersten und bislang einzigen Mal nicht einmal stärkste Partei im Deutschen Bundestag geworden war hatte im wesentlichen zwei Ursachen: Die inneren Streitigkeiten der SPD nahmen ständig zu; sie wurden im Winter 1973/74 durch die Führungskrise um den damaligen Bundeskanzler Brandt verstärkt, die letztlich zu dessen Ablösung und damit auch zu einer gewissen Stabilisierung der SPD unter Helmut Schmidt führten. Außerdem mehrten sich die ersten Zeichen einer ansteigenden, 1976 nur kurzfristig unterbrochenen Wirtschaftskrise. Beides führte zu einer ständigen Erosion des SPD-Potentials, die in den Landtagswahlen der damaligen Periode noch wesentlich ausgeprägter zu Tage trat als bei der Bundestagswahl 1976 Die CDU/CSU verspielte das Vertrauenskapital von 1976 schnell. Es be-gann mit dem Kreuther Wintertheater das in eine permanente Führungsdiskussion innerhalb der Union überging, die schließlich zu der Nominierung von Franz Josef Strauß zum Kanzlerkandidaten im Sommer 1979 führte. Damit hatte die CDU/CSU de facto auf die Möglichkeit eines Wahlerfolges von 1980 verzichtet, und die Wahlniederlage 1980 entsprach diesen Erwartungen. Langfristig ist jedoch von Bedeutung zu wiederholen, daß schon damals, was das Image der Parteien und andere für das Wählerverhalten wichtige Faktoren, insbesondere die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation und die entsprechende Lösungskompetenz der Parteien betraf, die CDU/CSU in einer besseren Position war als die SPD. Allein das hohe Ansehen von Schmidt und die ebenso ausgeprägte Ablehnung von Strauß entschied die Wahl 1980 für die damalige Koalition

Dieses Wahlergebnis von 44, 5 Prozent 1980 für die CDU/CSU entsprach jedoch bei weitem nicht ihrem Potential, das nach dem Abtreten von Strauß als Kanzlerkandidaten wieder zum Tragen kam. Für die weitere politische Entwicklung waren drei Faktoren von Bedeutung: Im Gegensatz zu 1976 zeigte die Union nach 1980 Geschlossenheit, dagegen nahmen die Gegensätze zwischen den Koalitionsparteien SPD und FDP sowie innerhalb der SPD deutlich zu und die wirtschaftliche Krise verschärfte sich. Die Folge war, daß der nach 1976 durch das eigene Fehlverfahren der Union gestoppte Erosionsprozeß der SPD sich fortsetzte; schon bald signalisierten die Meinungsbefragungen der Union wieder Partei-stärken von über 50 Prozent. Die Landtagswahlen in Niedersachsen im März 1982 die wenig später erfolgte Kommunalwahl in Schleswig-Holstein, wo jedes Mal die Union über 50 Prozent der Stimmen erreichte und gegenüber der Bundestagswahl 1980 etwa 10 Prozentpunkte hinzugewann, sowie die sensationelle Bürgerschaftswahl in Hamburg im Juni 1982 wo die CDU erstmalig in der Geschichte Hamburgs stärkste Partei wurde, bestätigten diese Befragungsergebnisse nachdrücklich. Erneut wurde dieser gleichförmige Wähler-trend durch ein dramatisches politisches Ereignis unterbrochen: das Zerbrechen der SPD/FDP-Koalition am 17. September 1982. Dies war von einer doppelten taktischen Meisterleistung des damaligen Kanzlers Schmidt begleitet. Zunächst gelang es ihm, die FDP-Minister zum Rücktritt zu veranlassen. Damit war die Grundlage für jene Verratslegende und die darauf aufbauende Kampagne in den folgenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern gelegt. Dabei ist allerdings hinzuzufügen, daß diese taktische Meisterleistung Schmidts nur möglich wurde durch ein mit politischen Kategorien nicht zu erklärendes taktisches Fehlverhalten der FDP-Führung in doppeltem Sinne. Zunächst ist es unerklärlich, warum die FDP-Minister den Weg des Rücktritts wählten, anstatt sich von Schmidt, wie von diesem angedroht, entlassen zu lassen. Erst der Rücktritt eröffnete den Weg für die Verratslegende; eine Entlassung der FDP-Minister hätte die Schuldzuweisung über das Zerbrechen der Koalition wesentlich komplizierter werden lassen und kaum eine derartige Verratskampagne ermöglicht. Man kann nur annehmen, daß die FDP-Minister tradierten bürgerlichen Tugenden, nach denen man freiwillig geht und man sich nicht entlassen läßt, folgten. Sie benahmen sich als Herren und wurden damit Opfer jener politischen Kampagne der SPD.

Genauso unverständlich ist es, warum der FDP-Fraktionsvorsitzende Mischnik diese zeitgeschichtlich so wichtigen Einzelheiten erst in der Fraktionssitzung der FDP am 28. September, also nach der Landtagswahl in Hessen, enthüllte, als diese über die Frage entschied, ob sie auf der Grundlage des neuen Regierungsprogramms Helmut Kohl am 1. Oktober zum Kanzler wählen sollte. Erst in dieser Sitzung wies Mischnik auf die Tatsache hin, daß Helmut Schmidt ihn am Vormittag des 17. September informiert hatte, daß die Koalition aus seiner Sicht gescheitert sei und daß, wenn die FDP-Minister nicht zurückträten, er sie entlassen würde. Hätte Mischnik diesen Tatbestand in der Bundestagsdebatte am 17. September unverzüglich nach Schmidts theatralischem Auftritt enthüllt, wäre es ebenso zweifelhaft gewesen, ob die Verratskampagne je zustande gekommen wäre

Unabhängig von den Folgen für das Wahlverhalten, die diese Kampagne hatte, ist auf die Diskrepanz dieser Kampagne mit dem Wortlaut des Grundgesetzes und den Prinzipien repräsentativer Demokratie zu verweisen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht ausdrücklich die Möglichkeit eines Regierungswechsels während der Legislaturperiode vor. Die Bestimmungen der Verfassung verdeutlichen, daß die Väter der Verfassung einen solchen Koalitionswechsel geradezu als etwas Normales empfanden. Schmidt und die SPD aber versuchten dieser Entwicklung den Hauch des illegitimen zu verleihen, wobei es aus Gründen der zeitgeschichtlichen Korrektheit notwendig ist anzumerken, daß das Wort „Verrat" bei keiner bis zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland während einer Legislaturperiode erfolgten Koalitionsumbildung gefallen ist, -weder in der Bundespolitik, als die SPD 1966 ein Jahr nach Erhards Wahlerfolg in die große Koalition eintrat, noch in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen (Koalitionswechsel der FDP zugunsten der SPD 1954 und 1966) oder in Baden-Württemberg 1966 oder Bayern 1957 ist dieser Begriff verwendet worden.

Nicht weniger bedeutsam und verfassungspolitisch ebenso problematisch war die zweite taktische Meisterleistung Helmut Schmidts, nämlich seine Forderung nach sofortigen Neuwahlen. Auch sie war eine einleuchtende Formel, indem sie auf die in der Verfassung zwar nicht vorgesehenen, die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland aber seit 1953 prägenden plebiszitären Komponenten jeder Bundestagswahl zurückgriff. War die Wahl 1980 zu einem großen Umfang auch Kanzlerwahl gewesen, so erschien es nur einleuchtend, daß ein Kanzlerwechsel nur auf der Grundlage eines frischen plebiszitären Mandates möglich sein könnte. Es ist für die veröffentlichte Meinung in Deutschland kennzeichnend, daß sie diese Forderung vermittelte, ohne einerseits ihren Widerspruch zu den Regeln der Verfassung deutlich zu machen oder auf die damit verbundene Verfassungsmanipulation Schmidts zu verweisen, der sein Angebot, die Vertrauensfrage zu stellen, an die Bedingung geknüpft hatte, die CDU/CSU und die FDP sollten auf ihr Verfassungsrecht verzichten, nach einer für Schmidt gescheiterten Vertrauensfrage einen anderen Kanzler zu wählen, wie es die Verfassung ausdrücklich vorsieht.

Für die Entwicklung des Wählerverhaltens ist allein wesentlich, daß beide Schritte Schmidts zu einer Emotionalisierung der Bewertung des Koalitionswechsels führten, wie das bei politischen Ereignissen in der Bundesrepublik Deutschland bislang nur einmal zu beobachten war, nämlich anläßlich des Baus der Berliner Mauer im August 1961. Die Folge war, daß die CDU/CSU für sie enttäuschende Wahlergebnisse in Hessen, Bayern und schließlich auch noch im Dezember in Hamburg hinnehmen mußte Die SPD vermochte sich in diesen Wahlen aus drei Grün-den zu stabilisieren: erstens, weil mit dem Regierungswechsel etwa zwei Drittel der bisherigen FDP-Wähler zur SPD übergegangen waren, zweitens weil die Emotionalisierung dieser Ereignisse zunächst einen Teil der früheren SPD-Wähler von der Union zurückholte, und drittens schließlich, und das gilt insbesondere für Hamburg, auf diese Weise eine bessere Mobilisierung des SPD-Potentials möglich wurde Allerdings ergaben Hoch-rechnungen auf der Grundlage dieser Wahlen noch immer ein Unionspotential von etwa 50 Prozent.

Mit der Konsolidierung der neuen Bundesregierung und dem Verzicht Schmidts auf eine erneute Kandidatur, dem Einlösen des Versprechens, Neuwahlen herbeizuführen und schließlich mit der Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht, daß der von Helmut Kohl eingeschlagene Weg zu Neuwahlen verfassungskonform war rollte die am 17. September 1982 geschaffene emotionale Welle aus. Am 6. März 1983 wurde wieder ein Kräfteverhältnis gemessen, wie es vor dem Regierungswechsel bestanden hatte. Daß die CDU z. B. in Schleswig-Holstein bei den Erst-stimmen bis auf 0, 3 Prozent ihr Kommunal-wahlergebnis wieder erreichte, verdeutlicht dies ebenso wie das entsprechende Abschneiden der CDU in Niedersachsen. Wesentlich ist dabei, daß die Union von einem langfristigen Erosionsprozeß der SPD profitiert hat, der zweimal nach 1976 und dann wieder nach dem 17. September 1982 durch politische Ereignisse unterbrochen wurde. Fast 12 Prozent der SPD-Wähler von 1980, das sind etwa 5 Prozent der gesamten Wählerschaft, wechselten in der März-Wahl 1983 zur Union, während nur 3 Prozent der Unionswähler von 1980, das sind nur etwa 1, 1 Prozent der gesamten Wählerschaft, sich dieses Mal für die SPD entschieden. Dies ist die wesentliche Ursache für den Triumph der CDU/CSU. Anders formuliert: die politische Entwicklung seit Anfang der siebziger Jahre hatte die „normal vote" für die CDU/CSU auf über 50 Prozent steigen lassen; sowohl die Bundestagswahl 1980 — Kandidatenproblem — als auch die Landtagswahlen von 1982 nach dem Regierungswechsel waren eine „deviating election", also Wahlen, in denen Ad-hoc-Faktoren zu einer Abweichung vom Normalergebnis führten. Die Wahl von 1983 war dann wieder Normalwahl

Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis dieser Wahl ist, daß das Nord-Süd-Gefälle, das seit 1972 die Wahlergebnisse geprägt hat, in der überlieferten Form nicht mehr existiert. Die Stimmengewinne der CDU waren am größten in Schleswig-Holstein. Die Erklärung für diese Veränderung in der Struktur der Wählerschaft ist einfach. Ursache des Nord-Süd-Gefälles war erstens, daß die Mobilität der Wählerschaft im Norden Deutschlands größer ist, weil dort jene großen Wählergruppen, die die Stammwähler der beiden großen Parteien bilden, nur unterproportional vertreten sind: Katholiken für die CDU/CSU und Gewerkschaftsangehörige für die SPD. Diese erhöhte Mobilität hatte aber zur Folge, daß die Besonderheiten, die das Verhalten in einer Wahl prägen, unter den Bedingungen dieser erhöhten Mobilität mehr bewegen konnten. Dies waren von 1972 bis 1980 vor allem die populären protestantischen, aus Norddeutschland kommenden Kanzler der SPD. 1983 gab es zwar noch die gleiche Mobilität, aber die SPD verfügte nicht mehr über das politische Personal, um dieses Wählerpotential anzusprechen. Die Folge war eine ausgeglichenere Verteilung der Parteistärken über die Bundesrepublik Deutschland. Zwar erreicht die Union nach wie vor ihre Spitzen-ergebnisse im Süden, aber die Differenz ist nicht mehr so ausgeprägt. Dies verdeutlichen am besten die regionalen Abweichungskoeffizienten, die das Wahlergebnis eines Landes als Prozentsatz des Bundesergebnisses ausdrücken. Das Klima dieser Wahl war bestimmt durch die wirtschaftspolitischen Themen. Fast 50 Prozent der Wählerschaft nannten die Arbeitslosigkeit und andere wirtschaftspolitische Themen als die wichtigsten Probleme der Bundesrepublik Deutschland heute. Der Versuch, die Bundestagswahl zu einer „Raketenwahl" zu machen, scheiterte. Nur 14 Prozent nannten derartige außen-und sicherheitspolitische Themen. Im Bereich der Wirtschaftspolitik wurden die CDU/CSU und auch der Kanzler Helmut Kohl deutlich kompetenter eingeschätzt als die SPD und ihr Kandidat Vogel, über 55 Prozent vertrauten der Union in diesem Bereich, nur fast 35 Prozent der SPD. Noch wichtiger war aber, daß der Regierungswechsel einen Stimmungsumschwung eingeleitet hatte, der sich bis zum Wahltag ständig verstärkte. Mit wachsendem Optimismus, daß es wieder besser werden würde, blickte man in die Zukunft, auch wenn man die gegenwärtige Situation noch sehr skeptisch betrachtete. Die Wahlaussage der CDU, daß es mit Deutschland wieder aufwärts gehen und man mit ihr den Aufschwung wählen solle, entsprach voll dieser Stimmungslage.

II. Rettung der FDP?

Tab. 3

Die FDP ist in den Bundestag zurückgekehrt — jedoch als Darlehensnehmer der CDU/CSU. Das verdeutlicht nicht nur die Diskrepanz zwischen Erst-und Zweitstimmen und das Ausscheiden der FDP aus dem Rheinland-Pfälzischen und Schleswig-Holsteinischen Landtag, sondern auch alle Popularitäts-und Sympathiemessungen für die Partei und ihren Vorsitzenden Genscher. Mißt man die Sympathie, die einer Partei oder einem Politiker entgegengebracht wird, auf einer Elfpunkteskala, so erhielt die FDP diesmal nur vier Punkte; 1980 waren es noch fast sechs Punkte. Im Vergleich dazu kam die SPD auf gut sechs, die CDU auf sieben Punkte. Genscher und auch Lambsdorff kamen ebenfalls auf etwa vier von möglichen elf Punkten, Kohl dagegen auf sieben und Vogel auf sechs Punkte (siehe Tabelle 4).

Entsprechende Bewertungen erzielten die Parteien und Politiker, wenn man nach dem gleichen Instrumentarium die Kompetenz mißt: Für Kohl lautet der Wert 6. 9, für Vogel 6. 2, für Genscher 3. 9 und für Lambsdorff 4. 1. Die CDU erhält 7. 8 Punkte, die SPD 6. 5, die FDP jedoch nur 4. 1 (siehe Tabelle 5). Bemerkenswert sind in beiden Tabellen die hohen Werte für Schmidt; er war eine Art Schatten-kanzler in dieser Wahl.

Gut 4 Prozent von eigentlich CDU/CSU-Wählern haben die FDP in den Bundestag gebracht, nicht weil sie die FDP besonders mögen, sondern weil sie auf Nummer Sicher gehen wollten, weil sie nicht glauben mochten, was tatsächlich möglich war, nämlich daß die Union allein die Mehrheit gewinnen würde. Ein zweiter Grund für dieses Stimmensplitting war, daß diese Wähler in der Lambsdorff-Partei eine Art Rückversicherung dafür sahen, daß die CDU/CSU sich zu anfällig zeigen würde gegen Versuchungen einer großen Volkspartei: Der Streit um die Frage der Rückzahlung der Zwangsanleihe, so unwichtig er in der Sache sein mag, hatte dafür symbolischen Charakter. Wie bis 1966, gewann die FDP Wählerstimmen aus jenem Bereich, der eine CDU-geführte Regierung wollte, aber in dieser Regierung einen zusätzlichen Schutz gegen zuviel Umverteilung suchte. Schließlich entpuppte sich, wie schon 1965 und 1980, der nach Bonn drängelnde Franz Josef Strauß als der beste Wahlhelfer der FDP.

Wie sehr dieses Stimmensplitting von gezieltem politischen Kalkül, ja vom strategischen Einsatz der Möglichkeiten des Wahlgesetzes bestimmt war, zeigt eine Analyse der Wählerschaft, die mit ihrer Zweitstimme die FDP gerettet hat. Das war das wohlhabende Bildungsbürgertum: Unter denen, die als Ausbildung ein Abitur oder ein Studium haben, und unter denen, die sich selbst den oberen Mittelschichten oder gar der Oberschicht zurechnen, betrug der FDP-Zweitstimmenanteil über 20 Prozent.

So erleichtert die FDP-Führung über die Rückkehr in den Bundestag sein mag und so sehr an den vorausgegangenen Wahlergebnissen in Hessen, Bayern und Hamburg diese 7, 0 Prozent als ein Erfolg verstanden werden mögen, von einer dauerhaften Stabilisierung der FDP kann man noch nicht sprechen. Dagegen spricht nicht nur, daß der FDP die Rückkehr in den Deutschen Bundestag nur mit Hilfe eines Darlehens aus den Reihen der CDU/CSU-Anhänger gelungen ist, sondern auch die Tatsache, daß es das zweitschlechteste Ergebnis der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist. Nur 1969, als sie nur vorsichtig ihre Koalitionsabsicht mit der SPD zu erkennen gegeben hatte, war sie mit 5, 8 auf einen niedrigeren Stand gesunken. Die Stammwählerschaft der FDP beträgt nur noch ca. 2 Prozent Die Frage ist, ob sie das von der CDU/CSU gewährte Darlehen, um im Bilde zu bleiben, in Eigenkapital umwandeln kann.

Die Frage der Stabilisierung der FDP wird durch die künftige Regierungspolitik und die Rolle, die CDU/CSU und FDP darin spielen, bestimmt werden. Die Profilierungschance der Freien Demokraten liegt in der Betonung klassisch-liberaler Prinzipien, das heißt in erster Linie in der Beachtung von ordnungspolitischen Grundsätzen, die die Marktwirtschaft und eine entsprechende Gesellschaftsordnungspolitik kennzeichnen, wenn — und das muß betont werden — die CDU/CSU ihr dazu Gelegenheit bietet. Dagegen müssen alle Versuche der FDP, weiter ihre modisch-liberalen Themen zu betonen, die sie in ihrer Koalition mit der SPD gepflegt hatte, insbesondere im

Hinblick auf die Rechtspolitik, für eine Stabilisierung der FDP eher als kontraproduktiv betrachtet werden. Sie werden tiefverwurzelte Zweifel unter den Unionssympathisanten, ob man der Wende-FDP auch wirklich trauen könnte, nur verstärken und diese davon abhalten, auf Dauer zur FDP zu wechseln und sich mit ihr zu identifizieren. Das aber bedeutet zugleich, daß es wesentlich von der Politik der Union abhängt, ob der FDP die langfristige Stabilisierung gelingt: Je stärker die Führung der Union glaubt, sozialpopulistische Forderungen vertreten zu müssen, je mehr sie den Kurs der Partei von Vorstellungen der katholischen Soziallehre bestimmen läßt, je stärker der erkennbare Einfluß der Sozialausschüsse — im Jargon jener CDU-Anhänger, die der FDP das Darlehen zeichneten: Herz-Jesu-Sozialisten — ist, desto größer sind die Stabilisierungschancen für die FDP.

III. Die Niederlage der SPD

Tab. 4

Wie der Erfolg der Union hat auch die Niederlage der SPD langfristige Ursachen und ist weniger mit den Ereignissen der letzten Wochen zu begründen. Zunächst ist es wichtig, daß die SPD in zwei Richtungen verloren hat: an die politische Mitte zur CDU/CSU und dann an die linke Peripherie zu den Grünen. Im Vergleich zu 1980 konnte sie Wähler in erwähnenswerten Mengen nur aus dem Bereich der FDP hinzugewinnen, nämlich die auf eine SPD/FDP-Koalition eingeschworenen Wähler der FDP von 1980.

Mit 38, 2 Prozent ist die SPD auf ein Niveau abgerutscht, das sie zu Anfang der sechziger Jahre erreicht hatte, also wenige Jahre nachdem sie mit dem Godesberger Programm den Ausbruch aus dem Turm einer Mitte-Dreißig-Prozent-Partei der Weimarer Republik begonnen hatte. 1961 hatte sie es auf 36, 2 Prozent gebracht, 1965 auf 39, 3 Um das Dilemma der SPD zu verstehen, ist es notwendig, in diese Zeit zurückzugreifen.

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der ersten Bundestagswahl von 1949 war die SPD die Rolle der Opposition zugewiesen worden. Dieser Rollenzuweisung wie ihrer eigenen programmatischen ideologischen Vorstellung entsprach es, daß sie die Grundpfeiler der Politik, auf die Konrad Adenauer und Ludwig Erhard die Bundesrepublik Deutschland aufbauten, nicht nur ablehnte, sondern vehement bekämpfte: die marktwirtschaftliche Organisation einer freiheitlichen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung und die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem, in die Gemeinschaft freier Völker. Es war nicht so sehr sozialdemokratische Einsicht, sondern das Lernen an den herben Niederlagen von 1953 und 1957, die die SPD veranlaßten, zunächst mit dem Godesberger Programm und dann mit der großen außenpolitischen Rede Herbert Wehners vom Juni 1960 diese Grundpfeiler der deutschen politischen Ordnung als die Voraussetzungen der Politik einer SPD-geführten Regierung zu akzeptieren. Dabei waren gerade im Godesberger Programm Formulierungen verwendet worden, die vielfältig interpretierbar waren, die aber insgesamt den Eindruck erwecken konnten, und dies zusammen mit anderen Maßnahmen, insbesondere der Nominierung von Willy Brandt, als öffne sich die SPD der politischen Mitte. Chancen und Risiken dieser Politik zeigten sich in den sechziger Jahren. Sie war begleitet von einem ständigen Anstieg der SPD. Von Bundestagswahl zu Bundestagswahl seit 1957, der letzten Wahl vor dem Godesberger Programm, stieg sie von 31, 8 Prozent auf 42, 7 Prozent in der Bundestagswahl 1969, um dann 1972 mit 45, 8 Prozent den größten Triumph in ihrer Parteigeschichte zu erleben, als sie zum ersten und bislang einzigen Mal stärkste Partei im Deutschen Bundestag wurde. 1966 erreichte sie mit dieser Politik die Regierungsbeteiligung in der großen Koalition. Wie sehr die Politik der SPD in jener Phase auf die Akzeptierung der von der CDU geprägten Grundlinien deutscher Politik ausgelegt war, zeigt ein Wahlplakat aus dem Jahre 1965, in dem die damalige Oppositionspartei SPD nur ein einziges Wort schrieb: Ja.

Das Risiko dieser Politik wurde 1966 beim Eintritt in die große Koalition deutlich, als sich unverzüglich die Außerparlamentarische Opposition bildete und sich aus Gruppen rekrutierte, die zum überwiegenden Teil aus der engagiertesten Anhängerschaft der SPD bestanden hatten. Der Eintritt in die große Koalition selbst wurde auf dem turbulenten Nürnberger Parteitag im Frühjahr 1968, also nach fast eineinhalbjähriger Regierungsbeteiligung, nur mit knapper Mehrheit akzeptiert

Schon diese damaligen Ereignisse verdeutlichen ein strukturelles Problem, das später für die SPD von größerer Bedeutung werden sollte: In einem Parteiensystem wie dem deutschen, das grundsätzlich um zwei Pole organisiert ist, fällt der einen Partei die Rolle des Stabilisierens und Bewahrens, der anderen die des Veränderns zu, wobei unter Verändern in der Regel das visionäre Vermitteln von mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit und ähnlichem mehr zu verstehen ist. Damit kommt der Veränderungspartei, und das ist im deutschen Parteiensystem die SPD, die Rolle zu, jenes unruhige Segment einer modernen Industriegesellschaft, das stets auf derartige Veränderungen aus ist, ins Parteien-system zu integrieren. Immer aber gibt es Perioden, wo diese Aufgabe von einer Veränderungspartei nicht erfüllt werden kann. Dies war 1966 der Fall, als gerade dieser engagierte Teil ihrer Anhängerschaft den Eintritt in die große Koalition als Verrat empfand.

Die Periode der großen Koalition war zu kurz, als daß die Außerparlamentarische Opposition zu einer Gruppierung hätte werden können, die auch Resonanz innerhalb der Wählerschaft finden konnte. Mit dem Regierungswechsel von 1969 und mit den damals von Willy Brandt gezüchteten großen Erwartungen („Wir fangen erst richtig an", „Mehr Demokratie wagen“, usw.) gelang es bald, die Außerparlamentarische Opposition wieder in die SPD zu integrieren. Damit jedoch waren die Grundlagen für jenes Strukturproblem gelegt, das die SPD schließlich in die Niederlagen des Jahres 1983 geführt hat.

Die Integration der Außerparlamentarischen Opposition in die SPD verlagerte den Konflikt mit der Außerparlamentarischen Opposition in die SPD. Vereinfacht formuliert: Aus der APO wurde die innerparteiliche Opposition der SPD, beziehungsweise verstärkte diese; es begann jener Marsch durch die Institutionen, in dessen Verlauf die Vertreter des engagierten linken Flügels in den siebziger Jahren nicht nur zahlreiche Positionen innerhalb der SPD erobern konnten, sondern auch langsam aber stetig eine programmatische Entwicklung der SPD einleiteten, bei der man streiten konnte, ob sie durch die Formulierungen des Godesberger Programms abgedeckt waren; zweifelsohne aber waren sie nicht abgedeckt von dem Verständnis über die Pro-grammatik der neuen SPD, das jene Wähler kennzeichnete, die nach dem Godesberger Programm von der SPD hinzugewonnen worden waren. Diese Wähler waren durch den für sie politisch attraktiven Wirtschaftsminister Karl Schiller für die SPD gewonnen worden, der 1971 gegen die Umverteilungspolitik seiner Partei mit den Worten: „Genossen, laßt die Tassen im Schrank" warnte, um wenig später resignierend zurückzutreten. Mit diesen programmatischen Diskussionen waren jene innerparteilichen Auseinandersetzungen verbunden, die eine so wesentliche Grundlage für den Erosionsprozeß der SPD-Wählerschaft zugunsten der CDU/CSU waren.

Diese innerparteilichen Auseinandersetzungen beeinflußten die Regierungspolitik jedoch kaum. Insbesondere seit der Übernahme des Kanzleramtes durch Helmut Schmidt im Mai 1974, der sich im weiten Umfange an den Sachzwängen und den Notwendigkeitei) einer Koalitionsregierung mit der FDP orientierte. Die Folge war ein wachsendes innerparteiliches Spannungsverhältnis zwischen der Politik des Bundeskanzlers und den politischen programmatischen Vorstellungen eines wachsenden Teils seiner eigenen Partei. Anders formuliert: Je länger die SPD an der Regierung war, desto größer wurde ein Frustrationspotential jener engagierten Anhänger einer Veränderungs-Partei, die sich an der Diskrepanz zwischen sozialistisch visionären Veränderungswünschen und den Möglichkeiten sozial-demokratischer Politik in einer Koalitionsregierung rieben.

Dieses Frustrationspotential wuchs mit der Regierungsdauer der SPD in Bonn und suchte sich Ventile. Ein erstes Ventil war die langsame, aber stetige politisch-programmatische Entwicklung der SPD, die einen spektakulären Höhepunkt auf dem Münchner Parteitag im April 1982 fand und die sich wiederum an jenen beiden Grundpfeilern deutscher Politik entzündete, auf die Adenauer und Erhard die Bundesrepublik Deutschland gegründet, die von der SPD zunächst bekämpft und dann akzeptiert und schließlich wieder in Frage gestellt wurde. Der erste Komplexbereich — Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung — war in München Gegenstand einer umfangreichen Debatte. Wesentlich an dieser Debatte ist, daß der Bundeskanzler Schmidt sich an ihr nicht beteiligte, obwohl er wie kein anderer Kanzler der Bundesrepublik Deutschland außer Ludwig Erhard die ökonomische Kompetenz für sich in Anspruch nahm. Das Ergebnis waren eine Reihe von Beschlußfassungen und Empfehlungen, die mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht vereinbar waren. Ihre Kommentierung durch den Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff als „Gruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeuge" sagt nicht nur manches über das zu jenem Zeitpunkt bestehende Koalitionsklima zwischen SPD und FDP aus, sondern charak-terisiert durchaus treffend die ordnungspolitische Einordnung jener Beschlüsse.

Der zweite Grundpfeiler, die Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnissystem, hat in den letzten Jahren eine neue Aktualisierung durch den sogenannten Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 gewonnen. Am Zustandekommen dieses Beschlusses war der damalige Bundeskanzler Schmidt maßgeblich beteiligt gewesen, und auf dem Parteitag der SPD im Dezember 1979 in Berlin hatte er nach engagiertem Kampf für diesen Beschluß eine breite Mehrheit seiner Partei gefunden. Sehr bald wuchs jedoch der Widerstand innerhalb der SPD gegen diesen Beschluß, und im Jahre 1981 drohte der damalige Bundeskanzler Schmidt mehrmals auf regionalen Parteitagen mit seinem Rücktritt für den Fall, daß die SPD ihm in dieser Frage die Gefolgschaft verweigern sollte. Auf dem Münchener Parteitag stellte man diese Thematik gar nicht mehr zur Abstimmung, weil es zu offensichtlich war, daß eine Unterstützung der Politik des Bundeskanzlers in dieser Frage entweder nur eine sehr knappe oder keine Mehrheit gefunden hätte.

Diese politisch-programmatische Entwicklung der SPD ist zugleich die Ursache für das Scheitern der SPD/FDP-Koalition. Mit dem Münchener Parteitag und den dortigen Beschlüssen zur Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik sowie der dortigen Behandlung des NATO-Doppelbeschlusses hatte eine langjährige Entwicklung ihren vorläufigen Abschluß gefunden, mit der sich die SPD als Partei de facto aus der Regierung zurückgezogen hatte, die sie formal noch trug. Damit war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Koalition tatsächlich zerbrechen würde. Den Anlaß bildete dann der Streit um den Haushalt 1983, die Ursache aber liegt in den programmatisch-politischen Entwicklungen der SPD. Dies wird besonders deutlich, wenn man den letzten Streit dieser Koalition um das Konzept von Wirtschaftsminister Lambsdorff zur Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft analysiert. Die dortigen Vorschläge zur Sanierung der deutschen Volkswirtschaft liegen durchaus auf einer Linie mit den Gedanken, die die drei Vorgänger von Lambsdorff im Amt des Wirtschaftsministers in dieser Koalition artikuliert haben, nämlich Friederichs, Schmidt und Schiller. Aber diese Einzelheiten wurden nicht mehr diskutiert Die SPD empfand diese Vorschläge schlicht als eine Provokation, und Schmidt gelang es dann noch, der FDP den Schwarzen Peter für das Scheitern zuzuspielen.

Das zweite Ventil für die innerparteiliche Opposition der SPD waren die Abspaltungen; hier sind die Namen der beiden früheren Bundestagsabgeordneten Coppik und Hansen als die Spitze eines Eisberges zu betrachten. Das dritte und wesentlichste Ventil war das Entstehen der Grünen/Alternativen.

IV. Die Grün/Alternative Protestbewegung

Tab. 5

Die Entstehung der Grünen/Alternativen kann wie jedes politische Ereignis nur erklärt werden, wenn man zwischen Anlaß und Ursache unterscheidet. Anlaß waren zunächst konkrete Umweltprobleme, also Probleme der Kommunal-oder vielleicht Landespolitik mit unterschiedlicher Ausprägung. Durch den Protest gegen die Kernenergie, später die Startbahn West des Frankfurter Flughafens und die Fusion mit der Friedensbewegung erlangten sie ein bundeseinheitliches Thema. Aber die Anlässe kanalisierten nur, was in der wachsenden Frustration innerhalb der SPD während der Regierungszeit dieser Partei begründet war. Der Einzug der Grünen in die Landtage seit 1978 und jetzt in den Bundestag ist der Höhepunkt dieser Entwicklung. Daß den Grünen der Einzug ins Parlament gelang, wird zunächst nur bedeuten, daß das Bundestagspräsidium demnächst etwas mehr Mühe haben wird, die Sitzungen des Bundestages entsprechend der Geschäftsordnung zu leiten. Für die SPD bedeuten die Grünen im Bundestag die institutionalisierte Versuchung, sich um Randgruppenprobleme zu kümmern und dabei den Mehrheitskonsens der politischen Mitte zu verspielen.

Formal hat die SPD zwei Optionen: Sie kann, wie einst nach dem Godesberger Programm, auf die von der CDU bestimmten Grundlinien der deutschen Politik einschwenken und versuchen, als Volkspartei die politische Mitte wieder zurückzuerobern. Die Folge wäre zunächst eine Stabilisierung der Grünen — das wäre insbesondere der Fall bei der Bildung einer großen Koalition, wie sie vor dem Wahlergebnis vom 6. März gelegentlich diskutiert wurde, nach diesem Wahlergebnis aber nicht mehr zur Diskussion steht.

Die zweite Möglichkeit ist, daß die SPD sich um die Grünen bemüht, mit der Folge, daß sie die politische Mitte nicht erreichen kann. Schon nach dem Verlust des Regierungsamtes in Bonn hatte sich die SPD für die zweite Option entschieden. Mit dieser Politik hat sie auch erste Erfolge erzielt, wurde doch das Grüne Potential im Herbst letzten Jahres noch auf acht Prozent geschätzt; zur Bundestagswahl haben sie nur noch gut fünf Prozent erzielt. Eine Woche später gelang es der SPD in Schleswig-Holstein, die sich dort besonders stark auf die linke Peripherie orientiert, den Grünen den Einzug in den Landtag zu verwehren. Die SPD wird, wenn sie fortfährt, für das grüne Wählerpotential symbolische Positionen zu übernehmen — zum Beispiel das Nein zu einem Vollzug des Nachrüstungs-Doppelbeschlusses und ein Nein zur Kernenergie —, gute Chancen haben, diese Gruppen in die SPD und damit in das etablierte Parteiensystem zurückzuführen, freilich um einen doppelten Preis: Die Bundesrepublik Deutschland wird in zentralen Fragen der Außen-und Sicherheitspolitik, aber auch der Wirtschaftspolitik keinen Konsens zwischen den großen Parteien mehr kennen, wie das in den fünfziger Jahren schon einmal der Fall war. Die SPD fand den Weg in die Regierungsbeteiligung (große Koalition) und später zur Regierungsführung, nachdem sie die beiden Eckpfeiler der Ordnung der Bundesrepublik Deutschland akzeptiert hatte, und sie verlor die Macht wieder, als die Partei in beiden Bereichen innenpolitisch kontroverse Auffassungen entwickelt und ihre Haltung nach außen zunehmend unklar wurde. Dies führte bereits bei der Wahl am 6. März dazu, daß eine merkenswerte „große Koalition", bestehend aus den italienischen und französischen Sozialisten, den gemäßigten Demokraten und den Republikanern der USA und schließlich den englischen und norwegischen Konservativen auf einen Sieg der Union hofften.

Der zweite Preis, den die SPD für dieses Umwerben der Grünen zu zahlen hat, ist, daß sie den Mehrheitskonsens der politischen Mitte verspielt, der soziale Gruppierungen wie große Teile der Arbeiterschaft einschließt. Dies ist für die SPD kein neues Problem. Schon im November 1981 ist diese Frage in der Kontroverse zwischen Richard Löwenthal und Willy Brandt in der Neuen Gesellschaft ausgetragen worden Während Löwenthal die Orientierung an der politischen Mitte propagierte, votierte Brandt für das Bemühen um Reintegration der Grünen und Alternativen. Kurzfristig gibt es für die SPD keine Lösung aus diesem Dilemma. Mit der Entscheidung für das Umwerben der Grünen und Alternativen leistet sie zunächst einen Beitrag zur Stabilisierung des deutschen Parteiensystems. Aber diese Integration der Grünen kann nicht von heute auf morgen geschehen. Es reicht nicht aus, daß die Grün/Alternativen demnächst wieder aus den Parlamenten verschwinden, sondern sie müssen so stabil in die SPD zurückgeführt werden, daß die Partei sich wieder der politischen Mitte öffnen kann, ohne sofort an die linke Peripherie zu verlieren. Das kann Jahre dauern, Herbert Wehner sprach von 15.

V. Rückwirkungen auf das demokratische System

Demokratie lebt vom Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition. Indem die SPD wieder, wie in den fünfziger Jahren, auf Distanz zu den wichtigsten Grundelementen der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gegangen ist — und wenn sie dies in ihren Integrationsbemühungen gegenüber den Grünen weiterhin verfolgen wird —, entsteht erneut die Gefahr einer strukturellen Asymmetrie des Parteiensystems, wie es bis Mitte der sechziger Jahre der Fall war. Diese Asymmetrie des Parteiensystems wird auch dadurch verstärkt, daß die FDP auf überschaubare Zeit die Option für einen erneuten Koalitionswechsel nicht mehr hat. Sie kann sich nur an der Seite der CDU/CSU stabilisieren. Wenn sie sich dort stabilisiert, bedeutet dies zugleich eine Koalitionsbindung über Jahre hinaus. Der Koalitionswechsel im Herbst 1982 hat die Struktur der Mitgliedschaft der FDP verändert bzw. wird dies noch verstärkt bewirken. Die Entwicklung in Hamburg und Berlin, wo in relativ kurzen Abständen eine klare Parteitagsmehrheit für eine Koalition mit der SPD zu einer ebenso klaren Parteitagsmehrheit für eine Koalition mit der CDU wurde, verdeutlicht dies. Auch in anderen Landesverbänden sind diese Tendenzen erkennbar, nachdem bereits im Sommer 1982 in Hessen die ersten Vorboten dieser Entwicklung sichtbar wurden. Das Dilemma der SPD und die zu erwartende langfristige Koalitionsbindung der FDP an die Union hat zugleich zur Folge, daß dieses Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition außer Kraft gesetzt oder zumindest in Frage gestellt ist. Damit wird das Dilemma der SPD zu einem Dilemma der deutschen Demokratie.

Hier ist aber auch daran zu erinnern, daß dieses Dilemma eine institutionelle Ursache hat. Die Tatsache, daß die Veränderungspartei SPD so anfällig gegenüber'Verlusten an der linken Peripherie ist, ist natürlich auch in der unzureichenden institutionellen Absicherung des deutschen Parteiensystems durch das Wahlrecht begründet. Nach der NPD sind die Grünen die zweite Gruppierung, die demonstriert hat, daß die 5%-Klausel kein ausreichender Schutz zur Stabilisierung dieses Parteiensystems ist. Zwar garantiert die Rückkehr der FDP in den Bundestag, und damit die Fortsetzung der CDU/CSU-FDP-Koalition, daß es auch in Zukunft keine ernsthafte Debatte um die Reform des Wahlrechts geben wird, vielleicht aber erkennt die SPD — anders als während der Wahlrechtsdebatte der großen Koalition—, daß gerade in ihrem Interesse eine solche Wahlreform liegt, die u. a. große demokratische Parteien vor Absplitterungen an ihrer Peripherie schützt Ein zweites Verfassungsproblem bleibt anzusprechen: Wenn auch das Bundesverfassungsgericht die Auflösung des Deutschen Bundestages in der von Helmut Kohl gewählten Form für verfassungskonform erklärt hat, so haben die Entwicklungen vom Herbst 1982 bis zur Bundestagswahl 1983 dennoch gezeigt, daß die in der Verfassung gewählten Regelungen zumindest problematisch sind und nicht unbedingt den Anforderungen des Regierungssystems entsprechen. Hierbei ist zu bedenken, daß die von dem Parlamentarischen Rat gewählten Formulierungen entstanden sind vor dem Hintergrund, daß man ein Vielparteiensystem Weimarer Provenienz erwartete. Bei einem solchen Parteiensystem sollte die Möglichkeit der Parlamentsauflösung erschwert werden, weil, und gerade das hatte Weimar mehrfach gezeigt, unter solchen Bedingungen ein wirklich klärendes Wählervotum ohnehin nicht zu erwarten ist Bei einem derartigen Parteiensystem müßten sich die Parteien in Koalitionen zusammen-raufen; vorzeitige Neuwahlen sind kein Lösungsinstrument. Diese Erwartungsstruktur des Parlamentarischen Rates wurde jedoch durch die Entwicklung des deutschen Parteiensystems schon in den fünfziger Jahren überholt. Spätestens seit 1961 hat sich in der Bundesrepublik Deutschland ein fast alternatives Parteiensystem angelsächsischer Prägung herausgebildet. Damit sind auch die plebiszitären Komponenten stärker und dementsprechend im Verständnis von Politikern, Parteien und auch Bevölkerung Bundestagswahlen Kanzlerwahlen geworden, ohne daß dies den Regeln der Verfassung entspricht. Dementsprechend kann auch durch die Auflösung des Bundestages ein klärendes Wählervotum erwartet werden, wie das gerade der 6. März verdeutlicht hat. Daraus folgt, daß es heute anders als 1948/49 durchaus funktionsgerecht ist, die Verfassung diesem veränderten Parteiensystem derart anzupassen, daß die Auflösung des Bundestages erleichtert wird. Zwar hat das Gericht den von Kohl gewählten Weg, eine Abstimmungsniederlage im Parlament durch Absprache mit seiner eigenen Mehrheit herbeizuführen, sanktioniert, es bleiben aber nicht nur Zweifel, ob dies der Intention der Verfassungsväter entsprach, sondern auch, ob dies guter und zweckmäßiger parlamentarisch-politischer Stil ist. Allerdings kann man den Spruch des Gerichts auch als eine Verfassungswandlung verstehen, nach der in Zukunft der von Kohl gewählte Weg leichter zu beschreiten ist Dennoch bleibt die Frage — und der Bundeskanzler hat sie selbst aufgeworfen —, ob nicht eine Verfassungsänderung die bessere Lösung sei, um Parlamentsauflösungen in Zukunft in angemessener Form zu ermöglichen.

Hierzu sind zwei Möglichkeiten denkbar. Die eine ist die von der Enquete-Kommission zur Reform des Grundgesetzes schon vor zehn Jahren vorgeschlagene Möglichkeit der Selbstauflösung des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit Dieser Vorschlag übersieht die Funktion des Auflösungsrechtes in einem parlamentarischen System. Mit einer solchen Regelung hätte auch Helmut Schmidt im Herbst 1982 die Auflösung nicht erzwingen können, weil selbstverständlich CDU/CSU und FDP genausowenig bereit gewesen wären, einer Auflösung zuzustimmen, wie sie nicht bereit waren, auf ihr Verfassungsrecht zur Wahl eines anderen Kanzlers zu verzichten. Gerade die Situation des Herbstes 1982 verdeutlicht, wie wenig das Recht zur Selbstauflösung des Parlamentes in solchen kritischen Situationen geeignet ist, die politische Klärung herbeizuführen.

Die Alternative ist, daß auf den Vorschlag des Bundeskanzlers der Bundespräsident den Deutschen Bundestag auflösen kann. Eine solche Verfassungsregelung gibt es in fast allen parlamentarischen Demokratien: in Italien ebenso wie in Großbritannien, den Benelux-Ländern und den Skandinavischen Ländern. Sie ist insofern funktional im Sinne des parlamentarischen Systems, als sie damit dem Bundeskanzler ein Instrument in die Hand gibt, mit dessen Hilfe er die Kohäsion seiner Regierungsmehrheit verstärken kann. Es ist fraglich, ob es zum Koalitionswechsel der FDP im Herbst 1982 gekommen wäre, wenn Helmut Schmidt über ein solches Auflösungsrecht verfügt hätte. Das heißt, die Möglichkeit der Auflösung de facto durch den Bundeskanzler ist ein Element zur Stabilisierung der Regierungstätigkeit, erreicht also genau das Ziel, was der Parlamentarische Rat mit der Erschwerung der Auflösung anstrebte.

Die Unionsparteien und an ihrer Seite die FDP haben in dieser Wahl ein breites Mandat gewonnen. Wenn es ihnen gelingt, die Hoffnungen und Erwartungen der Wählerschaft, die dieses Mandat gegeben hat, auch nur vorsichtig zu erfüllen, wird die am 6. März erfolgte Machtzuweisung über mehrere Legislaturperioden hinausreichen. Dabei ist eine Wechselwirkung zwischen den politisch Handelnden und der Normenstruktur in der Bevölkerung unübersehbar. Je stärker in den letzten Jahren der soziale Versorgungsstaat ausgebaut wurde, je weniger das Prinzip der Eigenverantwortung, der Leistungsorientierung und der Pflichterfüllung als Eckpfeiler eines gesellschaftlichen Normensystems anerkannt wurde, desto geringer wurde einerseits die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Systems und desto stärker wurde andererseits dieses Ordnungssystem in Frage gestellt. Die Suche der Grünen nach „neuen Antworten", nach Lösungen, die anders sind als die der fünfziger Jahre, ist unmittelbar Folge einer Politik, die von dem Ordnungskonzept der fünfziger Jahre abgewichen war.

Damit ist das entscheidende inhaltliche Mandat des Wahlerfolges der Union und ihrer FDP-Klientel umschrieben: die ordnungspolitischen Daten wieder so zu setzen, daß sie ein auf Eigenverantwortung, Leistungsorientierung und Pflichterfüllung gerichtetes Normensystem fördern. Die Stabilisierung der außenpolitischen Orientierung wird damit automatisch eintreten; denn wer dieses Normensystem inhaltlich akzeptiert, für den ist die politische Grundausrichtung in die Gemeinschaft freier Völker eine Selbstverständlichkeit, die weder Äquidistanz zu Washington und Moskau, noch Mittlerkonzepte zwischen Ost und West und erst recht keinen Antiamerikanismus kennt. In diesem Sinne darf Helmut Kohl, wenn er langfristig Erfolg haben will, nicht nur der Enkel Adenauers, er muß auch der Enkel Ludwig Erhards sein.

Helmut Kohl hat in seinem Kabinett Fachleute, die den Mut zur Freiheit in Wirtschaftspolitik umzusetzen wissen. Die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland wird entscheidend dadurch bestimmt, ob das Mandat vom 6. März entschlossen für eine neue Politik und geistig-moralische Führung genutzt wird. Gelingt dies nicht, dann kann das breite Mandat vom 6. März auch verspielt werden. Dies aber wäre angesichts des strukturellen Dilemmas der SPD und damit der zur Zeit fehlenden mehrheitsfähigen Alternative zur gegenwärtigen Regierung eine schwere Belastung der demokratischen Ordnung. In diesem Sinne geht die Verantwortung der Regierung aus CDU/CSU und FDP, ihr zum Erfolg verurteilt sein, weit über die Wahlchancen dieser beiden Parteien hinaus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. V. O. Key, jr., A Theory of Critical Elections, in: Journal of Politics, Vol. 17, February 1955, S. 3— 18.

  2. E. Faul, Ch. Baer, Das Deutsche Wahlwunder, Frankfurt 1953.

  3. Diese wie alle anderen Angaben zum Meinungsbild in der Wählerschaft sind einer Repräsentativ-befragung entnommen, die bei 2 600 Befragten im Auftrag des Instituts für Politische Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität vom Gefas Institut in Bremen unmittelbar vor der Wahl durchgeführt wurde.

  4. W. Kaltefleiter, Zwischen Konsens und Krise. Eine Analyse der Bundestagswahl 1972, Bonn 1973.

  5. W. Kaltefleiter, Vorspiel zum Wechsel. Eine Analyse der Bundestagswahl 1976, Berlin 1977; sowie ders., Der Gewinner hat nicht gesiegt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 50/76, S. 3— 35.

  6. W. Kaltefleiter, Vorspiel zum Wechsel, a. a. O., S. 246ff.

  7. W. Kaltefleiter, über die Polarisierung der Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18/81, S. 3— 13.

  8. W. Kaltefleiter, Warum der „Fortschrittspartei“ SPD die Wähler davonlaufen, in: Die Welt v. 23. 3. 1982.

  9. W. Kaltefleiter, Präsentation eines Bürgermeisters zeigte diesmal nicht die erhoffte Wirkung, in: Die Welt v. 8. 6. 1982.

  10. Vgl. auch die Darstellung von K. Bölling, Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt Hamburg 1983, die deutlich macht, daß die letzten Wochen der Regierung Schmidt nur von taktischen Überlegungen über den optimalen Abgang beherrscht waren.

  11. W. Kaltefleiter, Gegenbewegung begann mit Koalitionsbruch, in: Die Welt v. 28. 9. 1982, und ders., Die CSU bringt die Bürger schon im vorpolitischen Raum an sich, in: Die Welt v. 12. 10. 1982.

  12. W. Kaltefleiter, Hamburg-Wahl widerlegt nicht die guten Chancen Kohls am 6. März, in: Die Welt v. 21. 12. 1982.

  13. Vgl. P. Schiwy, Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1983 zur Bundestagswahl am 6. März 1983, Percha 1983.

  14. A Campbell, P. E. Converse, W. E. Miller, E. D. Stokes, Elections and the Political Order, New York, London, Sydney 1967, S. 9ff.

  15. W. Kaltefleiter, Konsens ohne Macht? Eine Analyse der Bundestagswahl vom 19. September 1965, in: Jahrbuch Verfassung und Verfassungs" irklichkeit, Köln u. Opladen 1966, S. 14— 63.

  16. P. Arendt, Die innerparteiliche Entwicklung der SPD 1966— 1975, Bonn 1975, S. 86.

  17. Zeit-Gespräch mit Otto Graf Lambsdorff, in: Die Zeit, 7. 5. 1982.

  18. W. Brandt, Sozialdemokratische Identität, R. Lö-wenthal, Identität und Zukunft der SPD, in: Die Neue Gesellschaft, Dezember 1981, S. 1065— 1069 bzw. 1085— 1089.

  19. Vgl.: Schlußbericht der Enquete Kommission, Bundestagsdrucksache VII/5924.

Weitere Inhalte

Werner Kaltefleiter, Dr. rer. pol., geb. 1937; ordentlicher Professor für politische Wissenschaft an der Christian Albrechts Universität in Kiel, Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft; von 1970 bis 1975 Leiter des sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung. Veröffentlichungen u. a.: Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970; Im Wechselspiel der Koalitionen — Analyse der Bundestagswahl 1969, 1970; Das labile Gleichgewicht — Das amerikanische Parteiensystem nach den Wahlen von 1972 (zus. m. Edward Keynes), 1973; Geheimhaltung und Öffentlichkeit in der Außenpolitik (zus. m. Peter Krogh), 1974; Minoritäten in Ballungsräumen — Ein deutsch-amerikanischer Vergleich (zus. m. Michael G. Eisenstadt), 1975; Vorspiel zum Wechsel. Eine Analyse der Bundestagswahl 1976, 1977; Weltmacht ohne Politik (zus. m. Edward Keynes), 1979; Empirische Wahlforschung. Eine Einführung in Theorie und Technik (zus. m. Peter Nißen), 1980.