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Vietnam: Die historische Chance vertan? | APuZ 37/1983 | bpb.de

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APuZ 37/1983 Die Teilstaaten Koreas im Weltgeschehen des letzten Jahrzehnts Vietnam: Die historische Chance vertan? Der Krieg um Kambodscha -ein Konflikt ohne Ende?

Vietnam: Die historische Chance vertan?

Oskar Weggel

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach seinem triumphalen Sieg im Jahre 1975 stand Nordvietnam vor drei heiklen Fragen (Wiedervereinigung? Sozialisierung im Süden? „Indochina-Sonderbeziehungen''?), die es — beschwingt vom Optimismus der vorangegangenen Erfolge — im durchweg „härtesten" Sinne beantwortete. Es zog die „Wiedervereinigung" im Eilverfahren durch, trieb die Sozialisierung im Süden schnell voran und entschied sich — mit sowjetischer Rücken-deckung — für „Sonderbeziehungen" zu Laos und Kambodscha, wobei es die Feindschaft des chinesischen Nachbarn bewußt in Kauf nahm. Die Folgen dieses Dreischritts waren schmerzhafter als erwartet. Die südvietnamesische Bevölkerung leistete immer gereizteren passiven Widerstand, die VR China brach einen „Erziehungsfeldzug''vom Zaun, die Ernteergebnisse blieben weit hinter den Planparametern zurück, an drei Fronten gingen die Samenkörner des organisierten Widerstandes auf, die westlichen Industrieländer verweigerten Entwicklungshilfe und Vietnam wurde zum Kostgänger der Sowjetunion. In dieser heikel gewordenen Situation riß die vietnamesische Führung das Steuer herum und leitete 1979 Reformmaßnahmen ein, die sich — vor allem in Form des „Produktvertragsystems" sowie einer neuen Sozialstrategie auf den Dörfern — wirtschaftlich höchst segensreich auswirkten, andererseits freilich innerhalb der Führung alte Wunden aufrissen, zur Erneuerung von Fraktionsbildungen führten und schließlich, während des V. Parteitags (1982), Säuberungen auslösten, wie sie in diesem Umfang bisher in Vietnam nicht vorgekommen waren. Der innenpolitischen Kehrtwendung folgten keine Korrekturen in der Außenpolitik. Hier blieb es bei der engen Sowjetbindung und der „Indochinalösung". Vietnam steht vor der Wahl, sich entweder der Logik seiner inzwischen so springlebendigen Innenpolitik zu beugen und seine Außenpolitik neu zu überdenken, oder aber stoisch an seinen kostspieligen außenpolitischen Positionen festzuhalten, worunter dann freilich seine Innenpolitik, vor allem aber der seit langem überfällige wirtschaftliche Aufbau zu leiden hätten.

I. 1975: Die „Stunde Null" in Indochina

Am 17. April 1975 fiel Phnom Penh nach fünf Jahren Bürgerkrieg in die Hände der Roten Khmer, am 30. April kapitulierte Südvietnam vor den nordvietnamesischen und Vietcong-Truppen, und am 2. Dezember 1975 kündigten die laotischen Kommunisten ihr 1974 mit der königlichen Regierung geschlossenes „Koalitionsabkommen" auf, schafften die 661 Jahre alte Monarchie ab und riefen die Volksrepublik aus. Die Geschichte schien den Atem anzuhalten: Nie vorher hatte es in den drei Ländern eine ähnliche Chance für die fundamentale Neugestaltung nahezu aller innen-und außenpolitischen Konstellationen gegeben. Nie auch erfreuten sich die drei Länder so sehr globaler Aufmerksamkeit und weltweiter — wenngleich manchmal auch kritischer — Sympathie wie in diesen Monaten. David hatte über Goliath gesiegt: 30 Jahre lang hatten die Bauernarmeen der drei Staaten gegen zwei Großmächte gekämpft, hatten schließlich militärische Erfolge über eine Weltmacht errungen, deren Intervention zu Beginn der siebziger Jahre durch nichts mehr gerechtfertigt erschien, und besaßen nunmehr offensichtlich alles moralische Anrecht auf Entwicklungshilfe und umfassende Unterstützung nicht nur durch sozialistische, sondern auch durch die „kapitalistischen" Industriestaaten. 1. Ausgangslage und Entscheidungszwänge Wie würden die drei siegreichen Bewegungen ihre historische Chance nützen? Vorrangige Probleme aller drei Länder waren die kriegsverursachte hochgradige Außenabhängigkeit der gerade „befreiten" Gebiete, der Stadt/Land-Dualismus, das bäuerliche Analphabetentum, die ethnische Zersplitterung angesichts zahlreicher Minoritäten und nicht zuletzt die Bodenfrage.

Vietnam hatte darüber hinaus noch drei zukunftsträchtige Schlüsselentscheidungen zu treffen, nämlich über die Art und Weise — nicht zuletzt auch über das Tempo — der Wiedereingliederung Südvietnams, ferner über die damit zusammenhängende Frage des sozialistischen Aufbaus, und nicht zuletzt über die künftige Gestaltung der Außenpolitik, wobei die Beziehungen zur Sowjetunion, zur Volksrepublik China, zu Laos und Kambodscha im Vordergrund standen.

Um diese Entscheidungen war Hanoi nicht zu beneiden; es mochte sich in dieser oder jener Richtung festlegen — am Ende würde doch immer etwas „falsch“ sein:

— Was die Wiedervereinigung anbelangte, so konnte Hanoi sich entweder für ein behutsames Vorgehen oder aber für eine von rascher Sozialisierung begleitete, also eine sozusagen „schneidige“ Lösung entscheiden.

Der „sanfte“ Weg würde den unterschiedlichen Entwicklungen in beiden Landeshälften Rechnung tragen, gefiele auch dem Ausland (nicht zuletzt den Chinesen) und könnte in Abstimmung mit der „Südvietnamesischen Befreiungsfront" erfolgen, die ja — als Folge ihres jahrelangen Guerilla-Engagements — nicht zu Unrecht die Rolle der Architektin eines neuen Vietnam beanspruchte. Freilich würde die Verwirklichung dieser Option viel Zeit kosten und dem „Klassenfeind" in Nam Bo (Südvietnam) eine bedenklich lange Atempause verschaffen. Mit zu den Grunderfahrungen der vietnamesischen Geschichte gehört ohnedies die kontinuierliche Spannung zwischen Nord-und Südvietnam, die mit dem „Großen Marsch nach Süden“ im 16. Jahrhundert begonnen und sich nach der Herausbildung mehrerer miteinander rivalisierender Dynastien und Staaten seitdem immer wieder erneuert hatte. Zweimal in der Geschichte waren Nord-und Südvietnam gespalten und zweimal wiedervereinigt worden: im Jahre 1802 vom Süden und 1975 vom Norden her. Nord-und Südvietnamesen sprachen zwar dieselbe Sprache, doch ihr Lebensstil hatte sich — nicht zuletzt seit Beginn der Sozialisierung im Norden — sehr weit voneinander entfernt. Konnte man es zulassen, daß Südvietnam auf Jahre hinaus seinen eigenen Weg weiterging, oder sollte man hier nicht besser die Wiedervereinigung „mit der Brechstange durchsetzen" und „Tatsachen schaffen"!?

— Im Bereich der Sozialisierungspolitik konnte sich die Hanoier Führung zwischen einer ganzen Serie von Alternativen entscheiden: Sollten z. B.der in der Wirtschaft des Südens so tief verwurzelte — und nicht selten von Auslandschinesen getragene — Kleinhandel sowie das tausendzellige Gefüge des Handwerkertums beibehalten werden, oder sollte man dieses dem Sozialismus so gefährliche „Kleinpro-duzententum" nicht mit Stumpf und Stiel aus-schalten — sich damit freilich auch ganze Bevölkerungsteile zum Feind machen? Sollte man also m. a. W. umfassend oder nur punktuell sozialisieren, und sollte man nicht wenigstens im Süden darauf verzichten, die „Phase des Kapitalismus zu überspringen"? Weitere Fragen waren in Stichworten: Priorität der Schwerindustrie oder der Landwirtschaft oder aber „Gehen auf zwei Beinen" im Sinne der chinesischen Simultaneitätsstrategie? Sozialisierung oder aber Entwicklung der „Produktivkräfte" an erster Stelle? „Gehen auf eigenen Beinen" oder internationale Zusammenarbeit?

War schnelle Sozialisierung nicht schon deshalb geboten, weil Vietnam — als ein Land der Gegensätze, das es nun einmal ist — übergreifender Verklammerungen bedurfte? Das Land zerfällt ja in drei unterschiedliche Landschaften (Bac-, Trung-und Nam-Viet; zur Kolonialzeit: Tonking, Annam und Cochinchina). Die reichen Bodenschätze (Kohle, Eisenerz, Zinn, Wolfram, Kupfer, Mangan und Chrom) sind weitgehend auf Nordvietnam beschränkt, während der Süden mit seinem landwirtschaftlichen Potential überlegen ist. überdies stehen hoffnungslos übersiedelte Räume kaum bewohnten Bergregionen gegenüber — nicht zuletzt im Zentralen Hochland des Nam Bo.

Es war klar, daß die Sozialisierung früher oder später kommen mußte. Immerhin war die kommunistische Bewegung ja seit 45 Jahren von dieser Perspektive beherrscht gewesen; doch blieb, dessenungeachtet, immer noch genügend Raum, zwischen einem „harten" Weg (ubiquitäre Sozialisierung mit zentraler Planwirtschaft und Schwerindustrie im Mittelpunkt) oder aber einer sanften Lösung zu wählen.

— Ganz besonderes Kopfzerbrechen aber mußte die außenpolitische Standortwahl bereiten. Hier hatte sich Hanoi entweder für „Indochina-Sonderbeziehungen" — und damit automatisch gegen China — zu entscheiden oder aber umgekehrt. In jedem Fall wäre damit auch schon die Wahl zwischen Moskau und Peking sowie voraussichtlich auch bereits zwischen „Ostblock" und dem Westen (einschließlich den ASEAN-Staaten) mitgetroffen.

Für eine „chinafreundliche" Lösung sprach die jahrelange Unterstützung, die der nördliche Nachbar den Nordvietnamesen im Verlauf von zwei Indochinakriegen hatte zukommen lassen, darüber hinaus aber auch die Überlegung, daß man sich mit einem so mächtigen — und im Gegensatz zum früheren Hauptfeind USA auch dauernd „präsenten" — Staat wie China nicht auf Gedeih und Verderb anlegen sollte.

Für eine (aller Voraussicht den Chinesen zutiefst mißfallende) „Sonderbeziehungslösung“ sprachen andererseits drei Determinanten, die dem vietnamesischen Denken so sehr zur zweiten Natur geworden sind, daß sie auch in den alltäglichen Entscheidungsprozeß hineinwirken. Da ist einmal die Erfahrung einer kontinuierlichen Nord-Süd-Ausbreitung Vietnams, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts begann und erst mit der Kolonisierung Kambodschas durch Frankreich im Jahre 1863 gebremst wurde. Der Logik dieser Expansion hatte es entsprochen, daß früher oder später auch das alte Khmer-Reich sowie Laos mit in den vietnamesischen Staatsverband eingegliedert würden.

Die zweite historische Erfahrung hängt mit der ersteren eng zusammen: Vietnam hat eine rund 1 000 km lange offene Westfront, von der her im Laufe der Geschichte immer wieder Gefahren gedroht haben. Würde sich China in Laos oder Kambodscha festsetzen, so könnte kein weitsichtiger Vietnamese mehr ruhig schlafen. Eine dritte Erfahrung aber ist die traditionelle „China-Allergie" Vietnams. Vietnam hat 1 000 Jahre lang unter direkter Herrschaft (111 v. Chr. bis 939 n. Chr.) und weitere 900 Jahre unter indirekter („Tribut" -) Herrschaft Chinas gestanden. Aus der heutigen Sicht gilt vietnamesische Geschichte weitgehend als ein permanenter Kampf um Befreiung oder aber um Bewahrung der Unabhängigkeit von China. Sollte man sich also von den Chinesen umarmen lassen und gleichzeitig ihrem Wunsch nach einer „Balkanisierung" Indochinas stattgeben — oder sollte es am Ende nicht ratsamer sein, sich mit einer anderen Großmacht zusammenzuschließen und die Feindschaft Chinas in Kauf zu nehmen!?

Verzicht auf ein indochinesisches „Sonder" -Bündnis und „pietätvolle Verneigung" gegenüber China wären die Hauptelemente einer „weichen" Lösung gewesen; die „harte" Option dagegen würde auf einen langfristigen Schulterschluß mit der Sowjetunion und auf die Besetzung/Quasi-Besetzung von Kambodscha und Laos hinauslaufen.

Dies also waren die Möglichkeiten. Wofür würde sich die vietnamesische Führung entscheiden? 2. Hanois Entscheidung für die „harten" Optionen Berauscht von den Siegen der vorangegangenen Jahre, beherrscht auch von dem Glauben, daß sich der bisher gepflegte „militärische Arbeitsstil“ bruchlos auf die Lösung ziviler Fragen übertragen lasse, und überdies fest entschlossen, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, faßte die Hanoier Führung in den Jahren 1975/76 Entschlüsse, die durchweg den jeweils härtesten Optionen entsprachen. — Was die Wiedervereinigungsfrage anbelangte, so berief Hanoi noch im November 1975 einen Wiedervereinigungskongreß ein, der seinerseits Wahlen zur gesamtvietnamesischen Nationalversammlung beschloß, die schon am 25. April 1976 stattfanden. Damals wurde auch die Ausarbeitung einer gesamtstaatlichen Verfassung angekündigt, die 1980 herauskam. Gleich bei der ersten Sitzung der neugewählten Nationalversammlung wurde die „Sozialistische Republik Vietnam" ausgerufen. Damit waren zugleich bereits die Rahmenbedingungen für die sozialistische Umwandlung des Südens gesetzt. — Auch in der Sozialisierungsfrage bestimmten „Biß" und Tempo das Geschehen: Großbetriebe im Süden waren schon gleich nach dem Einmarsch nordvietnamesischer Verbände in die öffentliche Hand übergegangen. Der vom IV. Parteitag im Dezember 1976 verkündete „Erste Fünf-Jahres-Plan" (1976— 1980) legte fest, daß im Süden Aufbau und Revolution gleichzeitig vor sich gehen sollten. Im Herbst 1977 wurde überdies ein Ausschuß für die Umwandlung der Landwirtschaft mit dem Ziel gegründet, die Kollektivierung in Nam Bo bis zum Jahre 1980 durchzuziehen.

Die nächste Kollektivierungsmaßnahme galt dem Privathandel in Südvietnam. Am 31. März 1978 kam eine Verordnung heraus, die mit sofortiger Wirkung den „bourgeoisen" Handel verbot und die Händler anwies, sich in Zukunft in der Landwirtschaft, in der Industrie oder aber in der Fischerei zu betätigen. Einen Monat später, am 3. Mai, ordnete die Regierung über Nacht eine Währungsreform an, die zwei Ziele auf einmal erreichen sollte, nämlich einmal die Aufhebung der Währungstrennung zwischen Nord-und Südvietnam sowie zum anderen die Verhinderung von Kapitalflucht.

Unmittelbare Folge der Währungsreform war der Exodus Tausender von Hoa (Auslandschinesen), von denen bis 1979 fast 600 000 das Land verließen, da sie ihre Lebensgrundlage verloren sahen und nicht zu der ihnen ungewohnten Landwirtschaftsarbeit in den Neuen Ökonomischen Zonen abkommandiert werden wollten.

— Auf außenpolitischem Gebiet entschied sich Vietnam für die Anlehnung an die Sowjetunion sowie für die „Indochinisierung" der beiden Staaten Laos und Kambodscha. Die Vorentscheidung fiel hier bereits mit der Unterzeichnung des vietnamesisch-laotischen Vertrags über Freundschaft und Zusammenarbeit vom 18. Juli 1977, der auf 25 Jahre abgeschlossen war und u. a. auch eine Militärpräsenz Vietnams in Laos gestattete. Gleichzeitig wurden die nächsten Schritte vorbereitet: Im vietnamesischen ZK kam es zur Ausschaltung pro-chinesischer Mitglieder — allen voran von Hoang

Van Hoan, eines früheren engen Mitarbeiters Ho Chi Minhs, der u. a. auch Botschafter in China gewesen war (Hoan konnte später nach China fliehen und dient dort heute noch als Hauptpropagandist gegen den pro-sowjetischen Le Duan-Kurs).

Am 29. Juni 1978 trat Vietnam dem COMECON bei und am 3. November des gleichen Jahres schloß es mit der Sowjetunion einen „Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit" ab, der u. a. auch eine — aus Chinas Sicht höchst dubiose — „Konsultations'-Klausel enthielt. Am 2. Dezember 1978 assistierte Vietnam bei der Gründung einer „Nationalen Einheitsfront Kampucheas zur Rettung der Nation" in den von vietnamesischen Truppen „befreiten'Gebieten Kambodschas, und am 25. Dezember 1978 begann die vietnamesische Großoffensive gegen das Demokratische Kampuchea, die am 7. Januar 1979 mit der Eroberung Phnom Penhs, dem Sturz des Pol Pot-Regimes und der Stationierung von 180 000 vietnamesischen Soldaten in Kambodscha endete. Schon eineinhalb Monate später, am 18. Februar 1979, schloß Vietnam — nach dem gleichen Schema wie mit Laos — auch mit Kambodscha (d. h. mit der inzwischen neu gegründeten „Volksrepublik“) einen Vertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit ab. 3. Die schmerzhaften Folgen Die Konsequenzen dieser in rascher Folge ablaufenden Ereignisse waren katastrophal: In dem so schnell mit dem Norden „wiedervereinigten" Südvietnam breiteten sich lähmende Passivität und „Negativismus" aus, während gleichzeitig die Kader aus dem Norden, denen Askese und Verzicht über die Jahre zur zweiten Natur geworden waren, nunmehr angesichts der materiellen „Versuchungen" des Nam Bo in Korruption und Postenjägerei verfielen. Bis Mitte 1979 verließen, wie bereits erwähnt rund 600 000 Hoa das Land — ein Aderlaß für Handel, Bergbau und den Fischereisektor, gar nicht zu reden von dem Verlust an technischem und wissenschaftlichem Personal, an mittlerem Management und Expertentum.

Es sollte aber noch schlimmer kommen. Im Februar und März 1979 begannen die Chinesen mit einer Aktion, die eigentlich niemand von ihnen erwartet hatte, nämlich dem sogenannten Erziehungsfeldzug gegen Vietnam, der schwere wirtschaftliche Verluste in einigen Nordprovinzen, vor allem aber eine höchst kostspielige vietnamesische Generalmobilmachung nach sich zog. Zu allem Überfluß kam es im Laufe des Jahres 1979 auch noch zu mehreren Naturkatastrophen, die das Ernteergebnis zusammenschmelzen ließen. Aber nicht nur das Getreide, sondern auch die Industrieproduktion fiel knapper aus als in den schlimmsten Kriegsjahren, und die Währung erfuhr als Folge davon eine inflationäre Aufblähung. Im Juli 1979 mußte der Dong offiziell abgewertet werden. Zahlreiche Kader, die mit ihrem Salär nicht mehr zurechtkommen konnten, suchten sich durch irreguläre Amtsgeschäfte über Wasser zu halten. Es kam zu Schiebungen, illegalen Transaktionen, zur Entstehung schwarzer Märkte und zu einem weiteren Vertrauensverlust bei der Bevölkerung. Langsam machte es sich nun auch bemerkbar, daß China 1978 seine Entwicklungshilfe eingestellt hatte und daß auch die westlichen Industriestaaten — spätestens seit dem Einmarsch Vietnams nach Kambodscha — nicht (mehr) bereit waren, Entwicklungshilfe zu leisten. Die Sowjetunion allein konnte diesen Ausfall nicht wettmachen.

Auch außenpolitisch gerieten die Dinge aus dem Ruder. In Kambodscha raffte sich noch 1979 der bereits tot geglaubte Rote Khmer zu einem systematischen Guerillakrieg gegen die vietnamesischen Besatzer auf, und selbst in Laos regten sich erste Resistancebewegungen. Zu Hause, im zentralvietnamesischen Hoch-land, gab die 1964 gegründete, dann aber lange Zeit untergetauchte FULRO (Force Unifie pour la Liberation des Races Opprimes) wieder Lebenszeichen von sich. Es mehrten sich zudem Hinweise, daß China hinter der Wiederbelebung dieser Widerstandskräfte stand und offensichtlich nicht nur Propaganda-, sondern auch Ausbildungs-und Waffenhilfe leistete.

Im Verlaufe von nur vier Jahren hatte Vietnam — zumindest in der Meinung der westlichen Welt und eines Teils der südvietnamesischen Bevölkerung — die Metamorphose vom Unterdrückten zum Unterdrücker durchgemacht, war vom Freund Chinas zu dessen Feind und vom Fackelträger der Selbstbefreiung zum Kostgänger der Sowjetunion geworden. Wirtschaftlich ein Zwerg, trat es militärisch als Riese auf und leistete sich im eigenen Land sowie an drei Fronten — gegenüber China, in Laos und Kambodscha — eine Million Mann unter Waffen. Kein anderes Land der Welt hatte nunmehr so viele kämpfende Einheiten in einem anderen Land stehen wie Vietnam in Kambodscha — und dies obendrein zu einer Zeit, da die heimische Wirtschaft am Rande einer Katastrophe angelangt war.

Es war daher klar, daß der bisherige Kurs nicht mehr länger beibehalten werden konnte und daß Korrekturen unumgänglich waren. An welchem Ende freilich sollte man beginnen: bei der Außenpolitik, bei der Aussöhnung mit der südlichen Bevölkerung, die das nördliche Regime immer noch als eine Art Besatzungsmacht empfand, oder aber bei wirtschaftlichen Reformen?

II. Das Herumreißen des Steuers: Reformzeit in Vietnam

Das Jahr 1979 sollte zur Peripetie im bisherigen vietnamesischen Drama führen. Dem chinesischen „Erziehungsfeldzug" mit seinen kostspieligen Konsequenzen folgte die wirtschaftliche Hiobsbotschaft, daß statt des geplanten Bruttosozialproduktzuwachses von 15% im laufenden Jahr nur 2, 3% erreicht worden seien. Noch zwei weitere Rekorde stellten sich ein, nämlich eine abermalige Verstärkung des Flüchtlingsstroms (unter den 270 000 Flüchtlingen des Jahres 1979 befand sich eine wachsende Zahl von Vietnamesen) und ein bisheriger Tiefststand bei den Ernten. 1. Die Reformbeschlüsse von 1979 In dieser Situation beschloß die Regierung, das Steuer herumzureißen. Zwar konnten in der Außenpolitik momentan keine fundamentalen Kursänderungen vollzogen werden;

wirtschaftspolitische Reformen aber würden am Ende vielleicht die Talfahrt bremsen. Mit dieser Überlegung trat das IV. ZK im Septemer 1979 zu seinem 6. Plenum an und erließ — nach offensichtlich schweren inneren Auseinandersetzungen — die „Resolution Nr. 6", die seitdem zum wirtschaftlichen Kompaß Vietnams geworden ist und durch den V. Parteitag im März 1982 nochmals feierlich bestätigt wurde.

Die wichtigsten Elemente des Reformbeschlusses lassen sich in folgenden Stichworten zusammenfassen: Materielle Anreize, Zulassung von Kleinhandel, Teilautonomie der Betriebe, Dezentralisierung der Kreditvergabe und Zulassung des (noch näher zu erläuternden) Vertragssystems in Landwirtschaft und Industrie, außerdem Verlangsamung des Kollektivierungstempos.

Die Führung erhoffte sich von diesen Beschlüssen nicht nur eine Belebung des individuellen Arbeitseifers im allgemeinen, sondern darüber hinaus auch einen Sympathiegewinn bei der südvietnamesischen Bevölkerung im besonderen. Wie die späteren Ereignisse zeigten, sollte sich diese Hoffnung erfüllen. Schon Ende 1979 wirkte ganz Vietnam wie ein riesiger Reparaturbetrieb, in dem an allen Ecken und Enden versucht wurde, erlittene und selbstverschuldete Schäden, soweit es eben ging, wiedergutzumachen. Die neue Reformpolitik wirkte sich im Landwirtschaftsbereich besonders günstig aus. Hatte Vietnam 1979 noch 13, 9 Mill. Tonnen (statt geplanter 21 Mill. Tonnen) Getreide geerntet, so waren es 1980 14, 4 Mill., 1981 15, 1 Mill, t und im Jahr 1982 sogar 16, 2 Mill. t.

Das „Wundermittel“, mit dem diese Erfolge erzielt wurden, hieß PVS (Produktvertragssystem). Dieses PVS war in Nordvietnam schon einmal, nämlich 1968/69 durchexerziert, dann aber als Auswuchs des schlimmsten „Kapitalismus" wieder verworfen worden, wobei diesbezüglich der „Linke Flügel“ im Politbüro unter Führung von Truong Chinh ausschlaggebend gewesen war. 1969 war im übrigen ein Jahr, in dem der „Zeitgeist" weltweit, und nicht etwa nur im China der Kulturrevolution, auf „Revolution“ gestimmt war. In diesen Zeitrahmen wollte das PVS nicht so recht hineinpassen. Inzwischen aber hatte sich das Blatt gewendet, und man begann sich in Vietnam zu fragen, ob man es nicht doch noch einmal mit dem damaligen System versuchen sollte, einem System, das doch eigentlich — vom rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt her — recht erfolgreich gewesen war, und dem überdies im Dezember 1978 auch in der Volksrepublik China grünes Licht gegeben worden war.

Die Besonderheiten des PVS lassen sich am besten anhand eines Vergleichs mit der ehemaligen Produktions-und Verteilungspraxis verdeutlichen. Früher hatten die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) ihren Mitgliedern die Arbeit einseitig zugewiesen und die Entlohnung nach der Arbeitszeit bemessen. Fleiß und Tüchtigkeit wurden hier ebenso selten belohnt wie andererseits Drückebergerei kaum je bestraft wurde. Das Ergebnis war ein höchst „gemütlicher" Arbeitsrhythmus, nachlässiger Umgang mit dem Maschinenpark sowie Verschwendung von Düngemitteln und Insektiziden.

Beim PVS werden demgegenüber die Arbeiten nicht mehr einseitig zugewiesen, sondern vertraglich, also bilateral, mit einem Einzel-bauern, einem Haushalt oder einer kleineren Gruppe ausgehandelt. Inhaltlich besteht die Vereinbarung darin, daß die LPG dem Vertragspartner bestimmte Bodenanteile, Geräte und Zugtiere überläßt und eine Reihe von weiteren Leistungen verspricht, während dieser sich im Gegenzug zur Ablieferung bestimmter Produkte (z. B. Getreide, Eier, Schlachttiere etc.) in einer bestimmten Quali. tät verpflichtet, wobei ein normaler Verlauf der Witterung vorausgesetzt ist. Manchmal wird ein sogenannter Fünf-Drei-Vertrag ge. schlossen. Hierbei werden fünf der acht klassischen Arbeitsgänge bei der Reiserzeugung vom Kollektiv erledigt, nämlich die Bodenbearbeitung (Pflügen und Eggen durch Traktoren oder Zugtiere der Genossenschaft), ferner die Bewässerung, die Saatzuteilung, die Düngung und die Versorgung mit Insektiziden, während die weiteren drei Arbeitsgänge der Verantwortung des Vertragspartners obliegen, nämlich das Auspflanzen der jungen Saaten, die laufende Pflege und die Ernte. Liegt das Produktionsergebnis am Ende über der vereinbarten Norm, so kann der Partner das Produkt entweder selbst behalten oder es zu einem höheren Preis an den Staat veräußern, es gegen Konsumgüter eintauschen oder damit auf die freien Märkte gehen. Kommt der Partner andererseits seinen Mengenverpflichtungen nicht nach, so hat er die Differenz aus den Ernteerträgen in der nachfolgenden Saison zu begleichen.

Die Parteiführung kann seit 1980 mit Erstaunen feststellen, daß die Bauern nicht nur jedes Jahr höhere Ernteerträge hervorbringen, sondern daß sie auch auf eigene Kosten Zugtiere anschaffen, daß sie höchst sorgsam mit den Düngemitteln umgehen, daß sie zu jeder (gewinnbringenden) Diversifizierungsmaßnähme bereit sind und nicht zuletzt — ganz im Gegensatz zu den bisherigen Gewohnheiten — bis in die späte Nacht hinein arbeiten. Mit Sorge wird zwar da und dort vermerkt daß der Gemeinschaftsgeist unter dem individuellen Erwerbsstreben leiden könne, doch tröstet man sich mit drei Argumenten: Die Wirtschaft kommt wieder in Schwung, Staat und Kollektive profitieren von dem Mehrverdienst der Bauern und das PVS ist auch ein Mittel, um die bisher nur etwa zu einem Sechstel kollektivierte Landwirtschaft Südvietnams schneller in die Vergenossenschaftlichung hineinzulocken; nur im LPG-Verband kann das PVS ja wirklich voll zur Entfaltung kommen! Vor allem mit dem letzteren Argument wird so manchem orthodoxen Marxisten in der vietnamesischen Führung die Zustimmung zu der neuen, doch eigentlich höchst verdächtigen Wirtschaftsreform erleichtert. Die PVS-Praxis erwies sich als so erfolgreich, daß sie inzwischen von der Landwirtschaftauf das gesamte Wirtschaftsgeschehen überzugreifen beginnt. Die stalinistische Planungspraxis wird damit in zunehmendem Maße hinterfragt. Lange Zeit war die Rolle von Ver trägen im Wirtschaftsbereich — und nun gar zwischen staatlichen Betrieben und Behörden _ auch in Vietnam höchst umstritten. Entsprach es nicht dem Geist des Sozialismus, die Gestaltung des Wirtschaftsprozesses ganz der Planung zu überlassen!? Der Marktmechanismus war als Gestaltungsfaktor tabuisiert und das Instrument des Wirtschaftsvertrags, das solchen Marktmechanismen gar noch Vorschub leisten konnte, höchst suspekt! „Nicht Vertrags-, sondern Planerfüllung" lautete die Parole. Da die Pläne freilich auf detaillierte Betriebs-und Bedarfsstrukturen nicht eingehen können, geriet „Planerfüllung" oft zu einer Art Vabanquespiel. Vor allem waren, wenn man sich am Ende nicht doch vertraglich einigte, nirgends präzise Vorschriften über Ablieferungs-und Zahlungstermine, Qualität und Qualitätskontrolle — und nun gar Schadensersatzpflichten und „Verantwortlichkeiten" — festgelegt.

Anfang November 1982 hielt der Ministerrat die Zeit für gekommen, auch den staatlichen Betrieben das Instrument der Wirtschaftsverträge nahezulegen. Die einzelnen „Wirtschaftseinheiten" sollten sich mit ihren jeweiligen Partnern auf dem Weg über Wirtschaftsverträge in den Details einigen. Wirtschaftsverträge sollten aber nicht nur zwischen den Betrieben, sondern nach Möglichkeit auch zwischen den einzelnen Behörden ausgehandelt werden: Die Vertragseuphorie hatte damit endgültig die vietnamesische Führung ergriffen!

Das PVS im besonderen und das Vertragssystem im allgemeinen sind nur die Spitzen eines breiten Reformprogramms, das keineswegs auf die Wirtschaft beschränkt ist. Vielmehr kam es auch zu Reformen im Führungsapparat und im Militärwesen. Auf dem Umweg über die Ausstellung neuer Parteiausweise wurden z. B. bis zum V. Parteitag im März 1982 immerhin 86 000 Parteiangehörige aus der (inzwischen 1, 7 Millionen Mitglieder umfassenden) Kommunistischen Partei Vietnams ausgestoßen. 1980 wurde eine neue Staatsverfassung erlassen und 1982 das Kabinett (vor allem im Bereich der wirtschaftsbezogenen Ressorts) umgebildet.

Geradezu sensationell für vietnamesische Verhältnisse war das Personalrevirement beim V. Parteitag. Hierzu muß man wissen, daß Vietnams 52 Jahre alte Kommunistische Partei bis dahin mit nur zwei Vorsitzenden (Ho Chi Minh und Le Duan), die 37 Jahre alte Regierung mit einem einzigen Premierminister (Pham Van Dong) und die 37 Jahre alte Volksarmee mit zwei Oberkommandierenden (Vo Nguyen Giap bis 1980, danach Van Tien Dung) ausgekommen waren. Solide war auch die überkommene Abgrenzung der Zuständigkeiten. Danach steht die KPV unter der Führung des heute 74jährigen Le Duan, die Nationalversammlung unter Leitung des 75 Jahre alten Truong Chinh; über die Geschicke Kambodschas bestimmt der 73jährige Le Duc Tho, rechte Hand Le Duans und bekannt durch seine Verhandlungen mit Henry Kissinger; zuständig für Südvietnam ist der 71jährige Pham Hung.

Dieser in Jahrzehnten gewachsene Monolith bekam nun beim V. Parteitag erstmals deutlich wahrnehmbare Risse. Die Reihenfolge der ersten Fünf blieb zwar dieselbe (Le Duan, Truong Chinh, Pham Van Dong, Pham Hung und Le Duc Tho), jedoch wurden fünf weitere Spitzenmitglieder abgewählt, wofür Altersgründe allein nicht ausschlaggebend gewesen sein können, da die Fünf durchweg jünger waren als Parteichef Le Duan. Vielmehr dürfte ihnen teils mangelnde politische Fortune, teils aber auch ihre Nichtübereinstimmung mit der Linie des Le Duan-Flügels zum Verhängnis geworden sein.

Beachtung verdient der Aufstieg des Militärs, das seinen Anteil bei den Spitzenmitgliedern (von bisher vier von 17 auf fünf von 15) steigern konnte. Verteidigungsminister Van Tien Dung rückte auf den 6. Platz vor, und Le Duc Anh, der Oberkommandierende der vietnamesischen Truppen in Kambodscha, besetzte Platz 12. Weitere Aufsteiger waren der Wirtschaftssachverständige Vo Van Kiet (Platz 11) und Außenminister Nguyen Co Thach, der die heikle vietnamesische Außenpolitik bisher mit viel persönlichem Charme hatte „verkaufen" können. Auch das ZK, das von 133 auf 152 Vollmitglieder anstieg, wurde durch 32 Neulinge „aufgefrischt"; gleichzeitig wurden 34 Vollmitglieder abgewählt.

Wichtigste Ergebnisse des Parteitags waren die Kontinuität der Le Duan-Politik, eine Straffung des Führungsapparats und eine gewisse Verjüngung und „Pragmatisierung" vor allem im Bereich der Wirtschaftsführung. 2. Keine Umkehr in der Außenpolitik a) Die „zwei Grundsäulen" der Außenpolitik Vietnams Im Bereich der Innenpolitik fanden zahlreiche, von der Bevölkerung dankbar begrüßte reformerische Korrekturen statt. Das außen-politische Grundübel der Hanoier Politik allerdings wurde, trotz des Unbehagens einer wachsenden Zahl von ZK-Mitgliedern, nicht kuriert, sondern durch den V. Parteitag sogar aufs neue bestätigt — und damit verfestigt: Die Sowjetbindung sowie die „Sonderbeziehungen" zu Laos und Kambodscha sollten weiterhin die „zwei Grundsäulen''der Außenpolitik Hanois bleiben.

Die Sowjetunion, der es in Indochina um eine Minimalisierung des Einflusses der Volksrepublik China und der USA sowie um die Gewinnung von Marinebasen (Cam Ranh, Da Nang, Kompong Som und Ream) geht, sieht sich in der Subregion mit täglich rund 6 Mill. US-Dollar zur Kasse gerufen. Auf Rückzahlung besteht nur wenig Aussicht. An die Stelle einseitiger Wirtschaftshilfe sind z. T. inzwischen „Gegengeschäfte" getreten, so die Entsendung vietnamesischer Gastarbeiter in die unter Arbeitskräftemangel leidenden sozialistischen „Bruderländer" sowie die Gründung von sowjetisch-vietnamesischen Gemeinschaftsunternehmen, sei es in Form von Joint Ventures oder von Kompensationsgeschäften, die Vietnam nicht nur keine Devisen kosten, sondern bei denen es Technologien importieren und gleichzeitig den Arbeitslosenstau abbauen kann. Mit sowjetischer Hilfe sucht Vietnam im Offshore-Bereich auch nach öl und Gas.

In der Volksrepublik Kampuchea (VRK) treten Moskau und Hanoi zunehmend als Konkurrenten auf — eine Situation, die von Phnom Penh geschickt ausgenutzt wird. Moskau und Hanoi wollen von der „Normalisierung“ in Kambodscha auf ihre Weise profitieren, doch diese „Normalisierung" läßt auf sich warten, da die Roten Khmer bis Mitte 1983 vier Trocken-und vier Regenzeiten überstanden haben und — zumindest bei Nacht — rund ein Drittel des kambodschanischen Staatsgebiets kontrollieren. Außerdem ist es den Roten Khmer gelungen, auf dem Wege über ein Dreierkoalitionsabkommen mit den Sihanouk-und den Son Sann-Kräften (vom Juni 1982) den Legalitätsvorsprung des Demokratischen Kampuchea (DK) gegenüber der Volksrepublik Kampuchea zu vergrößern.

Was die anderen Nachbarstaaten betrifft, so könnte das Verhältnis Vietnams zu den beiden asiatischen Riesen, China und Indien, kaum unterschiedlicher aussehen, als es heute ist. Indien nimmt in der Staatenwelt Südasiens eine ähnliche Position ein wie Vietnam in Südostasien, und es sieht sich bei seinem Streben nach verstärktem regionalen Einfluß von den gleichen Mächten gefördert — und behindert — wie Vietnam. Angesichts dieser Parallelität hat die indische Regierung beschlossen, nicht nur die Volksrepublik Kampuchea diplomatisch anzuerkennen, sondern Wirtschaftshilfe an Vietnam zu leisten und den Vietnamesen auch an den verschiedensten Fronten der Diplomatie Schützenhilfe zu gewähren.

China andererseits hat rund 200 000 Soldaten an seiner Grenze zu Vietnam stehen, droht mit einem „zweiten Erziehungsfeldzug", hat schon 1978 jede Entwicklungshilfe eingestellt, unterstützt die verschiedenen anti-vietnamesischen Widerstandsbewegungen in Laos, Kambodscha und sogar in Vietnam, arbeitet auf eine weltweite außenpolitische Isolierung Vietnams hin, betreibt, wie es in der vietnamesischen Propaganda heißt, „psychologische und wirtschaftliche Kriegführung" gegen Hanoi und tritt vor allem vor den Vereinten Nationen für die weitere Anerkennung des Demokratischen Kampuchea sowie für den vollständigen Abzug aller vietnamesischen Truppen aus Kambodscha ein.

Die Politik der USA verläuft zu der Indochina-Linie Pekings fast parallel, so daß Hanoi — von seinem Standpunkt nicht zu Unrecht — von einer „Komplizenschaft" spricht.

Mit Ausnahme von Schweden und Frankreich erhält Vietnam keine Entwicklungshilfe aus den westlichen Industrieländern, sondern sieht sich zunehmend auf die „Bruderländer" im Ostblock verwiesen.

Durch den Einmarsch nach Kambodscha hat sich Vietnam auch Thailand zum Feind gemacht, das nun seinerseits dadurch reagiert hat, daß es die Fünfergemeinschaft der ASEAN, der es ja selbst angehört, auf eine anti-vietnamesische Linie einschwor. b) Warum hält Vietnam an seinem Indochinakurs fest?

Vietnam wäre gut beraten, seine Truppen aus Kambodscha (und auch aus Laos) zurückzuziehen. Die Entspannung des Verhältnisses zu China, die Lockerung der Abhängigkeit vom Ostblock, die (Wieder) Aufnahme von Entwicklungshilfeleistungen die westlichen Industrieländer und ein Freiwerden gewaltiger, durch das Militär gebundener Potentiale für den Aufbau des Landes wären die absehbaren Vorteile eines solchen Schrittes, der den Vietnamesen ohnehin jedes Jahr seit 1979 von der UNO-Vollversammlung nahegelegt und auch von der Internationalen Kambodschakonferenz des Jahres 1981 als Haupt-therapie empfohlen wurde.

Vietnam will allerdings von einem solchen Totalabzug nichts wissen und nur über eine Teilrücknahme von Truppen mit sich reden lassen. Diese wird nun ihrerseits wieder von den Gegnern Vietnams als bloße „Truppenrotation" interpretiert. Hanoi begründet seine ablehnende Haltung mit dem Hinweis auf die „chinesische Gefahr", denn die Roten Khmer seien am Ende ja nichts anderes als ein Trojanisches Pferd Chinas in Kambodscha! Hier stellt sich die Frage nach den wahren Motiven der vietnamesischen Besetzung von Kambodscha und Laos: Wer den Vietnamesen eine nur reaktive Kambodschapolitik zugute-hält, folgt der offiziellen vietnamesischen Wortregelung, derzufolge die Präsenz Hunderttausender von Soldaten in den beiden Nachbarländern nichts anderes sei als eine Abwehr gegen chinesische Infiltrationsversuche. Die Okkupation wäre danach also lediglich eine Präventivmaßnahme gegen China und würde in dem Augenblick wieder rückgängig gemacht, da die chinesische Gefahr verschwunden ist. Diejenigen andererseits, die Vietnam eine aktive Kambodscha/Laos-Politik unterstellen, gehen davon aus, daß es ihm hauptsächlich darum geht, die beiden Nachbarländer einem Indochinabündnis einzuverleiben. Aus dieser Sicht sind Laos und Kambodscha für Vietnam nicht nur Reisvorratskammern, sondern auch strategische Vorfelder entlang der empfindlichen Westflanke Vietnams, die es aus seiner Sicht ein für allemal unter vietnamesische Kontrolle zu bringen gilt.

Eine aktive Kambodscha/Laos-Politik könnte allerdings erst dann unterstellt werden, wenn sich eine von Hanoi systematisch betriebene Siedlungspolitik in den Nachbarstaaten nachweisen ließe (vgl. dazu den nachfolgenden Beitrag von Peter Schier). 3. Die vietnamesische Phalanx: Laos und (Volksrepublik) Kampuchea Forschungsstrategisch hat es sich inzwischen als sinnlos herausgestellt, die Ereignisse und Strukturbildungen in der Laotischen Demokratischen Volksrepublik (LDVR) und in der Volksrepublik Kampuchea (VRK) als eigenständige Phänomene zu behandeln, überall treten hier — zumindest in den Grundereignissen und -Strukturen — so auffallende Analogien zu Tage, daß die steuernde Hand Vietnams nicht zu übersehen ist. Beide Länder sind von vietnamesischen Truppenkontingenten besetzt: die VR Kampuchea von rund 180 000, Laos von etwa 40 000 Soldaten. Beide sind im Aufbau der Partei-und Staatsorgane sowie der Massenorganisationen dem vietnamesischen Vorbild nachempfunden. Auch die Verfassung der VR Kampuchea von 1981 gleicht dem vietnamesischen Vorbild von 1980. Der laotische Fünf-Jahres-Plan (1981 bis 1985) ist — zumindest dem Anlageschema nach — eine Kopie des entsprechenden vietnamesischen Fünf-Jahres-Plans und wurde im übrigen auch fast zur gleichen Zeit verabschiedet. Laos ging — ein weiteres Beispiel — zwischen 1975 und 1978 mit dem „harten" vietnamesischen Kurs konform und schaltete dann 1979 — ganz wie sein Vorbild — auf Reformen um, die sich hier wie dort in ähnlichen Ergebnissen niederschlugen.

Auch sonst werden die multilateralen Verbindungen zwischen den drei Staaten von Tag zu Tag dichter: Von der regelmäßig tagenden „Indochinesischen Außenministerkonferenz" wurde inzwischen ein Ständiges gemeinsames Organ eingerichtet; die Straßenverbindungen zwischen Vietnam und seinen beiden Nachbarstaaten werden mit Priorität ausgebaut — mit der Folge, daß sich z. B. Laos von seinen traditionellen Verbindungen zu Thailand hin immer mehr abkoppelt. Auch entwickeln alle drei Staaten eine koordinierte — und gegenseitig bis aufs Wort abgestimmte — gemeinsame Außenpolitik, betreiben eine Wirtschaftspolitik nach gemeinsamen Plänen und suchen auch kulturell im Gleichschritt zu gehen. Die laotischen und VRK-Ministerien sind mit vietnamesischen „Beratern" durchsetzt; zwischen den Provinzen werden „Patenschaften" errichtet und das Wort „Indochina“ — ursprünglich ein französisch-kolonialer Ausdruck — spielt in der vietnamesischen Sprachregelung eine immer dominierendere Rolle.

In der Innenpolitik hat Vietnam somit reformerische Flexibilität gezeigt und neue Wege beschritten, während es in der Außenpolitik weiterhin an seiner zwischen 1976 und 1978 ausgelegten Linie festhält.

III. Zukunftserwartungen

Zwei Grundlinien bestimmen heute die vietnamesische Politik. Im Innern setzt Hanoi voll auf Experimente und Innovationen, in der Außenpolitik dagegen sind die immer wieder zu Tage tretenden „neuen" Vorschläge nichts anders als Tarnmanöver für eine offensichtlich unverändert starre Außenpolitik. 1. Erwartungen und Zugeständnisse in der Innenpolitik Zieht man einige der wichtigen Basiskriterien zur Beurteilung der bisherigen „Entwicklungs" -Leistung heran, so schneidet Vietnam nicht gerade vorteilhaft ab: — Zunächst ist es einmal das Wirtschaftswachstum, das zu wünschen übrig läßt. Statt eines BSP-Zuwachses von 15 %, wie er im Fünf-Jahres-Plan vorgesehen 1976— 1980 war, wurden nur 2, 3 % (1979) erzielt. Das Pro-Kopf-Einkommen eines Vietnamesen liegt heute (1982) bei jährlich 153 US-Dollar. Damit gehört Vietnam zu den wirklich armen Ländern der Welt. Die Parteiführung macht objektive und subjektive Ursachen für dieses Defizit verantwortlich, nämlich Kriegsnachwirkungen, Kampf gegen den chinesischen „Expansionismus“, Naturkatastrophen, „Sabotageaktivitäten", des weiteren „Subjektivismus, Hast, Konservativismus, Gleichgültigkeit, Bürokratismus, Trennung von den Realitäten, fehlendes Augenmaß für die Anforderungen des täglichen Lebens und Mangel an Verantwortungsgefühl” (so Parteichef Le Duan bei seinem Rechenschaftsbericht anläßlich des V. Parteitags im März 1982). — Auch das Problem der Arbeitslosigkeit wurde nicht gelöst Obwohl eine Million Mann unter Waffen stehen, des weiteren etwa 200 000 Mann (zumeist Angehörige der früheren südvietnamesischen Armee oder Regierung) in „Erziehungslagern''einsitzen und mehrere Millionen Umsiedler in die soge-nannten Neuen ökonomischen Zonen verschickt wurden, besteht noch immer eine weit verbreitete offene Arbeitslosigkeit in den Städten (1981: eine Million) und eine versteckte Arbeitslosigkeit auf den Dörfern (1981: rund drei Millionen). — Die „soziale Gerechtigkeit" muß ebenfalls in Frage gestellt werden. Die Kollektivierung auf dem Land, die weitgehende Beseitigung des Privathandels und die Verstaatlichung der Großbetriebe im Süden haben zwar die Voraussetzungen für eine gerechtere Verteilung von Gütern und Chancen eröffnet. Weit-verbreitete Korruption unter den aus dem Norden kommenden Kadern und Leistungsunfähigkeit der Betriebe haben jedoch dafür gesorgt, daß es entweder nichts zu verteilen gibt oder daß die Verteilung nur selten gerecht ist. Stolz kann Vietnam allerdings auf sein Erziehungs-und auf sein Gesundheitswesen sein.

— Auch das ursozialistische Versprechen der Partizipation wurde angesichts des starren Festhaltens am „demokratischen Zentralismus" nicht eingehalten. Erst die seit 1979 eingeleiteten Reformmaßnahmen versprechen hier langfristig Besserung.

— Nicht zuletzt aber muß angesichts der immer enger werdenden Bindungen an die Sowjetunion auch die politische und wirtschaftliche „Unabhängigkeit“ des Landes in Frage gestellt werden.

Dies die war nicht gerade erfreuliche Ausgangstage, der sich der V. Parteitag gegen-übersah. ä) Neue Wirtschaftsplanung: Bescheidenere Ziele und Grundbediirfnisorientierung Durch den V. Parteitag wurden vier globale wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele für die achtziger Jahre festgelegt, nämlich die „Befriedigung der materiellen und kulturellen Grundbedürfnisse der Bevölkerung“, die weitere Konsolidierung der materiellen Basis als solider Plattform für den Ausbau des Sozialismus, die Fortsetzung der Sozialisierung im Süden und der Ausbau der Verteidigung.

Besonders wichtig ist hier der erste Punkt, der für die Zukunft nicht mehr bloß „tonnenideologisch bedingtes Wachstum" — eine ständige Versuchung der stalinistischen Planer — in Aussicht stellt, sondern vielmehr die Befriedigung jener „Grundbedürfnisse" des Volkes, die materieller (Ernährung, Bekleidung, Wohnungswesen, Infrastruktur etc.), aber auch immaterieller Art sind. Zu den letzteren zählen die soziale Eingliederung (das Gegenteil davon waren die mit vorgehaltenem Gewehr erzwungenen . Arbeitseinsätze“ im Kambodscha des Jahres 1975 und der folgenden Jahre), die Teilnahme an dörflichen (und möglichst auch überdörflichen) Entscheidungsprozessen, ferner die Teilhabe an Ausbildungs-und Informationseinrichtungen und nicht zuletzt die Möglichkeit zu „kultureller Identität". Demnach soll, anders ausgedrückt, ein buddhistischer Vietnamese nicht mehr in wenigen Wochen zu einem reinblütigen Marxisten umerzogen werden. Zum immateriellen „Grundbedürfnis" gehört es danach auch, daß der Bauer nicht sein Dorf verlassen muß, sondern sich dort, also in seinem angestammten Milieu, den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts anpassen kann. Hierfür — und nur hierfür — wären die nötigen Strukturveränderungen herbeizuführen, die zumeist auf die Errichtung von Dorfindustrien, von Gesundheitszentren, von Wasserversorgungseinrichtungen, von Anschlußstraßen und innerdörflichen Wegen, ferner auf die Schaffung der nötigen Absatz-und Bezugswege sowie auf bessere Erziehung und Maßnahmen zur Bekämpfung von Fehl-und Unterernährung hinauslaufen. Die „straffe“ Politik der Jahre nach 1975 hat allzuwenig der Tatsache Rechnung getragen, daß der Durchschnittsvietnamese trotz aller Umwälzungen in den vergangenen 30 Jahren nach wie vor Bauer geblieben ist, sich mit seinem Dorf identifiziert und nicht einfach wie eine Figur auf dem Schachbrett herumgeschoben werden möchte. Man kann es den Vietnamesen nur wünschen, daß sie die hier angepeilte Grundbedürfnisstrategie beim Wort nehmen.

Das zweite Ziel — der Ausbau der materiellen Basis — impliziert, daß in Zukunft die Leistung wieder mehr zählt als Ideologie oder Klassenherkunft. Hierdurch wird auch eine neue Sozialstrategie in Szene gesetzt.

Um den vier Grundzielen eine Verwirklichungschance einzuräumen, hat die Führung zehn Strukturmaßnahmen beschlossen, die in ihrer theoretischen Formulierung bereits das dialektische Denkmuster der Planer erkennen lassen. Es soll nämlich die Ausgewogenheit zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen zentraler und regionaler Lenkung, zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Wirtschafts-und Verteidigungsentwicklung, zwischen Binnen-und Außenwirtschaft, zwischen Arbeitsplatz-und Bevölkerungspolitik, zwischen Produktion und Wissenschaft, zwischen Akkumulation und Konsumtion, zwischen Produktion und Verteilung sowie zwischen Planungsvorgaben und Anreizen angestrebt werden.

In einer dritten Etappe werden sodann — nach Festlegung der Grundziele und der Strukturmaßnahmen — konkrete Produktionsvorgaben entworfen, die im zweiten Fünf-Jahres-Plan (1981-1985) aufgeschlüsselt sind. Verglichen mit den Zielen des ersten Fünf-Jahres-Plans sind die neuen Wachstumsraten weitaus bescheidener — und damit freilich auch realistischer — ausgelegt.

Gelänge es, bis 1985 die Nahrungsmittelproduktion tatsächlich auf 19-20 Mill, t zu steigern, so wäre die Lösung eines der vordringlichsten Probleme Vietnams, nämlich die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln, erreicht. Vietnam stünde — gemessen an den oben angeführten fünf „Entwicklungs'-Kriterien — im Jahre 1985 dann sicherlich besser da als 1981.

Freilich wären für eine Produktionserhöhung auch zwei Preise zu zahlen: — Je mehr die Volkswirtschaft hervorbringt, um so nachdrücklicher wird die Sowjetunion auf Rückzahlung ihrer Außenstände drängen. — Da der „Arbeitsenthusiasmus" der Bauern und Arbeiter letztlich nur durch materielle Anreize und durch andere reformerische Zugeständnisse angeheizt werden kann, ist als ideologischer Preis ein Stück marxistischen Selbstverständnisses zu opfern. b) Eine neue Sozialstrategie?

Vietnam ist nach wie vor in erster Linie ein Land der Dörfer. Gesellschaftsstrategie ist daher weitgehend deckungsgleich mit Dorfstrategie. Das vietnamesische Dorf ist im Laufe seiner Geschichte vier verschiedenen Steuerungsystemen unterworfen worden, die bezeichnenderweise allesamt fremden Ursprungs waren: zwei waren konservativ, die beiden anderen aber reformerisch/revolutionär geprägt.

Fast 2000 Jahre dominierte das chinesisch-konfuzianische System, das im 19. Jahrhundert durch ein französisches Experiment gelockert wurde. Gegen Ende der Kolonialzeit setzten sich zwei neue Stratifizierungsmodelle durch, nämlich in Südvietnam der amerikanisch inspirierte Versuch einer Land-reform und in Nordvietnam die sowjetischen und chinesischen Vorbildern entlehnte Kollektivierung. Im traditionellen Vietnam wurde das Dorf weitgehend sich selbst überlassen. Nur in Fragen der Sicherheit, der Steuerzahlung sowie der Hand-und Spanndienste bestanden Verpflichtungen gegenüber dem Staat. Die Gemeinde entschied aus eigener Machtvollkommenheit über die Frage der Steuerlast-verteilung zwischen ihren Mitgliedern, sie vergab die innerdörflichen Gemeindeprivilegien, war für die Ernennung der Repräsentanten im Dorfrat zuständig und hatte auch einen eigenen Gemeindekodex, der sich z. T. aus eingespielten religiösen Zeremonien und säkularen Ritualen zusammensetze. Der Bambushecke rund um das Dorf kam nicht nur eine physische Schutzfunktion zu, sondern sie zeigte auch die Grenze auf, wo „das Gesetz des Kaisers endete und das Brauchtum des Dorfes begann". Die Gemeinde stellte ihre eigene Dorfpolizei auf, errichtete den Tempel für ihren Dorfschutzgeist und institutionalisierte ein System gegenseitiger Hilfe. Kennzeichnend für das soziale Leben war das Vorherrschen kollektiver Denk-und Verhaltensmuster. Das Ich trat zurück; die Familienfeier wurde unter der Hand zur Dorffeier; die Geschichte einer Gemeinde wurde vom einzelnen Mitglied internalisiert und im Sinne eines Wir-Gefühls weitervererbt. Stets war von außen her das Dorf als Ganzes angesprochen. Bei schweren Verstößen gegen die staatliche Ordnung konnten der Kaiser und das Mandarinat — neben der Dorfgemeinschaft die beiden wichtigsten Träger des traditionellen Politsystems — sogar die Todesstrafe gegen das Gesamtdorf verhängen.

Die traditionelle Ordnung läßt sich mit vier Stichworten charakterisieren: Sie ist konfu29 zianisch-konservativ, d. h. prinzipiell neuerungsfeindlich; sie ist kollektiv orientiert, d. h. nicht das Ich, sondern das Wir herrscht vor; das Dorf ist „geschlossen", d. h. nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Gemeinde bleiben die Dörfer „unbeweglich", selbst die üblichen Hand-und Spanndienste dürfen vom Staat nur in Räumen angeordnet werden, die innerhalb eines 5 km-Radius um das Dorf liegen; schließlich ist das Dorf auch durch Hierarchien bestimmt, wobei Bildung, Reichtum und Alter die inhaltlichen, ständige Rituale und Zeremonien dagegen die habituellen Kriterien abgeben.

Der Staat, d. h. Hof und Mandarinat, trat mit dem Dorf meist über dessen Honoratioren in Verbindung. Selbst das Recht der Steuererhebung wurde manchmal an sie verpachtet.

Dieses System begann zur Zeit der französischen Kolonialherrschaft einzubrechen, ohne daß diese es ernsthaft beabsichtigt hätte. Im Gegenteil:

— Die Kolonialverwaltung wollte das Dorf sogar in seiner überkommenen Struktur konservieren und es auf diese Weise wirtschaftlich „verwertbar“ erhalten. Ganz unerwartet freilich entwickelte die Zusammenarbeit mit den „Neuen Reichen" im Dorf sowie die Einführung von Plantagen, neuen Anbautechnologien und bisher kaum verbreiteten Rohstoffpflanzen soviel Schubkraft, daß am Ende eine soziale und technische Revolution herauskam. — Ferner sollte das Dorf wie eh und je kollektiv angesprochen werden. Mit der massenhaften Anwerbung von Arbeitskräften jedoch, mit dem Abschluß von mündlichen Verträgen und mit der „Vereinzelung des Handels" (unter Mithilfe chinesischer Aufkäufer) wurde das Dorf als Kollektiv langsam ausgehebelt und der Bauer mit einem Mal als Individuum angesprochen.

— Auch mit der „Geschlossenheit" des Dorfes, die eigentlich gar nicht berührt werden sollte, war es bald zu Ende. Die alten Zeremonien und Rituale, die das soziale Gefüge bisher permanent bestätigt hatten, ließen in ihrer Glaubhaftigkeit nach, zumal Tausende von Bauern ihre Dörfer verließen, um erstmals fern von der angestammten Heimat in Plantagen, am Eisenbahnbau oder an Straßenprojekten zu arbeiten.

— Selbst die traditionelle innerdörfliche Hierarchie ging aus den schon oben genannten Gründen (Nachlassen der Attraktivität des „Bildungsadels", allmähliches „Einschlafen" der Zeremonien, Einschalten der Bauern in individuelle Vertragsverhältnisse etc.) verloren.

Das System der französischen Kolonialherrschaft war am Ende durch ein merkwürdiges Einerseits/Andererseits gekennzeichnet: es war manifest konservativ, jedoch latent revolutionär. Noch mehr Sprengkraft entfalteten die unter amerikanischer Anleitung durchgeführten südvietnamesischen Landreformversuche. Seit dem „Verlust" Chinas, der letztlich auf Reformversäumnisse zurückgeführt wurde, gehörte die Strategie der Landreform mit zum antikommunistischen Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik. Japan, Taiwan, die Philippinen, Südkorea und — nach 1954 — auch Südvietnam wurden zu Experimentierfeldern großangelegter Landreformen, die am Ende allerdings nur in Taiwan voll durchschlugen. Zwei Gesichtspunkte standen bei den Reformen im Vordergrund, nämlich erstens das Bestreben, eine gesunde Mittelbauernschaft mit eigenem Land und Maschinenbesitz ins Leben zu rufen und gleichzeitig den Großgrundbesitz zu beschneiden, zweitens die Erwartung, daß ein in dieser Weise in den Sattel gehobenes Acker-Bürgertum der staatlichen Führung loyal gegenüberstehen würde.

Im Mittelpunkt des im März 1970 verkündeten südvietnamesischen Landreformgesetzes standen folgende Gesichtspunkte: „Das Land dem Pflüger", Entschädigung für Enteignungen, breite Streuung des Grundbesitzes, leicht zu bewältigende Abzahlung des Erwerbspreises, Schaffung eines wohlhabenden Mittelbauernstandes, der aus wohlverstandenem Eigeninteresse an der Integration des Staates mitwirken würde, Zuteilung von je 4-5 ha als Voraussetzung für die Autarkie einer Durchschnittsbauernfamilie. Diese Landreformgesetzgebung verfolgte höchst revolutionäre Ziele, insofern sie das Dorf nicht mehr als Kollektiv ansprach und außerdem versuchte, die alten Hierarchien durch Schaffung eines neuen Mittelstandes zu verdrängen. Wenn das Programm nicht so recht greifen wollte, so hing dies mit den Kriegsgeschehnissen und mit der NLF-Konkurrenz zusammen.

Am Ende setzte sich — und zwar mit dem Jahr 1975 — das schon 1953 verfaßte und im Norden praktizierte kommunistische Bauern-programm durch. Die vietnamesischen Kommunisten wollten die Bauernschaft weder der „Bourgeoisie" noch dem „Proletariat" zurechnen, sondern räumten ihr eine eigenständige Klassenposition ein und teilten sie sodann in mehrere Schichten, nämlich Arme, Untere Mittel-, Obere Mittel-und Reiche Bauern so-B wie Grundbesitzer. Abgrenzungskriterien waren hierbei der Grad der Ausbeutung einer Schicht durch die andere, wobei ein bestimmtes Ausmaß an Produktionsmittelbesitz als Indikator für ein bestimmtes, a priori unterstelltes Maß an Ausbeutung galt.

Es liegt auf der Hand, daß diese Einteilungen vielfach willkürlich waren, und daß hier Gruppen aus taktischen Überlegungen einfach in „Klassen“ transformiert wurden. Am Ende wirkte die kommunistische Strategie noch umwälzender als das amerikanische Landreformmodell, insofern sie nämlich das Oberste zuunterst kehrte. Die bisherigen Eliten sollten — zumindest als Klasse — liquidiert, die jahrhundertelang Ausgebeuteten aber zu Herren des Geschehens erhoben werden.

Der formelle Klassifikationsbeschluß der Partei wurde im Jahr 1953 erlassen und anschließend — trotz massiven Widerstandes der Bauernschaft — in die Praxis umgesetzt.

Die Stichworte für das kommunistische Modell lauten: „Revolutionär", „kollektiv“ (inzwischen sind ja die individualistischen Ansätze der französischen Kolonialzeit und des US-Experiments z. T. schon wieder in Vergessenheit geraten), „technologisch-wissenschaftliche Revolution", „Öffnung des Dorfes“ und „Expropriation der Expropriateure".

In Nordvietnam — und eine Zeitlang auch in Südvietnam — waren es die . Armen und Unteren Mittelbauern“, die von der Partei zunächst als Träger des Kollektivierungsprozesses auf den Schild gehoben wurden.

Inzwischen scheint hier allerdings ein Wandel einzutreten, insofern nämlich — im Zeichen des seit 1979 laufenden Modernisierungsprozesses — der „Mittelbauer“ immer beherrschender in den Vordergrund tritt. Auch in offiziellen Texten wird heute immer weniger von Oberen und Unteren Mittelbauern, sondern ganz allgemein von „Mittelbauern“ gesprochen. Die Führung hat erkannt, daß dieser „Mittelbauer" die beherrschende Gestalt zumindest in den fruchtbarsten Akkerbaugebieten Südvietnams, nämlich im Mekong-Delta, ist. Er stellt dort 75% aller Bauern und 70% aller Haushalte, besitzt 80% des Bodens, 70% der Kleinmaschinen, 93% der Zugtiere und bringt 80% der Erzeugnisse hervor. Zudem hat „der Mittelbauer" eine unternehmerische Einstellung und eignet sich daher geradezu ideal für das reformerische — schon beschriebene — „Produktvertragssystem".

Die Partei beginnt hier im stillen ihre bisherige Klassifikationspraxis zu korrigieren und ist damit auf dem besten Weg, jene Mittelbauernstrategie wieder aufzugreifen, die noch zu Beginn der siebziger Jahre von der südvietnamesischen Regierung mit amerikanischer Unterstützung praktiziert worden war. Gewiß, die Mittelbauern sollen nach dem jetzigen Reformkonzept kein Eigentum an Grund und Boden erwerben (bzw. behalten); doch stellt sie das Produktvertragssystem am Schluß de facto genauso, als wären sie Eigentümer.

Eine neue Klassifizierung der Bevölkerung im Landwirtschaftsbereich, in dem ja immer noch weit über zwei Drittel der Bevölkerung beschäftigt sind, dürfte am finde nicht ohne Auswirkung auf die außerlandwirtschaftlichen Gesellschaftssektoren bleiben und dort zu beträchtlichen Gewichtsverlagerungen führen. Ob damit der erste Schritt eines langen Marsches zur „Umwertung aller (sozialistischen) Werte“ begonnen hat, ist eine Frage, die heute noch niemand beantworten kann, selbst nicht die — in Fraktionen gespaltene — vietnamesische Führung; es sind aber Zeichen gesetzt, deren Entwicklung eine aufmerksame Beobachtung lohnt.

Noch eine weitere sozial-strategisch wichtige Maßnahme verdient Erwähnung, nämlich die Aufwertung der „Kreise“ zu agro-industriellen und militärischen Plattformen. Der „Kreis" steht in der vierstufigen Verwaltungshierarchie hinter Zentralstaat und Provinzen — und vor den Dörfern und Märkten — auf der zweituntersten Ebene. Im Rahmen des Kreises sollen Industriebetriebe und Traktoren-stationen aufgebaut, Infrastrukturvorhaben durchgeführt, staatliche Güter verteilt und nicht zuletzt auch Miliz-und Verteidigungseinheiten zu eigenen Verbänden zusammengefaßt werden. Es sind also die Kreise, die künftig als Lokomotiven beim Wirtschaftsbau, bei der Modernisierung und bei der Verteidigung den Antrieb geben sollen. 2. Außenpolitik Während Vietnam in der Innenpolitik einen dynamischen Reformkurs einschlug, führt es in der Außenpolitik ein Rückzugsgefecht und weigert sich vorerst beharrlich, von jenem Doppelkurs (Sowjetbindung und „Indochinalösung") abzulassen, der sich bisher als so ungemein kostspielig erwiesen hat. Immerhin führte er zur mehrmaligen Verurteilung durch die UNO-Generalversammlung, ist Ursache für das Ausbleiben westlicher Entwicklungshilfe, löste einen chinesischen „Erziehungsfeldzug“ aus, veranlaßte des weiteren die Volksrepublik China, eine gesamtindochinesische Widerstandsfront auf die Beine zu stellen, die sich aus der DK-Dreierkoalition (vgl. die nachfolgenden Beiträge von Peter Schier), der Laotischen Widerstandsfront und der vietnamesischen FULRO rekrutiert, und wirkt nicht zuletzt auch schmerzhaft auf die eigene Wirtschaft zurück, deren ohnehin schwache Reserven durch die Mobilisierung von einer Million Soldaten permanent über-strapaziert werden. Letztlich ist zu befürchten, daß die Rückwirkungen dieser außenpolitischen Effekte auf die Innen-und Wirtschaftspolitik auch die dort gerade zum Leben erwachten Innovationskräfte wieder abschwächt. Kann Vietnam es sich auf die Dauer leisten, eine Außenpolitik fortzuführen, die sich lähmend auf den inneren Fortschritt auswirkt? Hält die vietnamesische Führung es wirklich für sinnvoll, sich auf unabsehbare Zeit nicht nur mit dem immer mächtiger werdenden nördlichen Nachbarn China, sondern auch mit den südlichen ASEAN-Staaten anzulegen? Hat das Land 30 Jahre lang unter unsagbaren Opfern um seine Emanzipation gekämpft, um sich nun in die Arme der Sowjetunion zu werten, die in der Region keine vietnamesischen, sondern ausschließlich eigen-süchtige Interessen verfolgt?

Langfristig wird Vietnam wohl kaum umhin können, seinen bisherigen außenpolitischen Kurs und überhaupt das Auseinanderklaffen von Innen-und Außenpolitik zu korrigieren. Zu diesem Zweck aber müßte es mit China in Verhandlungen eintreten; denn schon heute steht fest, daß das Schicksal Indochinas letztlich nur durch zwei Mächte bestimmt werden kann, nämlich durch China und Vietnam. Bei solchen Verhandlungen müßte China allerdings auf „Erziehung“, Vietnam dagegen auf „Anklage" verzichten.

Nur durch beiderseitiges Nachgeben (Vietnam zieht sich schrittweise aus Kambodscha zurück und lockert sein Verhältnis zu Moskau; Peking macht glaubhaft, daß es das neue Vakuum nicht seinerseits ausfüllen wird) ließe sich ein neues Vertrauenspolster schaffen.

Ein zweiter Schritt wäre der völlige Abzug der vietnamesischen Truppen, wobei die Frage auftaucht, wie die Verbände der Roten Khmer an einer neuen Machtergreifung gehindert werden könnten. In dieser Frage müßte sich vor allem China angesprochen fühlen. Erst in einem sich daran anschließenden dritten Akt könnte die Phase des innerkambodschanischen Arrangements beginnen. Sämtliche Gruppierungen müßten an den unter UNO-Aufsicht stattfindenden Wahlen beteiligt sein. Die Wähler würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keineswegs gleichgültig abseits stehen, sondern ganz gewiß ein leidenschaftliches Votum abgeben, das am Ende die „wahre Volksmeinung" widerspiegelte.

Vietnam muß sich allerdings darauf gefaßt machen, daß China solche Vorstellungen nicht nur in Kambodscha, sondern auch in Laos verwirklicht sehen möchte.

Es ist wohl nicht eine Frage des Ob, sondern vielmehr des Wann, daß Vietnam diesen Gang nach Canossa antritt; denn der dynamische innenpolitische Reformkurs kann langfristig wohl kaum ohne Rückwirkungen auf die Außenpolitik bleiben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Oskar Weggel, Dr. jur., geb. 1935; seit 1968 wissenschaftlicher Referent am Institut für Asienkunde in Hamburg mit Forschungsschwerpunkt VR China und Indochina; 1954— 1963 Studium der Rechtswissenschaften in München, 1963— 1965 Studium des Chinesischen in Bonn; 1965— 1967 Studienaufenthalt in Taiwan, regelmäßige Mitarbeit an den vom Institut für Asienkunde Hamburg herausgegebenen Monatszeitschriften „China aktuell" und „Südostasien aktuell". Veröffentlichungen u. a.: Die Alternative China. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft der VR China, Hamburg 1973; Die Außenpolitik der VR China, Stuttgart 1977; Chinesische Rechtsgeschichte, Leiden — Köln 1980; China zwischen Revolution und Etikette: Eine Landeskunde, München 1981; sowie zahlreiche Zeitschriften-aufsätze.