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Die Verteidigung des Friedens gegen den Pazifismus | APuZ 17/1983 | bpb.de

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APuZ 17/1983 Friedensbewegung in der DDR Die Verteidigung des Friedens gegen den Pazifismus Die Friedensbewegung -zu radikal oder gar nicht radikal genug?

Die Verteidigung des Friedens gegen den Pazifismus

Manfred Spieker

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Pazifismus ist eine politische Bewegung, die im Frieden das höchste Ziel der Politik sieht. Ihre Diagnosen über die Ursachen der gegenwärtigen Gefährdungen des Friedens und ihre Vorschläge zu seiner Sicherung haben jedoch keine Stabilisierung, sondern eine Schwächung des Friedens zur Folge. Die in der Friedensbewegung verbreitete Diabolisierung der atomaren Rüstung sieht die Ursache der Friedensgefährdung nicht in Menschen, Ideologien und aggressiven politischen Zielen, sondern in der Rüstungstechnologie. Sie hat die Weigerung zur Folge, die kommunistische Ideologie sowie die Militärstrategie und die Wehrerziehung der Sowjetunion zur Kenntnis zu nehmen. Die vielfältigen Rezepte, den Frieden durch einen neuen Staat, neue internationale Beziehungen oder gar einen neuen Menschen zu sichern, führen zu seiner weiteren Destabilisierung. Eine Verteidigung des Friedens unter den Bedingungen atomarer Rüstung und revolutionärer Ideologie erfordert demgegenüber eine Ethik der Abschreckung. Sie hat die Kriterien zu nennen, die die Legitimität und zugleich die Schranken militärischer Friedenssicherung begründen. Sie hat zu zeigen, daß die Lehre vom gerechten Krieg auch unter den Bedingungen atomarer Rüstung nicht überholt ist. Solange die reale Bedrohung nichtsozialistischer Staaten durch die revolutionäre Ideologie und die Rüstung, die Militärstrategie und die expansive Politik der Sowjetunion existiert, bleibt eine hinlängliche Abschreckung unverzichtbar, wenn ein Frieden gesichert werden soll, der nicht auf Unterwerfung, sondern auf Recht und Freiheit beruht. Rüstung und Abschreckung bleiben gegenüber einer militärischen Aggression wie einer politischen Erpressung mit Kernwaffen oder konventionellen Waffen das kleinere Übel. Sie sind aber einer Politik der Friedensförderung unterzuordnen, die in Konflikten Kooperation und in aller Auf-und Nachrüstung Rüstungskontrolle und Abrüstung sucht.

Zu allen Zeiten war der Friede ein überaus kostbares, aber auch ein überaus zerbrechliches Gut. Kostbar, weil er die Voraussetzung der Entfaltung der menschlichen Anlagen und Fähigkeiten ist; zerbrechlich, weil er von einer Reihe dieser Anlagen, wie Egoismus, Haß und Ungerechtigkeit sowie durch soziale Strukturen, die von diesen Eigenschaften korrumpiert sind, immer wieder unterhöhlt werden kann. Der Friede als ein Zustand des gerechten Ausgleichs der gegenseitigen Ansprüche von Menschen, sozialen Gruppen und Nationen, als ein Zustand gegenseitiger Respektierung der individuellen Würde, gegenseitigen Vertrauens und Wohlwollens ist Ziel und gleichzeitig Bedingung gemeinwohl-orientierter Politik.

Der Pazifismus als eine Bewegung, die den Frieden als das höchste Ziel der Politik betrachtet, ist sich der Bedeutung und der Kostbarkeit dieses Gutes durchaus bewußt. Warum dann der paradoxe Titel? Ist der Friede gegen eine Bewegung zu verteidigen, die nichts anderes will als Frieden? Ist die Bewegung, die den Frieden über alle anderen politischen Ziele stellt, eine Gefahr für jenes Gut, das ihr alles gilt, so daß der Frieden gewissermaßen gegen seine Verteidiger zu verteidigen ist? Wenn hier bereits durch den Titel zum Ausdruck gebracht wird, daß der Friede durch den zeitgenössischen Pazifismus gefährdet wird und deshalb gegen diesen zu verteidigen ist, dann nicht, weil der Friedensbewegung ein Interesse an der aktiven Beseitigung des Friedens unterstellt wird, sondern weil eine Reihe ihrer Diagnosen der Gefährdungen des internationalen Friedens sowie ihrer Vorschläge zu seiner Sicherung schwerwiegende Defizite enthält, deren Folgen den Frieden nicht stabilisieren, sondern schwächen. In einem ersten Schritt sollen im folgenden diese Defizite herausgearbeitet werden. In einem zweiten Schritt ist dann eine Verteidigungsethik unter den Bedingungen atomarer Rüstung und revolutionärer Ideologie zu skizzieren. Die Diabolisierung der atomaren Rüstung Die Suche nach den geeignetsten Mitteln der Friedenssicherung bleibt immer abhängig von der Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Friedensgefährdung. Wenn die Ursachen der Friedensgefährdung komplex sind, werden auch, die Mittel der Friedenssicherung vielfältig sein und einander ergänzen und stützen müssen. Weder vertraglich gesicherte Entspannung noch kontrollierte Abrüstung noch internationale Wirtschaftshilfe werden allein ausreichen, um den internationalen Frieden zu sichern.

Seit es Atomwaffen gibt, hat es diese Erkenntnis jedoch zunehmend schwer, sich Geltung zu verschaffen. Da diese Waffen ihren Besitzern nicht nur die Möglichkeit geben, sich gegenseitig schweren Schaden zuzufügen, sondern auch die bewohnbare Erde zu zerstören, also die Ernährungs-und Behausungsmöglichkeiten ein für allemal zu vernichten, 17

I. Defizite der Friedensbewegung

• gelten sie eo ipso als die Ursache der Gefährdung des Friedens. Sie erzeugen Angst. Eine Nation, deren Streitkräfte über atomare Waffen verfügen, gilt per se als friedensgefährdend. Die Entwicklung atomarer Waffen gilt als Verbrechen, als Wettlauf des Wahnsinns. Ihr wird eine „Eigendynamik" unterstellt, die den Frieden immer mehr gefährdet. Nur die Rüstungstechnokraten der Industrie und des Militärs könnten Interesse an dieser Entwicklung haben. Sie gelten deshalb — in gewissem Widerspruch zur These von der Eigendynamik — auch als verantwortlich für die bedrohliche Situation, in der sich die Welt gegenwärtig befindet 1) -

Dieser Diabolisierung der Waffen kann gewiß nicht die These gegenübergestellt werden, Atomwaffen würden eo ipso den Frieden sicherer machen. Dies käme ihrer Heiligsprechung gleich, die nicht weniger fatal wäre als ihre Diabolisierung. Die Möglichkeit, sich selbst und die Erde zu vernichten, kann nur den Ignoranten und den Zyniker unbesorgt lassen. Für jeden wachen, verantwortungsbereiten und am Gelingen seines Lebens interessierten Bürger muß sie Gegenstand seiner Sorge und Anlaß manchen Bangens bleiben. Darüber hinaus gilt für die Entwicklung atomarer Rüstung, was für jede Rüstung gilt: sie verschlingt große Summen knappen Geldes, das zur Finanzierung anderer, unmittelbarer den Frieden fördernder, nationaler und internationaler Aufgaben dringend gebraucht werden könnte, und sie kann Leben nicht erst im Falle ihres kriegerischen Einsatzes, sondern schon im Stadium ihrer Erprobung gefährden. Die Sorge hinsichtlich der atomaren Rüstung und ihrer Entwicklung ist also nicht nur verständlich, sie ist die Pflicht jedes Politikers und jedes Bürgers, der Verantwortung für den Frieden trägt. '

Aber die Gefährdung und dementsprechend auch die Stabilisierung des Friedens ist in erster Linie nicht eine Frage der Rüstung, sondern der Motive und Ziele, die die Rüstung bedingen. Wenn diese Motive und Ziele von einem Frieden ausgehen, der seinerseits an die Respektierung der Freiheit und des Rechts gebunden bleibt, ist auch die Rüstung, die der Verteidigung dieses Friedens dient, nicht verwerflich. Im Gegenteil, sie ist sittlich geboten. Wenn diese Motive und Ziele dagegen von expansiven oder gar aggressiven Intentionen ausgehen, ist Rüstung ein Instrument, das den Frieden gefährdet. Sie ist sittlich nicht zu rechtfertigen, nicht weil sie auf einer hochentwickelten Technologie mit immensem Zerstörungspotential aufbaut, sondern weil sie von Intentionen ausgeht, die die Freiheit und das Recht und somit auch den Frieden mißachten. Eine Rüstung, die von solchen Intentionen ausgeht, wäre auch dann gefährlich für den Frieden und somit verwerflich, wenn sie nur konventioneller Natur wäre. Ob die politischen Mächte, die atomare Waffen besitzen, expansive Absichten haben oder nicht, welchen politischen Zielen sie folgen, welchen inneren Kontrollen sie in ihrem Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß unterworfen sind, dies sind Fragen, denen sich jede Suche nach den Ursachen für die Gefährdungen des internationalen Friedens und nach den Möglichkeiten zu seiner Stabilisierung zu stellen hat. Sie offenbaren ein zweites Defizit der Friedensbewegung: die Weigerung, die kommunistische Ideologie einer kritischen Analyse zu unterziehen oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

2. Die Tabuisierung der kommunistischen Ideologie, Militärstrategie und Wehr-erziehung

Gewiß wird die konventionelle und atomare Rüstung der Sowjetunion in der Friedensbewegung nicht gänzlich übersehen. Gelegentlich wird sie auch nicht weniger kritisiert als die der NATO Oft wird sie jedoch, wenn sie denn schon in den Blick gerät, mit den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion begründet. Diese Sicherheitsinteressen werden ihrerseits entweder mit dem Trauma erklärt, das die Invasion der deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg bei allen Völkern des Ostblocks hinterlassen habe, oder mit der feindlichen Einkreisung, der sich die Sowjetunion ausgesetzt sehe Während die behauptete Einkreisung, die auch parteioffiziell seit Stalin zur Legitimation jeglicher inneren und äußeren Unterdrückung herangezogen wird, in rationalen und um Überzeugung bemühten Argumentationen keine Rolle spielt, ist das Trauma als Erklärung sowjetischer und östlicher Sicherheitsinteressen ernster zu nehmen. Es ist nicht zu bestreiten, daß das nationalsozialistische Deutschland in vielen Völkern des Ostblocks ein solches Trauma hinterlassen hat. Daß dieses Trauma zum Teil heute noch, also mehr als 40 Jahre nach jener Invasion, wirksam ist, dürfte freilich in erster Linie auf die Abschottung sozialistischer Staaten durch die regierenden Kommunisten und auf ihr Informationsmonopol zurückzuführen sein, durch das sie die Furcht vor einer solchen Invasion wider besseren Wissens sorgsam pflegen

Die konventionelle und atomare Rüstung der Sowjetunion auf traumatisch überhöhte Sicherheitsinteressen zurückzuführen, verbietet allerdings bereits die Stärke und der Charakter der sowjetischen Rüstung. Noch mehr aber verhindert der beeindruckend konsistente und klare ideologische Kontext, in den diese Rüstung eingebunden ist, eine solche Begründung. Dieser Kontext wird in der Friedensbewegung in aller Regel ignoriert. Auch wenn gelegentlich konkrete politische Aktionen, wie die Invasion in Afghanistan oder der Druck auf Polen 1981, kritisiert werden, so reicht diese Kritik doch nie bis zum ideologischen Kontext dieser Aktionen.

Die Ideologie des Marxismus-Leninismus macht aus den expansiven Zielen der sowjetischen Politik so wenig einen Hehl wie die Militärstrategie und die Wehrerziehung. Im Gegenteil, gemäß dem klassischen Grundsatz von Marx und Engels, daß Kommunisten es verschmähen, „ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen", vielmehr offen erklären, „daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung" erklären auch die Repräsentanten von Partei und Streitkräften in der Sowjetunion und in der DDR in zahlreichen Dokumenten offen und unzweideutig, daß sie die Weltrevolution nicht nur wünschen, sondern als die Voraussetzung des internationalen Friedens betrachten. Wenn an diesen ideologischen Kontext der sowjetischen Rüstung erinnert wird, wird also nicht einem „Feindbild vom unersättlichen Weltrevolutionär" das Wort geredet, sondern dem Rechnung getragen, was in der Sowjetunion und in der DDR selbst als höchstes Ziel der Politik und als Legitimationsquelle für die Rüstung, die Militärstrategie und die Wehr-erziehung angeboten wird.

So beansprucht das Programm der KPdSU von 1961 nicht nur eine „welthistorische Mission", sondern erklärt auch offen, daß man dazu den Weg der Gewalt nicht ausschließen dürfe: „Der Erfolg des Kampfes der Arbeiterklasse für den Sieg der Revolution wird davon abhängen, inwiefern sie und ihre Partei es erlernen, sich aller Formen des Kampfes zu bedienen, der friedlichen wie der nichtfriedlichen, der parlamentarischen wie der außer-parlamentarischen, und ob sie zur schnellsten und überraschendsten Ersetzung einer Kampfform durch eine andere bereit sind." Der Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann, antwortete 1975 auf die Frage, welche Rolle militärische Gewalt für den Sieg der sozialistischen Revolution spiele: „Bis jetzt kennt die Geschichte tatsächlich keinen Fall, in dem eine sozialistische Revolution zum

Siege geführt worden wäre, ohne daß die Kanonen ihr Machtwort gesprochen hätten oder ohne daß sie mindestens gerichtet und geladen waren."

Zwar wird in diesen Dokumenten unter Berufung auf Lenin meist darauf hingewiesen, daß es besser sei, den Sieg der Weltrevolution auf friedlichem Weg zu erringen. Aber es gilt gleichzeitig als „Phantasterei", darauf zu hoffen. Die ständige Bereitschaft „zum Schutz erkämpfter Position auch militärische Gewalt anzuwenden" und die Fähigkeit, „von friedlichen Kampfformen unverzüglich zu blutigen überzugehen", bleiben die Voraussetzung der welthistorischen Mission des Sozialismus Zu diesen blutigen Kampfformen zählt ausdrücklich auch ein Krieg mit Kernwaffen. Die Auffassung, daß „der Raketen-Kernwaffen-Krieg... keine Fortsetzung der Politik der kämpfenden Klassen mehr, sondern nur noch atomares Inferno, Weltuntergang" sei, die sogar „fortschrittliche Menschen in der Friedensbewegung vertreten", wird zurückgewiesen. „Bei allem Leid, das in diesem letzten und entscheidenden Konflikt zwischen Fortschritt und Reaktion über die Völker käme, besonders in den kapitalistischen Ländern — das wäre von unserer Seite ein gerechter Krieg." Ein gerechter Krieg, nicht im Sinne einer Verteidigung gegen eine Aggression, sondern im Sinne eines endgültigen Sieges des Sozialismus über den Kapitalismus, im Sinne der Vernichtung der imperialistischen Ausbeutergesellschaft, der „Grundursache aller Kriege", und der Herstellung der „gesellschaftlichen Grundlage für den . ewigen Frieden'“ Zwingt schon dieser kurze Blick auf die revolutionäre Ideologie des Marxismus-Leninismus zu dem Schluß, daß die sowjetische Politik nicht an der Erhaltung des Status quo, sondern an seiner revolutionären Veränderung, nicht an Krieg, aber an Sieg interessiert ist, so wird dieses Ergebnis jeweils neu bestätigt, wenn über die Ideologie hinaus auch die sowjetische Rüstung, die expansive Außenpolitik, die Militärstrategie und die Wehrerziehung untersucht werden. Die Sowjetunion hat ihre Rüstung auf allen Sektoren in Friedenszeiten noch nie so kontinuierlich und so schnell gesteigert wie seit der Aktivierung der Entspannungspolitik Anfang der siebziger Jahre. Die Dislozierung der SS-20-Raketen seit 1977 — bis Ende 1982 rund 330 Stück mit je drei getrennt lenkbaren, zielgenauen Nuklearsprengköpfen, die zu 70% gegen die NATO-Staaten gerichtet sind — ist nur ein Beispiel ihrer Aufrüstung. Die quantitative und qualitative Entwicklung der Panzerstreitkräfte, der U-Boot-Flotte, der Luftwaffe, der Kampfhubschrauber, der Interkontinentalraketen, die Entwicklung der Rüstungsproduktionsstätten, des Militärhaushaltes, der Personalstärke und der Zivilverteidigung sowie die geographische Stationierung der Streitkräfte demonstrieren eine Aufrüstung und eine militärische Strategie, die mit defensiven Interessen unvereinbar sind

Die Sowjetunion hat sich seit 1945 auch nicht gescheut, ihre militärische Macht in zahlreichen Fällen zur revolutionären Veränderung politischer Verhältnisse, zur Unterdrückung von Freiheitsbestrebungen innerhalb ihres Herrschaftsbereiches und zur Ausweitung ihrer Macht über die Grenzen ihres Einflußbereiches hinaus einzusetzen, so u. a. bei der Blockade Berlins 1948, in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968, in Afghanistan 1979 und in Polen 1981. Daneben hat sie in zahlreichen Gebieten der Welt kriegerische Auseinandersetzungen initiiert oder unterstützt.

Die sowjetische Militärstrategie propagiert für den Fall des bewaffneten Konflikts die Vernichtung des Gegners. Wenn der weltweite Sieg des Sozialismus und die Niederlage des Kapitalismus gemäß der Ideologie des Historischen Materialismus als das Resultat der objektiven Gesetze der Geschichte gelten, das durch niemanden verhindert, sondern nur durch die kapitalistischen Staaten verzögert oder durch die sozialistischen beschleunigt herbeigeführt werden kann, dann gewinnt ein militärischer Konflikt zwischen Ost und West gleichsam eschatologische Dimensionen. Wenn er ausbricht, nimmt er die Form einer Entscheidungsschlacht zwischen den beiden entgegengesetzten Gesellschaftssystemen an. Die Militärstrategie orientiert sich wie die Planung und Entwicklung der Rüstung am historischen Charakter eines solchen Konflikts, in dem deshalb nicht nur die Streitkräfte, sondern auch das Hinterland des Gegners zu vernichten seien

Kriege, die den Sozialismus verteidigen oder seine Ausbreitung fördern, also alle Kriege sozialistischer Staaten gegen die sogenannten kapitalistischen Staaten, alle bewaffneten Klassenkämpfe in nichtsozialistischen Staaten und alle Kämpfe von Volksbefreiungsbewegungen in der Dritten Welt, gelten seit Lenin als gerechte Kriege; als ungerechte Kriege gelten umgekehrt alle Kriege gegen sozialistische Staaten, gegen Volksbefreiungsbewegungen und gegen die Arbeiterklasse Kriege zwischen sozialistischen Staaten fehlen in diesem Schema.

Auch die sowjetische Wehrerziehung orientiert sich am historischen Charakter eines solchen Konflikts. Sie stellt die Erziehung zum kommunistischen Bewußtsein und zum Haß auf den Feind in ihren Mittelpunkt. Wie der Historische Materialismus dem sowjetischen Soldaten die Überzeugung vom Sieg des Sozialismus zu geben hat, so hat der Haß seine Bereitschaft zur Selbstaufopferung zu stärken. „Ohne aktiven Haß auf den Feind kann keine Rede von einer guten moralisch-politischen und psychologischen Bereitschaft der Soldaten zu Kampfhandlungen sein. Der Charakter des modernen Krieges erfordert eine noch nie dagewesene Steigerung der Anstrengungen zur Erziehung des Haßgefühls gegenüber dem Feind. Schon zu Friedenszeiten muß dieses Gefühl so stark ausgeprägt vorhanden sein, daß der Soldat in jedem Augenblick mutig und ohne Zweifel den Kampf gegen den Feind mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln beginnen könnte." Eine Synopse dieser verschiedenen Bereiche, die eine beeindruckende Konsistenz aufwei-sen, zeigt, daß die Sowjetunion bzw. die revolutionäre Ideologie, der ihre Politik nicht zu entsagen bereit ist, von einem Friedens-und Sicherheitsbegriff ausgeht, der sich vom Verständnis dieser Begriffe in den Staaten des Atlantischen Bündnisses grundsätzlich unterscheidet. Der Friede gilt erst dann als gesichert, wenn die weltweite Herrschaft des Sozialismus und seiner Avantgarde realisiert ist Friede heißt in dieser Perspektive Unterwerfung unter die Avantgarde. Er bleibt, da er nicht an die Einhaltung des Rechts und die Respektierung unverfügbarer Menschenrechte gebunden ist, der Friede des Archipel Gulag, des polnischen Kriegsrechts oder der tschechoslowakischen Normalisierung. Er gilt als bedroht nicht allein durch die Waffen des Westens, sondern auch durch seine Freiheiten, seine pluralistischen Gesellschaften und seine rechtsstaatlichen Strukturen ja er gilt bereits als gefährdet, wenn sich in sozialistischen Staaten freiheitliche Tendenzen artikulieren, wie 1968 in der Tschechoslowakei oder 1980/81 in Polen.

Eine kritische Darstellung der Ideologie, der Militärstrategie und der Wehrerziehung der Sowjetunion und eine Analyse des sowjetischen Friedensbegriffs bedeuten logisch natürlich keine Kanonisierung der westlichen Politik. Die NATO ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Um aber falschen Hoffnungen auf Äquidistanz vorzubeugen, gilt es festzuhalten, daß ihren Mitgliedern bei aller Kritik an einzelnen politischen Aktionen oder an Mängeln in der inneren Ordnung nicht vorgeworfen werden kann, daß sie einer expansiven oder aggressiven Ideologie folgen, das Recht als Maß der Politik leugnen oder den Frieden als Unterwerfung unter den eigenen Machtanspruch definieren. Sie wollen in erster Linie ihre Freiheit verteidigen, die eine Voraussetzung des Friedens ist, auch wenn sie dies oft genug kurzsichtig, inkonsequent und ohne Bereitschaft zu den dafür notwendigen Anstrengungen tun. *

3. Die Destabilisierung des Friedens

Daß sich diese Defizite in der Diagnose der Friedensgefährdungen in den Vorschlägen zur Sicherung des Friedens niederschlagen, bedarf keiner langen Begründung. Jede Therapie steht und fällt mit der vorausgehenden Diagnose. Die Diabolisierung der atomaren Rüstung und die Weigerung, die kommunistische Ideologie, Militärstrategie und Wehrerziehung der Sowjetunion zur Kenntnis zu nehmen, haben eine Destabilisierung des Friedens zur Folge.

Die Diabolisierung der Rüstung führt zunächst zu den Forderungen nach unbedingtem, von sowjetischem Verhalten bei den Rüstungskontrollverhandlungen in Genf also unabhängigem Verhindern der Dislozierung der 572 Mittelstreckenwaffen der NATO Ende 1983, nach Einfrieren der atomaren Rüstung, nach Erklärungen, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten oder gar einseitig abzurüsten. Eine Reduzierung oder Eliminierung des teuflischen Werkzeugs gilt als Sicherung des Friedens. Diese Schlußfolgerung ist die logische Konsequenz der Diabolisierung der Rüstung. Aber sie bleibt fatal, weil sie den Frieden nicht nur nicht sichert, sondern weiter destabilisiert, indem sie den expansiven oder gar aggressiven Intentionen den Weg zu politischen oder gar militärischen Aktionen öffnet.

Nicht daß der Sowjetunion unterstellt wird, sie würde bei einer einseitigen Abrüstung des Westens prompt ihre SS-20-Raketen abfeuern. Sie hätte dies gar nicht nötig, um ihre expansiven Ziele zu erreichen. Angesichts ihrer nirgends bestrittenen Überlegenheit auf dem Sektor konventioneller Rüstung hätte sie hinreichende Mittel, um ihre Ziele auf politischem statt auf militärischem Wege zu erreichen. Allein die diplomatisch wattierte Androhung ihres Einsatzes würde vermutlich genügen, um Regierungen kapitulieren zu lassen, denen an der Sicherung der Existenz ihrer Völker liegt und die von der Aussichtslosigkeit eines militärischen Widerstandes überzeugt sind.

Der Aufforderung, die expansiven oder gar aggressiven Intentionen der kommunistischen Ideologie, der Militärstrategie und der Wehrerziehung zur Kenntnis zu nehmen und die Rüstung und die Außenpolitik der Sowjetunion von diesem Kontext her zu beurteilen, wird in vielen Äußerungen aus der Friedensbewegung meist mit moralischen oder geschichtsphilosophischen Einwänden begeg21 net. Die moralischen Einwände sind in der Regel bemüht zu zeigen, daß alle Menschen in allen Ländern ungefähr gleich gut oder gleich schlecht seien und daß auch der Westen, vor allem die Vereinigten Staaten, expansive Interessen hätten. Jede derartige Diskussion steuert meist schnell auf die Problemkreise Vietnam oder El Salvador zu. Die Äquidistanz beherrscht das Feld. Mit der Frage „Und die Amerikaner?“ wird versucht, jeden Hinweis auf die politische oder militärische Expansion der Sowjetunion zu übergehen.

Die Weigerung, die expansiven Intentionen der kommunistischen Ideologie und der ihr folgenden Politik zur Kenntnis zu nehmen, verwandelt sich in den moralischen Vorwurf an den, der auf sie hinweist, er konstruiere Feindbilder, er huldige einem blinden Antikommunismus, er übersehe den Balken im eigenen Auge oder verschleiere eigene Interessen. Der Bensberger Kreis sieht in solchen Hinweisen sogar die Spätfolge nationalsozialistischer Indoktrination

Wenn sich Verteidiger der einseitigen Abrüstung selten einmal dem Hinweis auf die expansiven Ziele der kommunistischen Ideologie und der sowjetischen Politik stellen und fragen, was geschehen würde, wenn alle Erwartungen, die mit der einseitigen Abrüstung verbunden sind, Täuschungen wären, dann fliehen sie in die Geschichtsphilosophie. „In diesem Fall müßten wir das Schicksal der osteuropäischen, von Rußland beherrschten Staaten teilen. Dies wäre ein Übel, aber bei nüchterner Betrachtung doch ein erträgliches. Auch in dieser Situation können sich Menschen einigermaßen einrichten, und es bliebe vor allem die sehr begründete Hoffnung, daß sich die Lage in einigen Jahren oder spätestens Jahrzehnten wieder bessern würde.“ Daß die geschichtsphilosophische Trivialität vom Wandel aller Verhältnisse geeignet wäre, Andrej Sacharow in seiner Verbannung in Gorki, die Dissidenten in den psychiatrischen Kliniken der Sowjetunion, die Funktionäre der „Solidarität" im polnischen Untergrund oder Jugendliche in der DDR zu trösten, die wegen ihrer Weigerung, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen, keinen Ausbildungsvertrag oder keinen Studienplatz erhalten, wer kann sich dies vorstellen? Daß diese Trivialität geeignet gewesen wäre, den Häftlingen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ihr Schicksal zu erleichtern oder dazu taugt, den Eltern in allen Kriegszonen der Erde über den Verlust ihrer getöteten Kinder hinwegzuhelfen, wer würde dies zu denken wagen? Weissagungen darüber, daß sich jedes Übel „in einigen Jahren oder spätestens Jahrzehnten“ wieder bessern werde, sind gegenüber denen, die die Freiheit besitzen, eine Flucht aus der politischen Verantwortung und gegenüber denen, die sie bereits verloren haben, Zynismus. Derartige moralische und geschichtsphilosophische Trivialitäten tendieren dazu, auf gleiche Distanz zu Recht und Unrecht, zu Freiheit und Unfreiheit zu gehen. Die bei der Unterscheidung von Recht und Unrecht zu überwindenden Schwierigkeiten sollen dadurch beseitigt werden, daß der Unterschied zwischen Recht und Unrecht bestritten bzw. Recht und Unrecht als gleichgültig betrachtet werden. Mit dem Blick für das, was verteidigungswürdig ist, wird der Friede selbst geschwächt. Wenn der Friedensbewegung der Vorwurf gemacht werden muß, den Frieden nicht zu sichern, sondern zu destabilisieren, sq noch wegen einer Reihe weiterer Gründe. Dazu zählt in erster Linie die theoretische und praktische Mißachtung der innerstaatlichen Rechtsordnung. Die Friedensbewegung versteht sich als eine Bewegung von Menschen, „die den Frieden nicht mehr als Geschenk einer Obrigkeit erwarten und ihn daher von der Basis her erzwingen wollen" Politische Entscheidungen über Rüstungs-, Energie-oder Verkehrs-projekte, die nach den Regeln einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung erfolgt sind, werden nicht akzeptiert. Die Kontrolle durch eine unabhängige Justiz wird nur dann anerkannt, wenn sie zu Ergebnissen führt, die den eigenen Zielen entsprechen. Gezielte Regelverletzungen, gewaltsame Demonstrationen und Blockaden zeigen ein regressives Rechtsbewußtsein.

Daß der internationale Friede an den innerstaatlichen Frieden gebunden bleibt und dieser eine rechtsstaatliche Verfassungsordnung und eine an sie gebundene und um gerechten Ausgleich bemühte staatliche Autorität voraussetzt, über dieses ABC des politischen Friedens setzt sich die Friedensbewegung arrogant hinweg. Den Frieden mit dem Anspruch eines besseren, sensibleren oder fortschrittlicheren Bewußtseins gegen eine rechtmäßige und das Recht respektierende Obrigkeit erzwingen wollen, heißt den Frieden nicht nur schwächen, sondern zerstören. Schwächung statt Stärkung des Friedens bedeutet auch die Forderung der Friedensbewegung, Deutschland oder Westeuropa militärisch als eine unabhängige dritte Kraft zwischen die Sowjetunion und den USA zu plazieren. Die Forderungen nach einer Europäisierung Europas oder einer Sicherheitspolitik „im deutschen Interesse" suggerieren, die Vereinigten Staaten verträten in der Sicherheitspolitik nicht die deutschen Interessen. Sie suggerieren, der Friede sei zu nationalisieren, sei auf diesem Wege zumindest besser gewährleistet als im Bündnis der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft. Sie suggerieren, die Konfrontation zwischen Moskau und Washington sei eine Hegemoniekonkurrenz zweier Supermächte Sie ignorieren, daß das Atlantische Bündnis nicht um eines Kreuzzuges willen gegen den Kommunismus entstand und besteht, sondern um die politische Freiheit der westlichen Welt zu sichern. Sie ignorieren, daß eine Politik, die den Frieden in der Bundesrepublik Deutschland unabhängig vom Atlantischen Bündnis sichern möchte, bereits aufgrund der dann allein zu tragenden finanziellen Lasten zum Scheitern verurteilt wäre. Sie tragen somit zur weiteren Destabilisierung des Friedens nicht nur in Deutschland, sondern in Europa bei.

Neben den Postulaten, die den Frieden durch einen neuen, basisdemokratischen Staat und eine neue, regionalisierte internationale Ordnung sichern wollen, stehen jene Vorschläge, die seine Stabilisierung von einer neuen Pädagogik und einer neuen Ethik erwarten. In dieser Perspektive ist das den Frieden gefährdende Wettrüsten in erster Linie ein „Resultat tradierten Lernens" -

Wenn diese Form des Lernens endlich durch eine neue Form, durch ein „innovatives Lernen“, abgelöst würde, in dem der Lernende »das Ganze" wahrnehmen und sich allen Menschen und allem Lebendigen öffnen würde, könnte das Wettrüsten beendet und der Friede gesichert werden. Eine „Abfolge sich steigernder Lernschritte" soll „die Absicht einer Abschaffung des Krieges" vermitteln. Das Konzept sozialer Verteidigung gilt dabei als die höchste Form dieses innovativen Lernens Es biete keinerlei Anreize mehr zu weiterem Wettrüsten. Es sei das Non plus ultra der Friedenssicherung.

Dieser pädagogische Traum postuliert letztlich einen neuen Menschen. Solange er nicht geboren ist, wird der Friede unsicher bleiben.

Dies ist zwar auch die Überzeugung der Christen. Aber während sie diese Geburt aus der jedem einzelnen möglichen Belehrung, aus dem Glauben und der Stärkung durch die Sakramente der Kirche erwarten, erwartet jener pädagogische Traum diese Geburt von einem neuen Lernen, letztlich also von den Pädagogen. Die Hoffnungen auf einen neuen Menschen, eine neue Pädagogik und eine neue Ethik tragen zur weiteren Destabilisierung des Friedens bei, nicht weil sie Hoffnungen sind, sondern weil sie mit dem tradierten Lernen und der tradierten Kultur den Menschen, wie er steht und geht, für friedensunfähig erklären. Die ambivalente Natur des Menschen, seine Fähigkeit zum Aufbauen wie zum Zerstören, seine Disposition zum Frieden wie zum Unfrieden müßten beseitigt werden, um den Frieden endlich möglich zu machen. Den Frieden derart auf die Eliminierung der menschlichen Natur gründen aber heißt, ihn auf die Herrschaft einer Avantgarde gründen; es heißt ihn zerstören.

Die menschliche Natur mit ihrer Ambivalenz aber ist ein Datum. Sie kann nicht manipuliert werden. Erziehung zum Frieden kann den Einzelnen und über ihn auch Gruppen und Gesellschaften zwar fähiger machen, Konflikte friedlich auszutragen. Sie kann so den Frieden stabilisieren, aber sie kann interpersonale, gesellschaftliche und internationale Konflikte nicht völlig verhindern und Kriege nicht völlig abschaffen. Die Neigung des Menschen zum Destruktiven und zur Gewalt, die der Politik imperiale oder kriegerische Züge geben kann, bleibt ebenso ein Datum wie seine Disposition zum Frieden. Den Frieden sichern heißt deshalb auch diese Neigung und ihre ideologischen und politischen Folgen in Rechnung stellen. Jede Reflexion über die Wege der Friedenssicherung hat deshalb nach Möglichkeiten zu suchen, die Virulenz dieser Neigung zu begrenzen. Sie hat nach der Abschreckung zu fragen, ihre Voraussetzungen und Ziele zu untersuchen und die Möglichkeit ihrer Rechtfertigung zu prüfen.

II. Die Ethik der Abschreckung

Eine Ethik der Abschreckung zu skizzieren, heißt von einer Prämisse ausgehen, die in vielen Beiträgen zur gegenwärtigen Friedensdiskussion grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wenn es die Aufgabe der Ethik als einer Disziplin der praktischen Philosophie ist, die Frage nach den sittlichen Zielen, die dem menschlichen Handeln zugrunde liegen, sowie die Frage nach dem schlechthin Guten nach wissenschaftlichen Regeln zu erörtern und zu beantworten, dann besteht die Aufgabe einer Ethik der Abschreckung darin, das Gute bzw. das sittliche Ziel der Abschreckung herauszuarbeiten. Die Prämisse lautet also: Das Konzept der Abschreckung hat ein sittliches Ziel.

Dies aber wird in vielen Stellungnahmen und aus vielen Gründen gerade in Frage gestellt. Die Vielfalt der Einwände läßt sich auf zwei grundsätzlich verschiedene Positionen reduzieren. Die eine Position sieht im Konzept der Abschreckung ein Herrschaftsinstrument der kapitalistischen oder imperialistischen Machtelite zur Sicherung von Massenloyalität Die Frage nach den sittlichen Zielen, gar nach einem summum bonum gilt als falsch gestellt. Sie ist durch die Frage nach den Interessen oder, in einer sozialpsychologischen Variante, nach den Bedrohtheitsvorstellungen, den Ängsten und Feindbildern zu ersetzen. Eine Ethik der Abschreckung ist in dieser Perspektive sinnlos, weil die Ethik selbst als gegenstandslos gilt.

Die andere Position sieht im Konzept der Abschreckung aufgrund des Vernichtungspotentials der Kernwaffen einen sicheren Weg in die Selbstzerstörung der Menschheit. Dem Konzept wohnt in dieser Perspektive eine „tödliche Logik" inne, weil „jede Kernwaffen-anwendung letztlich ein Widerspruch in sich selbst ist" Es ist somit eo ipso unsittlich. Es ist in der Perspektive des Reformierten Bundes „Sünde und offenkundige Verneinung des seiner Schöpfung treuen und dem Menschen gnädigen Gottes" Eine Ethik der Abschrekkung ist für diese Position eine contradictio in adiecto, vergleichbar dem theologischen Unsinn einer Ethik der Sünde.

Um diesen radikalen Positionen gegenüber eine Ethik der Abschreckung zu skizzieren, d. h. die Möglichkeitsbedingungen einer sittlichen Rechtfertigung der Abschreckung aufzeigen zu können, ist in einem ersten Schritt das Abschreckungskonzept selbst zu klären. Welche Funktionen werden der Abschrekkung im Rahmen der Friedenssicherung zugeschrieben und welche Probleme und welche Dilemmata sind mit ihr verbunden? In einem zweiten Schritt ist danach zu fragen, wann und mit welchen Einschränkungen militärische Verteidigung bis zur Erfindung der Kernwaffen als sittlich erlaubt galt. In einem dritten Schritt ist nach den Problemen atomarer Rüstung sowie nach den Konsequenzen zu fragen, die sich daraus für eine Ethik der Abschreckung ergeben. In einem abschließenden vierten Schritt ist dann der Versuch zu machen, in der Abwägung der verschiedenen Probleme und Risiken das kleinere Übel aufzuspüren und das Konzept der Abschreckung in einen politischen Rahmen zu stellen.

1. Das Konzept der Abschreckung

Das Konzept der Abschreckung spielt in der Diskussion über die Sicherung des internationalen Friedens eine dominierende Rolle. Es wurde in den Staaten des Atlantischen Bündnisses Anfang der fünfziger Jahre entwickelt, als neue militärische Konflikte das Scheitern der mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbundenen Friedenshoffnungen offenkundig gemacht hatten und die Entwicklung der atomaren Waffen die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in die Lage versetzten, sich bei Ausbruch eines Krieges gegenseitig zu vernichten, die Zivilisation zu zerstören und die Erde unbewohnbar zu machen.

In seinem Kern ist das Konzept der Abschreckung der Versuch, die Mitglieder des Atlantischen Bündnisses gegen jede militärische Aggression zu schützen und einem potentiellen Aggressor durch die Androhung nuklearer Verteidigung, ja nuklearer Vergeltung zu verstehen zu geben, daß der von ihm erwartete Gewinn in keinem Verhältnis zu den Risiken und Kosten steht. Abschreckung will also das Risiko für jeden Aggressor un-kalkulierbar bzw. „kalkuliert untragbar" machen Sie will aber nicht nur gegen jede militärische Aggression, sondern auch gegen jede politische Erpressung durch die Androhung einer solchen Aggression schützen. Sie will den militärischen und politischen Handlungsspielraum potentieller Aggressoren einschränken. Konkretisiert wurde dieses Konzept in den fünfziger Jahren in der Strategie der massiven Vergeltung, d. h.der Androhung des Einsatzes strategischer Kernwaffen für den Fall einer militärischen Aggression. Mit der Entwicklung des strategischen Gleichgewichts zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Laufe der sechziger Jahre wurde diese Strategie immer problematischer. Sie enthielt ein hohes Eskalations-und Selbstvernichtungsrisiko, das dazu führte, die Strategie der abgestuften Erwiderung zu entwickeln. Sie löste in den sechziger Jahren die Strategie der massiven Vergeltung ab. Sie zielt auf die Fähigkeit des Atlantischen Bündnisses, einer Aggression auf jeder Ebene mit den jeweils geeigneten Mitteln zu begegnen bzw.den militärischen oder politischen Einsatz nicht nur von Kernwaffen, sondern auch von konventionellen Waffen auf jeder Ebene zu verhindern.

Besteht das Dilemma der Strategie der massiven Vergeltung, das sogenannte Irrationalitätsdilemma, darin, daß die Drohung mit strategischen Kernwaffen das Risiko für einen Aggressor zwar unkalkulierbar hoch macht, aber wegen des hohen Selbstvernichtungsrisikos zugleich an Glaubwürdigkeit verliert, so besteht das Dilemma der Strategie der abgestuften Erwiderung, das sogenannte Rationalitätsdilemma, darin, daß die Glaubwürdigkeit der Abschreckung durch die Fähigkeit zur Abwehr einer Aggression auf jeder Ebene zwar steigt, zugleich aber das Risiko wieder kalkulierbarer wird. Diesen Dilemmata ist nicht zu entkommen. Sie zeigen, daß das Konzept der Abschreckung zwei Seiten umfaßt, die der Bereitschaft und der Fähigkeit zur militärischen Verteidigung und die der Dro-hung, durch die jeder militärische Konflikt verhindert werden soll.

Diese beiden Seiten miteinander und mit der Entwicklung der Rüstungstechnologie einerseits und der internationalen Beziehungen andererseits zu verbinden und den Wechsel-bezug der militärischen und der politischen, der punitiven und der strategischen, der physischen und der psychischen Aspekte der Abschreckung zu untersuchen, ist die Aufgabe einer Theorie der Abschreckung. Dazu gibt es seit dem Ende der fünfziger Jahre zahlreiche Ansätze politik-und militärwissenschaftlicher, psychologischer, lerntheoretischer und spieltheoretischer Provenienz Diese Ansätze zu kritisieren oder ihnen einen neuen hinzuzufügen, ist nicht Aufgabe einer Ethik der Abschreckung. Im Mittelpunkt dieser Aufgabe hat vielmehr die Frage nach dem sittlichen Ziel der Abschreckung zu stehen. Ist das Abschreckungskonzept unter den Bedingungen atomarer Rüstung überhaupt sittlich zu rechtfertigen und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Oder enthält die atomare Rüstung doch eine tödliche Logik, die dem Abschreckungskonzept jede Rechtfertigungsmöglichkeit raubt?

Entsprechend der doppelten Natur des Abschreckungskonzepts sind hierbei zwei Probleme zu klären. Erstens das Problem des Einsatzes von Kernwaffen, wenn der Verteidigungsfall eintritt, die Abschreckung eine Aggression also nicht verhindern kann. Ist ein solcher Einsatz sittlich zu rechtfertigen? Zweitens das Problem der Drohung mit Kernwaffen, deren Anwendung unter Umständen jede Möglichkeit sittlicher Rechtfertigung abgesprochen wird. Zur Klärung des ersten Problems empfiehlt es sich, auf die Theorie des gerechten Krieges zurückzugreifen. Diese Theorie ist der bisher umfassendste und differenzierteste Versuch, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen der Einsatz militärischer Gewalt sittlich erlaubt ist.

2. Die bellum-iustum-Theorie

Die seit Augustinus im westlichen Kulturkreis und vor allem in der christlichen Ethik entwickelte Theorie des gerechten Krieges geht davon aus, daß jeder Krieg ein Übel und deshalb zu vermeiden ist, es sei denn, er erweise sich zur Abwehr eines schweren Unrechts als unumgänglich Um zu verhindern, daß die Anwendung militärischer Gewalt zu Verteidigungszwecken leichtfertig für unumgänglich erklärt wird, wurde im Rahmen dieser Theorie eine Reihe von restriktiven Kriterien entwickelt. Nach ihnen setzt eine legitime Anwendung militärischer Gewalt 1. eine Kriegserklärung durch die zuständige politische Autorität, 2. einen gerechten Grund, 3.den vergeblichen Einsatz aller friedlichen Konfliktlösungsmittel, 4. die rechte Absicht, 5. die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs, 6. die Verhältnismäßigkeit der Verteidigung und 7. die geeigneten Mittel voraus.

Das Recht auf Notwehr — kollektiv wie individuell — unterliegt also ganz bestimmten Schranken, die verhindern sollen, daß Verteidigung zur Schuld wird Der Einsatz militärischer Mittel ist somit nur dann zu rechtfertigen, wenn er von der legitimen, dem Gemeinwohl verpflichteten politischen Autorität beschlossen wird, wenn das Leben und die Rechte unschuldiger Menschen durch eine Aggression bedroht werden und alle anderen Möglichkeiten, diese Aggression zu verhindern, ausgeschöpft sind, wenn sich der Zweck dieses Einsatzes auf die Abwehr der Aggression beschränkt und nicht seinerseits unter dem Vorwand der Vergeltung oder der Befreiung in eine Aggression verwandelt, wenn mit der Möglichkeit eines Erfolgs gerechnet werden kann, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel beachtet wird, d. h. die durch die militärische Verteidigung entstehenden Übel nicht noch größer sind als die Übel, die aus der abzuwehrenden Aggression entstehen würden, und wenn schließlich die Wirkung der Waffen begrenzbar bleibt, die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten also aufrechterhalten werden kann. Diese Kriterien machen deutlich, daß es der Theorie des gerechten Krieges in erster Linie nicht darum geht, den Einsatz militärischer Waffen zu rechtfertigen, sondern darum, den Frieden zu sichern bzw.den Krieg zu verhindern und ihn da, wo er nicht zu verhindern ist, zu begrenzen. Sie machen deutlich, daß die Theorie des gerechten Krieges besser Theorie der gerechten Verteidigung hieße.

Läßt sich diese Theorie unter den Bedingungen atomarer Rüstung noch aufrechterhalten? Die Zweifel, die diese Frage hervorruft, resultieren aus der Anwendung der letzten drei Kriterien auf einen Konflikt mit Kernwaffen. Sind, so wird eingewandt, die Erfolgsaussichten nicht in jedem Fall gleich Null, also nur um den Preis totaler Zerstörung und damit auch der Selbstvernichtung gegeben? Sind damit nicht auch automatisch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Verteidigung und das Kriterium der Unterscheidbarkeit zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten preisgegeben?

3. Das Problem atomarer Rüstung

Das Zerstörungspotential der atomaren Rüstung rechtfertigt zweifellos diese Fragen. Sie sind freilich nicht neu. Sie wurden zum großen Teil schon in der Sicherheits-und Rüstungsdebatte Ende der fünfziger Jahre erörtert. Die Frage, ob eine Verteidigung mit Kernwaffen sittlich verantwortet werden könne, wurde damals wiederholt verneint, weil der Einsatz dieser Waffen als kontraproduktiv galt. Er führe eo ipso zur Zerstörung des zu verteidigenden Gutes. Er hebe die Grenzen, denen jedes Recht auf Notwehr unterliege, auf. Er schließe die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten aus und er habe die Tötung Unschuldiger „per se, nicht per accidens“ zur Folge Unter den Bedingungen einer countervalue-Strategie, d. h.der Androhung einer massiven Vergeltung mit strategischen Kernwaffen, die gegen Städte und Industriezentren gerichtet sind, ist diese Schlußfolgerung auch kaum zu widerlegen. Ein Einsatz von Waffen, der unterschiedslos auf die Vernichtung militärischer und ziviler, also industrieller und politischer Zentren zielt, ist sittlich nicht zu rechtfertigen Ein solcher Einsatz ist jedoch nicht an die atomare Rüstung gebunden. Er ist auch mit konventionellen Waffen möglich. Daß dies nicht nur eine theoretische Möglichkeit ist, zeigen die sogenannten Sättigungsbombardements der Alliierten auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg. Auch sie überschritten die dem Notwehrrecht immanenten Schranken. Auch sie verwandelten Verteidigung in Schuld.

Der Hinweis auf einen Krieg mit konventionellen Waffen löst jedoch nicht das Problem der sittlichen Rechtfertigung eines Kernwaffeneinsatzes. Er mag dazu beitragen, die sittlich wie politisch fatale Diabolisierung der Kernwaffen zu verhindern, aber die Frage, ob ihr Einsatz sittlich zu rechtfertigen ist, zwingt dazu, die Rüstungstechnologie und die Verteidigungsstrategie selbst genauer zu betrachten. Hier hat sich seit jener Rüstungs-und Sicherheitsdiskussion Ende der fünfziger Jahre eine Entwicklung vollzogen, die eine Ethik der Abschreckung nicht übergehen darf. Was die Verteidigungsstrategie betrifft, so ist das Konzept der massiven Vergeltung durch das der abgestuften Erwiderung abgelöst worden, das davon ausgeht, daß jeder möglichen Aggression mit angemessenen Waffen auf der Ebene begegnet werden muß, auf der sie stattfindet. Dadurch wird das Dilemma vermieden, mit dem Einsatz des strategischen Vernichtungspotentials antworten oder die Aggression hinnehmen zu müssen, weil der Einsatz dieses Potentials sittlich und politisch nicht zu rechtfertigen ist. Dieser Wandel der Verteidigungsstrategie ist die erste Voraussetzung, um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Verteidigung -ge recht zu werden und die jedem Recht auf Not-wehr immanenten Schranken zu beachten.

Auch wenn die Frage der Anwendbarkeit der Konzeption der abgestuften Erwiderung aufgrund mangelhafter personeller, materieller und finanzieller Ausstattung der Streitkräfte des Atlantischen Bündnisses — zumindest in Europa — immer wieder zu erheblichen Zweifeln führt so muß eine ethische Betrachtung an ihr als einer conditio sine qua non sittlich erlaubter Verteidigung festhalten. Neben dem Wandel der Verteidigungsstrategie ist auch die Entwicklung der Rüstungstechnologie für eine Ethik der Abschreckung von erheblicher Bedeutung. Die Entwicklung der taktischen Kernwaffen einerseits und die Verbesserung der Zielgenauigkeit der Träger-systeme andererseits hat die Möglichkeiten wesentlich ausgeweitet, die Wirkung der eingesetzten taktischen Kernwaffen zu kontrollieren und damit zu begrenzen und die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten aufrechtzuerhalten. Sie zwingt zu dem Schluß, daß eine Verteidigung mit Kernwaffen nicht schon per se, d. h. aufgrund der technischen Gegebenheiten unsittlich ist.

Andererseits darf, wenn die Entwicklung der Rüstungstechnologie betrachtet wird, wiederum die der konventionellen Waffen nicht übergangen werden. Auch sie hat einen Stand erreicht, der einen Aggressor wie auch einen Verteidiger noch ungleich mehr als im Zweiten Weltkrieg in die Lage versetzt, diese Waffen zur Massenvernichtung und zur umfassenden Zerstörung von Städten und Industriezentren einzusetzen. Dies macht von neuem deutlich, daß die Frage der Rechtfertigungsmöglichkeit militärischer Verteidigung in erster Linie nicht von der Rüstungstechnologie, sondern von den Intentionen des Verteidigers abhängt und daß der Gefahr eines konventionellen Krieges nicht weniger zu begegnen ist als der eines nuklearen Krieges.

Von diesen technischen Aspekten des Problems der Begrenzbarkeit eines Einsatzes von konventionellen wie atomaren Waffen auf militärische Zwecke ist ein politischer Aspekt zu unterscheiden. Auch wenn diese Begrenzbarkeit technisch möglich ist, so bleiben erhebliche ob Zweifel, sie politisch realisierbar ist. Die Gefahr der Eskalation und damit des Einsatzes strategischer Kernwaffen zu countervalue-Zwecken — ob auf einem oder mehreren Kontinenten ist sekundär — kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Wäre eine solche Eskalation sicher, dann wäre der Einsatz von Kernwaffen auch zu Verteidigungszwecken sittlich nicht zu rechtfertigen. Umgekehrt läßt sich aus der Tatsache, daß sie nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, aber nicht das Postulat ableiten, auch der sittlich legitime Einsatz — gegebenenfalls auch der Ersteinsatz — von Kernwaffen zu Verteidigungszwecken habe zu unterbleiben. Ein solches Postulat geht von der unhaltbaren Prämisse aus, daß eine sittliche Handlung erst dann möglich ist, wenn die Gesamtheit der Handlungsfolgen überblickt werden kann. Dies aber ist unmöglich. Wir tappen, was die Gesamtheit der Folgen betrifft, immer im Dunkeln Jeder sittlichen Handlung bleibt ein Rest an Wagnis inhärent Dies wird in jenen Positionen der gegenwärtigen Friedens-diskussion oft übersehen, die aufgrund des Eskalationsrisikos für einen Verzicht auf einen Ersteinsatz von Kernwaffen plädieren Man wird von einem Politiker, der für die Friedenssicherung Verantwortung trägt, erwarten, daß er mit Klugheit die Folgen seines Handelns abwägt, daß er sich im Verteidigungsfall zu einem Einsatz von Kernwaffen um so weniger entschließt, je größer die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation ist. Man wird von ihm aber auch erwarten, daß er ebenso klug die Folgen seines Unterlassens abwägt, daß er also prüft, welche Folgen eine Verzichterklärung auf den Ersteinsatz von Kernwaffen, ein Einfrieren der Rüstung, eine unterlassene Abschreckung oder eine generelle Ablehnung des Einsatzes von Kernwaffen im Verteidigungsfall haben kann Gewiß gilt auch hier: Wir tappen im dunkeln, was die Gesamtheit der Folgen unseres Handelns bzw. unseres Unterlassens betrifft. Beim Abwägen solcher Folgen bleibt die Einschätzung der oben beschriebenen Bedrohung, der sich die Mitglieder des Atlantischen Bündnisses ausgesetzt sehen, von zentraler Bedeutung. 4. Das kleinere Übel Wenn die Funktion der Abschreckung darin besteht, jener Bedrohung entgegenzutreten, dann folgt daraus für die Rüstung, daß sie hinlänglich stark sein muß, um dieser Funktion gerecht zu werden. Die Rüstung des defensiven Atlantischen Bündnisses hat nicht Überlegenheit über die des offensiven — und auch noch geographische Vorteile besitzenden — Sowjetimperiums anzustreben. Sie muß nicht einmal auf eine Parität auf allen Ebenen zielen. Es genügt die „sufficiency", d. h. die, möglicherweise auch bei einer gewissen Unterlegenheit gegebene, Fähigkeit zu hinlänglicher Abschreckung. Diesem Ziel entspricht auch der NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979. Hätte er mehr zum Ziel als diese Hinlänglichkeit, müßte die Zahl der Mittelstrekkenwaffen, deren Stationierung geplant ist, wenn die Sowjetunion bis Ende 1983 nicht bereit ist, ihre SS-20-Raketen abzurüsten, wohl beträchtlich erhöht werden, nachdem sich die Zahl der dislozierten SS-20-Raketen seit jenem Beschluß in einem unvorhersehbaren Tempo fast verdreifacht hat.

Ob zu diesem Konzept der Hinlänglichkeit auch strategische Kernwaffen gehören, deren Einsatz zu countervalue-Zwecken sittlich nicht zu rechtfertigen ist, bleibt eine Frage, die in eine schwerwiegende Aporie hineinführt. Die These, daß die Abschreckung mit strategischen Kernwaffen das Atlantische Bündnis seit 1949 in die Lage versetzte, den Frieden zumindest in Mittel-und Westeuropa zu sichern, kann zwar nicht schlüssig bewiesen werden; sie ist aber in hohem Maße plausibel. Sinn der Abschreckung mit diesen Waffen war und ist es, sie nicht anzuwenden. Die Verhinderung eines Krieges und die Sicherung der Freiheit der Mitglieder des Atlantischen Bündnisses ist ihre primäre Intention. Dies ist ihr sittliches Ziel. Um diese primäre Intention zu gewährleisten, bedarf es nicht nur eines hinlänglichen Verteidigungspotentials, sondern auch der sekundären Intention, dieses Potential einzusetzen. Diese Sekundär-intention steht aber völlig im Dienst der Primärintention.

Die Unterscheidung von Primär-und Sekundärintention ist jedoch nicht mehr als ein unvollkommener Versuch, die Aporie zu mildern, die darin besteht, daß zur Sicherung des Friedens in Freiheit die Bereitstellung eines Vernichtungspotentials notwendig erscheint, dessen unterschiedsloser Einsatz sittlich nicht zu rechtfertigen ist. Für das Problem, wie sich erlaubte Androhung und verbotener Einsatz vertragen, gibt es keine glatte Lösung. Wer einwendet, daß die Abschreckung versagen kann, hat recht. Aber er kann nicht nachweisen, daß der Verzicht auf Abschreckung besser geeignet sei, einen Krieg zu verhindern und die Freiheit zu sichern. Im Gegenteil, angesichts der skizzierten revolutionären Ideologie und der ihr folgenden expansiven Politik dürfte die Abschreckung — auch mit strategischen Kernwaffen — eher zur Friedenssicherung beitragen als der Verzicht auf sie. Sie ist das kleinere Übel. Sie als „instituB tionalisierte Frivolität" zu kennzeichnen weil sie die Bereitschaft zu einer Handlung einschließt, die unter allen denkbaren Umständen unverantwortlich ist, scheint ihr nicht gerecht zu werden, ist diese Bereitschaft doch jene sekundäre Bereitschaft, die ganz im Dienst der primären Intention steht, den Krieg zu verhindern. Wenn die Drohung mit dem großen Zweitschlag den Erstschlag verhindern kann, dann ist sie offenkundig das kleinere Übel Sie setzt nicht auf die Angst des Bedrohten, sondern auf seine Vernunft, einzusehen, daß das Risiko einer Aggression „kalkuliert untragbar" ist.

Kommt eine ethische Reflexion der Probleme der Abschreckung — mit Bangen und Zagen — zu dem Schluß, daß eine Abschreckung durch strategische Kernwaffen nicht a priori verworfen werden kann, obgleich ihr unterschiedsloser Einsatz nicht zu rechtfertigen ist, so ist diese Aporie nur auszuhalten, wenn sie davon ausgeht, daß die Bereitschaft und die Fähigkeit zu militärischer Verteidigung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des Friedens ist, den sie sichern möchte

Hinreichende Bedingung des Friedens kann nur ein Geflecht politischer, ökonomischer und kultureller Beziehungen sein, das auf dem Recht beruht und am Ziel eines transnationalen Gemeinwohls als der Gesamtheit der internationalen Möglichkeitsbedingungen nationaler Entwicklung orientiert ist. Dieses Geflecht internationaler Beziehungen bedarf in erster Linie der Instrumente der internationalen Institutionen, der Diplomatie und der völkerrechtlichen Verträge, des ökonomischen, des wissenschaftlichen und des touristischen Austausches. Auch wenn es auf das Instrument der Rüstung und der Abschreckung nicht verzichten kann, so hat sich die Ethik der Abschreckung doch immer ihrer begrenzten Reichweite bewußt zu bleiben und einer Ethik des Friedens unterzuordnen. Sie hat durch diese Unterordnung deutlich zu machen, daß in Konflikten Kommunikation, in

Konfrontationen Kooperation und Kompromiß auf der Basis des Rechts und in aller Rüstung Rüstungskontrolle und Abrüstung gesucht werden müssen. Wieviel Erfolg solches Bemühen hat, das hängt freilich immer von zwei Seiten ab

Diese Skizze einer Ethik der Abschreckung hat die Aporie, wie erlaubte Androhung nuklearer Vergeltung und verbotener Einsatz strategischer Kernwaffen sich vertragen, nicht aufheben können. Sie hat versucht, die Möglichkeitsbedingungen einer sittlichen Rechtfertigung der Abschreckung aufzuzeigen und zu folgenden Ergebnissen geführt:

1. Jede Abschreckung ist den Schranken unterworfen, die die bellum-iustum-Theorie für eine legitime militärische Verteidigung entwickelt hat. Diese Theorie ist auch unter der Bedingung atomarer Rüstung nicht überholt. 2. Die Entwicklung der atomaren Rüstung und der Wandel der Verteidigungsstrategie in den vergangenen 25 Jahren haben es nicht unmöglich gemacht, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Verteidigung, der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten und der Aussicht auf einen Erfolg festzuhalten.

3. Der begrenzte Einsatz taktischer Kernwaffen zu Verteidigungszwecken kann nicht deshalb als unsittlich verworfen werden, weil das Eskalationsrisiko nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

4. Solange die reale Bedrohung nichtsozialistischer Staaten durch die revolutionäre Ideologie und die Rüstung, die Militärstrategie und die expansive Politik der Sowjetunion nicht zu beseitigen ist, bleibt eine hinlängliche Abschreckung unverzichtbar, wenn ein Frieden gesichert werden soll, der nicht auf Unterwerfung, sondern auf Recht und Freiheit beruht.

5. Rüstung und Abschreckung bleiben hinsichtlich einer militärischen Aggression wie einer politischen Erpressung mit Kernwaffen oder konventionellen Waffen das kleinere Übel. Sie sind aber einer Politik der Friedens-förderung unterzuordnen. Sie fallen deshalb nicht nur in die Kompetenz des Militärs, sondern auch, ja in erster Linie in die der Politik. Diese hat nicht nur die Hinlänglichkeit der Abschreckung, sondern immer auch die Mög-lichkeit der Rüstungskontrolle und der gleichzeitigen, ausgewogenen und nachprüfbaren Abrüstung zu prüfen. Erst durch eine solche das Recht und die Menschenrechte re-spektierende, Freiheit und Gerechtigkeit fördernde Politik können die Kräfte des Chaos gebändigt werden, die auch hinter Rüstung und Abschreckung lauern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. E. Eppler, Friedensbewegung, in: Walter Jens (Hrsg.), In letzter Stunde, München 1982, S. 145.

  2. Vgl. zum Beispiel F. Duve, Weder antiamerikanisch noch prosowjetisch, in: ders. /H. Böll/K. Staeck. (Hrsg.), Zuviel Pazifismus?, Reinbek 1981, S. 81 ff.

  3. Vgl. das Memorandun des Bensberger Kreises, Frieden — für Katholiken eine Provokation?, Reinbek 1982, S. 15.

  4. In Polen beispielsweise ist dieses Trauma erst im Zuge der Paketaktionen der deutschen Bevölkerung 1981/82 weitgehend überwunden worden.

  5. K. Marx/F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1972, S. 493.

  6. E. Eppler, Friedensbewegung, a. a. O. (Anm. 1), 147; Frieden — Für Katholiken eine Provoka-tion?, a. a. O. (Anm. 3), s 18 )

  7. Programm der KPdSU von 1961, in: B. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903— 1961, Köln 1965, S. 170.

  8. H. Hoffmann, Streitkräfte in unserer Zeit, in: Einheit, 31. Jg., 1976, S. 359.

  9. Ebd., S. 359.

  10. Ebd., S. 356.

  11. Ebd., S. 359. Vgl. auch N. W. Ogarkow, Für unsere sowjetische Heimat, in: Kommunist 10/81, deutsch in: Beiträge zur Konfliktforschung, 11. Jg., 1981, Heft 4, S. 141, sowie W. D. Sokolowski, Militär-Strategie, Köln 19693, S. 294.

  12. Vgl. zur sowjetischen Rüstung U. Nerlich (Hrsg.) unter Mitwirkung von E. Bomsdorf, Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse, Baden-Baden 1982, und dies., Die Einhegung sowjetischer Macht. Kontrolliertes militärisches Gleichgewicht als Bedingung europäischer Sicherheit, Baden-Baden 1982; Die sowjetische Rüstung, Pentagon-Papier zur sowjetischen Rüstung, München 1981; Kräftevergleich NATO und Warschauer Pakt, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1982; D. Farwick/G. Hubatschek, Die strategische Erpressung - Eine sicherheitspolitische Analyse, München 1981.

  13. W. D. Sokolowski, a. a. O. (Anm. 11), S. 286; N. W. Ogarkow, a. a. O. (Anm. 11), S. 141.

  14. W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. 1, Berlin (Ost) 1961, S. 874 ff.; W. D. Sokolowski, a. a. O. (Anm. 11), S. 262 f; W. Scheler/G. Kießling, Gerechte und ungerechte Kriege in unserer Zeit, Berlin (Ost) 1981.

  15. R. Scheltow/A. Korobejnikow, Soldat und Krieg, hrsg. von G. Bruderer, Bern 1972, S. 53 f.

  16. Vgl. zum sowjetischen Friedensbegriff Sozialismus und Entspannung, hrsg. vom Institut für Internationale Beziehungen und Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, Berlin (Ost) 1980, " 63ff, vgl. auch Peter Graf Kielmansegg, Der Kir-chentag und der Frieden, in: Die Zeit vom 12. 6. 1981, S. 9; Martin Kriele, Wie wird Entspannung wieder möglich?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 5. 1982, S. 7 f; Joseph Kardinal Ratzinger, Im Frieden leben: Anforderungen an Staat und Kirche, Silvesterpredigt 1981, in: Amtsblatt für das Erzbistum 20 f. München und Freising, 1982, Nr. 1,

  17. Frieden — für Katholiken eine Provokation?, a. a. O. (Anm. 3), S. 19.

  18. R. Schwager, Der Heilige Stuhl und die Abrüstung, in: Internationale katholische Zeitschrift „Communio", 7. Jg., 1978, S. 552; C. Munster, Atomare Verteidigung und christliche Verantwortung, in: K. Forster (Hrsg.), Kann der atomare Verteidigungskrieg ein gerechter Krieg sein?, München 1960, S. 98.

  19. E. Eppler, Friedensbewegung, a. a. O., (Anm. 1 S. 159

  20. C. F. von Weizsäcker, Weg in der Gefahr, München 1976, S. 110; F. Alt, Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt, München 1983, S. 45.

  21. P. Kern/H. -G. Wittig, Lernen für eine Zukunft ohne Krieg, in: Frankfurter Hefte, 36. Jg. 1981, Heft 10, S. 14.

  22. Ebd., S. 15 f.

  23. W. Schilling, Abschreckung und Entspannung als Interaktionsmuster in den internationalen Beziehungen, in: Gegenwartskunde, 29. Jg., 1980, S. 443; H. -J. Gamm, über den amerikanischen Begriff der . Abschreckung", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 26. Jg„ 1981, S. 1061.

  24. Ph. Green, Deadly Logic, The Theory of Nuclear Deterrance, Columbus 1966, deutsche Auszüge unter dem Titel „Abschreckungsrationalität und ethische Wahl” in: D. Senghaas (Hrsg.), Zur Pathologie des Rüstungswettlaufs, Freiburg 1970, S. 141 ff. Das Zitat ist der S. 181 entnommen.

  25. Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche, Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes vom 12. 6. 1982, in: epd-Dokumentation 38 a/82, S. 6.

  26. E. Rosenkranz, Abschreckung durch flexible response - eine Mystifikation?, in: ders. /R. Jütte, Abschreckung contra Sicherheit?, München 1974, S. 44.

  27. Vgl. dazu mit jeweils weiteren Literaturnachweisen K. -D. Schwarz/W. -R. van Cleave, Die Theorie der Abschreckung, in: K. -D. Schwarz (Hrsg.), Sicherheitspolitik, Bad Honnef 1978, S. 131 ff., und U. Nerlich, Abschreckung, in: Staatslexikon, Bd. 9, Freiburg 1969, Sp. 13 ff.

  28. Zur Entwicklung der bellum-iustum-Theorie vgl. J. Rief, Die bellum-iustum-Theorie historisch, in: N. Glatzel/E. -J. Nagel (Hrsg.), Frieden in Sicherheit. Zur Weiterentwicklung der katholischen Friedens-ethik, Freiburg 19822, S. 15 ff.

  29. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica II-II, qu. 64, a. 7.

  30. R. Spaemann, Zur philosophisch-theologischen Diskussion um die Atombombe, in: Atomare Kampfmittel und christliche Ethik, Diskussionsbeiträge deutscher Katholiken, München 1960, S. 86.

  31. H. Schulte Herbrüggen, Atomkrieg und christliche Ethik, in: Atomare Kampfmittel und christliche Ethik, a. a. O. (Anm. 29), S. 152; C. Münster, a. a. O. (Anm. 18), S. 91.

  32. Vgl. 72 K. -P. Stratmann, NATO-Strategie in der Krise? Militärische Optionen von NATO und War-schauer Pakt in Mitteleuropa, Baden-Baden 1981.

  33. R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 1982, S. 68 und 77.

  34. Vgl. vor allem den 2. Entwurf eines Hirtenbriefes der Konferenz der Katholischen Bischöfe der USA, hrsg. vom Deutschen Sekretariat von Pax Christi, Frankfurt 1982, S. 34, sowie die Erklärung von McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara und Gerard Smith, Kernwaffen und das Atlantische Bündnis, in: Europa-Archiv, 37. Jg, 1982, S. 183 ff.

  35. Vgl. dazu die Antwort auf die Erklärung von Bundy u. a. von Karl Kaiser, Georg Leber, Alois Mertes und Franz-Joseph Schulze, Kernwaffen und die Erhaltung des Friedens, in: Europa-Archiv, 37. Jg., 1982, S. 357 ff.

  36. So R. Spaemann, Wer hat wofür Verantwortung? Zum Streit um deontologische und teleologische sthik in: Herder-Korrespondenz, 36. Jg., 1982, "

  37. So auch ebd; vgl. auch H. G. Pöhlmann, Widerspruch gegen die Moderamenserklärung, in: Evan8elische Verantwortung, 1/1983, S. 12.

  38. Vgl. auch die Botschaft Papst Johannes Pauls II. an die 2. außerordentliche Abrüstungskonferenz der UNO vom 14. 6. 1982, in: Osservatore Romano, deutschsprachige Wochenausgabe Nr. 31/32 vom 30. 7. 1982, S. 8.

  39. Vgl. auch W. Pannenberg, Die Angst schafft keinen Frieden, in: Rheinischer Merkur vom 4. 2. 1983, S. 22.

Weitere Inhalte

Manfred Spieker, Dr. phil., geb. 1943; 1972— 1982 Wissenschaftlicher Assistent am Forschungsinstitut für politische Wissenschaft und europäische Fragen der Universität Köln. 1982 Habilitation im Fach Politische Wissenschaft. Professor für Christliche Sozialwissenschäften an der Universität Osnabrück. Veröffentlichungen u. a.: Sozialstaat contra Rechtsstaat?, in: Zeitschrift für Politik 1974; Neomarxismus und Christentum. Zur Problematik des Dialogs, 2. Auflage 1976; Grundwerte in der Bundesrepublik, Probleme ihrer Begründung, Geltung und Stabilisierung, in: Civitas, Bd. XV, 1977; Der Eurokommunismus — Demokratie oder Diktatur?, 1979; Die Grenzen eurokommunistischer Grundrechtsbekenntnisse, in: Europäische Rundschau 1981; Die Demokratiediskussion unter den deutschen Katholiken 1949— 1963, in: A Rauscher (Hrsg.), Katholizismus, Rechtsethik und Demokratiediskussion 1945— 1963, 1981.