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Der Einfluß von Präzisionswaffen auf das strategische Denken | APuZ 2/1984 | bpb.de

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APuZ 2/1984 Die Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa (KVAE) Strategische Rüstungsentwicklung und Rüstungskontrolle in den USA Der Einfluß von Präzisionswaffen auf das strategische Denken

Der Einfluß von Präzisionswaffen auf das strategische Denken

Ludwig Schulte

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den NATO-Staaten wird seit Beginn der achtziger Jahre nach Wegen zur Steigerung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit gesucht. Es verstärkt sich die Tendenz, die Abschreckungsfähigkeit von der atomaren auf die konventionelle Komponente zu verlagern, mit dem Ziel, die Atomschwelle zu heben. Die Einführung moderner Waffentechnologien erweist sich immer mehr als das wirkungsvollste Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Der Plan des derzeitigen Oberbefehlshabers der NATO-Streitkräfte, General Rogers, stützt sich weitgehend auf neue Waffentechnologien, die gegen Ende der achtziger Jahre als Präzisionswaffen mit endphasengelenkter Munition zur Verfügung stehen sollen. Seit Beginn der fünfziger Jahre bahnt sich im Bereich der konventionellen Waffensysteme eine revolutionäre Entwicklung an, die einen dominierenden Einfluß auf das taktische und strategische Denken haben könnte. Dies hängt mit der Einführung von Mikroelektronik und Mikroprozessoren in moderne Waffensysteme zusammen. Die neuen Waffentechnologien können als Fire-and-Forget-oder Stand-off-Waffen eine Epoche einleiten, die für die NATO als Verteidigungsbündnis neue strategische Optionen ermöglicht. Mit der Einführung der modernen Panzerabwehrraketen bahnte sich eine Entwicklung an, die zielsuchende Waffensysteme auch für den Landkrieg verfügbar werden läßt. Ein breites Spektrum von modernen Systemen ist inzwischen in Verbindung mit neuen Aufklärungsmitteln entwickelt worden: Copperhead, Maverick, HOT, TOW, Milan etc. Andere Systeme wie SADARM, MLRS u. a. sind in der Entwicklung. Von großer Bedeutung wird die Einführung von modernen Aufklärungsdrohnen sein. Die modernen Waffentechnologien haben ihre operative Bedeutung nicht als Angriffswaffen, sondern sind Mittel zur Verstärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit und dienen damit der Kriegsverhinderung.

I. Das Dilemma atomarer Abschreckung

Die letzte NATO-Ratstagung in Brüssel hat wieder einmal das Dilemma der konventionellen Verteidigung Europas in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt: Die permanente konventionelle Unterlegenheit der NATO gegenüber dem Warschauer Pakt erzeugt das Bewußtsein von der politischen und militärischen Unglaubwürdigkeit der NATO-Strategie für den Fall, daß die Abschreckung versagen sollte Dieses Dilemma macht die Suche nach Wegen zu einer nachhaltigen Stärkung der konventionellen Abwehr-und Verteidigungsfähigkeit der NATO verständlich. Da die Vergrößerung der Zahl der NATO-Divisionen wegen der leeren Kassen der NATO-Staaten und aus gesellschaftspolitischen Gründen ausgeschlossen ist, richtet sich der Blick auf die Entwicklung und Nutzung moderner Waffentechnologien. Diese scheinen die einzige Möglichkeit zu sein, um die Verteidigungsfähigkeit der NATO angesichts der sowjetischen Hochrüstung auf Dauer zu sichern. Durch die verstärkte Modernisierung der konventionellen sowjetischen Rüstung ist die Bedrohung der NATO ständig gewachsen, insbesondere durch die Entwicklung der taktischen Luftstreitkräfte, welche aufgrund ihrer größeren Reichweite und ihres größeren Zuladegewichts in der Lage sind, die rückwärtigen Gebiete des Verteidigungsraumes der NATO zu bekämpfen. Hinzu kommt die Bedrohung durch die wachsende Stärke sowjetischer Hubschrauber. Das Modernisierungsprogramm der Sowjets hat dazu geführt, daß sich die Schwäche der NATO-Verteidigung in Mitteleuropa im Verteidigungsfall noch stärker auswirkt: Einerseits wegen mangelnder räumlicher Tiefe des NATO-Territoriums, andererseits durch die Notwendigkeit, schon in einer frühen Phase der Kampfhandlungen die Reserven zu mobilisieren, um einen längeren Abnutzungskrieg unter allen Umständen zu vermeiden.

Mangels ausreichender konventioneller Abschreckungsfähigkeit der NATO stützt sich die Verteidigung des westlichen Bündnissystems auf die enge Verbindung zwischen konventionellen Kräften und atomaren Waffensystemen. In der NATO-Strategie der flexible response gilt daher die Drohung mit der atomaren Eskalation als wirkungsvollste Form der Abschreckung. Jedoch könnte die NATO wegen der wachsenden Stärke der sowjetischen konventionellen Streitkräfte und der begrenzten eigenen Fähigkeiten gezwungen sein, die Schwelle zum Einsatz atomarer Waffen zu senken. Damit wächst aber die Gefahr der Selbstabschreckung mit der unausbleiblichen Folge, daß die Glaubwürdigkeit der atomaren Abschreckung bereits im Frieden angezweifelt wird.

An diesem Punkt setzen die Überlegungen ein, durch die Einführung neuer konventioneller Waffensysteme die Fähigkeit des westlichen Bündnisses zu verbessern und im Falle eines Angriffs strategisch wichtige Ziele tief im Hinterland des Territoriums des War-schauer Paktes (WP) zu bekämpfen. Zugleich könnte damit der Verteidigungsgürtel der NATO erheblich verstärkt werden, um die Angriffsvorbereitungen des WP vor ernste Schwierigkeiten zu stellen

Der Erfolg eines möglichen Angriffs hängt für den Warschauer Pakt entscheidend davon ab, ob es ihm gelingt, den raschen Vorstoß der ersten operativen Staffel durch das Nachrükken der zweiten so zu verstärken, daß ein Durchbruch durch die Verteidigungsfront der NATO in greifbare Nähe rückt. Eine Bekämpfung der zweiten Staffel durch die NATO-Streitkräfte würde gegenwärtig an der zu geringen Reichweite der verfügbaren Artillerie-munition und der relativ hohen Verwundbarkeit der taktischen Flugzeuge der NATO scheitern. Das strategische operative Konzept der NATO blieb deshalb bisher an den Einsatz atomarer Waffen im Gefechtsraum ge-knüpft, womit allerdings die unübersehbaren Konsequenzen einer weiteren atomaren Eskalation als Hypothek übernommen werden mußten

Um diesem Dilemma zu entgehen, mißt General Rogers, derzeitiger Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte, dem „Konzept für die Vernichtung der Streitkräfte der zweiten Staffel des Warschauer Paktes mit konventionellen Mitteln“ große Bedeutung bei: „Operativ gesehen, brauchen wir die Fähigkeit, die Divisionen der ersten Staffel eines großen konventionellen Angriffs des Warschauer Pakts zum Stehen zu bringen und zugleich eine wirksame Störungs-und Vernichtungsoperation mit konventionellen Mitteln gegen seine nachfolgenden Kräfte zu führen, um sie außer Gefecht zu setzen, bevor ihr Gewicht an der Front zum Tragen gebracht werden kann."

Um dieses Konzept anwendbar zu machen, ist es nach Rogers nötig, neue Waffentechnologien zu entwickeln. Einerseits sollen gegen Ende der achtziger Jahre Präzisionswaffen mit endphasengelenkter Munition zur Verfügung stehen, andererseits ist die Entwicklung von neuen Zielerfassungs-und Aufklärungssystemen in Angriff zu nehmen, mit denen die Zieldaten im Gefechtsfeld ohne großen zeitlichen Verzug den Bedienungsmannschaften der Feuerleitzentralen übermittelt werden können.

II. Taktik oder Technik?

Die alte militärische Streitfrage: „bestimmt die Waffentechnik die Taktik oder umgekehrt?", läßt sich im Hinblick auf die herkömmlichen Waffensysteme konventioneller Art nicht eindeutig beantworten. Vielfach haben neue Waffen, wie das Maschinengewehr, die Taktik entscheidend verändert. Andererseits haben auch taktische Forderungen der Militärs dazu geführt, daß bestimmte Waffen entwickelt wurden, wie z. B. Waffen zur Flächenzielbekämpfung (Raketenwerfer), um sich gegen einen massiert angreifenden Gegner verteidigen zu können.

Bei den Nuklearwaffen zeigt sich hingegen eine eindeutige Dominanz der Waffentechnologie. So hat die absolute atomare Überlegenheit der Vereinigten Staaten in den fünfziger Jahren dazu geführt, daß die Militärs die Strategie des ersten Schlages entwickelten, mit dem Ziel, einen konventionellen Angriff schon zu Beginn durch Einsatz von Atomwaffen im Keim zu ersticken. Damals verfügten die USA über die Kapazität, gegenüber der UdSSR eine absolute Abschreckung aufrechtzuerhalten. Da die Sowjetunion bereits in den sechziger Jahren über ein ausreichendes atomares Gegenpotential verfügte, was in der Folge zur strategischen Parität mit den Vereinigten Staaten führte, entwickelte sich auf beiden Seiten die Strategie der Vergeltung (Zweitschlagkapazität). Diese Strategie des zweiten Schlages wurde die Grundlage der gegenwär-tigen atomaren Abschreckung und sichert den Weltfrieden bis heute, jedenfalls nach Auffassung der Vertreter der These, daß in der augenblicklichen Situation und auch in absehbarer Zeit keine Alternative zur atomaren Abschreckung vorhanden ist.

Ein besonders aufschlußreiches Beispiel für die Dominanz moderner Waffentechnologien in ihrem Einfluß auf strategische Vorstellungen ist die Entwicklung der Raketenabwehrsysteme (ABM-Systeme/Anti Ballistic Missiles). Als sowohl von den USA als auch von der Sowjetunion ABM-Systeme entwickelt wurden, gab es bald keinen Zweifel darüber, daß sich ihre Stationierung destabilisierend auswirken würde; denn die Seite, die als erste über die Möglichkeit verfügen würde, strategische Angriffswaffen des Gegners weit vor den Grenzen des eigenen Territoriums im Weltraum zu vernichten, würde damit die Erstschlagkapazität zurückgewinnen. Der Schutz durch ABM-Systeme würde ein Land strategisch unangreifbar machen und ihm somit die Möglichkeit geben, jederzeit ungefährdet einen vernichtenden strategischen Schlag gegen die andere Seite auszulösen. Die Furcht vor diesen destabilisierenden Wirkungen von ABM-Systemen hat daher die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion schließlich veranlaßt, im Rahmen des SALT-I-Vertrages (1972) eine Begrenzung dieser Systeme zu beschließen, wonach jede Seite nur eine ABM-Stellung haben darf Im Bereich der konventionellen Waffentechnologie läßt sich hingegen bis zum Beginn der achtziger Jahre keine vergleichbare revolutionäre Entwicklung erkennen, die einen dominierenden Einfluß auf das taktische oder strategische Denken gehabt hätte. Nach wie vor ist die Landkriegführung von den bekannten Waffen bestimmt, die schon das Kriegsgeschehen des Ersten Weltkriegs maßgebend beeinflußten: Maschinengewehr, Artillerie (gezogen oder auf Selbstfahrlaffetten), Kampf-panzer, Mörser etc.

Die Entwicklung von Panzerabwehrwaffen der ersten und zweiten Generation, die über einen Draht gelenkt feindliche Kampfpanzer im Nahbereich wirkungsvoll bekämpfen können, führte bereits zu Veränderungen der militärischen Taktik. Doch erst mit der Einführung von Mikroelektronik und Mikroprozessoren in moderne Waffensysteme vollzog sich eine Entwicklung, die das Schlachtfeld zu revolutionieren verspricht. So wie die Industrieroboter die industrielle Arbeitswelt grundlegend verändert haben, so scheinen die neuen Waffentechnologien, die als „Fire-and-Forget" -Waffen völlig autonom Feindziele suchen und bekämpfen können, eine Epoche einzuleiten, die für die Landkriegführung völlig neue, bisher nicht gekannte strategische Optionen ermöglicht. Mit’ihren Fähigkeiten zur „Bekämpfung der zweiten Welle“ und zur „Anhebung der atomaren Schwelle" könnten erstmalig nach dem Zweiten Weltkrieg konventionelle Waffensysteme eine so dominierende Bedeutung gewinnen, daß ihnen ein entscheidender Einfluß auf die Entwicklung neuer strategischer Vorstellungen zugesprochen werden kann, was bisher den strategischen atomaren Waffensystemen Vorbehalten war.

III. Präzisionswaffen — Eine Bestandsaufnahme

Die Idee der Entwicklung von Waffensyste-men, die Feindziele selbständig anfliegen und bekämpfen, geht in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück. Hier war der taktische Wunsch die Ursache dafür, daß sich Waffen-spezialisten an die Produktion von Lenksystemen machten, die über die Eigenschaften einer selbständigen Zielverfolgung und Ziel-bekämpfung verfügen sollten.

Damals experimentierte das amerikanische Kriegsministerium mit einer fliegenden Zeitbombe, die „Wanze" genannt wurde. Sie kam jedoch nie zum Einsatz. Die Unzuverlässigkeit ihrer Lenk-und Kontrollsysteme machten sie zu einer Gefahr für die eigenen Streitkräfte. Ähnlich war es beim Start des ferngelenkten Wasserflugzeuges „Wild goose" im Jahre 1923. Kurz nach dem Abheben fiel das Lenksystem aus und ein Sicherheitsoffizier mußte mit einem Doppeldecker hinterherfliegen, um Backsteine in die Propeller der Wildgans zu werfen und so zu verhindern, daß die steuer-lose Drohne auf bewohntes Gebiet stürzte.

Doch schon 1925 begann man, mit einem Flugkörper zu experimentieren, der an einem Scheinwerferstrahl entlang geführt werden konnte. Hochempfindliche Selenzellen an den Heckflossen sollten das Navigationssystem dieses Flugkörpers beeinflussen

Bessere Lenkflugkörper wurden jedoch erst im Zweiten Weltkrieg in Deutschland und in den Vereinigten Staaten entwickelt. Gegen Ende des Krieges konnte die deutsche Forschung etwa 140 Lenkwaffensysteme vorweisen, doch hatte keines dieser Systeme nennenswerten Einfluß auf die Kriegführung. Die waffentechnologische Entwicklung auf dem Gebiete der intelligenten Waffen setzte dann erst Mitte der fünfziger Jahre wieder ein, als kleinere Raketenmotoren und handlichere Lenksysteme zur Verfügung standen. So kam die erste französische Panzerabwehr-rakete SS 10 im arabisch-israelischen Krieg von 1956 zum Einsatz. Der Lenkkörper wurde damals mit der Hand über einen Draht ins Ziel gelenkt. Diese Rakete ist ein typisches Beispiel für die erste Generation intelligenter Panzerabwehrwaffen. Da der Schütze die Aufgabe hatte, die Rakete bis ins Ziel zu lenken, war es erforderlich, daß er dieses ständig im Auge behielt, um so Veränderungen von Geschwindigkeit und Fahrtrichtung zu kompensieren

In der weiteren Entwicklung präzisionsgelenkter Munition war man sich von vornherein im klaren, daß mit ihrer Einführung eine „Revolution größten Ausmaßes, die das Schlachtfeld grundlegend verändern” werde, eingeleitet wurde, wie es William J. Perry, der langjährige Staatssekretär für Forschung und Entwicklung im US-Verteidigungsministerium, formuliert hat. Nach Ansicht Perrys könnte der Warschauer Pakt durch Ausrüstung der NATO mit präzisionsgelenkten Panzerabwehrwaffen die Überlegenheit auf dem Sektor der Kampfpanzer verlieren, wodurch das gestörte Kräftegleichgewicht in Mitteleuropa wiederhergestellt werden könnte.

Zur zweiten Generation der Präzisionswaffen gehört das von den Vereinigten Staaten in den sechziger Jahren eingeführte Panzerabwehrsystem TOW (= Tube launched, opti-cally tracked, wire guided /Rohrabschuß, optisch gerichtet, drahtgelenkt) mit halbautomatischer Lenkung Der Flugkörper dieses Waffensystems muß nicht mehr mit einem handbedienten Steuerknüppel ins Ziel gebracht werden. Der Schütze hat lediglich die Aufgabe, das Ziel im Fadenkreuz eines Richtfernrohrs zu halten. Ein Infrarot-Sensor verfolgt parallel zum Schützen den Flug der Rakete und gibt vermittels eines Lenkdrahtes einem weiteren Infrarot-Sensor am Heck des Flugkörpers ständig Impulse. So wird jede Veränderung des Richtfernrohrs durch den Beobachter in Bahnkorrekturen der Rakete umgesetzt. Alle Abweichungen der Rakete von der idealen Flugbahn zum Ziel werden automatisch korrigiert. Dadurch erhöht sich die Trefferwahrscheinlichkeit auf etwa 90%. Inzwischen sind mehr als 275 000 TOW-Panzerabwehrsysteme in 33 Länder verkauft worden. über 100 000 Stück wurden allein an die Armee und die Marine-Infanterie der Vereinigten Staaten ausgeliefert. Inzwischen ist diese Waffe weiterentwickelt und. mit einem stärkeren, panzerbrechenden Gefechtskopf ausgerüstet sowie mit einem verbesserten Lenksystem versehen worden.

Das Handicap von TOW ist jedoch ebenso wie bei den Panzerabwehrwaffen HOT und Milan die Nabelschnur des Lenkdrahtes. Neuere Systeme werden daher über Funk gelenkt, wobei ein ständiger Wechsel der Frequenzen Störungen weitgehend ausschalten soll.

So haben die Sowjets die SWEATTER entwik-kelt, eine Panzerabwehrrakete, die auf einem gepanzerten Fahrzeug montiert ist. Der Flug-körper wird funkgelenkt. Auch die neueste sowjetische Panzerabwehrrakete SPIRAL wird über Funk gesteuert.

Die Amerikaner haben mit dem Waffensystem COPPERHEAD eine Präzisionswaffe der zweiten Generation entwickelt, mit der laser-gelenkte Geschosse nach dem Abfeuern durch 155 mm-Artillerie selbständig ins Ziel gesteuert werden können.

COPPERHEAD wird gegen Panzerziele angewandt, um sie von oben zu bekämpfen, wobei Schußweiten bis zu 16 Kilometer möglich sind. Die Schwierigkeiten dieses Systems liegen im Laser-Zielmarkierungsgerät, mit dem der Beobachter etwa 30 Sekunden lang das Ziel beobachten und mittels Laser-Leucht-punkt markieren muß, um einen gezielten Schuß zu ermöglichen. Im Gefecht unter Artillerieeinwirkung ist dies jedoch eine außerordentliche Belastung für jeden Soldaten am Gerät. Es kommt hinzu, daß niedrig hängende Wolken oder das Verschwinden eines Panzers hinter einem Hindernis die Trefferwahrscheinlichkeit stark vermindern, und das nördliche Eüropa hat nur selten eine langandauernde Schönwetterperiode mit idealen Sichtverhältnissen. Noch gravierender ist die Tatsache, daß nach den bisherigen Erfahrungen oft Minuten vergehen, bis die Zieldaten eines fahrenden Panzers vom Beobachter an die Geschützmannschaft weitergegeben werden können. In dieser Zeit kann jedoch das Ziel bereits aus dem Blickfeld geraten sein.

Trotz gewisser Mängel ist das Waffensystem COPPERHEAD eine bemerkenswerte Entwicklung. Das amerikanische Verteidigungsministerium ist entschlossen, an der neuen Panzerabwehrwaffe festzuhalten, auch wenn diese Präzisionswaffe der zweiten Generation wegen der hohen Kosten wohl kaum in allen NATO-Armeen eingeführt werden dürfte. Inzwischen haben die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und Großbritanniens sich entschieden, die europäische Kooperation auf dem Gebiete der Panzerabwehr-Flugkörpersysteme der dritten Generation zu verstärken. Die Einführung dieser Waffensysteme soll in den neunziger Jahren die Flugkörper der zweiten Generation — Milan, HOT, Swingfire und TOW — ersetzen.

Das amerikanische Waffensystem Maverick — eine Luft-Boden-Rakete — kann schon als Präzisionswaffe der dritten Generation betrachtet werden. Denn diese intelligente Waffe ist in der Lage, von dem Augenblick an selbständig ins Ziel zu fliegen, in dem der Pilot das Ziel ausgewählt hat. Auch die Exo33 cet-Rakete, mit der die Argentinier von einer Super-tendard den Lenkwaffenzerstörer „Sheffield" versenkt haben, gehört zu diesen „Fire and Forget" -Systemen. Maverick hat gegenüber Raketen älterer Bauart den Vorteil, daß sie mit drei verschiedenen Steuersystemen ausgerüstet werden kann: ein automatisches Suchsystem in Verbindung mit einer Fernsehkamera, ein Infrarot-Suchsystem und ein elektro-optisches Suchsystem, das sich auf eine Lasermarkierung aufschaltet Die Maverick-Rakete soll in Tests unter Gefechtsbedingungen 88% Volltreffer erzielt haben. Dennoch ist dieses Waffensystem noch nicht das non plus ultra; denn die Flugzeuge, von denen die Luft-Boden-Rakete abgeschossen wird, bleiben verwundbar. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Rakete vom Ziel abzulenken, weil nur ein Suchsystem verwendet wird. Dies gilt besonders für die fernsehgelenkte Version dieser Waffe.

Eine weitere Phase der Entwicklung von Präzisionswaffen der dritten Generation hat schon begonnen. Die Waffentechniker sind bei präzisionsgelenkter Munition angelangt, die als „endphasengelenkte" Munition bezeichnet wird. Diese Munition ist unabhängig davon, ob ein Pilot oder ein Beobachter am Boden das Ziel erkennt, um dessen Daten dem Waffensystem einzugeben. Es genügt, wenn das Zielgebiet so weit aufgeklärt worden ist, daß der Bedienungsmannschaft bekannt ist, in welchem Raum und in welcher Entfernung sich harte militärische Ziele des Feindes befinden. Die endphasengelenkte Munition wird vom Geschütz-oder Raketenwerfer konventionell abgefeuert und fliegt ballistisch zu einem Punkt oberhalb des Ziel-gebietes. Der abgeschossene Flugkörper'

schleudert dann in der Regel mehrere kleinere Raketen als Submunition heraus, von denen jede ein eigenes Zielsuchsystem besitzt.

Die kleinen Raketen suchen das Zielgebiet nach einem Einzelziel ab und steuern sich selbst hinein.

Bisher wurden Suchköpfe in zahlreichen Varianten bei Flugkörpern verwendet, die gegen See-oder Luftziele gerichtet waren. Die „Signaturen" der Ziele aufgrund ihrer Infrarot-strahlung oder Radarreflexion heben sich jedoch auf offener See oder im Luftraum ebenso klar vom homogenen Hintergrund des Himmels ab wie von der einförmigen Wasseroberfläche. Ein Suchsystem, das Landziele aufspüren soll, ist in einer ungleich schwierigeren Lage; denn Landziele kontrastieren im Vergleich zum Schiff oder zum sich deutlich vom Himmel abhebenden Flugzeug viel weniger mit der Vielfalt der Bodenstruktur. Dies erfordert empfindliche und hochgezüchtete Sensoren mit mikroelektronischen Methoden zur Signalverarbeitung.

Die Entwicklungsarbeiten laufen zur Zeit auf Hochtouren. Man kann annehmen, daß die NATO-Länder Suchköpfe der dritten Generation Ende der achtziger Jahre zur Produktionsreife entwickelt haben dürften. Auch in der Bundesrepublik Deutschland sind die ersten Prototypen entwickelt worden.

In den USA soll gegen Ende der achtziger Jahre endphasengelenkte Munition für den Mehrfachraketenwerfer MLRS (= Multiple Launched Rocket System) zur Verfügung stehen. Dieser Mehrfachraketenwerfer kann in einer Salve von zwölf Geschossen ein Gebiet von 1, 2 mal 3 Kilometern mit Submunition bestreuen, so daß leicht gepanzerte Ziele und Artilleriestellungen größtenteils zerstört werden können. Dieses Waffensystem soll von 1988 an mit endphasengelenkter Munition ausgerüstet sein, mit der auch Kampfpanzer bekämpft werden können

Bisher war der Raketenwerfer MLRS lediglich mit einer sogenannten Bomblet-Munition ausgerüstet, die bereits einen großen Fortschritt gegenüber den alten Munitionsarten bedeutete, da bei einer einzigen Salve von zwölf Raketen weit über tausend kleinere Einzelraketen ins Zielgebiet abgeschossen wurden, um harte Ziele von oben zu bekämpfen. Doch während die Trefferquote bei der Bomblet-Munition von der statistischen Wahrscheinlichkeit abhängt, wird die endphasengelenkte Munition in der Lage sein, die Ziele direkt im Einzelschuß zu treffen und zu zerstören.

Auch ist die Zerstörungswahrscheinlichkeit der Bomblet-Munition bei Panzern äußerst gering, weil die Sprengkraft der relativ kleinen Bomblets nicht ausreicht, um stärkere Panzerungen zu durchschlagen. Die endphasengelenkte Munition verbindet dagegen mit der größeren Trefferwahrscheinlichkeit auch die größere Zerstörungswirkung.

Mit dem Waffensystem MLRS, das demnächst bei den Streitkräften der Bundeswehr ebenso eingeführt werden soll wie bei den französischen und britischen, wird es Anfang der neunziger Jahre möglich sein, die zweite und dritte operative Staffel eines möglichen Angreifers auch in einer Entfernung von 30 bis 40 Kilometern wirkungsvoll zu bekämpfen und harte Ziele — wie Panzer und Artillerie-stellungen — zu zerstören.

Ein vielversprechendes Waffensystem wird daneben unter der Bezeichnung SADARM (= Sense and Destroy Armor) entwickelt. Der Flugkörper wird aus einer 203 mm-Haubitze abgefeuert und befördert drei Tochtergeschosse bis zu einer Entfernung von 30 km in das Zielgebiet. Nach dem Ausstößen der Tochtermunition über dem Zielgebiet schwebt diese mit Fallschirmen zu Boden, wobei es eine Drallbewegung ermöglicht, das Zielgebiet im Sinkprozeß spiralförmig abzusuchen. Ein Millimeterwellensensor hat dabei die Aufgabe, harte Ziele (z. B. Kampfpanzer) zu erfassen. Sobald sich der Sensor „aufgeschaltet" hat, wird der Gefechtskopf gezündet und von oben auf das Ziel abgefeuert. Die Mikroelektronik des Sensors ist in der Lage, zwischen der Radarsignatur eines Panzers und eines LKWs zu unterscheiden -

Dieses System ist kostengünstiger, weil die Flugbahn nicht bis zum Auftreffen auf das Ziel endphasengelenkt ist. Auf der anderen Seite handelt es sich hier um eine echte Fire-and-Forget-Waffe, die eine optische Sichtverbindung nicht mehr erforderlich macht. Ein Vorteil fällt besonders ins Gewicht: Mit der Ausrüstung durch das Waffensystem SADARM oder andere vergleichbare Waffensysteme erhöht sich die Effektivität der herkömmlichen Artillerie.

Zur Bekämpfung von Hartzielen und Halbhartzielen (z. B. gepanzerte Fahrzeuge) hat die amerikanische Industrie überdies das Assault-Breaker-Programm entwickelt. Dieses soll in der Lage sein, jenseits des vorderen Verteidigungsraumes (WR) feindliche Ziele in einer Tiefe von 30 bis 200 km aufzuklären und zu bekämpfen. Die Präzisionswaffen sollen entweder mit Kampfflugzeugen oder bodengestützten Waffenträgern (z. B. LANCE) ins Zielgebiet befördert werden Bei der bodengestützten Version ist inzwischen der Flugkörper T 22 entwickelt worden, der* 24 endphasengelenkte Tochterflugkörper (TGSM = Terminally Guided Submissile) oder 96 Skeet-Flugkörper als Submunition ins Zielgebiet transportieren kann.

Eine andere Version ist der Flugkörper T 16, der von einer PATRIOT-Rakete befördert wird. Dieser stößt im Zielgebiet 22 endphasengelenkte Tochterflugkörper oder 88 Skeet-Flugkörper aus.

Wegen der stark verbesserten Flugabwehrfähigkeit des Warschauer Paktes und der damit verbundenen größeren Verwundbarkeit bemannter NATO-Flugzeuge ist im Rahmen des Assault-Breaker-Programms eine Luft-Boden-Variante entwickelt worden. Es handelt sich um konventionelle Stand-off-Weapons (CSW), die von B 52-Bombern oder anderen Kampf-flugzeugen ins Zielgebiet gebracht werden können. Dieses Waffensystem enthält Zielaufklärungs-, Zielortungs-und Zielaufschaltungssysteme. Sollte das Programm realisiert werden, das wegen der hohen Kosten bisher nur in Teilprojekten verwirklicht worden ist, so wäre ein B 52-Bomber in der Lage, 20 CSW-Flugkörper ins Zielgebiet zu transportieren. In angemessener Entfernung vor dem Zielgebiet könnte das Flugzeug abdrehen, nachdem das Stand-off-Waffensystem auf das Ziel aufgeschaltet worden ist.

Eine Verwirklichung des Assault-Breaker-Programms würde die konventionelle Abwehrfähigkeit erheblich verstärken. Dabei konzentriert sich die waffentechnologische Entwicklung auf drei Munitionsarten:

1. TGSM — endphasengelenkte Submunition (mit Infrarot-Suchkopf) 2. Smart Bomblets mit Infrarot-Endphasenlenkung (Skeet) 3. TGW — Terminally Guided Warhead (mit Millimeterwellensuchkopf).

Bei dem Skeet-Flugkörper wird die Submunition durch Fallschirme abgebremst, wobei mittels eines Infrarot-Sensors der Boden nach Zielen abgesucht wird. Sobald der Sensor auf-geschaltet hat, wird das Ziel von oben bekämpft. Es besteht die Möglichkeit, die Submunition mit einem hochwirksamen Hochladungsgefechtskopf auszurüsten. Auf diese Weise können auch Kampfpanzer neuerer Bauart von oben wirkungsvoll bekämpft werden. Um bewegliche harte Ziele wirkungsvoll vom Boden her bekämpfen zu können, ist zudem die intelligente Panzerabwehrmine DRAW entwickelt worden. Diese soll nach Abwurf durch Kampfflugzeuge mit Hilfe von Sensoren vorbeirollende Ziele des Angreifers erfassen und bekämpfen. Die Mine ist in der Lage, sich selbst in die Luft zu schleudern, um das Ziel von oben her zu bekämpfen. Eine andere Version der Streumunition ist das Waffensystem CYCLOPS, das mit einem Millimeterradar-Suchkopf oder Infrarot-Suchkopf ausgestattet werden soll. Während diese Munition an einem Fallschirm hängend feindliche Panzer erfaßt, wird das Geschoß gezündet und der Panzer von oben bekämpft. Für den Masseneinsatz ist schließlich der kleinste Flug-körper WASP entwickelt worden. Dieser soll in großen Mengen ins Zielgebiet transportiert werden, um feindliche Ziele von oben her selbständig zu orten und zu bekämpfen.

Gegenwärtig wird in der Bundesrepublik Deutschland an der Panzerabwehrrichtmine LASSO gearbeitet. Es handelt sich um eine „rundum wirkende automatische Panzerfernmine", die im Zielgebiet ausgestoßen wird und selbständig Panzer orten und vernichten kann. Sobald ein Panzer vorbeirollt, richtet sich die Mine selbsttätig auf, wobei sich das Schußsystem auf das Ziel einstellt. Zur Vernichtung des Panzers dient eine Hohlladung. Der Wirkungskreis liegt bei ca. 50 m. Diese Mine kann wie andere Mehrzweckwaffen durch den Mehrfachraketenwerfer MLRS abgefeuert werden. Mit all diesen Waffensystemen, die über eine mehr oder weniger „praktische Intelligenz" verfügen, eröffnen sich neue Dimensionen in der Bekämpfung feindlicher Kampfpanzer.

IV. Zielaufklärung — Achillesferse zielsuchender Munition

Ein Zentralproblem der Lenkwaffensysteme ist die Aufklärung; denn präsisionsgelenkte Waffen sind nicht besser als das Wissen über militärische Ziele im Gefechtsraum. Die Kenntnisse darüber müssen möglichst vollständig und ohne großen zeitlichen Verzug die Feuerleitzentralen der Geschütze und Abschußvorrichtungen erreichen. Denn wenn die endphasengelenkte Munition sich erst nach einigen Minuten in ballistischer Flugbahn dem Zielgebiet nähert, können sich Panzer und Gefechtsfahrzeuge schon so weit entfernt haben, daß das Manövriervermögen der Munition für den gelenkten Zielanflug überfordert ist. Man darf nicht erwarten, daß die Geschosse in der Endphase Zielortungsfehler von einigen Kilometern kompensieren.

Eine besondere Rolle fällt hier den soge-nannten Aufklärungsdrohnen (ferngelenkten Kleinfluggeräten) zu, die im internationalen Sprachgebrauch RPV (Remotely Piloted Vehicle) genannt werden. Der Form nach gleichen sie einem Modellflugzeug. Der Eigenantrieb ermöglicht es diesen unbemannten Fluggeräten, in einer Höhe bis zu 3 000 m ca.sechs bis sieben Stunden in der Luft zu bleiben, um den Bodenstationen Direktinformationen über die Zieldaten des Gefechts-raums zu übermitteln. Die NATO wird gegen Ende der achtziger Jahre über derartige moderne Aufklärungsdrohnen verfügen.

Im Libanon-Krieg haben die von Israel entwickelten Drohnen vom Typ Mastiff und

Scout erheblichen Anteil an der Bekämpfung feindlicher Artilleriestellungen und sowjetischer Luftabwehrsysteme SAM 6 und SAM 8 gehabt. Diese Aufklärungssysteme sind äußerst flexibel und vielseitig. Sie lassen sich zu Aufklärungszwecken ebenso verwenden wie zur elektronischen Kampfführung. Die Israelis haben sie vielfach verwendet, um den Anflug größerer Flugzeuge vorzutäuschen. Ihre Vorteile sind die geringe Größe, so daß sie durch Radar des Gegners nur schwer erfaßt werden können. Die Filmkameras dieser Drohnen übertragen ihre Bilder laufend auf die Monitore der Bodenstationen. Bei 15facher Vergrößerung der Kamera wird jeweils ein Rechteck von 50 x 50 m am Boden beobachtet, um die Bewegungen der eigenen Truppen im Gefecht ebenso zu verfolgen wie Artilleriestellungen, Truppenbewegungen und Panzeransammlungen des Gegners. Auf diese Weise sind „Echtzeitübermittlungen" möglich, die durch die Erde umkreisenden Aufklärungssatelliten nicht geliefert werden können.

Eine große Bedeutung für die verzugslose Aufklärung haben daneben die taktischen Flugzeuge. Es ist vorgesehen, die taktischen Flugzeuge im Rahmen des Assault-Breaker-Systems mit einem Seitensichtradar auszurüsten, das bis zu sechs Ziele gleichzeitig verfolgen kann. Durch Echtzeitübermittlung der Zieldaten besteht die Möglichkeit, die Präsisionswaffen sicher ins Zielgebiet zu lenken.

V. Ist konventionelle Verteidigung ohne Atomwaffen möglich?

Eine reine konventionelle Verteidigung, wie sie von Kritikern der NATO-Strategie vorgeschlagen wird, kann nicht die volle Wirkung der Abschreckung erzielen. Diese ist nur denkbar auf der Grundlage der NATO-Triade, die als Rückgrat der Abschreckung die Sowjetunion und den gesamten Warschauer Pakt vor ein unkalkulierbares Risiko stellt. Aber die Triade ist so schwach wie ihr schwächstes Glied. Wenn die konventionelle Verteidigungsfähigkeit nicht ausreicht, wird der Warschauer Pakt um so weniger vor einem konventionellen Angriff abgeschreckt, je mehr er daran zweifelt, daß die NATO notfalls auf atomare Gefechtsfeldwaffen zurückgreifen wird. Ein neues Konzept der NATO-Strategie sollte keineswegs den Rahmen der bisherigen NATO-Strategie der flexible response sprengen, sondern gerade die Durchführbarkeit dieser Strategie verbessern. Die Ansätze eines solchen Konzepts sind von General Rogers, der eine qualitative Verstärkung der konventionellen Streitkräfte vorgeschlagen hat, entwickelt worden.

Gerade eine kritische Betrachtung der Schwächen der NATO-Vorneverteidigung zeigt, daß das neue Konzept folgende Forderungen zu erfüllen hat:

— Erweiterung des Gefechtsraumes bis weit in die Tiefe des gegnerischen Raumes hinein.

— Wirkungsvolle Möglichkeiten zur Bekämpfung der feindlichen Luftstreitkräfte am Boden (Counter Air).

— Abnutzung und Bekämpfung der zweiten und dritten operativen Staffel des Gegners mit der Möglichkeit, feste und auch harte bewegliche Ziele zu bekämpfen, um auf diese Weise den Gefechtsraum abzuriegeln.

— Gleichzeitig Bekämpfung der Bereitstellungsräume der strategischen Staffeln weit im Hintergrund des Feindgebietes.

Die Erfüllung dieser Forderung, die wesentlich von der Einführung moderner Waffen-technologien der NATO abhängen dürfte, erhöht die Glaubwürdigkeit der Vorneverteidigung und verbessert ihre Durchführung im Kriegsfall. Damit schwindet zugleich die Hoffnung eines möglichen Angreifers, trotz seiner konventionellen Überlegenheit die Verteidigungslinien der NATO zu durchbrechen.

Nach den sowjetischen Führungsgrundsätzen ist die sowjetische Offensive eine Operation, deren Erfolg maßgebend davon abhängt, daß die Angriffsdynamik nicht wesentlich geschwächt wird. Großer Wert wird darauf gelegt, daß festgelegte Marschleistungen eingehalten werden. Die Offensive „... wird in Angriffswellen durch Verbände vorgetragen, die auf jeder taktischen (Bataillon, Regiment, Division) und operativen Ebene (Armee, Front)

gestaffelt sind. Bei diesem Angriffsverfahren wird ein abgekämpfter Verband zur Wieder-auffrischung rückverlegt und vollständig durch einen frischen Verband ersetzt. Das Ziel dieses Angriffsverfahrens ist es, den Verteidiger gleichbleibend starkem Druck auszusetzen, eine überwältigende Übermacht an kritischen Stellen auf dem Gefechtsfeld zur Geltung zu bringen, den Befehlshabern und Kommandeuren das Ausnutzen von Durchbrüchen zu erleichtern sowie ein hohes Maß an Beweglichkeit und Flexibilität, zumindest auf operativer Ebene, zu gewährleisten. Der Ansatz der Truppen des Warschauer Paktes würde von der Tiefe und Organisation der NATO-Verteidigung, dem Ausmaß der erzielten Überraschung und der Geländestruktur abhängen."

Es ist das Ziel einer möglichen sowjetischen Offensive, die Vorneverteidigung der NATO zu durchbrechen, um möglichst rasch in das rückwärtige Gebiet des Verteidigungsraumes der NATO vorzudringen. Dabei soll die durchschnittliche Tagesleistung bei 50 km liegen. Dies setzt voraus, daß die Operation von Anfang an ein hochintegriertes Unternehmen ist, das eine enge Zusammenarbeit aller Kampfeinheiten und ein jederzeit funktionsfähiges Führungssystem voraussetzt.

Bei aller beeindruckenden Stärke der War-schauer-Pakt-Streitkräfte darf doch nicht übersehen werden, daß der strategische Ansatz auch erkennbare Schwachpunkte aufweist, die sich im Kriegsfälle entscheidend auswirken könnten. Es handelt sich insbesondere um folgende Faktoren:

— Die sowjetischen Angriffsoperationen bevorzugen eine bis ins Detail vorprogrammierte Operation.

— Der Erfolg ist davon abhängig, daß möglichst rasch der Sieg im Gefechtsraum errungen wird. — Die Erfolgsaussichten werden getragen von der Hoffnung, daß es dem Warschauer Pakt gelingt, das Überraschungsmoment auszunutzen. Die atomare Drohung der NATO, notfalls auf atomare Gefechtsfeldwaffen zurückzugreifen, konfrontiert die Sowjetunion mit dem Risiko einer möglichen Eskalation und zwingt sie, einen großen Teil der Kräfte in weit gefächerten Aufstellungsräumen zu stationieren, um nicht Zielobjekt eines möglichen atomaren Erstschlages der NATO zu werden. Dies erschwert die konventionellen Angriffsoperationen des Warschauer Paktes.

Der Warschauer Pakt ist gezwungen, die anfänglich aufgelockerten Verbände zu massieren, um Durchbrüche zu erzielen. Damit aber exponieren sich diese Kräfte und erleichtern die Aufklärung für die NATO-Streitkräfte, wodurch wiederum hochwertige Ziele geschaffen werden, die mit konventionellen und atomaren Waffen bekämpft werden können.

Eine effektive Vorneverteidigung der NATO setzt nicht voraus, daß die NATO konventionell in jeder Hinsicht mit dem Warschauer Pakt gleichgezogen hat. Eine ausreichende konventionelle Verteidigungsfähigkeit ist schon dann gegeben, wenn die NATO in der Lage ist, auf jeder Stufe der militärischen Kampfhandlungen dem Angreifer den Erfolg zu verwehren, den er anstrebt. Sollte dies der NATO in den ersten Tagen gelungen sein, besteht die Möglichkeit, daß der Angriffs-schwung der zweiten und dritten operativen Wellen erlahmt.

Ein durchschlagender Erfolg der effektiven Vorneverteidigung ist allerdings erst dann gegeben, wenn es den NATO-Streitkräften möglich ist, mit einer wirkungsvollen Munition die zweite anrückende operative Welle so entscheidend zu treffen, daß sie nicht in der Lage ist, zur ersten Angriffswelle aufzuschließen. Dies würde den Zusammenbruch der gesamten sowjetischen Angriffsoffensive zur Folge haben können.

Eine wichtige Aufgabe wäre die möglichst frühzeitige Abnutzung der gegnerischen Luft-streitkräfte, damit sie nicht in der Lage sind, strategisch wichtige Ziele im Verteidigungsraum der NATO zu bekämpfen.

Da der auf raschen Erfolg programmierte Angriff der Warschauer-Pakt-Streitkräfte von der Verläßlichkeit und der Funktionsfähigkeit der Führungs-und Fernmeldeeinrichtungen abhängt, ist die Bekämpfung der Führungszentralen dieser Streitkräfte strategisch von entscheidender Bedeutung. Hier kommt den Flugzeugen der NATO eine ebenso große Bedeutung zu wie konventionellen Waffensystemen, die über große Reichweiten verfügen (z. B. Systeme wie Cruise Missile, die mit einem konventionellen Sprengkopf bestückt die Aufgabe übernehmen können, feste Ziele bis weit in das Hinterland des Feindes hinein zu bekämpfen). Es gehört zu den künftigen Aufgaben der NATO-Streitkräfte, daß sie mit neuen Waffensystemen über die konventionelle Fähigkeit verfügen, die Hauptbasen der Luftstreitkräfte des Gegners zu dem Zeitpunkt zu bekämpfen, wo die eingesetzten Feindflugzeuge von ihrer ersten oder zweiten Angriffswelle zurückfliegen. In diesem Falle könnten die Feindflugzeuge gezwungen werden, auf die weniger stark verteidigten Flugplätze auszuweichen, die ein bevorzugtes Zielobjekt bemannter NATO-Flugzeuge werden könnten.

Mit dem weiteren Anwachsen der konventionellen Kampfkraft der Warschauer-Pakt-Streitkräfte hängt es zusammen, daß die Möglichkeit zu einer effektiven Vorneverteidigung in den achtziger Jahren nur dann gegeben sein kann, wenn es der NATO gelingt, wichtige strategische Ziele tief im Hinterland des Gegners so entscheidend zu bekämpfen, daß eine Führung und Versorgung der nachrückenden zweiten und dritten Staffel nicht mehr möglich erscheint. Je mehr es gelingt, die Bekämpfung dieser Ziele künftig durch konventionelle Waffensysteme durchzuführen, die hinsichtlich Waffenwirkung und Ziel-genauigkeit an die Stelle der atomaren Gefechtsfeldwaffen rücken, diesen jedoch in der Reichweite überlegen sind, wird die konventionelle Komponente der NATO eine qualitativ größere Abschreckungskraft erhalten. Dies wird die Führbarkeit des Krieges nicht erhöhen, jedoch den Warschauer Pakt daran hindern, einen Angriff zu planen bzw. zu unternehmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. K. Biedenkopf, Das Vertrauen ist brüchig geworden, Spiegel-Interview, in: Der Spiegel, (1983) 51. S. 28— 34.

  2. Vgl.den Beitrag Mehr konventionelle Kampf-kraft für die NATO, in: österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), (1983) 5, S. 405 f. -

  3. Siehe Sowjetunion, Die zweite Staffel und ihre Einführung, in: QMZ, (1980) 6.

  4. Vgl. General Rogers vor der WEU-Versammlung. Für mehr konventionelle Rüstung in Europa, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 9. 6. 1983.

  5. Vgl. Weißbuch 1983, S. 224.

  6. Vgl. P. F. Walker, Wirksame Verteidigung mit intelligenten Abwehrwaffen, in: Spektrum der Wissenschaft vom 10. Oktober 1981, S. 110— 120.

  7. J. F. Digby, Precision Guided Weapons, in: Adel-phi Papers, London 1975 (IISS), Nr. 118.

  8. J. J. Mearsheimer, Precision guided munitions and conventional deterrence, in: Survival, (1979) 2, S. 68f.

  9. J. S. Phillip, Precision guided weapons, in: Aerospace international, (1977) 2, S. 22— 25.

  10. Vgl. H. W. Techter, MARS/MLRS — Ein neues Mehrfachraketenwerfersystem, in: Soldat u. Technik, (1979) 12, S. 673.

  11. Vgl. Th. J. Malgerie, Sense and destroy armor, in: Army Research, (1979) 6, S. 2.

  12. Vgl. M. Hewish, Das Assault Breaker Program, US-Abstandwaffen, in: Internationale Wehrrevue, (1982) 9.

  13. Vgl. auch ESECS - European-Security-Study Wege zur Stärkung der konventionellen abschreckung in Europa, Baden-Baden 1983

  14. Ebd. S.21

Weitere Inhalte

Ludwig Schulte, Dr. phil., geb. 1922; Studium der Philosophie, Psychologie und Literatur in Münster, Bonn und Paris-, Leitender Wissenschaftlicher Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Vom Blitzkrieg zum Nervenkrieg, Boppard 1964; Verteidigung im Frieden, Frankfurt 1968; Bundeswehr im Konflikt, Frankfurt 1972; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften und anderen Publikationsorganen, Dokumentationen und Berichte in Rundfunk und Fernsehen.