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Die zweite KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid Ein Dokument west-östlicher Uneinigkeit | APuZ 46/1983 | bpb.de

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Die zweite KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid Ein Dokument west-östlicher Uneinigkeit

Margit Roth

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Zusammenfassung

Nach fast dreijährigen Verhandlungen konnte das zweite Folgetreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) in Madrid zu einem positiven Abschluß gebracht werden. Der 1975 eingeleitete Helsinki-Prozeß wurde somit fortgeführt, was keineswegs sicher war, denn die Konferenz von Madrid war wegen ost-westlicher Kontroversen mehrmals von der Gefahr des Scheiterns bedroht. In diesem Beitrag wird der Verhandlungsverlauf nachgezeichnet. Zum einen wird aufgezeigt, welche Schwierigkeiten der Erreichung des von allen 35 Teilnehmerstaaten angestrebten Verhandlungsziels (Fortschreibung der Schlußakte von Helsinki) zu Beginn, während des Verlaufs und am Ende der Verhandlungen im Wege standen. Zum anderen wird dargelegt, welche Konzessionen und Kompromisse der Verhandelnden ein „Abschließendes Dokument" mit einem substantiellen Ergebnis schrittweise letztlich doch ermöglicht haben.

I. Kontroversen um die Modalitäten der Konferenz

Am 9. September 1980 versammelten sich die Delegationen der 35 Unterzeichnerstaaten der KSZE-Schlußakte von Helsinki (1975) zur Vorbereitungskonferenz in Madrid. Auf westlicher Seite wurde allgemein davon ausgegangen, daß diese Vorkonferenz einen zügigen Verlauf nehmen werde und mit einer drei-bis vierwöchigen Vorbereitungsphase zu rechnen sei, da es in erster Linie um die Regelung von Verfahrensfragen und die Erarbeitung einer Tagesordnung für die Hauptkonferenz ging; substantielle politische Angelegenheiten sollten dieser Vorbehalten bleiben.

Aber schon in der Anfangsphase der Vorbereitungskonferenz zeigte sich, daß sich die westlichen und östlichen Teilnehmerstaaten unterschiedliche Prioritäten für die Haupt-konferenz gesetzt hatten. Deshalb schienen schon bei der Erstellung der Tagesordnung, nämlich bei der Frage, welche Themen wann und wie lange erörtert werden sollten, Konflikte unausweichlich. Nach den Vorstellungen der westlichen, aber auch der neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten sollte das sogenannte „Gelbe Buch" über Verfahrensregeln von Belgrad für die Hauptkonferenz grundlegend sein. Dieses räumte der Über-prüfung, ob sich alle Unterzeichnerstaaten an die Schlußakte von Helsinki gehalten haben, und der Einbringung neuer Vorschläge für die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses gleiches Gewicht ein.

Die Sowjetunion hatte bereits vor Beginn des Vorbereitungstreffens ihre Wünsche deutlich gemacht. Hauptthemen der eigentlichen Konferenz sollten die zwischenstaatlichen Beziehungen in einigen (insbesondere wirtschaftlichen) Bereichen, vor allem aber eine europäische Abrüstungskonferenz, keinesfalls jedoch eine ausführliche Implementierungs-Debatte sein. Einer von westlicher Seite beabsichtigten Diskussion über die Afghanistan-und Menschenrechtsfrage würde eine Abfuhr erteilt. Tatsächlich ergaben sich aus diesen unterschiedlichen Interessen der westlichen und östlichen Seite schon bei dem Vorbereitungstreffen tiefgreifende Meinungsunterschiede, die sich auch in den folgenden Monaten wie ein roter Faden durch das gesamte Konferenzgeschehen zogen. Die Konflikte um die Tagesordnung (Themenvorschläge und Zeitablauf) waren eben nicht formal-technischer, sondern substantiell-politischer Natur. Nicht Verfahrensfragen an sich, sondern die sowjetische Afghanistan-Invasion und sowjetische Menschenrechtsverletzungen waren der eigentliche Gegenstand des Streits. Eine ausführliche Diskussion darüber, so die westlichen Delegierten, durfte nicht ausgeklammert, eine derartige Debatte aber, so die Sowjetunion und ihre Verbündeten, mußte nach Möglichkeit verhindert werden. Aus diesem Grunde beharrte die Sowjetunion in Madrid dann auch über Wochen hinweg auf ihrem Standpunkt, über eine Tagesordnung erst zu reden, wenn ihre Forderung, die Implementierungsphase auf ein zeitliches Minimum zu begrenzen, erfüllt sei. Ihre Taktik dabei war: „Ohne Tagesordnung gibt es auch keine Hauptkonferenz“ gleichzeitig aber wurden alle westlichen Vorschläge hierzu sowie Kompromißangebote der Neutralen und Nichtpaktgebundenen abgelehnt.

Obwohl die Vorbereitungsphase länger als erwartet, nämlich neun (statt vier) Wochen gedauert hatte, konnte ein Kompromiß über eine Tagesordnung dennoch nicht gefunden werden. Mehrere Vermittlungsversuche, insbesondere der neutralen und nichtpaktgebundenen Teilnehmerstaaten, hatten es nicht vermocht, die Vorbereitungskonferenz rechtzeitig wieder aus der Sackgasse herauszuführen. Schon bevor die eigentliche Konferenz beginnen konnte, war also ein Scheitern in den Bereich des Möglichen gelangt. Um einen vorzeitigen Abbruch der Konferenz zu vermeiden, mußten die Uhren in Madrid angehalten und die Hauptkonferenz ohne Tagesordnung (am 11. November 1980) eröffnet werden.

Als sich keine Lösung in ihrem Sinne abzeichnete, gab die Sowjetunion ihre Maximalforderungen auf. Drei Tage nach dem offiziellen Eröffnungstermin konnte doch endlich ein von allen Teilnehmerstaaten akzeptierter Kompromiß gefunden werden. Das „Gelbe Buch“ war zwar nicht unverändert geblieben, die Veränderungen aber waren nicht sehr groß: Nach den Eingangserklärungen und einer Generaldebatte sollte bis zu Beginn der Weihnachtspause (20. Dezember) die Implementierungsphase sein — die Sowjetunion hatte hierfür ursprünglich 14 Tage vorgesehen. Ab dem 27. Januar 1981 sollte dann die Arbeit mit dem Einbringen und der Diskussion neuer Vorschläge wieder beginnen. In den ersten fünf Wochen der Hauptkonferenz durften zwar neue Vorschläge vorgelegt, nicht jedoch diskutiert werden. Die Rückschau sollte in der letzten Woche vor der Weihnachtspause beendet und einführende Erklärungen über die neuen Vorschläge bereits abgegeben sein.

II. „Zonen-Formel" und Menschenrechtsproblematik blockieren die Konferenz

Wie erwartet, wurden die ersten Wochen der Hauptkonferenz für eine ausgiebige Bilanzdebatte genutzt. Die Rückschau begann mit einer geschlossenen Plenarsitzung — die öffentliche Generaldebatte war bereits vor Einigung über den Tagesordnungskompromiß eröffnet worden — und wurde in verschiedenen Ausschüssen fortgesetzt.

Die Afghanistan-Frage und die Menschenrechts-Problematik standen im Mittelpunkt der Diskussion. Die Mehrheit der westlichen Staaten klagten die Sowjetunion namentlich wegen des militärischen Einmarsches in Afghanistan an, weitere Staaten schlossen sich dieser Haltung ohne Namensnennung an. Die Delegierten verwiesen darauf, daß die sowjetische Invasion gegen acht von zehn Prinzipien der Schlußakte verstoße und daß bereits 111 Staaten der Vereinten Nationen die Intervention verurteilt hätten. Der sowjetische Delegationsleiter Leonid Iljitschow wies diese westliche Kritik mit Entschiedenheit zurück: Das Thema habe mit der europäischen Konferenz nichts zu tun, vielmehr werde durch diese westliche „Einmischung" die Souveränität der Sowjetunion und Afghanistans verletzt Die sowjetischen Delegierten betrachteten die Diskussion um Afghanistan dann auch bald als erledigt und lehnten es ab, im entsprechenden Ausschuß weiter über „alte Geschichten“ zu reden.

Die sowjetische Haltung entbehrte jedoch jeglicher Berechtigung. Mit ihrem Vorgehen in Afghanistan hat sich die Sowjetunion auf jeden Fall zu der Bestimmung in der Schlußakte von Helsinki, wonach die vereinbarten zehn Prinzipien auch gegenüber Nicht-Teilnehmerstaaten Anwendung finden sollen, in Widerspruch gesetzt — vom Verstoß gegen den Geist von Helsinki gar nicht zu reden — und somit die Kritik der meisten übrigen Teilnehmerstaaten zu Recht herausgefordert.

Zweites beherrschendes Thema der Bilanzdebatte war die Menschenrechtsproblematik. In der Beurteilung der Menschenrechtsfrage waren sich die westlichen, aber auch neutralen und nichtpaktgebundenen Teilnehmerstaaten einig. In der öffentlichen Plenardebatte wurde die Sowjetunion von 16 Staaten der Verletzung der Menschenrechte angeklagt. Wie schon in Belgrad nahmen auch hier die Vereinigten Staaten von Amerika eine besonders kritische Haltung ein. Die sowjetischen Delegierten wiesen auch diese Vorwürfe zurück: Das Thema gehöre nicht vor die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit und eine Debatte darüber sei eine im Völkerrecht nicht erlaubte Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“ eines Staates.

In all diesen Diskussionen, wie um die Afghanistan-Frage, so auch um die Menschenrechts-Frage — und später um die Polen-Frage — zeigt sich eine stereotype Argumentationslinie seitens der Sowjetunion und ihrer Verbündeten: Mit dem Hinweis der unerlaubten Einmischung in die inneren Angelegenheiten wird jegliche Kritik der übrigen KSZE-Teilnehmer am Verhalten der östlichen Staaten, das nicht in Einklang mit den Verpflichtungen aus der Schlußakte steht, zurückgewiesen. Mit dieser einseitigen Interpretation bestimmter Prinzipien aus Korb I (Achtung der Souveränität, Nichteinmischung) versuchen die Warschauer-Pakt-Staaten die mit der Schlußakte von Helsinki eingegangenen Verpflichtungen zu umgehen. Diese Sichtweise der östlichen Seite wird von den übrigen Teilnehmerstaaten jedoch nicht akzeptiert, da die Aufforderung zur Verwirklichung der Helsinki-Bestimmungen nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten interpretiert werden kann.

Mit Wiederbeginn der Konferenz (nach der Weihnachtspause) begann die eigentliche Phase der Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses. Insgesamt 87 Vorschläge lagen zur Be-B handlung nun vor Diese Vorschläge, von denen einige bereits der Belgrader Konferenz unterbreitet worden waren, waren von sehr unterschiedlichem Inhalt und politischem Gewicht. Thematisch umfaßten die eingereichten Projekte ein Spektrum von der Terrorismusbekämpfung bis zum Kulturaustausch und zur Verbesserung der Information sowie der Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten. Von einigen Themen war von vorne herein klar, daß sie keine Berücksichtigung finden werden. Einmal, weil kein allgemeines Interesse daran bestand, und zum anderen, weil die erhobenen Forderungen politisch nicht durchsetzbar sein würden, wie beispielsweise der sowjetische Vorschlag zur Schließung der von den USA finanzierten Sender „Radio Free Europe" und „Radio Liberty".

Im politischen Mittelpunkt standen zweifellos die Vorschläge zu Korb I, die die Vertrauensbildenden Maßnahmen und eine europäische Abrüstungskonferenz sowie die Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte betrafen. Von der Sowjetunion wurden insbesondere den Fragen im Zusammenhang mit einer Abrüstungskonferenz höchste Priorität beigemessen, für die westlichen Teilnehmer dagegen waren die Menschenrechte von größter Bedeutung. Herausragend hierbei war der von Kanada eingebrachte, von den USA und Spanien mitgetragene Vorschlag für eine Expertenkonferenz über Menschenrechtsfragen. Auch zu Korb III gab es bedeutsame Vorschläge, wie beispielsweise der von der Delegation der Bundesrepublik Deutschland mit Unterstützung der übrigen Staaten der Europäischen Gemeinschaft, der USA, Kanadas und Islands vorgebrachte Vorschlag zur Erleichterung der menschlichen Kontakte (insbesondere Familienzusammenführung) zwischen den Bürgern der Länder Ost-und Westeuropas.

Nach ausführlicher Diskussion eines Teils dieser Vorschläge — nicht alle hatten behandelt werden können — begannen Mitte Februar die Debatten um ein substantielles Schlußdokument. Erneut kam es zu heftigen Kontroversen zwischen den östlichen und westlichen Teilnehmerstaaten. Als Hauptkonfliktstoff erwiesen sich die Themen Menschenrechte und Vertrauensbildende Maßnahmen sowie eine gewünschte Abrüstungskonferenz. Zur Sicherheitsfrage lagen der Konferenz insgesamt fünf Vorschläge vor Von Bedeutung aber waren nur der östliche Vorschlag (durch Polen eingebracht) und der westliche Vorschlag (durch Frankreich eingebracht), weil sie zur Verhandlungsgrundlage der jeweiligen Blöcke wurden. Da sie inhaltlich grundsätzlich verschieden waren, wurde somit die gegensätzliche Position zwischen Ost und West in dieser Frage deutlich.

Besonderes Interesse an der Einberufung einer europäischen Abrüstungskonferenz zeigte die Sowjetunion. Seit über zwanzig Jahren verfolgte sie ein derartiges Projekt. Im Oktober 1980 hatten die Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten nochmals ausdrücklich erklärt, daß auf dem KSZE-Folgetreffen in Madrid konkrete Beschlüsse über die Einberufung einer „Konferenz der militärischen Entspannung und Abrüstung in Europa" gefaßt werden sollten. In seiner Rede zu Beginn der Konferenz forderte der sowjetische Chefdelegierte Leonid Iljitschow dann auch mit Nachdruck, daß in Madrid Ort und Zeitpunkt für ein solches Treffen festgelegt werden müßten.

Im Dezember 1980 wurde von der polnischen Delegation — in Abstimmung mit den übrigen Staaten des Warschauer Paktes und nachdrücklicher Unterstützung der Sowjetunion — ein Vorschlag für eine Abrüstungskonferenz eingebracht. In der Sache blieb der Vorschlag vage, da er keine konkreten Angebote enthielt — man wollte keine „Vorbedingungen" stellen — und die Formulierungen allgemeiner Art waren. Konkret aber wurde Warschau als Konferenzort und der 20. Oktober 1981 als Eröffnungsdatum genannt.

Im gleichen Monat wurde von Frankreich — in Absprache mit den Verbündeten — ein westlicher Gegenvorschlag für eine Konferenz über Abrüstung in Europa (KAE) eingebracht. Im Unterschied zum polnischen ging der französische Vorschlag von konkreten Überlegungen aus. Die Initiative sah ein klar abgestuftes Vorgehen in „zwei Phasen" (Zweiphasen-Modell) vor. In der ersten Phase sollte es um die Annahme eines „in sich geschlossenen Systems" von Vertrauensbildenden Maßnahmen gehen. Diese sollten sich auf den gesamten europäischen Kontinent, „vom Atlantik bis zum Ural", erstrecken, „militärisch bedeutsam", „politisch verbindlich" und „überprüfbar" sein. Erst nach Überprüfung der Verwirklichung dieser Vertrauensbildenden Maßnahmen sollte vom nächsten KSZE-Folgetreffen eine zweite Konferenzphase zum Thema Abrüstung einberufen werden (Junktim: KAE-KSZE).

Die beiden Vorschläge (der polnische und französische) unterschieden sich also in wesentlichen Punkten, so vor allem im geographischen Geltungsbereich für die Vertrauensbildenden Maßnahmen. Der französische Vorschlag war in dieser Hinsicht von allen fünf Vorschlägen der am weitestreichende, der polnische Vorschlag machte keine spezifizierten Angaben. Auch waren die drei bindenden Kriterien für die Vertrauensbildenden Maßnahmen (bedeutsam, verbindlich, verifizierbar) im östlichen Vorschlag nicht vorgesehen. Ein weiterer wichtiger Unterschied war, daß im polnischen Vorschlag ein Junktim zwischen Abrüstungskonferenz und KSZE in der Form der Überprüfung der Konferenzergebnisse durch das nächste KSZE-Folgetreffen vermieden wurde. Dies war insbesondere von der Sowjetunion nicht ohne Absicht gesehenen. Eine Trennung Abrüstungskonferenz und KSZE würde es ihr ermöglichen, ihre Interessen auf dem Gebiet der Abrüstung zu verfolgen, ohne sich gleichzeitig der ständigen Kritik wegen der Verletzung der Menschenrechte auszusetzen, beziehungsweise zu Zugeständnissen in ihr nicht genehmen Bereichen (wie z. B.den humanitären) gezwungen zu sein, wie beides gegenwärtig mit der KSZE der Fall ist. Eine solche Möglichkeit wollten die westlichen Staaten keinesfalls einräumen. Die KAE-Verhandlungen sollten mit dem KSZE-Prozeß verbunden bleiben. Das heißt: Verhandlungen im Zusammenhang mit der Abrüstungskonferenz und andere Verhandlungen, wie die Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte oder die Verbesserung der humanitären Angelegenheiten, sollten als eine Einheit und nicht als voneinander unabhängige Verhandlungsbereiche betrachtet werden.

Im westlichen Vorschlag wurde den Vertrauensbildenden Maßnahmen besonders große Bedeutung beigemessen; die westlichen Teilnehmerstaaten beabsichtigten bereits auf der Konferenz in Madrid in diesem Bereich zu weiteren konkreten Ergebnissen zu gelangen. Die USA standen einer europäischen Abrüstungskonferenz allerdings ursprünglich skeptisch gegenüber. Mehrere Gründe waren hierfür ausschlaggebend. Einmal neigten die amerikanischen Regierungen zu der Auffassung, daß sicherheitspolitische Angelegenheiten in erster Linie bilateral zwischen den Repräsentanten der beiden Weltmächte zu regeln seien, weil sich sicherheitspolitische Risiken im wechselseitigen Einvernehmen beider Staaten besser beherrschen ließen. Diese bilaterale Exklusivität der beiden Supermächte hat in den letzten Jahrzehnten gerade den mittleren und kleineren Staaten immer wieder zu nicht unberechtigtem Mißtrauen Anlaß gegeben.

Zum anderen gilt die Konferenz über die MBFR-Verhandlungen in Wien für die Vereinigten Staaten immer noch als das wichtigste Forum für konventionelle Rüstungsbeschränkungen. Skeptisch waren die USA auch gegenüber der Durchführbarkeit der zweiten Phase der Abrüstungskonferenz — wie sie im französischen Vorschlag vorgesehen war —, und zwar in Anbetracht des konventionellen Ungleichgewichts in Europa. Die amerikanischen Zweifel in dieser Frage sind sicherlich nicht unberechtigt, da gerade dieses Problem auch bei den MBFR-Verhandlungen eine Hauptrolle spielt, in Wien aber seit zehn Jahren ohne greifbares Ergebnis verhandelt wird.

Ein weiterer Grund für die anfängliche amerikanische Zurückhaltung war die Furcht, daß sich eine künftige Abrüstungskonferenz verselbständigen könnte und daß die Menschenrechtsproblematik, die für die USA im Rahmen des KSZE-Prozesses höchste Priorität besitzt, an internationaler Aufmerksamkeit verlieren könnte. Aus diesem Grund bestanden insbesondere die Vereinigten Staaten auf dem Junktim KAE-KSZE. Frankreich, der Initiator für eine Abrüstungskonferenz auf westlicher Seite, strebte ursprünglich eine solche als autonomes Verhandlungsforum an. Die übrigen Staaten im westlichen Bündnis teilten diese Vorstellungen nicht, und konnten sich in dieser Frage letztlich durchsetzen. Während die Vereinigten Staaten in der Frage der europäischen Abrüstungskonferenz also eher zurückhaltend waren, nahmen insbesondere Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland hierzu eine positive Haltung ein, wenngleich für beide unterschiedliche Motive ausschlaggebend waren. Der Hauptgrund für Frankreichs Initiative in der Abrüstungsfrage dürfte die internationale Isolierung in den verschiedenen Abrüstungs-bzw. Rüstungsbegrenzungs-Gremien gewesen sein. Frankreich beteiligt sich weder an den MBFR-Verhandlungen noch am Genfer Abrüstungsausschuß, es hat weder den Teststopp-vertrag von 1963 noch den Nichtverbreitungs-Vertrag von 1968 unterzeichnet. Der französische Vorschlag für eine Abrüstungskonferenz hatte offensichtlich Frankreichs künftige Beteiligung an der multilateralen Sicherheitsdiskussion zum Ziel.

Die Bundesrepublik Deutschland unterstützte den französischen Vorschlag von allen westlichen Staaten am nachdrücklichsten. Einer der Hauptgründe hierfür ist das deutsche Sonderinteresse an einer Weiterführung des Ost-West-Entspannungsprozesses, das sich aus der geographischen Lage und der Teilung Deutschlands ergibt. Darüber hinaus ist die deutsche Regierung am Zustandekommen einer Abrüstungskonferenz auch im Hinblick auf ein mögliches Scheitern der Genfer INF-Verhandlungen interessiert, weil eine künftige Abrüstungskonferenz Ersatz als rüstungskontrollpolitisches Ost-West-Forum bieten könnte. Aber auch ein innenpolitischer Grund — der Druck der Gegner des Nachrüstungsbeschlusses — spielt eine Rolle dafür, daß sich die deutsche Regierung immer wieder mit Nachdruck öffentlich für eine Abrüstungskonferenz einsetzt.

Aus Rücksicht auf die europäischen Verbündeten, insbesondere also Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, schlossen sich die Vereinigten Staaten dann doch der europäischen Linie in der Sicherheitsfrage an, aber nur, so ließ die amerikanische Delegation während der Madrider Verhandlungen informell wissen, wenn die Sowjetunion ihr europäisches Territorium voll in Kontrollmaßnahmen einbeziehen lasse, was von der sowjetischen Delegation zunächst grundsätzlich als „unannehmbare Vorbedingung" abgelehnt wurde. Damit war der künftige Konflikt vorprogrammiert; der geographische Geltungsbereich für Vertrauensbildende Maßnahmen sollte sich als Hauptstreitpunkt der folgenden Monate erweisen.

Anfang März 1981 ergriff dann die östliche Seite eine „großzügige Initiative". Der sowjetische Delegationsleiter Leonid Iljitschow unterbreitete nach seiner Rückkehr vom XXVI. Parteitag der KPdSU ein „Verhandungsangebot Breschnews". Darin erklärte sich die Sowjetunion bereit, Vertrauensbildende Maßnahmen auch für den gesamten europäischen Teil der Sowjetunion gelten zu lassen, wenn auf westlicher Seite eine „entsprechende" Ausdehnung dieses Anwendungsbereichs stattfinden werde. Die Sowjetunion gab zwar keine konkreten Hinweise, was darunter zu verstehen sei, westlicherseits aber ging man davon aus, daß sich die Formulierung auf Teile des amerikanischen und kanadischen Territoriums beziehen könnte. Eine Einbeziehung derartiger Gebiete in Kontrollmaßnahmen aber wurde rundweg abgelehnt. Für eine Selbstverständlichkeit — eine europäische Abrüstungskonferenz habe auch für ganz Europa zu gelten —, so hieß es in westlichen Delegationskreisen, werde es keine Kompensation und bei Aufrechterhaltung dieser Forderung keine Abrüstungskonferenz geben. Die Ablehnung der sowjetischen Vorstellungen war eine sich aus dem westlichen Vorschlag ergebende logische Konsequenz. Denn dort war als relevanter Raum für den Geltungsbereich der Vertrauensbildenden Maßnahmen ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural definiert, weder der Nordatlantik — und somit die USA und Kanada als Anrainerstaaten — noch irgendwelche atlantischen Inseln waren inbegriffen. Außer der Sowjetunion, der größten Militärmacht Europas, so die westliche Argumentation, akzeptierten alle anderen europäischen Staaten Vertrauensbildende Maßnahmen für ihr gesamtes europäisches Gebiet, auch seien alle amerikanischen und kanadischen Landstreitkräfte in Europa darin einbezogen. Der geographisch privilegierte Sonderstatus der Sowjetunion im Bezug auf die Vertrauensbildenden Maßnahmen, wie er in Helsinki festgelegt wurde, könne nicht länger akzeptiert werden, weil ein großer Teil des europäischen Territoriums der Sowjetunion von den Kontrollmaßnahmen unberührt bleibe und dies der europäischen Sicherheit nicht dienlich sei.

Mitte Juni nahm die sowjetische Delegation das Angebot Breschnews teilweise wieder zurück; es wurde nun nur noch von einer Ausdehnung der Überwachungszone in einer „ausgewogenen und gegenseitigen Weise" gesprochen. Eine Begründung hierfür wurde zwar nicht gegeben, aber es waren offensichtlich verhandlungstaktische Überlegungen im Spiel. Die Sowjetunion, die von Anfang an an einem baldigen Abschluß der Konferenz interessiert war, unbedingt aber ein Mandat für die Einberufung einer Abrüstungskonferenz in Madrid erreichen wollte, mußte in den zurückliegenden Monaten zur Kenntnis nehmen, daß dieses Ziel nur um den Preis der Einbeziehung ihres europäischen Territoriums in Kontrollmaßnahmen zu erzielen sei. Ohne entsprechende Gegenleistung der anderen Seite sollte dieser Preis jedoch keinesfalls entrichtet werden. Um zu prüfen, ob und in welcher Weise die westlichen Staaten hierzu bereit sein würden, ging die Sowjetunion mit Breschnews Offerte vom Februar d. J. zum Schein auf die westlichen Forderungen (nach Ausdehnung der Überwachungszone bis zum Ural) ein. Als die Verhandlungen zeigten, daß die NATO-Staaten, insbesondere aber die USA keine Gegenleistung in dieser Frage erbringen wollten, sollten sie mit Hilfe des modifizierten Februar-Angebotes unter Druck gesetzt werden. Die westlichen Staaten, so das sowjetische Kalkül, werden das Angebot zur Einbeziehung sowjetischen Territoriums bis zum Ural nicht unberücksichtigt lassen, weil sie sich in monatelangen Verhandlungen gerade darum so sehr bemüht hatten, und weil dies auch ein (westlicherseits nicht gewünschtes) Scheitern der Konferenz bedeuten könnte. Aus diesem Grund würden sie im Gegenzug ein entsprechendes Angebot doch noch unterbreiten, so wie es im Februar gefordert worden war.

Während die Sowjetunion weiterhin auf ein kompensatorisches Zugeständnis des Westens für die Einbeziehung ihres gesamten europäischen Territoriums beharrte, stimmte sie den „bindenden Kriterien" (militärisch bedeutsam, verbindlich, verifizierbar) im Laufe des Sommers 1981 zu.

Um die festgefahrenen Verhandlungen weiter zu bringen, unterbreitete die westliche Seite im Juli 1981 ein Kompromißpaket über alle strittigen Angelegenheiten. In der Frage der Abrüstung beruhte das Papier auf dem früheren französischen Vorschlag, aber hinsichtlich des Anwendungsbereichs wurde nun folgende Formulierung vorgeschlagen:

„On the basis of equality of rights and obligations of all the CSCE participating States concerning confidence-and security-building measures and disarmement in Europe, these measures will be applicable to the whole continent of Europe and, as far as adjoining sea area and air space is concerned, the activities of forces operating there insofar as these activities are an integral part of notifiable activities on the continent."

Der sowjetische Chefdelegierte Leonid Iljitschow bezeichnete den westlichen Vorschlag als nicht diskutabel und konterte noch am selben Tage mit folgender Gegenformel: „On the basis of equality of rights and obliga. tions of all CSCE participating States confidence-and security-building measures will cover the whole of Europe with adjoining sea (ocean) areas of corresponding/appropriate width and air space as well as, if it corresponds to the contents of the measures themselves, the non-European participating States. Those provisions will be specified at the Conference on a balanced and reciprocal basis, taking into account obligations assumed in accordance with the Final Act.

Nach östlichen Vorstellungen, so jedenfalls wurden sie von westlicher Seite interpretiert — die Formulierungen des sowjetischen Vorschlags waren offensichtlich bewußt unklar gehalten —, sollte die westliche Atlantikküste Europas eine Art Mittellinie bilden, nach Osten sollte sich der Anwendungsbereich bis zum Ural, nach Westen so weit ausdehnen, daß auch amerikanisches und kanadisches Territorium den Kontrollen unterworfen wäre. Einen Monat später erklärte die Sowjetunion durch „NOWOSTI" allerdings öffentlich, daß sie keinen Anspruch auf Einschluß amerikanischen Territoriums stelle. Der sowjetische Vorschlag wurde von den westlichen Konferenzteilnehmern als unannehmbar zurückgewiesen. Einmal wegen der unterschiedlichen Bedeutung der Worte „corresponding" bzw. „appropriate". Zum anderen „ergab sich aus informellen Kontakten mit der sowjetischen Delegation nach Unterbreitung der Formel der Eindruck, daß diese in erster Linie taktisch motiviert war und daß der Osten sich vor allem die Möglichkeit bewahren will, bei der EAK alle Arten von Maßnahmen vorzuschlagen, an der der Sowjetunion gelegen ist"

Der diplomatische Verhandlungsprozeß war im Sommer 1981 in dieser Frage an einem toten Punkt angelangt. Beide Seiten hatten anfangs ihre (für die jeweils andere Seite nicht akzeptable) Maximalposition auf den Verhandlungstisch gelegt, waren davon jedoch bereits einen Schritt abgerückt. Beide Verhandlungsparteien, Ost und West, waren an einem Übereinkommen interessiert und strebten ein jeweils günstiges Abkommen an. Zu diesem Zweck bedienten sie sich eines Systems unannehmbarer Vorschläge bzw. Forderungen. Diese Vorgehensweise ermöglichte es ihnen, die wirkliche Haltung des Verhandlungsgegners zu ergründen, also zu testen, ob die gegnerische Partei nicht vielleicht doch mehr akzeptiert, als vorher angenommen worden war. Unannehmbare Forderungen — F. C. Ikl nennt diese auch vorgetäuschte Verhandlungspositionen — erlauben zudem flexibel zu sein und Konzessionen zu machen, ohne die jeweils eingenommene Minimalposition ernstlich in Gefahr zu bringen. Erfolglos war die durchgeführte Praxis bis dahin nicht — die Sowjetunion schloß ihr europäisches Territorium nicht mehr grundsätzlich aus, die NATO-Staaten stimmten der Einbeziehung bestimmter Gebiete (westwärts) unter Umständen zu —, wenngleich eine endgültige Einigung in der vorliegenden Frage zum gegebenen Zeitpunkt aussichtslos erschien. In anderen, der Konferenz zur Verhandlung vorliegenden Bereichen konnten gewisse Fortschritte erzielt werden. Im Juli 1981 waren — informellen Verlautbarungen zufolge — bereits 80 % des Textes der Schlußerklärung mit wichtigen Ergebnissen im Korb II und im Korb III formuliert. Aber im Bereich der Sicherheit, vor allem jedoch im Bereich der Menschenrechte blieben Fragen offen, auf deren Lösung die westliche Seite bestand.

Da für die Sowjetunion das wichtigste Ziel die Einberufung einer Abrüstungskonferenz war, und sich auch nach monatelangen Verhandlungen darüber keine Einigung abzuzeichnen schien, drohte sie im Sommer 1981, daß sie den Fortgang des KSZE-Prozesses — somit also auch weitere Nachfolgekonferenzen — und Fortschritte im humanitären Bereich sowie in Menschenrechtsfragen von der Einberufung einer solchen Konferenz abhängig machen werde. Dieses Junktim führte nochmals zu heftigen Kontroversen zwischen Ost und West. Die westlichen Verbündeten ihrerseits wiesen darauf hin, daß sie einer Sicherheitskonferenz, in welcher Form auch immer, ohne Fortschritte in der Menschenrechtsfrage ihre Zustimmung verweigern werden.

Ende Juli 1981 mußte die Konferenz, die eigentlich schon am 5. März d. J. hätte beendet werden sollen, für einige Monate ausgesetzt werden. Die Verhandlungen über ein ausgewogenes und substantielles Schlußdokument — wie die Formulierung hierfür westlicherseits von nun an lautete — mit einem Passus über die Einberufung einer europäischen Abrüstungskonferenz und mit den von den westlichen Teilnehmern angestrebten Verbesserungen auf dem Gebiet der Achtung der Menschenrechte sowie der humanitären Angelegenheiten waren in eine Sackgasse gelangt. Da eine Annäherung der gegenteiligen Standpunkte in diesen beiden Verhandlungsgegenständen ausichtslos erschien, beschlossen die Konferenzteilnehmer ab 28. Juli eine Sommerpause einzulegen.

III. Konflikte in der Polen-Frage erzwingen „Denkpause" in Madrid

Nach dreimonatiger Unterbrechung fanden sich die Delegierten der 35 Teilnehmerstaaten am 27. Oktober 1981 wiederum in Madrid zur Fortsetzung der Konferenz ein. Wie schon in den Monaten zuvor, waren es auch in dieser Konferenzphase die neutralen und nichtpaktgebundenen Teilnehmerstaaten — Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Schweden, Finnland, Irland, Malta, Zypern und Jugoslawien —, die die Initiative ergriffen, um die Konferenz überhaupt wieder in Gang zu bringen. Am 16. Dezember 1981 unterbreitete der österreichische Chefdelegierte Franz Ceska dem Konferenzplenum einen von dieser Staatengruppe überarbeiteten Textvorschlag für ein umfassendes Schlußdokument (CSCE/RM. 39); ein erster Vermittlungsvorschlag war bereits am 31. März d. J. vorgelegt worden.

Zu den Hauptpunkten des Entwurfes gehörte ener der strittigen Verhandlungsgegenstände, die Einberufung einer „Konferenz über Vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa". Vertrauensbildende Maßnahmen — so der damalige Verhandlungsstand — wurden sowohl von westlicher als auch von östlicher Seite als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Abrüstung gesehen, also bejaht. Einige Teilaspekte, wie die Anmeldung von Manövern sowie die Einladung von Manöverbeobachtern, standen außer Frage. Einigkeit bestand auch darüber, daß Vertrauensbildende Maßnahmen, so wie die westliche Seite es gefordert hatte, militärisch bedeutsam, politisch verpflichtend und verifizierbar sein sollten. Auch stimmte die Sowjetunion einer Verbindung zwischen KSZE und KAE insofern zu, als die Ergebnisse der ersten Phase der Abrüstungskonferenz auf einem KSZE-Folgetreffen überprüft werden sollten, bevor in eine weitere Phase eingetreten werden kann. Umstritten blieb jedoch der geographische Geltungsbereich für die Vertrauensbildenden Maßnahmen. Um einen Kompromiß zu ermöglichen, wurde in dem von den neutralen und nichtgebundenen Staaten vorgelegten Entwurf folgende Formel festgelegt:

..... these confidence-and security-building measures will cover the whole of Europe as well as the adjoining sea area and air space ... As far as the adjoining sea area and air space is concerned, these measures will be applicable to the military activities of forces of all the participating States operating there in so far as these activities constitute a part of activities in Europe which the participating States will agree to notify. Necessary specifications will be made through the negotiations on the confidence-and security-building measures at the Conference."

Der überarbeitete Vorschlag der neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten befaßte sich auch mit dem zweiten Streitgegenstand, den Menschenrechten. Der Entwurf sah ein Expertentreffen aller Teilnehmerstaaten über die . Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten'1 vor, das in Kanada stattfinden sollte. Kanada hatte (im Mai 1981) die Einberufung einer Abrüstungskonferenz von der Einberufung einer internationalen Menschenrechtskonferenz abhängig gemacht.

Der vorgelegte Entwurf für ein Abschlußdokument stieß auf allgemeines Interesse. Auch die amerikanische und sowjetische Delegation begrüßten ihn, allerdings wurde von beiden Seiten auch darauf hingewiesen, daß der Entwurf noch teilweise problematisch sei, vor allem im Sicherheits-und Menschenrechtsbereich. Von westlichen Delegierten wurde vor allem bemängelt, daß der Entwurf zu wenig Schutz für diejenigen Personen biete, die sich die Kontrolle der Einhaltung der Bestimmungen der Schlußakte von Helsinki zur Aufgabe machen; außerdem wurde auf das ungelöste Problem im Zusammenhang mit der Störung von Rundfunksendungen hingewiesen.

Auf der Basis des vorliegenden Papiers konnten dann Kompromißformeln gefunden werden. Selbst die Ereignisse in Polen hatten sich zunächst nicht negativ, wie allgemein erwartet worden war, sondern „fast beflügelnd" auf den Fortgang der Konferenz ausgewirkt. „Seit zehn Tagen“, so hatte sich kurz vor Weihnachten ein westlicher Diplomat geäußert, „wurde hier zum erstenmal von der sowjetischen Seite konstruktiv verhandelt“ Aus Delegiertenkreisen war zu hören, daß man sich über eine verstärkte wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit und auch über das Expertentreffen in Kanada einig war. Selbst in der überaus strittigen Sicherheitsfrage schien der Streit um die „Zonen-Formel" beigelegt, und auch eine europäische Abrüstungskonferenz war offensichtlich in Sicht. In diesem Punkt hatte sich der Westen „im wesentlichen mit seinem Konzept durchgesetzt" Das noch ausstehende Schlußdokument, über das man sich so lange nicht hatte einig werden können, schien in greifbare Nähe gerückt.

Am letzten Tag vor der Weihnachtspause (1981) aber standen sich die westlichen und östlichen Delegationen wiederum unversöhnlich gegenüber. Hatte die sowjetische Delegation auf den Vermittlungsvorschlag zunächst durchaus positiv reagiert, so änderte sie innerhalb von Stunden überraschend ihre Haltung und wies den Kompromiß als „in jeder Hinsicht unannehmbar" zurück. Wodurch der sowjetische Sinneswandel hervorgerufen worden war, kann nur vermutet werden. Die Konferenz in Madrid war von Anfang an, nicht nur durch die Afghanistan-, sondern auch durch die Polen-Frage belastet, ohne daß letztere über Monate hinweg zum öffentlichen Diskussionsgegenstand der Konferenz geworden wäre. Zum Jahresende hatte sich die Situation jedoch grundlegend geändert. Am 13. Dezember war in Polen die Staatsgewalt von einem „Militärrat der nationalen Errettung" übernommen worden, gleichzeitig war es zur Ausrufung des Ausnahmezustands und zur Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte gekommen, doch beschäftigte sich die Konferenz mit den Ereignissen in Polen zunächst nach wie vor nicht: die westlichen Delegierten waren unsicher und uneinig, wie die Vorgänge zu bewerten seien.

Einen Tag vor der sowjetischen Ablehnung des Kompromißpakets war von Frankreich das Thema „Polen" dann doch formell zur Sprache gebracht worden. Damit wurde eine kontroverse Diskussion in Gang gesetzt, die die Ayseinandersetzung um die eigentlichen Verhandlungsgegenstände in den Hintergrund treten ließ und den weiteren Konferenzverlauf in nicht vorhersehbarer Weise bestimmen sollte. Die westlichen Teilnehmer-staaten, voran die USA, Frankreich, Großbritannien, aber auch die Bundesrepublik Deutschland, werteten die Ereignisse in Polen nun als eklatanten Verstoß gegen die KSZE-Schlußakte und rühmten den Freiheitswillen der Polen als „lebendigen Beweis für den Geist von Helsinki".

Der polnische Unterhändler bei der Konferenz, Wlodzimierz Konarski, hatte sich unmittelbar nach Verhängung des Kriegsrechts veranlaßt gesehen, bei den Konferenzteilnehmern in Madrid um Verständnis für die Maßnahmen in seinem Land zu bitten. Gleichzeitig machte er unmißverständlich deutlich, daß es sich dabei um eine rein interne Angelegenheit handele. Polen habe „weder gute Ratschläge noch eine internationale Debatte über seine Probleme nötig", sondern brauche „Verbundenheit und wirtschaftliche Hilfe" Die polnische und insbesondere die sowjetische Delegation wiesen die westliche Kritik dann auch in aller Schärfe als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens zurück. Die Ereignisse in Polen hatten derart zur Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen beigetragen, daß nun der Fortgang der Konferenz in Frage stand. Unter den westlichen, neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten herrschte Unsicherheit und Ratlosigkeit darüber, wie es denn überhaupt weitergehen solle. In zahlreichen internen und informellen Treffen versuchten die verschiedenen Staatengruppierungen um die Jahreswende 1981/82 sich jeweils auf eine gemeinsame Position für die künftige Vorgehensweise zu verständigen.

Die NATO-Staaten und die Europäische Gemeinschaft einigten sich zunächst darauf, daß die Konferenz am 9. Februar wie vorgesehen zwar wieder eröffnet werden, anschließend aber eine ausführliche Debatte über die Ereignisse in Polen stattfinden sollte. Um dem Ganzen ein besonderes internationales Gewicht zu geben, sollten zu diesem Zweck auch die jeweiligen Außenminister entsandt werden. Auch die Neutralen und Nichtpaktgebundenen waren für eine Fortsetzung der Konferenz; hinsichtlich der Entsendung der Außenminister faßten sie jedoch keinen Beschluß — jeder Staat solle so handeln, wie er es für richtig halte. Die neutralen und blockfreien Teilnehmerstaaten — sie hatten sich im Laufe der KSZE-Verhandlungen als jene Staatengruppe herausgestellt, die an der Aufrechterhaltung des europäischen Gesprächsforums besonders interessiert war — sprachen aber die Befürchtung aus, daß die vorgesehene Polen-Debatte zu einem endgültigen Bruch zwischen Ost und West führen könnte.

Die Staaten des Warschauer Pakts waren ebenfalls der Meinung, daß die Gespräche wiederaufgenommen werden sollten, und zwar auf der bisherigen diplomatischen Ebene (ohne Außenminister) und ohne die westlicherseits beabsichtigte Debatte. Bei den Vorgängen in Polen, so die Begründung, handele es sich um eine rein interne Angelegenheit des betreffenden Staates, eine Debatte darüber könne daher keine neuen Aspekte für den eigentlichen Verhandlungsgegenstand bringen, habe also zu unterbleiben. Der polnische Chefdelegierte Josef Wiejacz kündigte an, Polen werde an einem Treffen nicht teilnehmen, bei dem es die „Rolle des Angeklagten" übernehmen solle.

Konnten sich die westlichen Staaten noch über den nächstfolgenden Schritt (Wiedereröffnung der Konferenz) einigen, so gab es über einen weiteren Fortgang der Konferenz erhebliche Meinungsunterschiede. Insbesondere die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika nahmen unterschiedliche Positionen ein, und zwar in der Frage, ob die Konferenz (nach Wiedereröffnung) weiter fortgesetzt oder unterbrochen werden sollte.

Schon vor Verhängung des Kriegsrechts in Polen war die amerikanische Delegation der Meinung gewesen, daß die Konferenz eine unbefristete Beratungspause einlegen solle, wenn bis Weihnachten kein positives Verhandlungsergebnis erzielt werde. Die Ereignisse vom 13. Dezember in Polen hatten die Vereingten Staaten in ihrer kritischen Haltung weiter bestärkt. Mehr denn je neigten sie der Auffassung zu, die Konferenz nun doch zu unterbrechen.

Die Bundesrepublik Deutschland wollte sich der amerikanischen Haltung keinesfalls anschließen. Die deutsche Regierung hegte die Befürchtung, daß eine Unterbrechung zum gegebenen Zeitpunkt einem Scheitern der Konferenz gleichkäme; sie konnte die USA schließlich von der Notwendigkeit der Fortsetzung überzeugen.

Am 9. Februar 1982 wurde dann die Konferenz in Madrid termingerecht erneut eröffnet. Es stand weder eine Tagesordnung fest noch gab es eine Rednerliste, doch wurden die Ereignisse in Polen zum Hauptthema der Konferenz. Wie erwartet, führten die Auseinander-Setzungen darüber zu schweren Spannungen zwischen den östlichen und westlichen Teilnehmerstaaten. Gleich auf der ersten Sitzung kam es zum Eklat Der Zufall hatte es bestimmt, daß der polnische Chefdelegierte, Josef Wiejacz, Tagespräsident der Wiedereröffnungssitzung war. Mit Unterstützung der östlichen Staaten verhinderte er, daß an diesem Eröffnungstag die noch ausstehenden Reden westlicher, neutraler und auch einiger östlicher Delegationsleiter nach 14. 00 Uhr noch gehalten werden konnten. Die Maßnahme wurde damit begründet, daß nach dem bisherigen Organisationsschema der Konferenz nur an den Vormittagen der Tage Dienstag und Freitag im Plenum geredet werden dürfe, während an den übrigen Tagen die Ausschüsse tagten.

Diese Vorgangsweise führte zu schweren Verstimmungen, vor allem derjenigen Minister und Delegationschefs westlicher und neutraler Staaten, die keine Redegelegenheit mehr erhalten hatten. Nach einer mehr als sechsstündigen Geschäftsordnungsdebatte wurde auf Vorschlag Belgiens und mit Billigung aller Teilnehmerstaaten die Konferenz auf den folgenden Freitag vertagt.

Das Madrider Treffen, das nun am Rande des Abbruchs stand, wurde durch eine Vermittlungsaktion Österreichs gerettet. In „diskreten" Verhandlungen erreichte die österreichische Delegation, daß sich die östlichen Staaten damit einverstanden erklärten, am 12. Februar auch eine Nachmittagssitzung anzuberaumen, um allen 22 Delegationen, die auf der Eröffnungssitzung nicht mehr zu Wort gekommen waren, Gelegenheit zur Rede zu geben. Einen Tag nach dem Eklat kündigte der Schweizer Außenminister Pierre Aubert an, sein Land werde einen Antrag auf sofortige Unterbrechung der Konferenz stellen. Der Vorschlag des Schweizer Außenministers deckte sich mit der Auffassung der USA sowie anderer westlicher, aber auch neutraler und blockfreier Staaten. Eine Einigung auf ein ausgewogenes und substantielles Schlußdokument — das eigentliche Verhandlungsziel — wurde unter den gegebenen Umständen für aussichtslos und eine Fortsetzung der Konferenz deshalb für nicht mehr sinnvoll gehalten.

Die monatelangen Spannungen hatten mittlerweile jedoch zu einer völligen Lähmung der Konferenz geführt. Nicht nur, daß nicht mehr über die eigentlichen Verhandlungsgegenstände geredet werden konnte, die Delegationen waren auch nicht mehr in der Lage, über eine Vertagung, Unterbrechung oder Fortsetzung der Konferenz Einvernehmen zu erzielen. Wochenlange informelle Gespräche darüber brachten kein Ergebnis. Die Staaten des Warschauer Paktes wollten einer einvernehmlichen Vertagung ihre Zustimmung verweigern. Sie beriefen sich dabei auf eine Vereinbarung von vor Weihnachten, wonach die Konferenz sich nach der Weihnachtspause innerhalb von vier Wochen auf ein Schlußdokument einigen und anschließend beendet werden sollte. Allgemein aber wurde vermutet, daß der eigentliche Grund für die Verweigerung ein anderer war: Die Staaten des War-schauer Pakts wollten nicht hinnehmen, daß mit Zustimmung zur Vertagung der westlichen Seite Genüge getan würde; denn die USA waren mit der erklärten Absicht in die Verhandlungsrunde gegangen, die Sowjetunion wegen Polen anzuklagen und dann das Treffen — so die Vermutung östlicherseits — „platzen" zu lassen.

Die Konferenz glich immer mehr einem „absurden Theater“, wie die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG das Geschehen beschrieb Während der Plenarsitzung am Freitag, dem 5. März, konnten sich die 35 Delegationen dann nicht einmal mehr darüber verständigen, diese Sitzung überhaupt zu Ende gehen zu lassen — die Uhren im Madrider Palacio de Congresos mußten während dieser Konferenz zum zweiten Male angehalten werden. Auf der darauffolgenden Montagssitzung (8. März), offiziell war es immer noch die vom Freitag, faßten die Delegierten der 35 Teilnehmerstaaten überraschend dann doch einen einvernehmlichen Beschluß Vertagung der Konferenz bis 9. November d. J. — offiziell sollte der Beschluß erst am folgenden Freitag werden, was dann auch geschah. Beide Seiten beschuldigten sich am Ende dieser Konferenzrunde, das Desaster herbeigeführt zu haben.

IV. „Durchbruch" im Verhandlungsprozeß — der KSZE-Text wird doch fortgeschrieben

Die Delegierten hatten sich auf ihrer letzten Sitzung im März zwar noch auf eine gemeinsame Vertagung der Konferenz einigen können, sicher war eine neuerliche Zusammenkunft aber nicht. Mit dem Wunsch nach Aussetzung der Konferenz war westlicherseits vielfach die Hoffnung verbunden, daß in den folgenden Monaten eine Verbesserung der krisenhaften Lage eintreten werde. Das Klima für einen Dialog und für Verhandlungen zwischen Ost und West war in der achtmonatigen Verhandlungspause jedoch keineswegs günstiger geworden.

Die westlichen Staaten, insbesondere die Vereinigten Staaten, beklagten, daß die Sowjetunion und mit ihr weitere Mitglieder des Warschauer Paktes keinerlei Anstrengungen unternähmen, die Abmachungen von Helsinki auch einzuhalten. Im Gegenteil: Gerade während der zweijährigen Konferenzdauer, so die westliche Kritik, seien die Repressionen seitens einiger östlicher Regierungen verschärft und zahlreiche gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen worden. Seit Beginn der Konferenz habe die Sowjetunion mehr als fünfhundert Menschen aus politischen und religiösen Gründen verhaftet, darunter alle diejenigen, die sich für die Erfüllung der Schlußakte von Helsinki eingesetzt hätten, was letztlich zur erzwungenen Selbstauflösung der Helsinki-Menschenrechts-gruppe geführt habe. Darüber hinaus sei es zu einer drastischen Reduzierung der Auswanderungszahlen sowjetischer Juden zu Einschränkungen des Telephonverkehrs mit dem Westen, zu Behinderungen der Arbeit westlicher Journalisten sowie zu Störungen westlicher Rundfunksender gekommen, von den Ereignissen in Afghanistan, die als eine schwere Verletzung der Souveränität eines Staates betrachtet würden, gar nicht zu reden.

Auch in Polen habe sich nichts Grundlegendes zum Positiven hin geändert. Noch immer gelte das Kriegsrecht, darüber hinaus sei es zum endgültigen Verbot der Gewerkschaft »Solidarität" sowie zur Verhaftung mehrerer tausend Personen gekommen. Die Regierungen Rumäniens und der Tschechoslowakei, so der weitere westliche Vorwurf, hielten sich ebenfalls keineswegs an die gemeinsamen Abmachungen. Durch restriktive Maßnahmen der rumänischen Regierung würden Ausreisen (im Rahmen der Familienzusammenführung deutschstämmiger Personen) weiter erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht In der Tschechoslowakei seien zahlreiche Personen aus politischen Gründen inhaftiert, insbesondere Mitglieder der Menschenrechtsbewegung „Charta 77" — in diesem Zusammenhang wurden 27 Personen namentlich genannt

So einig sich die westlichen Staaten in der Beurteilung östlichen Verhaltens waren, so uneinig waren sie sich über die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Abermals ging es für sie um die Frage, ob es sinnvoll sei, unter den gegebenen Umständen die Konferenz überhaupt fortzusetzen, und wenn ja, wie die Meinungsunterschiede zwischen ihnen über die weitere Gestaltung der Ost-West-Beziehungen überwunden werden könnten und welche gemeinsame Strategie künftig einzunehmen sei.

Die Vereinigten Staaten plädierten zunächst für eine zwei-bis dreijährige Verschiebung der Konferenz. Auch erklärten sie sich zur Annahme eines gemeinsamen Kommuniquös der Konferenz bereit, in dem Ost und West sich darauf einigen, „sich nicht einig zu sein", in dem lediglich Datum und Ort eines dritten Nachfolgetreffens festgelegt würde Die USA die an dem KSZE-Unternehmen von Anfang an nicht sonderlich interessiert waren, sahen sich in ihrer ablehnenden Haltung mittlerweile weiter bestärkt. Unter dem Druck einiger europäischer Partnerstaaten — insbesondere der Bundesrepublik Deutschland —, die keinen Abbruch der Madrider Gespräche wollten, ließen sie sich dann aber doch zu einer Fortsetzung der Konferenz bewegen Allerdings nur unter der Voraussetzung, so war aus amerikanischen Delegationskreisen zu hören, daß die bisherigen Grundla-gen den „veränderten Rahmenbedingungen" angepaßt wurden, was dann auch geschah. Nur deshalb hatten die westlichen Bündnis-partner mit ihrem Drängen auch Erfolg; sie schlossen sich in der weiteren Vorgehensweise der amerikanischen Linie weitgehendst an.

Die neutralen und blockungebundenen Teilnehmerstaaten nahmen zur Wiederaufnahme der Konferenz auf dem Außenministertreffen dieser Staatengruppe Ende August in Stockholm eine positive Haltung ein. Nicht einig waren sich die Außenminister in der Frage, wie die Vorgänge in Polen, aber auch das Verhalten der beiden Großmächte in Madrid von ihnen öffentlich zu bewerten seien.

Wiederum waren zahlreiche Gespräche, Konsultationen sowie eine umfangreiche (auch west-östliche) Reisediplomatie notwendig, um die Konferenz tatsächlich wieder in Gang zu bringen. Die Wiederaufnahme der Madrider Verhandlungen wurde letztlich aber erst durch sowjetisch-amerikanische Geheimgespräche möglich gemacht Am 25. Oktober einigten sich der amerikanische Chefdelegierte Max Kampelmann und der sowjetische Chefdelegierte Anatolji Kowaljow, stellvertretender Außenminister und Nachfolger Leonid Iljitschows in Madrid, über die Fortsetzung der Konferenz: Der amerikanische Vertreter hatte dabei erklärt, daß die Frage der Menschenrechte wiederum auf die Tagesordnung in Madrid gesetzt und bestimmte neue Forderungen erhoben würden. Der sowjetische Vertreter hatte erkennen lassen, daß den Vereinigten Staaten dabei keine Hindernisse in den Weg gelegt würden. Damit war der Weg für die Wiedereröffnung der Konferenz am 9. November (1982) frei.

Der Fortgang der Ereignisse in Polen blieb natürlich nicht ohne Konsequenzen. Man könne „in Madrid nicht wieder beginnen und weitermachen, als ob in Polen nichts passiert wäre" so der Schweizer Außenminister Pierre Aubert. Um der veränderten Realität Rechnung zu tragen, einigten sich die Staaten des Nordatlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft darauf, daß die Verhandlungen in Madrid über ein ausgewogenes und substantielles Schlußdokument, auf der Basis des von den Neutralen und Blockfreien im Dezember 1981 vorgelegten Entwurfes wieder aufgenommen, daß gleichzeitig jedoch mit Hilfe von Ergänzungsanträgen zusätzliche Forderungen erhoben werden sollten. Die neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten schlossen sich dieser Haltung an: Der Entwurf sei „etwas veraltet" und bedürfe angesichts der verschlechterten Situation einer Überholung.

Die angekündigten westlichen Zusatzforderungen, eine Liste mit 15 Ergänzungswünschen, wurden am Eröffnungstag vom dänischen Delegationsleiter Rechnagel im Namen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft vorgetragen

— Recht auf Bildung von und freie Betätigung in Gewerkschaften;

— freie Betätigung von Helsinki-Gruppen; — freie Selbstbestimmung jedes Volkes über seine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

Darüber hinaus wurden einige Forderungen, die einzelne Staaten schon früher erhoben hatten, die aber im erwähnten Entwurf keinen Niederschlag gefunden hatten, wie beispielsweise der Verzicht auf Störsender, wieder aufgenommen.

Die Sowjetunion und ihre Verbündeten wiesen die westlichen Zusatzforderungen — vom finnischen Delegationsleiter waren diese als „sehr weitreichend" bezeichnet worden — erwartungsgemäß als „unrealistisch", „unbedingt einseitig" und „definitiv unannehmbar" zurück

Die letzten Wochen des Jahres 1982 waren also abermals durch einen harten Konfrontationskurs der beiden Großmächte gekennzeichnet, durch gegenseitige Schuldzuweisungen, aber auch durch wachsenden Unmut der kleineren Teilnehmerstaaten, insbesondere der Neutralen und Nichtpaktgebundenen, über die bisherige Erfolglosigkeit der Konferenz. Am 17. Dezember wurde zum dritten Mal eine Weihnachtspause eingelegt. Ein Wiederbeginn der Konferenz war nicht unumstritten; denn in der letzten Sitzung vor der Pause hatte die Sowjetunion gedroht, einer Vertagung des Treffens ihre Zustimmung zu verweigern, falls nicht eine gemeinsame Erklärung über den „nützlichen“ Verlauf der seit November andauernden Verhandlungsrunde beschlossen würde. Ein solcher Beschluß wurde jedoch nicht gefaßt. Insbesondere die NATO-Staaten konnten sich einer solch positiven Bewertung nicht anschließen. Zwar seien die Standpunkte klarer geworden, aber die Gegensätze immer noch so tief wie zuvor, so der Kommentar des amerikanischen Delegationsleiters Max Kampelmann.

Am 8. Februar 1983 wurde die Debatte in Madrid dann doch fortgesetzt, die 35 Teilnehmerstaaten konnten sich auch auf ein gemeinsames Arbeitsprogramm einigen. Als inoffizielles Zieldatum für den Abschluß der Konferenz wurde nun der 25. März ins Auge gefaßt.

Wiederum waren es die neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten, die den Versuch unternahmen, einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation zu finden. Am 15. März legten Österreich, Zypern, Finnland, Liechtenstein, San Marino, Schweden, die Schweiz und Jugoslawien — Malta hatte sich nicht beteiligt — einen bereinigten Entwurf zum Schlußdokument (CSCE/RM. 39. Revised) vor Das vierzigseitige Kompromißpapier beruhte auf den früheren Vorschlägen dieser Staaten-gruppe unter Berücksichtigung von mehr als einhundert Vorschlägen, die verschiedene Delegationen in der Zwischenzeit unterbreitet hatten. Es sollte dies nun aber das „letzte und einzig mögliche Dokument" das ein Scheitern der Konferenz verhindern könne, sein. Als Abschlußdatum für die Konferenz wurde der 27. April in Aussicht genommen. Sieben der fünfzehn westlichen Zusatzwünsche waren im neuen Dokument zwar berücksichtigt, aber im Interesse einer schnellen Einigung blieben besonders strittige Themen ausgeklammert. Fallengelassen wurden insbesondere diejenigen Punkte, gegen die die Sowjetunion ihre „totale und definitive Opposition" angemeldet hatte, wie — die Störung von Rundfunksendern;

— die Anerkennung des Streikrechts;

— das Recht der freien Betätigung von Menschenrechtsgruppen;

— das Verbot der Ausweisung von Journali-sten.

Der Schweizer Chefdelegierte Edouard Brunner, der den Text des Vermittlungsvorschlags erläuterte, meinte in diesem Zusammenhang:

Man werde ein Land, das davon überzeugt sei, das Recht zu besitzen, Rundfunksendungen zu stören, nicht dazu bewegen können, ein Verbot zu unterschreiben. „Nicht weil wir die Dinge nicht mögen, sondern weil sie besonders auf Widerstand treffen, haben wir sie ausgelassen“ so die resignierende Rechtfertigung Edouard Brunners.

Die wichtigsten ergänzenden Punkte des überarbeiteten Entwurfs waren:

— Der KSZE-Prozeß soll mit einer dritten Folgekonferenz ab 4. November 1986 in Wien fortgesetzt werden;

— ab 7. Mai 1985 wird in Ottawa eine Experten-Konferenz über die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Europa stattfinden;

— die Teilnehmer beschließen eine Konferenz über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa, die am 15. November 1983 in Stockholm beginnen soll;

— die Teilnehmerstaaten bekräftigen, daß sie die Freiheit des Individuums anerkennen und achten werden, sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu einer Religion oder Überzeugung in Übereinstimmung mit dem, was ihm sein Gewissen gebietet, zu bekennen und diese auszuüben;

— die Teilnehmerstaaten gewährleisten das Recht der Arbeiter, Gewerkschaften frei einzurichten und ihnen beizutreten, das Recht der Gewerkschaften auf freie Ausübung ihrer Tätigkeiten...;

— die Teilnehmerstaaten bekräftigen ihre Verpflichtung, die Bestimmungen hinsichtlich diplomatischer und anderer offizieller Missionen und konsularischer Stellen anderer Teilnehmerstaaten ... in vollem Umfang durchzuführen ... Der Zugang von Besuchern zu diesen Missionen wird ... gewährleistet.

I Hinsichtlich des geographischen Geltungsbereichs der Vertrauensbildenden Maßnahmen — einer der Hauptstreitpunkte während der zweiten Etappe der Hauptkonferenz — sah der Vermittlungsvorschlag unmißverständlich vor, daß diese für ganz Europa und angrenzende Luft-und Seegebiete zu gelten haben.

Auf Wunsch der Sowjetunion wurde in einer Fußnote vermerkt, daß unter angrenzenden Seegebieten auch ozeanische Gebiete zu verstehen seien.

Der Vermittlungsvorschlag führte zu unterschiedlichen Reaktionen. Insbesondere die Vereinigten Staaten waren über den neuen Vorschlag sehr enttäuscht und meldeten Vorbehalte an. Sie hielten das Dokument vor allem in den Bereichen Sicherheit sowie humanitäre und religiöse Rechte für ungenügend. Als entscheidender Mangel wurde empfunden, daß nach Konferenzschluß keine weiterführenden Expertengespräche über „menschliche Kontakte" (Familienzusammenführungen) vorgesehen seien, wo doch bereits jetzt ein drastischer Rückgang der Ausreisezahlen zu verzeichnen sei. Vermißt wurde aber auch die Erwähnung der Themen im Zusammenhang mit Störsendern sowie der Ausweisung von Journalisten.

Während sich Großbritannien, die Niederlande, aber auch Frankreich in etwa der amerikanischen Haltung anschließen konnten, nahm die Bundesrepublik Deutschland einen gegenteiligen Standpunkt ein. Außenminister Genscher wertete das auf dem Verhandlungstisch liegende Dokument als ein „durchdachtes und ausgewogenes Angebot" — kurze Zeit später, nach einer Reise in die Vereinigten Staaten, wurde allerdings nur mehr von einer „brauchbaren Arbeitsgrundlage" gesprochen. Das Schlußdokument würde in allen 35 Teilnehmerstaaten veröffentlicht werden und damit, so der Außenminister, könne das freiheitliche Konzept des Westens allen Bürgern der Unterzeichnerstaaten nahegebracht werden. Seine Formulierungen ließen in der Öffentlichkeit die Vermutung aufkommen, daß er das Dokument sofort unterschreiben würde. Hans-Dietrich Genscher war der erste westliche Außenminister, der sich derart positiv über das bis dahin in Madrid Erreichte öffentlich ausgesprochen hatte. Auch Norwegen und Belgien, so hieß es in Konferenzkreisen, drängten auf die Annahme des Dokuments.

Kurz vor Ende der Osterpause forderten sechs neutrale und nichtpaktgebundene Staaten (Finnland, Österreich, Schweden, Jugoslawien, Zypern und San Marino) in einem Appell einen unverzüglichen Entscheid zum Ende der Konferenz — die Schweiz und Liechtenstein hatten sich dieser Forderung nicht angeschlossen. Fast zur gleichen Zeit drängten auch die Außenminister der War-schauer-Pakt-Staaten mit einem Appell auf einen raschen Abschluß der Konferenz.

Als am 19. April die Osterpause beendet war, zeigte sich aber, daß ein rasches Ende im Sinne einer Einigung erneut nicht zu erreichen war, vor allem deshalb, weil die Vereinigten Staaten, aber auch andere wichtige NATO-Partner, den von den Neutralen und Blockfreien erarbeiteten Kompromiß in der vorliegenden Form nicht akzeptieren wollten. Ihnen fehlten zu viele jener Zusatzforderungen, die am Beginn der laufenden Verhandlungsrunde erhoben worden waren. Ein Entwurf für ein definitives Schlußdokument konnte das vorliegende Papier für sie nicht sein; eine erneute „Nachbesserung" wurde angestrebt. • Angesichts der gegebenen Lage kam es erstmals zu Veränderungen des bis dahin praktizierten Arbeitsstils. Während die Neutralen und Nichtpaktgebundenen bisher die Rolle der Vermittler und Koordinatoren zwischen Ost und West übernommen hatten, sollten die Verhandlungen in erster Linie nun direkt zwischen den Blöcken — ohne schriftliche und halböffentliche Fixierung der Verbesserungsvorschläge — vorgenommen werden. Die neutralen und nichtpaktgebundenen Teilnehmer hatten schon vor ihrem März-Papier zu erkennen gegeben, daß sie keinen weiteren Vermittlungsvorschlag mehr auszuarbeiten gedächten, da sie bereits zweimal einen derartigen Kompromiß unterbreitet hätten. Anfang Mai kam es zu informellen Treffen zwischen Vertretern der NATO-Staaten — nachdem diese zuvor ihre Meinungsverschiedenheiten beigelegt hatten — und Vertretern der Warschauer-Pakt-Staaten sowie zu Zusammenkünften zwischen Vertretern der Nordatlantischen Gemeinschaft und der Gruppe der Neutralen und Nichtpaktgebundenen. Dabei unterbreiteten am 3. Mai die NATO-Delegationen gemeinsame Ergänzungs-und Änderungswünsche zum Vermittlungspapier vom 15. März. Das Paket mit den Zusatzwünschen wurde westlicher-, aber auch neutralerseits als „bescheiden und maßvoll“ bezeichnet. Die Vereinigten Staaten, die weitergehende Wünsche hatten, seien, so hieß es in deutschen Delegationskreisen, den europäischen Verbündeten bei der Abfassung der Zusatzforderungen sehr entgegengekommen. Die Vorschläge, über deren Inhalt im Interesse der Verhandlungen nicht offiziell unterrichtet wurde, betrafen inoffiziellen Meldungen zufolge unter anderem sprachliche Präzisierungen im Zusammenhang mit dem Mandat für die einzuberufende Abrüstungskonferenz, insbesondere der Definition des Anwendungsbereichs für die Vertrauensbildenden Maßnähmen. Auch ging es — zusätzlich zum Paket der Menschenrechtsvereinbarung — um die Einberufung eines Expertentreffens zum Thema „menschliche Kontakte" (Fa-B milienzusammenführungen, aber auch religiöse Zusammenkünfte sowie Sportkontakte), um eine Präzisierung der Formulierung im Zusammenhang mit der Gewerkschaftsfreiheit und um das Verbot der Störung fremder Rundfunksender.

Hatte die Sowjetunion sich bis dahin niemals eindeutig darüber ausgesprochen, ob sie den März-Vorschlag der Neutralen und Nichtpaktgebundenen annehmen oder ablehnen werde, zeigte sie anläßlich der westlichen Absichten nach Zusatzwünschen erstmals entsprechende Reaktionen. Bereits vor Unterrichtung über den Inhalt möglicher Forderungen hatte der sowjetische Delegierte Kondratschew in der Plenarsitzung erklärt, daß jeder Verbesserungsvorschlag, der das von den Neutralen und Blockfreien in langen Verhandlungen erarbeitete Resultat in Frage stelle, das Gesamtergebnis gefährden und das Madrider Treffen in eine Sackgasse führen würde. Mit dieser Warnung war erstmals deutlich geworden, welche Bedeutung die Sowjetunion dem Vermittlungsvorschlag vom 15. März beigemessen hatte.

Offiziell geklärt wurde die sowjetische Position dann am 6. Mai (1983). Mit einer „wichtigen Mitteilung" reagierte die Sowjetunion auf die drei Tage zuvor unterbreiteten Änderungswünsche. Der sowjetische Delegierte Anatoli Kowaljow erklärte, daß die Sowjetunion bereit sei, den Entwurf eines Schlußdokuments in der von den acht neutralen und blockfreien Teilnehmern am 15. März präsentierten Form unverändert zu akzeptieren. Auch die Sowjetunion, so erläuterte der sowjetische KSZE-Diplomat, habe Änderungswünsche, aber im Interesse des KSZE-Prozesses sei sie bereit, darauf zu verzichten, vorausgesetzt, alle anderen folgten ihr hierbei. Damit waren die westlichen Änderungswünsche eindeutig, wenn auch nicht ausgesprochen abgelehnt. War es über viele Monate hinweg die Sowjetunion, die beschuldigt worden war, durch ihre Kompromißlosigkeit einen positiven Abschluß der Konferenz verhindert zu haben, so sahen sich nun die Vereinigten Staaten in diese Rolle gedrängt Mit ihrem Ja zum Vermittlungsvorschlag war es der Sowjetunion gelungen, aus der Isolierung herauszukommen und ihre eigene Position zu stärken.

Schon Monate zuvor hatte sie die westliche Uneinigkeit und die daraus resultierende Schwäche der Verhandlungsposition für ihre Westpolitik zu nutzen versucht, indem sie sich bemühte, die „realistisch" denkenden Westeuropäer von den „reaktionärsten imperialistischen Kreisen" in den Vereinigten Staaten abzusondern Wiederholt wurde der „konstruktive“ Beitrag und die „positive" Haltung der Gruppe der Neutralen und Nichtpaktgebundenen hervorgehoben, aber auch der deutsche Außenminister wurde mit Lob bedacht. Mit dieser Spaltungstaktik sollten die Vereinigten Staaten als Hauptentspannungsgegner isoliert werden.

Anfang Juni 1983 schien die Konferenz einen überraschenden Verlauf zu nehmen. Bereits im Mai hatte Rumänien eigene Zusatzforderungen ins Gespräch gebracht, zwar noch informell und ohne diese schriftlich zu fixieren. Anfang Juni aber wurde zum Vermittlungsvorschlag dann tatsächlich ein Änderungsantrag gestellt. Einige Tage später jedoch zog der rumänische Delegationschef Vasile Sandru diesen Abänderungsvorschlag wieder zurück und erklärte sich überraschenderweise bereit, auf die von den Staaten der Nordatlantischen Gemeinschaft eingebrachten Zusatzanträge zum revidierten Schlußentwurf der Neutralen und Nichtpaktgebundenen einzugehen. Die westlichen Zusatzforderungen waren zwar nicht zur Gänze übernommen worden, aber die vom rumänischen Delegationsleiter konkret erwähnten Fälle zeigten, daß sich Rumänien dem westlichen Standpunkt sehr deutlich angenähert hatte. Mit der Unterstützung westlicher Vorschläge hatte Rumänien die gemeinsame Linie der Warschau-er-Pakt-Staaten verlassen. Ob nur scheinbar — in der Öffentlichkeit wurde dies auch als taktischer Schritt des Warschauer Paktes gewertet — oder tatsächlich, diese Frage muß hier offenbleiben, weitergebracht wurde die Konferenz hierdurch jedenfalls nicht

Um den toten Punkt in der laufenden Verhandlungsphase zu überwinden, wurde dann von Spanien ein Rettungsversuch unternommen. Am 17. Juni unterbreitete der Gastgeber, Ministerpräsident Felipe Gonzales, den 35 Delegationschefs einen Kompromißvorschlag, der sich an die Regierungschefs wandte. Es war eine leicht geänderte Version des Entwurfs der Neutralen und Nichtpaktgebundenen. Hauptpunkt des Vorschlags war die Ab-haltung eines Expertentreffens für „menschliche Kontakte", das auf Einladung der Schweizer Regierung am 15. April 1986 in Bern beginnen sollte Ein solches Expertentreffen gehörte zu den wichtigsten Zusatzforderungen, die die NATO-Staaten (vor allem auf Wunsch der Vereinigten Staaten) nach Einreichung des überarbeiteten Entwurfs für ein Schlußdokument durch die Neutralen und Nichtpaktgebundenen vor Ostern erhoben hatten. Um der Sowjetunion eine Zustimmung ohne Gesichtsverlust zu ermöglichen — sie hatte sich ja ausdrücklich zur Übernahme des März-Papiers nur in „unveränderter Form" bereit erklärt —, sah der spanische Entwurf vor, daß das zusätzliche Expertentreffen nicht im Haupttext des Schlußdokuments selbst, sondern lediglich in einem Anhang festgehalten werden sollte.

Der spanische Kompromiß sah weiter vor, daß die geplante Abrüstungskonferenz um zwei Monate verschoben und erst am 17. Januar 1984 in Stockholm eröffnet werden sollte. Mit dieser terminlichen Verschiebung sollte vermutlich vermieden werden, daß die Eröffnung dieser Konferenz mit dem Datum eines möglichen Scheiterns der Genfer Verhandlungen über die Mittelstreckenwaffen zusammenfallen könnte.

Die spanische Initiative wurde von den meisten KSZE-Diplomaten als der letzte Versuch zur Rettung des Helsinki-Dialogs gewertet. Die Reaktionen der Teilnehmerstaaten waren unterschiedlich. Die meisten westlichen, neutralen und ungebundenen Staaten unterstützten die spanische Initiative, die Sowjetunion wies das Papier zunächst als unannehmbar zurück. Anfang Juli zeichnete sich überraschend dann doch eine positive Wende der festgefahrenen Verhandlungen ab. Die Sowjetunion erklärte sich zur Annahme des spanischen Kompromißvorschlags bereit, allerdings nur unter der Bedingung, daß die vom Westen geforderte Expertenkonferenz für „menschliche Kontakte" außerhalb des Schlußdokuments in einem Anhang, wie im spanischen Vorschlag vorgesehen, vereinbart würde.

Die westlichen Teilnehmer waren zunächst uneins, wie der sowjetische Vorschlag beantwortet werden sollte. Vor allem die amerikanischen Diplomaten waren der Auffassung, daß der Konferenz über „menschliche Kontakte" hierdurch ein geringerer Status als den beiden anderen im Entwurf des Schlußdokuments bereits vereinbarten Expertentreffen (Abrüstung, Menschenrechte) eingeräumt werde. Sie gaben aber dann doch ihre zögernde Haltung auf, und ein erneuter Kompromiß konnte ausgearbeitet werden. Dieser sah nun vor, daß das Treffen nicht im Haupt-text des Schlußdokuments, sondern in einem Anhang, wie die Sowjetunion dies wünschte, in einer sogenannten „Erklärung des Vorsitzenden" festgelegt werden sollte. Mit der Annahme dieses Vorschlags erklärten sich schließlich 34 Delegationen einverstanden, den Vereinigten Staaten genügte dieser Kompromiß aber wieder nicht. Sie bestanden darauf, daß in die Erklärung selbst auch die Verpflichtung zu ihrer Veröffentlichung in allen Teilnehmerstaaten aufgenommen werden müsse. Die Teilnehmerstaaten sind nämlich nur zur Veröffentlichung des Schlußdokuments verpflichtet, nicht aber der Anhänge. Die Sowjetunion hatte eine Zusage zur Veröffentlichung auch des Anhangs zwar gegeben, aber die USA waren damit nicht zufrieden. Schließlich konnten beide Seiten in dieser Frage und auch im Hinblick auf noch offene Formulierungs-und Übersetzungsprobleme dann doch ein Einvernehmen erzielen. Damit war der endgültige „Durchbruch" im Madrider Verhandlungsprozeß erreicht.

Nach der Einigung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion stimmten 34 der 35 Teilnehmerstaaten am 15. Juli (1983) dem ausgehandelten Text des Abschlußdokuments (samt Anhang) als Ergebnis des zweiten KSZE-Folgetreffens zu Als einziger Teilnehmerstaat verweigerte Malta seine Zustimmung, um auf diese Weise seine Forderung nach einem KSZE-Mandat für eine Sicherheitskonferenz für den Mittelmeerraum Nachdruck zu verleihen. Das Folgetreffen wurde so erneut zum Erliegen gebracht, denn die KSZE-Regeln erfordern Einstimmigkeit. Die übrigen Konferenzteilnehmer lehnten ein derartiges Expertentreffen grundsätzlich ab, weil die KSZE zusätzlich mit den Problemen des Nahen Ostens belastet würde. Als sich Malta auch nach Wochen nicht umstimmen lassen wollte, erklärten die übrigen Teilnehmerstaaten, daß sie einem Konferenzabschluß auch ohne Malta zustimmen werden. Malta lenkte schließlich ein und stimmte am 6. September dem Schlußdokument offiziell zu. Die Zustimmung Maltas war durch einen von den Neutralen formulierten Kompromiß ermöglicht worden: In einer Erklärung des Tagespräsidenten, die nicht ins Schlußdokument aufgenommen, sondern nur im Konferenzjournal verzeichnet wird, sagen die KSZE-Staaten ihre Unterstützung von angemessenen Initiativen für einen Dialog mit den Mittelmeerstaaten zu. Mit der Zustimmung Maltas zum Schlußdokument konnte die Konferenz in Madrid formell zum Abschluß gebracht werden.

Nach dem Willen des spanischen Gastgebers sollte das zweite Nachfolgetreffen in feierlicher Form im Beisein der Außenminister aller Teilnehmerstaaten (vom 7. bis 9. September 1983) beendet werden. Aber die Konferenz endete so, wie sie begonnen hatte, mit einem Streit. Ost-West-Spannungen überschatteten schließlich auch diese letzte Zusammenkunft. Anlaß war der Abschuß eines südkoreanischen Verkehrsflugzeugs durch sowjetische Kampfflugzeuge, bei dem 269 Menschen ums Leben kamen.

V. Schlußbemerkung

Das zweite KSZE-Nachfolgetreffen in Madrid, das nach dreijährigen Verhandlungen eher überraschend doch zu einem Ende kam, wird in der politischen und publizistischen Öffentlichkeit sehr unterschiedlich beurteilt.

Waren schon in Belgrad die Bedingungen für eine Konferenz in dem Sinn, wie es mit der Schlußakte von Helsinki 1975 beabsichtigt worden war, nicht mehr günstig gewesen — von Entspannung konnte kaum mehr die Rede sein, ein positives Ergebnis wurde deshalb auch nicht erzielt —, so hat sich in der Folgezeit dieser negative Prozeß weiter fortgesetzt. Die Ost-West-Beziehungen waren vor allem durch die sowjetische Afghanistan-Invasion und die sowjetischen Mittelstrekkenwaffen derart gespannt, daß das für 1980 geplante Treffen in Madrid zeitweilig sogar in Frage stand. Daß die Vorbereitungskonferenz tatsächlich termingerecht beginnen konnte, muß deshalb bereits als kleiner Erfolg gewertet werden. Ein Erfolg war es zweifellos auch, daß die Hauptkonferenz eröffnet und letztlich sogar zu Ende geführt werden konnte, denn beides war keineswegs verbürgt. „Krise“ und „Scheitern“ waren kennzeichnende Merkmale des Madrider Verhandlungsprozesses.

Ehe die Konferenz beginnen konnte, war sie bereits vom Scheitern bedroht. In dramatischen Verhandlungen konnte der Konflikt um die Modalitäten der Hauptkonferenz mit einem Kompromiß zur Tagesordnung gerade noch rechtzeitig beendet und so die erste Krise mit Mühen überwunden werden. Die zweite Krise im Madrider Verhandlungsprozeß aber folgte gleich. Ost-West-Kontroversen in der Sicherheits-und der Menschen-rechtsfrage haben die Verhandlungen in eine Sackgasse geführt und so die Konferenz eine Zeitlang völlig blockiert. Die Ereignisse in Polen ließen einen positiven Abschluß der Kon-ferenz dann völlig aussichtslos erscheinen. Madrid war abermals vom Scheitern bedroht. Erst nach einer erzwungenen „Denkpause" von mehreren Monaten konnten die Verhandlungen wieder fortgesetzt und letztlich sogar mit einem Ergebnis beendet werden, wenngleich sich die Konferenz auch bis zu ihrem Ende in der ständigen Gefahr des Scheiterns befand. Westliche Zusatzforderungen, nicht-konsensfähige Wünsche Maltas und Ost-West-Kontroversen um den tragischen Flugzeugabschuß waren die belastenden Gründe hierfür.

Die Unterhändler in Madrid haben das über weite Strecken des Verhandlungsprozesses vermeintlich Unvereinbare schließlich doch kompromißfähig gemacht und mit dem neuen Dokument ein Ergebnis erzielt, das bei Beginn der Konferenz kaum vorstellbar gewesen war. Der 1975 verabschiedete KSZE-Text wird in entscheidenden Inhalten tatsächlich substantiell fortgeschrieben. Alle drei Körbe sind berührt. Vor allem die Bestimmungen über die Menschenrechte, die humanitären Angelegenheiten, die Religions-und Gewerkschaftsfreiheit fallen ins Gewicht. Auch in der Sicherheitsfrage wurden wichtige Vereinbarungen erzielt. Darüber hinaus wurde ein Geflecht von „Spezialkonferenzen“ (insgesamt acht) für die weitere Zukunft festgelegt.

Keine Frage, das geschriebene Ergebnis kann sich sehen lassen. Ob die vereinbarten Verbesserungen auch wirklich welche sind, wird sich in der politischen Praxis aber erst erweisen müssen. Zweifel sind hier angebracht, denn schon bisher wurde fast nichts von dem eingelöst, was sich die westlichen Staaten vom KSZE-Prozeß erhofft hatten. Die Implementierungsdebatte in Madrid hat dies von neuem gezeigt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Spiegel, (1980) 47, S. 148.

  2. Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 18. 11. 1980.

  3. SZ vom 27. 11. 1980.

  4. Davon gehörten 19 Vorschläge in Korb I (7 betrafen die Vertrauensbildenden Maßnahmen, 6 die Menschenrechte, 6 andere Bereiche), 27 Vorschläge in Korb II und 30 Vorschläge in Korb III (davon 5 zur Verbesserung der Information, 8 der menschlichen Kontakte, 6 des kulturellen Austausches); darüber hinaus gab es noch 5 Vorschläge die Mittelmeerangelegenheiten und 2 den weiteren Fortgang von Madrid betreffend. Vgl. H. G. Skilling, CSCE in Madrid, in: Problems of Communism, 30 (1981) 4, S. 11.

  5. Polen: 8. 12. 1980, Frankreich: 9. 12. 1980, Jugoslawien: 12. 12. 1980, Rumänien: 15. 12. 1980, Schweden: 15. 12. 1980. Vgl. H. G. Brauch, Vertrauensbildende Maßnahmen. Element einer neuen Rüstungskontroll-und Abrüstungsstrategie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19/82, S. 22— 38; D. S. Yost, Rüstungskontrolle im KSZE-Prozeß, in: Europa-Archiv, 37 (1982) 18, S. 545— 552; G. Wettig, Sicherheitspartnerschaft oder Sicherheitsgegnerschaft? Bilanz aus Anlaß der Vertagung des Madrider KSZE-Folgetreffens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19/82, S. 3— 21.

  6. Europäische Abrüstungskonferenz (EAK) — Frage des geographischen Geltungsbereiches künftiger vertrauensbildender Maßnahmen (VBM) (Verhandlungsstand auf dem Madrider Folgetreffen der KSZE Ende Juli 1981). Manuskript am 19. August 1983 vom Österreichischen Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten erhalten, S. 2.

  7. Ebd„ S. 3.

  8. Ebd., S. 3.

  9. Draft Concluding Document. Proposal submitted by the Delegations of Austria, Cyprus, Finland, Liechtenstein, San Marino, Sweden, Switzerland and Jugoslavia. CSCE/RM. 39. Manuskript am 19. August 1983 vom österreichischen Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten erhalten, S. 11.

  10. V. Mauersberger, KSZE: Polens Schatten über Madrid, in: DIE ZEIT vom 25. 12. 1981, S. 8.

  11. Ebd.

  12. Der Spiegel, (1982) 7, S. 14.

  13. SZ vom 19. /20. 12. 1981.

  14. V. Mauersberger, a. a. O. (Anm. 10), S. 8.

  15. Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 9. 2. 1982.

  16. SZ vom 11. 2. 1982.

  17. Vgl. U. Bergdoll, Zwei Tage lange „Kaffeepause“ in Madrid, in: SZ vom 8. 3. 1982.

  18. Ebd.

  19. Vgl. SZ vom 9. 3. 1982.

  20. Im Jahr 1982 durften lediglich 2 670 sowjetische Juden aus der Sowjetunion ausreisen, im Jahr 1979 waren es noch 51 320 Personen; vgl. SZ vom 15. 4. 1983, S. 2.

  21. Anfang des Jahres 1983 forderte die rumänische Regierung im Falle der Auswanderung die erhaltenen Ausbildungskosten zurück; diese Kostenrückerstattung kann je nach Ausbildung bis zu 80 000 DM betragen. Vgl. SZ vom 21. 2. 1983 und Fußnote 39.

  22. Vgl. NZZ vom 27. 11. 1982, S. 3.

  23. Vgl. U. Bergdoll, NATO-Staaten legen neue Forderungen zur Verwirklichung der Menschenrechte vor, in: SZ vom 10. 11. 1982, S. 1.

  24. Vgl. SZ-Interview mit Max Kampelmann, KSZE-Botschafter der Vereinigten Staaten in Madrid, in: SZ vom 30. /31. 10. /1. 11. 1982, S. 10, und Spiegel-Gespräch mit Max Kampelmann, in: Der Spiegel, (1983) 12, S. 131— 142.

  25. Vgl. Salzburger Nachrichten (SN) vom 9. 11. 1982, S. 1.

  26. SZ vom 3. 11. 1982, S. 9.

  27. NZZ vom 12. 11. 1982, S. 3.

  28. Vgl. NZZ vom 11. 11. 1982, S. 1; Der Spiegel (1983) 29, S. 87— 89.

  29. SN vom 11. 11. 1982, S. 1; SZ vom 26. 11. 1982, S. 8.

  30. Vgl. Entwurf des Abschließenden Dokuments.

  31. SZ vom 22. 3. 1983, S. 2.

  32. Ebd.

  33. NZZ vom 16. 3. 1983, S. 2.

  34. SZ vom 6. 4. 1983, S. 1.

  35. SZ vom 20. 4. 1983, S. 6.

  36. SZ vom 7. /8. 5. 1983, S. 7; NZZ vom 8. /9. 5. 1983, d. 1.

  37. Egon Bahr: Ein positives Ergebnis wäre die Einigung über den Auftrag für eine europäische Abrüstungskonferenz. Sie scheitert im wesentlichen bisher am amerikanischen Widerstand. Vgl. SZ vom 20. 4. 1983, S. 6.

  38. NZZ vom 10. 11. 1983, S. 3.

  39. Die rumänische Haltungsänderung wurde verschiedentlich auch als Folge des Entgegenkommens westlicher Staaten in für Rumänien äußerst wichtigen Bereichen gesehen: Umschuldung der Auslandsverbindlichkeiten, finanzieller Ausgleich für den Verzicht auf die Eintreibung der Ausbildungskosten im Falle der Auswanderung, Verlängerung der Meistbegünstigung im Handel mit den USA

  40. Vgl. U. Bergdoll, Letzter Rettungsversuch für KSZE, in: SZ vom 18. /19. 6. 1983, S. 6; NZZ vom 19. /20. 6. 1983, S. 4.

  41. Der vollständige Text des abschließenden Dokuments des Madrider KSZE-Folgetreffens findet sich in: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 88, Bonn, 12. 9. 1983.

Weitere Inhalte

Margit Roth, Dr. phil., geb. 1933 in Würzburg; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte; seit Februar 1980 Vertragsassistentin am Senats-institut für Politikwissenschaft an der Universtität Salzburg. Veröffentlichungen u. a.: Zwei Staaten in Deutschland. Die sozialliberale Deutschlandpolitik und ihre Auswirkungen 1969— 1978, Opladen 1981; Ende der Entspannung?, in: Zeitgeschichte 11 (1981); Mitarbeit am Forschungsprojekt über Regimeverhandlungen in der Europäischen Gemeinschaft (1982).