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Risikofreie Induktion als Friedensstrategie | APuZ 35/1983 | bpb.de

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APuZ 35/1983 Artikel 1 Die sicherheits-und wehrpolitische Diskussion in den politischen Parteien 1949— 1955 Die aktuelle sicherheitspolitische Diskussion Risikofreie Induktion als Friedensstrategie

Risikofreie Induktion als Friedensstrategie

Ernst-Otto Czempiel

/ 7 Minuten zu lesen

Anmerkungen zu Daniel Frei, Friedenssicherung durch Gewaltverzicht?, in: B 15-16/83

Daniel Frei hat in seinem wichtigen und interessanten Aufsatz ein Problem zur Diskussion gestellt, das selten Aufmerksamkeit findet: die Strategie des Friedens. Frei hat sich insbesondere mit drei Konzepten beschäftigt: der einseitigen Abrüstung, der sozialen Verteidigung und dem Gradualismus. Er hat eine beachtliche Menge von Kriterien entfaltet, die Daten dazu bereitgestellt und mit beidem die drei Strategien evaluiert. Sie bestätigen — teils überraschend, teils erwartet —, daß die einseitige Abrüstung dysfunktional und die Soziale Verteidigung, wenn überhaupt, eine innenpolitisch brauchbare Strategie ist. Die Strategie des Gradualismus hingegen „erweist sich... in knapp der Hälfte aller Fälle als wirksam“ (S. 22). Der Gradualismus zeigt sich damit als die einzige existierende Strategie, mit der sich Erfolge in der Friedenssicherung erzielen lassen. Allerdings liegt, wie Frei festgestellt hat, die Erfolgsrate unter 50 %. Dazu würde ich gerne eine Anmerkung beisteuern. Die Hoffnungen der Gradualisten auf „einen durch eine inhärente Dynamik angetriebenen und sich gewissermaßen selbsterhaltenden Prozeß der Entspannung" wurden wie Frei, notiert, dementsprechend teilweise enttäuscht. Freundlichkeit hat sich nicht als der Selbst-läufer erwiesen, der auf der Gegenseite automatisch Freundlichkeit erzeugt. Das Ergebnis ist sicher richtig, hängt aber doch von zwei nicht näher explizierten Voraussetzungen ab. Erstens ist offensichtlich unter Gradualismus eine Politik der freundlichen Offerten verstanden worden, des einseitigen Anspielens von Kooperation im Sinne einer einseitigen Vorleistung. Zweitens wird Konflikt als eine monokausal verursachte und dementsprechend homogen strukturierte Erscheinung verstanden, die auf eine Strategie reagiert oder nicht reagiert. Beide Voraussetzungen sind jedoch nicht zwingend. Der Gradualismus ist noch nicht die durchgearbeitete und ausgefeilte Strategie, die er zu sein verdient. Es fehlt gerade hier an systematischer Erörterung. Das gleiche gilt für den Kohfliktbegriff.

Frei stützt sich bei seiner Darstellung des Gradualismus auf Osgood und, vor allem, Etzioni, die, als Väter der Strategie, sie als eine Politik der kleinen Schritte des Entgegenkommens konzipiert haben. Die Chance einer solchen Strategie ist besonders groß im atmosphärischen Bereich, dort wo es nicht um die eigentliche Konfliktspannung, sondern um aufgesetzte, sozusagen um zusätzliche Spannungen geht. Sie verbessert das Klima, erzeugt einen „Geist von Camp David". Ob sie die Konfliktsubstanz verändert, etwa Aufrüstung vermindern kann, steht auf einem ganz anderen Blatt. Konfliktverhalten und, insbesondere, Aufrüstung werden von einer Dynamik angetrieben, die aus dem Wettbewerb stammt. Er diktiert die Notwendigkeit, stärker zu sein und mehr zu gewinnen als der Gegner. Das Ziel der Sicherheit, das hierbei meistens aktiviert wird, ist außerordentlich sensibel und nur durch Maximalleistungen zufriedenzustellen. Auch verändern Konflikte den Aufbau der Entscheidungsprozesse, berühren die Verteilung von Macht und Einfluß in einer Gesellschaft. Hält der Konflikt über längere Zeit an, entsteht daraus eine Struktur, die sich durch freundliche Gesten nicht ohne weiteres beeinflussen oder gar abbauen läßt In der Spieltheorie, von der auch der Gradualismus lebt, sind die Konsequenzen daraus sehr viel deutlicher gezogen worden. Eine erfolgversprechende Strategie stellt sich hier dar als eine Kombination von Offerte und Sanktion, von Vorteilsangebot und Bestrafung. In der Verbindung dieser beiden Ele-j mente entsteht eigentlich erst der Induktionscharakter der Strategie. Warum? Bleiben wir auf dem Gebiet von Rüstung und j Rüstungskontrolle. Rüstung wird angetrieben durch das Ziel der Sicherheitsgewährleistung mittels Vorteilserringung. Deswegen folgt auf jede — auch schon die antizipierte — Aktion des Gegners die eigene Reaktion. Wer diese Dynamik unterbrechen will, darf sie nicht vernachlässigen. Er muß dem Gegner vermitteln, daß er durch Abrüstung bzw. Rüstungsminderung den angestrebten Vorteil besser realisieren kann als durch Aufrüstung. Dazu muß eine Offerte unterbreitet werden, die, risikofrei für den Anbieter, den Gegner bewußt besser stellt als zuvor, ihm einen Rüstungsvorteil einräumt. Was der Gegner bisher durch Aufrüstung zu erlangen suchte, wird ihm hier angeboten, wenn er seine Rüstung mindert. Dieser Anreiz ist sicherlich ziemlich groß, reicht aber nicht aus. Denn der Gegner könnte noch immer versucht sein, seinen Sicherheitsvorteil auf dem Wege der Aufrüstung anzustreben und die Offerte zu vernachlässigen. Dieser Ausweg muß ihm verstellt werden durch die Sanktionsandrohung einer eigenen Aufrüstung, die den Gegner, falls er die Offerte nicht annimmt, schlechter stellen wird, als er sich zur Zeit des Angebotes befand. Erst diese Hinzufügung einer Sanktionsdrohung erzeugt einen Antrieb zur Rüstungsminderung, der der Dynamik der Aufrüstung vergleichbar ist. Sie wirkt ja, weil nur die Aufrüstung die Anforderung nach Sicherheit zu erfüllen vermag; einen anderen Ausweg gibt es nicht. Deswegen muß die Androhung einer Bestrafung den Aufrüstungsausweg verbauen. Nur dann bleibt Rüstungsverminderung, Abrüstung als reale Möglichkeit offen, einen Vorteil gegenüber dem Anbieter zu erlangen. Die einzige Möglichkeit, die Anforderung nach Sicherheit zu erfüllen, führt dann in die Rüstungsminderung.

Der Sanktionsteil gehört als elementar in eine Strategie der risikofreien Induktion hinein. Deren Kern liegt nach wie vor in der Offerte, in der im eigenen Verhalten ausgedrückten Einladung an den Gegner, sich auf die Konfliktminderung einzulassen. Erst die Sanktionsdrohung für den Fall der Verweigerung aber stattet diese Strategie mit der Dynamik aus, die sie braucht, um die Tradition, die Routine der . Standard Operation procedures'zu durchbrechen.

In diesem Sinne müßte der Gradualismus als Strategie der Risikofreien Induktion ergänzt und präzisiert werden. Erst dann wird er erfolgreich zur Friedenssicherung eingesetzt werden können, weil er die Antriebselemente der klassischen Eskalationsstrategien ebenfalls aufweist, sie aber in ihrer Richtung umkehrt. Der Erfolg hängt freilich davon ab, daß es gelingt, auch die zweite implizite Voraussetzung des Gradualismus in ihrer bisherigen Form aufzulösen. Konflikte enthalten Positionsdifferenzen, die auf beiden Seiten mehrfach geschichtet sein können. Im Ost-West-Konflikt, beispielsweise, haben wir es mit einem originären Konflikt zwischen zwei antagonistischen Gesellschaftsordnungen zu tun, ferner mit einem daraus folgenden sekundären Konflikt um die Machtanteile von Liberalismus und Kommunismus in der Welt, mit einem abgeleiteten Rüstungskonflikt, der mit dem originären Konflikt so gut wie nichts zu tun hat, und schließlich mit dem aus dem Sicherheitsdilemma resultierenden, auf Verteidigung gerichteten Konflikt, der ein beträchtliches Maß an Rüstung impliziert. Risikofreie Induktion als Strategie wird den originären Konflikt kaum beeinflussen, höchstens darauf hinwirken können, daß sein Austrag immer wieder auf die Felder von Politik und Wirtschaft verwiesen wird. Dies gilt auch für den sekundären Konflikt um die Machtverteilung zwischen Kommunismus und Liberalismus. Der aus dem Sicherheitsdilemma stammende Rüstungsteil aber steht einer risikofreien Induktion offen, wenn auch nur begrenzt. Dieser Konflikt entstammt im wesentlichen der Struktur des internationalen Systems, die sich strategisch wohl abschwächen, aber nicht aufheben läßt. Am ehesten eignet sich der abgeleitete Konflikt der Rüstungsdynamik für eine solche Strategie. Das mindert nicht ihren Wert, besonders nicht im Ost-West-Konflikt, in dem der abgeleitete Konflikt der Rüstungsdynamik einen überproportionalen und hochgefährlichen Wert angenommen hat. Es macht aber klarer, was die Strategie zu leisten vermag und was nicht.

Es macht auch deutlicher, auf welche Teil-ziele die risikofreie Induktion gerichtet sein muß. Um sie zu erläutern, muß die Sprache genauer werden. Der Ost-West-Konflikt setzt sich dann zusammen aus den Beziehungen, die zwischen den politischen Systemen, zwischen den gesellschaftlichen Umfeldern, zwischen politischen Systemen und den gesellschaftlichen Umfeldern der Umwelt verlaufen, sowie vor allem auch aus den auf diese Beziehungen gerichteten Anforderungs-Umwandlungsbeziehungen zwischen den jeweiligen politischen Systemen und ihren gesellschaftlichen Umfeldern. Gerade diese letzteren Beziehungen müßten von einer Strategie der risikofreien Induktion erfaßt werden, wenn sie wirksam werden soll. Sie produzieren beträchtliche Antriebe der Rüstungsdynamik. Aufrüstung fordert bestimmte Produktionszweige, bestimmte Eliten, befriedigt Nachfragen nach Einfluß und Macht. Sie stammen nicht nur aus dem Militär und den einschlägigen Bereichen der Wirtschaft, die hier als Stellvertreter für alle interessierten Gruppen genannt werden. Um wirksam werden zu können, muß die Strategie der risikofreien Induktion andere Gruppen und Nachfragen im gesellschaftlichen Umfeld des gegnerischen politischen Systems entdecken und befördern. Dies können in der Regel nur Anforderungen sein, die sich im wirtschaftlichen Bereich auf mehr produktive Investitionen und mehr privaten Konsum richten, im politischen Bereich auf Pluralismus, Demokratie und Partizipation. Es kann sich natürlich nicht darum handeln, diese Gruppen interventionistisch von außen anzusprechen und zu aktivieren. Vielmehr geht es ausschließlich darum einzusehen, daß die Veränderung der internationalen Umwelt, die die Politik der risikofreien Induktion anstrebt, wegen der engen Verklammerung mit dem gesellschaftlichen Umfeld dort notwendig auch Folgen hinterläßt. Sie müssen mitbedacht und antizipatorisch in der Anlage der gradualistischen Strategie reflektiert werden.

Löst man in dieser Weise die beiden Voraussetzungen, die in Freis Analyse der Ergebnisse des Gradualismus eingegangen sind, auf, so lassen sich die zukünftigen Erfolgschancen einer Strategie der risikofreien Induktion mit Sicherheit höher veranschlagen als die des bisher geprüften Gradualismus. Freilich gibt es diese neue Strategie noch nicht, sie konnte — und kann — daher nicht in der Vergangenheit überprüft werden. Sie kann nur in Gegenwart und Zukunft entwikkelt und angewendet werden. Angesichts des sich beschleunigenden Rüstungswettlaufs und der daraus resultierenden Gefahren ist dies eine höchst aktuelle Aufgabe. Daniel Frei kommt das Verdienst zu, dies allen Politikern und Politologen deutlich vor Augen gestellt zu haben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ernst-Otto Czempiel, Dr. phil, geb. 1927; Professor für Auswärtige und Internationale Politik an der Universität Frankfurt; Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung, Frankfurt. Veröffentlichungen u. a.: Amerikanische Außenpolitik. Gesellschaftliche Anforderungen und politische Entscheidungen, Stuttgart 1979; Internationale Politik. Ein Konfliktmodell, Paderborn 1981; (zusammen mit Gert Krell, Harald Müller und Reinhard Rode) United States Interests and Western Europe: Arms Control, Energy, and Trade, Frankfurt 1981; Amerikanische Außenpolitik im Wandel. Von der Entspannungspolitik Nixons zur Konfrontation unter Reagan (Hrsg.), Stuttgart 1982.