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Politische Partizipation in westlichen Demokratien Die Last der Partizipation | APuZ 38/1984 | bpb.de

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APuZ 38/1984 Neuere Entwicklungstendenzen von Theorien der Politik Politische Partizipation in westlichen Demokratien Die Last der Partizipation Zur Entwicklung der vergleichenden Deutschlandforschung

Politische Partizipation in westlichen Demokratien Die Last der Partizipation

George K. Romoser

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die vor allem in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA in den sechziger und siebziger Jahren aufkommende Idee der »Demokratisierung“, die unmittelbar auf Partizipation abhob, wandte sich gegen die Auffassung, Beteiligungsmöglichkeit, Urteilsfähigkeit und Art und Weise der Einflußnahme der Staatsbürger seien oft als Hindernis für effektive Partizipation anzusehen. Während man in der Bundesrepublik bereits Anfang der sechziger Jahre gerne von der »versäumten Reform“ sprach und vielen dieser Staat allzu altmodisch und »autoritär“ schien, war in den USA die Verwicklung in den Vietnam-Konflikt nur der wichtigste und aufsehenerregendste Anlaß für das Streben nach Partizipation. Viel früher schon hatte sich Unzufriedenheit am Parteiensystem breitgemacht. Ziel der Demokratisierungsbewegungen war in beiden Ländern nicht Partizipation zugunsten etablierter Politik, sondern Partizipation für „Reformen". Allzuoft versperrten jedoch vage Hoffnungen auf „Reform", „Demokratisierung" und ähnliche offenkundig erstrebenswerte Ziele den Blick für das schwierige Verhältnis zwischen Eigen-und Gruppeninteresse einerseits und den allgemeinen oder öffentlichen Interessen andererseits. Man setzte voraus, daß „mehr Partizipation“ „mehr Demokratie" bedeute und zog daraus den Schluß, daß „mehr Demokratie" für das Gemeinwesen und die an ihm teilnehmenden Individuen gleichermaßen „gut" sein würde. Fragen wie „Partizipation wozu? Um welcher Ziele willen?" (einmal abgesehen von „Selbstverwirklichung") ließ man außer acht Am meisten wurde durch Partizipation auf regionaler Ebene erreicht. Die Diskussion über „globale" und „alle Menschen angehenden" Themen wie Umweltverschmutzung und Atomwaffen macht jedoch deutlich, daß sich Partizipation auch auf nationaler Ebene mit ganz konkreten Zielen befaßt. Anstrengungen zugunsten solcher globaler Ziele überbrücken die Kluft zwischen Eigennutz und öffentlichem Interesse; die Befürworter von mehr Partizipation wenden sich damit neuen Dimensionen zu. Konzentriert man sich auf Gemeinschaftsziele und öffentliches Interesse, so bedeutet dies auch, daß „konservative" Kräfte ein Wörtchen mitzureden haben, sind sie es doch, die für sich in Anspruch nehmen, für das „Gemeinwohl" zu sprechen. Nach „konservativem" Verständnis betont Partizipation einen vermeintlichen Konsens, durch den Partizipation überhaupt erst Bedeutung erlangt. In den USA wie in der Bundesrepublik gibt es deutliche Hinweise darauf, daß die konservative Version von Partizipation wieder auflebt. Zumindest in den USA gibt es neuerdings wieder viele, die behaupten oder wenigstens vermuten, daß die geltende amerikanische Verfassung und ihr politisches System der angemessene Rahmen für moderne Demokratien sind, wobei dies nicht nur als überlieferte Tradition dargestellt, sondern als politische Weisheit gepriesen wird.

„C'est dans le gouvemement rdpublicain que l'on a besoin de toute la puissance de l'öducation. La crainte des gouvernements despotiques nait d'elle-mäme parmi les meances et les chätiments; l'honneur des monarchies est favoris^ par les passions, et les favorise d son tour; mais la vertu politique est un renoncement ä soi-m^me, qui est toujours une chose tr^s penible.

On peut definir cette vertu, l'ampur des lois et de la patrie. Cet amour, demandant une preference continuelle de lintöret public au sien propre, donne toutes les vertus particulieres: elles ne sont que cette preference.

Cet amour est singulierement affecte aux democraties. Dans elles seules, le gouvemement est confie ä chaque citoyen. On le gouvemement est comme toutes les choses du monde: pourle conserver, 11 faut 1'aimer.“

Charles Secondat, Baron de Montesquieu, De L 'Esprit des Lois (1748), Livre IV, Chapitre V

L

Theorie und Praxis der Partizipation in der Demokratie beschäftigen sich heutzutage vorwiegend damit, in Wort und Tat eine Demokratie der Eliteherrschaft zu bekämpfen — Eliten also, die vielfach „demokratisch gewählt" sind, die Regierungsgewalt jedoch nicht mit größtmöglicher Beteiligung des Bürgers ausüben bzw. nicht auszuüben brauchen. „Reaistische" Demokratietheorien haben immer betont, wie unpraktisch und unrealistisch es angeblich sei, eine Vielzahl von Gruppen an der Entscheidungsfindung zu beteiligen Man ist der Auffassung, daß die zunehmende Technokratisierung und Komplexität — ganz zu schweigen von der größeren Ausdehnung des Staatsgebietes und der größeren Bevölkerungszahl des modernen Staates im Vergleich zur Zeit der Alten Griechen oder der Kleinrepubliken — den Bemühungen der Staatsbürger um wirksame Partizipation entgegenstehen. Beteiligungsmöglichkeit, Urteilsfähigkeit und Art und Weise der Einflußnahme werden oft als Hindernis für effektive Partizipation angesehen. Untersuchungen zur öffentlichen Meinung, in denen geringer Informationsstand und mangelndes Einfühlungsvermögen der Bürger nachgewiesen wurden, dienten als Argument gegen stärkere Partizipation des Bürgers im öffentlichen Leben

Dagegen wandte sich — vor allem in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten — die in den sechziger und siebziger Jahren aufkommende Idee der „Demokratisierung“, die unmittelbar auf Partizipation abhob. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, nach Erklärungen für diese Demokratisierungsbewegung als solche zu suchen oder nach ihren möglichen Ursachen zu fragen. Einige Bemerkungen dazu sind jedoch angebracht, weil sie uns helfen, den Begriff der erhofften Partizipation des Bürgers in demokratischen Gesellschaften verständlich zu machen, und weil sich nur vor diesem Hintergrund erläutern läßt, warum die Befürworter der Partizipation häufig so enttäuscht oder so unzufrieden waren.

Die Demokratisierungsbewegungen, die in den sechziger und siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten und in Westdeutschland entstanden, scheinen vieles gemeinsam, manches jedoch individuell spezifisch zu haben. Theorien über die Entstehung von „postmaterialistischen Werten" sind grenzüberschreitend Auf beiden Seiten des Atlantiks kam man zu der Auffassung, daß der zunehmende Wohlstand in den westlichen Industriegesellschaften dazu führte, daß politische Entscheidungen vor dem Hintergrund von Überlegungen zu mehr „Lebensqualität" gefällt wurden. . Postmaterialismus“ ist jedoch nur eine mögliche Erklärung für das Drängen auf mehr Partizipation. Mit dem Begriff „Postmaterialismus" verbindet man bestimmte gesellschaftliche Gruppen, insbesondere solche mit relativ hohem Einkommen und verhältnismäßig guter Bildung. Die „Wohlstandsgesellschaften“ der Nachkriegszeit in Europa und Amerika haben das ihre dazu beigetragen, daß diese gesellschaftlichen Gruppen wuchsen; zumindest gilt das für die Jahrgänge bis 1965 (die sinkende Geburtenrate seit 1965, vor allem in Deutschland, wird zweifellos in einigen Jahren Auswirkungen haben, über deren Art und Weise wir uns jedoch heute noch nicht im klaren sind). Die egalitäre Reaktion auf unegalitäre Ideologien der Ära des Faschismus und des Krieges (der zwanziger bis vierziger Jahre) zeichnet sich als grundsätzlicher Trend der zwischenmenschlichen Beziehungen und Grundlage der vielfachen Kritik an Elitarismus und Regierungsgewalt ab.

Besondere Umstände in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten gaben der „Demokratisierung" in beiden Ländern zusätzlichen Auftrieb. Bereits Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre sprach man in der Bundesrepublik gerne von der „versäumten Reform“. Die schwindende Autorität Adenauers und des „CDU-Staates“ nach 1961 taten ein übriges. Bücher wie Ralf Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" und Karl Jaspers „Wohin treibt die Bundesrepublik?", beide Mitte der sechziger Jahre er) schienen, waren nur die Bestseller einer ganzen Welle von Veröffentlichungen, die sich die „Modernisierung“ und „Demokratisierung" einer Bundesrepublik zum Ziel setzten, die für viele allzu altmodisch und „autoritär" erschien. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß die Frage, wie man mit der Nazi-Vergangenheit (der unbewältigten Vergangenheit?) fertig werden könne, bewußt oder unbewußt bei bestimmten Bevölkerungsgruppen ausschlaggebend für dieses Streben nach Veränderung war.

In den Vereinigten Staaten war die Verwicklung in den Vietnam-Konflikt nur der wichtigste und aufsehenerregendste Anlaß für das Streben nach Partizipation während der sechziger Jahre. Viel früher schon hatte sich Unzufriedenheit am Parteiensystem breitgemacht Man empfand Unbehagen gegenüber dem Kalten Krieg und der Aufrüstung, letzteres verbunden mit Furcht vor dem technologischen Wandel (Nuklearwaffen); die Bürgerrechtsbewegung gewann an Boden. Gerade die Bürgerrechtsbewegung mit ihren Demonstrationsmärschen und Protestveranstaltungen gegen den Ausschluß der Schwarzen bereitete in vielen anderen Bereichen den Weg zu mehr Partizipation. Reformer wollten eine alte amerikanische Tradition der „freien Verbände" für den Wandel durch Partizipation auf nationaler Ebene nutzen, um zu korrigieren, was C. Wright Mills als „verrückten Realismus" bezeichnete — in seiner Diktion war das die weitverbreitete, vermeintlich logische und rationale Denkweise der führenden Regierungspolitiker und der Bürokraten im Dienste wahnsinniger Ziele, wie etwa der nuklearen Rüstung Was Mills sagte, war symptomatisch und hatte großen Einfluß auf die Studentenbewegung, mit deren „Port-Huron-Erklärung" von 1962, in der Studenten sich für eine demokratische Gesellschaft aussprachen (in der Erklärung finden sich viele Verbindungen zu den Protestbewegungen gegen das Establishment in der Bundesrepublik bis hin zu den GRÜNEN), vielleicht alles begann.

Aus dieser kurzen Darstellung einiger herausragender Begriffe der Demokratisierungsbewegung kann man bereits einige zentrale Fragen zum Thema „Demokratie und Partizipation" ableiten. Vor allem führt uns dies zu der Frage, welche Vorteile dem Bürger wohl aus der Partizipation in einer Demokratie nach Ansicht derer erwachsen, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren als „emanzipierte Demokraten" profiliert haben. Der Angriff auf die „Elitedemokratie" wandte sich sowohl gegen die Praktiken der Regierungen als auch gegen die Theorien der Soziologen tind Politologen, die für sich in Anspruch nahmen, ein „realistisches“ Bild der modernen Demokratie zu zeichnen. Dennoch gab es in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten unterschiedliche Zielsetzungen. In der Bundesrepublik wurde partizipatorische Demokratie als Absage an die Vergangenheit und deren autoritäres Gehabe verstanden, mit dem sich die Furcht vor den unvermeidbaren Konflikten einer funktionierenden Demokratie verband. Sehr früh tauchte in der Geschichte der Bundesrepublik das Wort „Restauration" als Kritik am Nachkriegsstaat auf. Geäußert wurde diese Kritik von Leuten, nach deren Auffassung die Regierung der Nachkriegszeit (ganz zu schweigen von der Aufrüstung der Nachkriegszeit) die für einen wirklichen Neubeginn benötigten grundlegenden sozialen, politischen und institutionellen Reformen verhindert hatte. Bürgerverantwortung und Bürgerpartizipation waren, wie einige meinten, zugunsten von Stabilität und Sicherheit vernachlässigt worden.

Die Unbeweglichkeit des Entscheidungsapparates auf nationaler Ebene und die Inkohärenz des Parteiensystems — die dazu führte, daß der Bürger kaum einen Politiker oder eine Partei für eine gescheiterte Politik verantwortlich machen konnte — standen in den fünfziger und sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten im Mittelpunkt der Kritik Als Folge der gesamten progressiven Bewegung seit der Jahrhundertwende einschließ, lieh Franklin D. Roosevelts Präsidentschaft wurde das Amt des Präsidenten häufig als Ausweg aus der Unentschlossenheit, dem Stillstand und dem „unverantwortlichen" Parteiensystem angesehen. Der Präsident wurde als der einzige „national gewählte" führende amerikanische Politiker betrachtet und war allein aus diesem Grund berechtigt, Initiativen zu ergreifen, die Führung zu übernehmen und Partizipation und Konsens miteinander zu verbinden. Darüber hinaus gewann das Amt des Präsidenten vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit und der Mobilmachung des Militärs mit Beginn des Kalten Krieges unaufhaltsam an Einfluß und Funktion.

Dieser Entwicklung wurde durch die Ermordung John F. Kennedys, durch die tragische Verwicklung Amerikas in den Vietnamkrieg und durch die Nixon-Ära Einhalt geboten. Zweifellos war der Ruf nach „mehr Partizipation" bereits vor diesen Ereignissen erklungen: „Wir betrachten den Menschen als ungleich wertvoll und reich an brachliegenden Fähigkeiten zu Vernunft, Freiheit und Liebe. Indem wir dies versichern, sind wir uns bewußt, daß wir uns gegen die herrschende Meinung über den Menschen im zwanzigsten Jahrhundert wenden: daß er nämlich manipulierbar undan sich nicht in der Lage sei, über sich selbst zu bestimmen... Wir wenden uns auch gegen die Doktrin, daß der Mensch unfähig sei, weil diese Doktrin vor allem darauf basiert, daß der Mensch der Moderne durch Jähige'Leute zur Unfähigkeit erzogen wurde — für uns ist kaum ersichtlich, warum der Mensch nicht mit wachsenden Fähigkeiten mit der Komplexität und den Anforderungen seiner Umgebung fertig werden sollte, unter der Voraussetzung, daß die Gesellschaft nicht für Minderheiten, sondern für Mehrheiten aufgebaut wird, die an den Entscheidungen partizipieren.“

Hatte man bisher, wenn auch recht ineffektiv und doktrinär, integrierende Reformen von Politik und Regierung in Amerika eingeklagt, so beschäftigte man sich nunmehr damit, wie man einerseits die bisher vernachlässigte spezifische Interessenvielfalt individuell wahrnehmen, andererseits durch bildungspolitische Maßnahmen mehr Partizipation erreichen könnte. „Wir haben die andere Seite traditionellen politischen Gedankengutes wiederentdeckt, die Politik nicht nur als Mittel zur Durchsetzung pragmatischer, unpolitischer Ziele betrachtet, sondern politische Partizipation als einen Wert an sich sieht, der unerläßliche Voraussetzung für Lebensqualität und eine vollendete Entwicklung des Menschen ist.“

Diese Aussage mag stellvertretend für viele andere in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten stehen, um das Drängen auf Partizipation und die damit verbundenen Erwartungen zumindest der Bevölkerungsgruppen zu kennzeichnen, die sich so oder ähnlich äußern. Wir können allerdings nicht davon ausgehen, daß Hoffnungen und Vorstellungen, die man mit Partizipation verbindet, auch mit den gegebenen Möglichkeiten für Partizipation im sozialen und politischen Leben in Vergangenheit und Gegenwart übereinstimmen „Elitäre“ Demokratietheorien, wie beispielsweise das klassische Werk von Joseph Schumpeter beschränkten Partizipation ausschließlich auf den Wettbewerb zwischen Gruppen, die Eliten beeinflussen, die ihrerseits wirklich Entscheidungen trafen. Die Befürworter von mehr Partizipation hingegen wollten sowohl „Interessen formulieren“ als auch „Staatsbürger" heranbilden, und zwar im Sinne eines Jean-Jacques Rousseau und eines John Stuart Mill.

II.

Diese beiden Forderungen nach mehr Gehör für nicht organisierte und vernachlässigte Interessen sowie auch nach mehr staatsbürgerlicher Bildung zeigen bereits auf, welche Themen und Streitfragen die Diskussion um politische Partizipation in den westlichen Demokratien von heute prägen. Zentrales Problem aller Theorien über Partizipation, so sagt man, ist die Beziehung zwischen „Eigeninteresse“ und Gemeinschaftsinteresse, auch „öffentliches Interesse“ genannt Dieses theoretische Problem führt uns in die Welt der politischen Praxis, fügt jedoch eine weitere Dimension hinzu — die Frage nämlich, wie Entscheidungen angesichts festgefügter Verhaltenskodexe und „stillschweigender Absprachen“ zwischen führenden Politikern, Bürokraten und etablierten Interessengruppen (insbesondere wirtschaftlichen Interessenvertretungen) wirksam beeinflußt werden können.

Der Begriff der „Partizipation" ist hier bisher so benutzt worden, als sei er in seiner Bedeu-tung offenkundig. Es ist jedoch klar, daß dieses Wort eine ganze Reihe von Aktivitäten abdeckt. Und wenn wir vom Aufkommen partizipatorischer Theorien, Aktionen und Erwartungen seit den frühen sechziger Jahren sprechen, so bezieht sich das nicht nur auf ein Mehr an Partizipation, sondern auch auf mehr Formen von Partizipation. Den zunehmenden Bürgerinitiativen, Bewegungen und Gruppierungen politisch Andersdenkender in der Bundesrepublik und den Änderungen der Parteiverfassungen und neuen Wegen der Beteiligung des Bürgers an den politischen Entscheidungen in den USA kann das hinzugefügt werden, was ein Wissenschaftler als „aggressive politische Partizipation“ bezeichnet hat: „Das Feld kollektiverpolitischer Partizipation ist viel weiter als... Politik im allgemeinen, als . gewöhnliche'politische Partizipation. Es umfaßt viele Formen außergewöhnlichen oder unkonventionellen Verhaltens: Teilnahme an illegalen Streiks, Besetzen öffentli- eher Gebäude, Straßenschlachten mit der Polizei oder anderen Demonstranten, Zusammengehen mit einer Gruppe, die die Regierung mit gewaltsamen Mitteln aus dem Sattel heben will."

Die Kehrseite der Medaille ist sozusagen eine Partizipation, die so sehr mit Initiativen der Regierung verbunden ist, daß sie Unterstützung aus den Reihen der etablierten Institutionen und der Vertreter des öffentlichen Lebens mobilisieren kann. So wurde beispielsweise in den Vereinigten Staaten zusammen mit dem Wohnungsbaugesetz von 1954 ein sogenanntes „Workable Program for Community Improvement" (effektives Aktionsprogramm für die Verbesserung des Gemeinwesens) erarbeitet, das die Position der Privatunternehmen in der Städteplanung verbesserte, mehr Abstimmung auf lokaler Ebene erforderlich machte und zu „umfassender Planung" wie zu „Partizipation der Bürger" aufrief. Unter Partizipation verstand man dabei, daß Bürger (die jedoch als Vertreter „etablierter Gruppen“ wie etwa der Zusammenschlüsse der Geschäftsleute, der Freiberufler, der Arbeiter oder der Bürgerrechtler definiert wurden) sich über städtebauliche Vorhaben „informieren“, den Planern und Behördenvertretern bei der Entwicklung von Programmzielen „helfen“, Methoden zur Verwirklichung von Zielen „lernen" und als „Mittler dienen“ konnten, um private Zuschüsse für das Bauprogramm zu erzielen. Partizipation der Bürger zielte in diesem Zusammenhang eher auf mehr Effizienz von Regierungsvorhaben als auf „breitere" Partizipation ab In der Bundesrepublik und auch in den Vereinigten Staaten attackierten die Anhänger der Partizipation genau diesen Ansatz. Bundeskanzler Willy Brandt betonte in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag am 28. Oktober 1969, daß jeder Bürger die Chance haben sollte, sich an der Reform von Staat und Gesellschaft zu beteiligen. Ziel war nicht Partizipation zugunsten etablierter Politik, sondern Partizipation für „Reformen".

Es scheint auf der Hand zu liegen, daß aufkeimende partizipatorische Theorien oftmals über die Widersprüche hinwegsahen, die so lange die „klassische" Diskussion um Partizipation geprägt hatten. Allzuoft versperrten vage Hoffnungen auf „Reform", „Demokratisierung" und ähnliche offenkundig erstrebenswerte Ziele den Blick für das schwierige Verhältnis zwischen Eigen-und Gruppeninteressen einerseits und den allgemeinen oder öffentlichen Interessen andererseits. Wir müssen nicht notwendigerweise davon überzeugt sein, daß es einen solchen Widerstreit in der Theorie gibt, auch wenn schon John Stuart Mill, einer der Wegbereiter „erzieherischer" Absichten der Partizipation, dies beschrieben hat. Mill behauptete, daß „unzureichende geistige Fähigkeiten“ zu vieler Bürger und führender Politiker und „unselige Interessen insbesondere innerhalb der Mehrheit" (in Gestalt der „Tyrannei der Mehrheit") die beiden großen Gefahren der Demokratie seien und durch ein „repräsentatives System" kontrolliert werden müßten. Man braucht nur die Reaktionen in den letzten Jahren auf die Demokratisierungsbestrebungen der sechziger und siebziger Jahre zu betrachten, um festzustellen, daß sie an den Nahtstellen zwischen angeblichem Eigeninteresse und Allgemeininteresse anzusetzen versuchen. Das Ziel dieser Reaktion ist nicht einfach eine Führung durch Eliten, sondern ebenfalls die Mobilisierung von partizipatorischen Kräften für diesen Zweck. Symptomatisch hierfür war die Gründung der einflußreichen amerikanischen Zeitschrift The Public Interest durch „enttäuschte“ amerikanische Liberale (Progressive). Hauptgrund für die Entstehung dieses Blattes war, daß Gruppeninteressen und Antagonismen das Verständnis von „öffentlichem Interesse" unter den Befürwortern von mehr Partizipation unterminierten.

Die Schwäche partizipatorischer Theorien und Aktionen lag vor allem daran, daß man innerhalb der Bewegungen, die in den sechziger und siebziger Jahren mehr Demokratisierung und Partizipation forderten, „Befreiung", „Selbstverwirklichung" und hohe Erwartungen von mehr Partizipation für ein besseres Gemeinwesen stark miteinander verknüpfte. Vermutlich hat man unterschätzt, wie schwierig es ist, den Übergang von Eigeninteresse zu öffentlichem Interesse zu vollziehen. Unter anderem wurde Rousseau häufig mißverstanden. Zu oft hat man angenommen, daß der Begriff des „Bürgers" lediglich das „demokratische" Gegenstück zu allen „elitären" Theorien und Bekenntnissen sei. Rousseau äußerte in der Tat viele Zweifel daran, daß es möglich sei, Eigennutz mit Gemeinwohl in Einklang zu bringen, zumindest was das politische und soziale Leben angeht. Die Entwicklung vom „Naturmenschen" zum Staatsbürger erforderte außerordentliche „Tugenden", außerordentlichen „Verzicht" auf private Wünsche, außerordentliche „Lasten". Nicht der Widerstand gegen festgefügtes „Gesetz und Ordnung" macht den Staatsbürger, sondern seine Identifikation damit, seine Liebe zu den feststehenden Gesetzen und zum Land. An die Stelle des in Rousseaus Schriften beschriebenen „Individualismus" des „einsamen Wanderers" müßte nicht nur strikte Beachtung der Gesetze, sondern auch „Liebe zu ihnen" treten Wie eingangs erwähnt wurde, haben bereits andere Autoren vor ihm diese „Last“ der Partizipation beschrieben.

Der Widerstreit zwischen Eigeninteresse und öffentlichem Interesse würde zweifellos ausgemerzt, wenn Individuen oder Gruppen sich das öffentliche Interesse zu eigen machen würden. Zweifellos ist dies „die Wurzel aller Dinge“ beispielsweise für viele „Grüne“ und vor allem auch für die viel breiter angelegten und dennoch schwerer faßbaren „Friedensbewegungen“. Das persönliche Interesse, die Gesellschaft zu verändern, um die „Menschheit zu retten" vor ökologischem oder atomarem Selbstmord, scheint eine Brücke zu schlagen zwischen dem Eigeninteresse und dem allgemeinen oder öffentlichen Interesse. Das Handeln des einzelnen geht so über die reine Vertretung von „Interessen" hinaus und erhält missionarischen Charakter im Einsatz für. die höchsten vorstellbaren „gemeinsamen" Güter. Wer möchte bestreiten, daß es das höchste und uneigennützigste Ziel von allen ist, die Menschheit buchstäblich vor dem Untergang zu bewahren? Mit diesem Ziel setzt sich die Idee der Partizipation weit über das hinaus, was bislang als bloßer Versuch der Einflußnähme auf die Regierung gewertet werden konnte.

Geht man, wie viele Befürworter von mehr Partizipation, davon aus, daß die moderne repräsentative Demokratie „zu elitär" und dem Einfluß durch den Bürger zu sehr entrückt sei, dann steckt hinter der Entwicklung solcher Perspektiven eine Logik. Man setzte voraus, daß „mehr Partizipation“ „mehr Demokratie“ bedeute und zog daraus den Schluß, daß „mehr Demokratie" für das Gemeinwesen und die an ihm teilnehmenden Individuen gleichermaßen „gut" sein würde. Fragen wie „Partizipation wozu?“, „Partizipation um welcher Ziele willen?" (einmal abgesehen von „Selbstverwirklichung") ließ man außer acht. Verfahrensfragen kennzeichneten die Forderungen nach Partizipation insofern, als sie nicht mit bestimmten Anliegen, vor allem auf lokaler Ebene, verbunden waren. Man muß zugeben, daß durch Partizipation auf regionaler Ebene am meisten erreicht wurde, wohingegen mehr Partizipation auf nationaler Ebene weniger „erfolgreich“ war, d. h. Entscheidungen kaum beeinflußt und wenig dazu beigetragen hat, den Unterschied zwischen öffentlichem Interesse und dem Interesse des einzelnen herauszuarbeiten. Dies liegt wahrscheinlich daran, daß auf lokaler Ebene der Zusammenhang zwischen Partizipation und den Zielen von Kommunalpolitik offenkundiger ist. Gegen Umweltverschmutzer „von außen" zu kämpfen, kann eine Gemeinde für ihre gemeinsamen Interessen mobilisieren. Dagegen sind Ziele auf nationaler Ebene weniger einleuchtend und unterliegen zu vielen verschiedenen Einflüssen. Dieses Beispiel beschreibt vielleicht nur mit anderen Worten das Problem zwischen kleinen und großen Staatsgebilden, das schon die alten Griechen erkannt hatten.

Die Diskussion über „globale" und „alle Menschen angehenden" Themen wie Umweltverschmutzung und Atomwaffen macht jedoch deutlich, daß sich Partizipation auch auf nationaler Ebene mit ganz konkreten Zielen befaßt. Der enge Zusammenhang zwischen Partizipation und öffentlichem Interesse auf der unteren politischen Ebene mag vielleicht schon allein deswegen auf eine globale politische Ebene übertragbar sein, weil auf den Menschen heute so ungleich viele wichtige Probleme einstürzen und wir vor einer Krise bisher nie dagewesenen Ausmaßes stehen. Darüber hinaus mag es so aussehen, als ob den Forderungen nach Umweltschutz und Frieden nur die „illegitimen" Interessen der Militärs, der Umweltverschmutzer und anderer, unschwer auszumachender Gruppen im Wege ständen. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Politik weniger mühsam, als wenn die Forderungen unterschiedlicher und widerstreitender „legitimer" Interessen der einen oder anderen Prägung eingeordnet und in öffentliches Interesse und Politik eingebaut werden müssen

Man mag der Auffassung sein, daß partizipatorische Anstrengungen zugunsten solcher globaler Ziele die Kluft zwischen Eigennutz und öffentlichem Interesse überbrücken, muß allerdings auch zugeben, daß die Befürworter von mehr Partizipation sich damit neuen Dimensionen zuwenden, die über „Aufklärung" und „Befreiung", was man gemeinhin mit Demokratisierung und Freiheit verbindet, hinausgehen. Konzentriert man sich auf Gemeinschaftsziele und öffentliches Interesse, so bedeutet dies auch, daß „konservative" Kräfte ein Wörtchen mitzureden haben. Sind es denn nicht gerade die „Konservativen", die für sich in Anspruch nehmen, für das „Gemeinwohl", also für das zu sprechen, was die Gemeinschaft braucht, und zwar vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit und Gegenwart Sagen nicht gerade sie, daß es des Bürgers erste Pflicht sei, sich auf nationaler und lokaler Ebene für Sitte und Moral einzusetzen? Könnten nicht auch Konservative für „mehr Partizipation" zugunsten von „Patriotismus" oder Werten wie „Familie", „harte Arbeit", „gesellschaftliche Disziplin" usw.sein?

Nach „konservativem" Verständnis betont Partizipation einen vermeintlichen Konsens, durch den Partizipation überhaupt erst Bedeutung erlangt. Konservative behaupten, daß der Mensch von heute gerade wegen der „in die Krise geratenen traditionellen Werte" verwirrt ist, und daß eine gesunde Mischung zwischen Führung und Partizipation nur möglich wird, wenn man das „Gefühl für Ziele" wieder stärkt Wie immer man darüber denken mag, es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Partizipationstheorien der „Linken" für sich alleine in Anspruch nehmen dürfen, Partizipation des einzelnen mobilisieren zu können. „Linke“ und „Rechte“ mögen unterschiedlicher Auffassung über die richtige Art und über die Ziele von Partizipation sein, fordern können dies jedoch sowohl die „Rechte" als auch die „Linke". Vielleicht hat die „Rechte" dabei sogar gewisse Vorteile, auf die bereits eingangs in dem Zitat von Montesquieu hingewiesen wurde: Sie kann sozusagen eine bereits existierende Definition für öffentliches Interesse anbieten, und zwar die geltenden Gesetze und die vorhandenen Traditionen.

Selbstverständlich stellen diese Ausführungen nicht erschöpfend dar, welche Widersprüche und Schwierigkeiten dem Begriffs-paar Demokratie und Partizipation anhaften. Dennoch gibt es in den Vereinigten Staaten wie auch in der Bundesrepublik deutliche Hinweise darauf, daß die konservative Version von Partizipation wieder auflebt. Kritik am expansiven bzw. befreienden Konzept der Partizipation setzte, wie bereits erwähnt, damit ein, daß man sagte, Partizipation erleichtere die Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Gruppen und schmälere das „öffentliche Interesse". In der Theorie von der .demokratischen Überfrachtung“ war auch die Rede von Strafe für „mehr Partizipation“ Zumindest in den Vereinigten Staaten gibt es neuerdings wieder viele, die behaupten oder wenigstens vermuten, daß die geltende amerikanische Verfassung und ihr politisches System der angemessene Rahmen für moderne Demokratien sind, wobei dies nicht nur als überlieferte Tradition dargestellt, sondern als politische Weisheit gepriesen wird

Schließlich und endlich könnte man sagen, daß die Frage nach der Beziehung zwischen Partizipation und Demokratie gleichbedeutend mit der Frage ist, wer für die Öffentlichkeit spricht oder ob man überhaupt berechtigterweise von „Öffentlichkeit“ sprechen kann. Ist dieser Begriff empirisch überhaupt eindeutig faßbar? Mag es auch für die Sozialwissenschaftler heute schwer sein, die Frage, wie man die „Öffentlichkeit" fassen kann, zu beantworten, so zeigen doch einfache Bemerkungen, daß einige für sich in Anspruch nehmen, für „die Öffentlichkeit“ zu sprechen und daß insoweit Partizipation bereits politische „Wirklichkeit" ist Sicher ist auch, daß in früheren Zeiten viele, die sich als Wortführer für mehr Demokratie betrachteten, gleiches im Auge hatten

Politologen und Soziologen konzentrieren sich heutzutage mehr darauf, welche Instrumente es gibt, um „tragfähige Mehrheiten“ zu bilden; ihr Interesse gilt weniger Begriffen wie „Öffentlichkeit“ Vor allem beschäftigen sie sich mit der Rolle der Parteien und der Medien als Träger für Partizipation. Ein „praktischer“ Aspekt bei Diskussionen um politische Partizipation in unserer Zeit ist offensichtlich die Tatsache, daß zwischen Parteien und „anderen" ein Wettbewerb darüber entstanden ist, welche Organisationsform am besten geeignet ist, Partizipation für ein gemeinsames Ziel zustande zu bringen.

III.

Eingehende Untersuchungen über Partizipation in den Vereinigten Staaten beschreiben, wie kompliziert die Beziehung zwischen Partizipation und Einfluß auf Regierungsentscheidungen ist Es gibt keineswegs einen direkten Zusammenhang zwischen mehr Partizipation und mehr Einflußnahme des Bürgers auf die Entscheidungen der Politiker: „Unsere Erhebungen beweisen, daß beide Formen der Kontrolle durch den Bürger, nämlich der Einfluß über die Beteiligung an Wahlen und das Vermitteln von Informationen außerhalb von Wahlkampfaktivitäten, in gleicher Weise Reaktionen auf Seiten der Regierenden auslösen. ... Jedoch bestehen zumindest in Gemeinden, in denen die Bürger sich über das, was die Regierung tun sollte, weniger einig sind, erhebliche Unterschiede zwischen der Einflußnahme durch Wahlverhalten einerseits und durch andere Formen von Partizipation andererseits. Je stärker in solchen Gemeinden Bürger ihre Vorstellungen anders als durch Wahlstimmen geltend machen, desto geringer ist die Reaktion der regierenden Politiker darauf." So machen Verba und Nie in ihren Untersuchungen deutlich, daß mehr Partizipation ausgerechnet dann gefordert wird, wenn kleinere Gemeinden, die politi-sehe Arbeit durch den in ihnen herrschenden Konsens fördern können, durch das politische Umfeld der Großstädte, Großgemeinden und gesamtstaatliche Belange ins Abseits gedrängt werden. „So kommt es, daß der Kreis der wirklich partizipierenden Bevölkerung gerade dann größer geworden ist, wenn echte Partizipation erst recht schwerer wird. ”

Damit ist das Thema natürlich noch nicht erschöpft. Besondere Fallstudien zeigen, wie Partizipation jenseits von Wahlen sich vor allem auf lokaler Ebene auf die Entscheidungen der Politiker auswirken kann. Doch lassen sich keine Rückschlüsse auf massiven Einfluß durch Partizipation ziehen, weder im Hinblick auf Partizipation durch Wahlen, noch im Zusammenhang mit anderen Formen von Partizipation (wobei hier in beiden Fällen sowohl der Einfluß auf Entscheidungen der Politiker als auch der Lernprozeß des einzelnen Bürgers untersucht wurde) Jeder Einzelfall muß gesondert betrachtet werden.

Diese Betrachtung führt uns zumindest zu zwei weiteren Fragen bzw. Themen: Welche Rolle spielen die politischen Parteien als Träger der Mitbestimmung durch Partizipation und wie wirksam bzw. unwirksam ist der Einfluß von Partizipation auf die Institutionen, die Entscheidungen auf nationaler Ebene treffen, wie z. B. Ministerien, sonstige Behörden und gesetzgebende Körperschaften?

An dieser Stelle kann nicht im einzelnen auf diese Fragen eingegangen werden. Gerade zum Thema „Politische Parteien“ gibt es eine ungeheure Menge an Literatur; die Überlegungen zum Thema „Zukunft der Parteienregierungen“ — um eine laufende Studie des European Consortium for Political Research zu zitieren — häufen sich. In den Vereinigten Staaten verzeichnen wir anscheinend einen Verfall der Parteien, mit denen sich immer weniger Bürger identifizieren können. Mangelnde Partizipation an Belangen der Parteien wird immer deutlicher und geht aus von ohnehin schon schwacher Partizipation auf gesamtstaatlicher Ebene. In der Bundesrepublik scheint die Situation ähnlich zu sein, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt. Der Unterschied zu den Vereinigten Staaten besteht in der zentraleren Rolle, die die Parteien für das bundesrepublikanische Regierungssystem haben. Auf der anderen Seite hat die „Anti-Parteien-Ideologie" in der Bundesrepublik schon länger stärker Fuß gefaßt als in den Vereinigten Staaten. In der Bundesrepublik scheinen die Mitgliedszahlen der Parteien und die Rolle der auf Parteipolitik (im Unterschied zu „praktischer Politik") hin Orientierten rückläufig zu sein. Das heißt, die Mitarbeit in Parteien als Träger von Partizipation läßt anscheinend nach. In den Vereinigten Staaten bemüht man sich gegenwärtig darum, wenigstens einige der Anfang der siebziger Jahre durchgeführten „Parteienreformen" wieder rückgängig zu machen; die Reformen hatten seinerzeit dazu geführt, daß mehr Einzelpersonen und Gruppen Parteiämter übernahmen, während zugleich die Loyalität innerhalb der Parteien schwächer wurde — ein durchaus interessantes Thema.

Ein weiteres Thema, das zur Diskussion einlädt, ist die „Medienpolitik" bzw. die „Partizipation" der Bürger am politischen Leben durch die moderne Bildberichterstattung. Fernsehberichterstattung als Sofortinformation mit dem Anspruch, umfassend zu sein, gibt sich den Anschein, als könne sie demokratische Prozesse augenfällig machen. Die moderne Bildberichterstattung unterliegt jedoch einer Vielfalt von Einflüssen; es ist daher keineswegs sicher, daß diese Medien mehr demokratische Partizipation fördern.

Man muß danach fragen, inwieweit die Medien „Ereignisse" selbst produzieren, anstatt über sie zu berichten, inwieweit das Fernsehen politische Ereignisse mitgestaltet dadurch, daß es Gelegenheiten zu politischer Stellungnahme, zu Demonstrationen oder „gestellten" Auseinandersetzungen, beispielsweise die sogenannten „Medienereignisse" schafft. Neben all diesen Fragen müßte man auch das Verhältnis zwischen Berichterstattung und politischen Strukturen untersuchen. Vor allem der Einfluß moderner Massenmedien auf Parteienstrukturen wäre ein wichtiges Gebiet für all die, die sich mit Partizipation befassen. Diese Medien sorgen für einen gewissen freien Fluß an Information in der Gesellschaft und ermöglichen es Kandidaten und Offiziellen, ihre „Botschaften" direkt an bestimmte Bevölkerungsgruppen zu richten Mit dem Ausbau des Kabelfernsehens und anderer neuer Technologien in der Kommunikation werden es die Kandidaten und Offiziellen noch leichter haben, sich an spezielle Zielgruppen und besondere Bevölkerungsteile zu wenden. Solche Entwicklungen machen die Rolle der politischen Parteien als Träger und „Vermittler“ von Informationen zunehmend überflüssig — gleichzeitig tragen sie jedoch anscheinend dazu bei, daß die poli-tische Gemeinschaft immer mehr zersplittert wird. Die Verbindung zwischen Partizipation des Bürgers und politischer Führung der Gemeinschaft steht nicht nur in Frage, sondern kann dadurch eher noch geschwächt als gestärkt werden.

Schließlich muß man noch untersuchen, wie stark partizipatorische Gruppen mit „postmaterialistischen“ oder „globalen“ Zielen auf politische Zielsetzungen einwirken, d. h. wie stark sich das Fehlen spezieller organisierter Interessengruppen aus den traditionellen Bereichen der „Selbständigen“, . Arbeiter“, „Bauern“ usw. bemerkbar macht. Es gibt Anzeichen dafür, daß solche „Bürgerinitiativen“ auf lokaler Ebene (wie bereits erwähnt) einigen Erfolg hatten, sich jedoch auf nationaler Ebene vor allem in der Bundesrepublik schwer durchsetzen konnten. In Deutschland haben sie relativ ungeschickt versucht, ihre Vorstellungen gegenüber dem Regierungsapparat mit einem Höchstmaß an Wirksamkeit darzustellen. Darüber hinaus waren die Bürokraten des europäischen Festlandes nie sonderlich empfänglich für Interessengruppen, die nicht in das Regierungssystem „integriert“ sind. Die amerikanischen Behörden haben sich da beeinflußbarer gezeigt und den „neuen“ Interessengruppen (wie beispielsweise den Umwelt-schützern) mehr Einfluß auf nationaler Ebene zugestanden. Es erscheint jedoch möglich, daß einige Umweltschutzgruppen in der Bundesrepublik auf nationaler Ebene mehr erreichen können, wenn sie von ihren breit angelegten Zielen abrücken und sich eher darauf beschränken, fachlich qualifiziert Einfluß auf nationale Entscheidungen vor allem bei den Ministerien zu nehmen, die hier die Richtlinien der Politik bestimmen

Vermutlich sind solche Überlegungen ein Grund für die Spannungen zwischen den so-genannten „Pragmatikern" und „Idealisten" unter den GRÜNEN.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. P. Bachrach, The Theory of Democratic Elitism, Boston 1967; J. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, New York 1954, und viele andere Werke.

  2. Eine der ersten Studien stammt von W. Lippmann, Public Opinion, New York 1922; das Thema der „Bilder in den Köpfen der Bürger" wurde seitdem ausführlich diskutiert und ist eines der zentralen Themen der Meinungsforschung.

  3. Auch zum Thema „Postmaterialismus" gibt es umfangreiche Literatur. Vgl. R. Inglehart, The Silent Revolution, Princeton 1977, K. L. Baker et al, Germany Transformed: Political Culture and the New Politics, Cambridge (Mass.) 1981, und LsBarnes/M. Kaase et al, Political Action, Beverly Hills 1979, letzteres ist das erste Werk mit einer Vergleichenden Querschnittsstudie.

  4. Eines der Hauptwerke: J. M. Burns, The Deadlock of Democracy, Englewood Cliffs (Cal.) 1963. Vgl. auch D. J. Devine, The Political Culture of the United States, Boston 1972.

  5. Vgl. C. W. Mills, The Power Elite, New York 1956, und ders., The Causes of World War III, New York 1958. Das erste Werk hatte zweifellos den größten Einfluß auf das Gedankengut der „Studentenbewegung" der Vereinigten Staaten in den sechziger Jahren und auf die Entwicklung eines „liberalen Radikalismus“ unter einigen amerikanischen Intellektuellen. Mills verstand es, popalistische Rhetorik einer früheren amerikanischen „Basisbewegung“ mit halbmarxistischer Rhetorik und einer moralischen Entrüstung mit teils „konservativem“ Unterton zu verbinden. Vor allem vereinte dieses Buch „Kulturkritik“ mit einer Kritik an den politischen Institutionen.

  6. In Ergänzung zu J. M. Burns (Anm. 4) vgl. die jüngste Studie, in der einige frühere Veröffentlichungen über Parteien und das amerikanische System zusammengefaßt werden: R. Goldwin (Ed.), Political Parties in the Eighties, Washington 1980.

  7. The Port Huron Statement of the Students for a Democratic Society," in: R. Goldwin (Ed.), How Democratic is America?, Chicago 1971. Dies wurde als erste offizielle Erklärung der „Students for a Democratic Society" (SDS) auf einer Versammlung in Port Huron, Michigan, vom 11. bis 15. Juni 1961 aufgenommen.

  8. Hanna F. Pitkin (Ed.), Representation, New York

  9. Zu letzterem gibt es immer mehr Literatur; vgl. S. Verba/N. H. Nie, Participation in America: Political Democraty and Social Equality, New York 1972; S. Barnes/M. Kaase et al. (Anm. 3).

  10. J. Schumpeter (Anm. 1). Er unterstrich Wettbewerb um Wahlstimmen als wichtigste Form von Partizipation.

  11. E. N. Muller, Agressive Political Participation, Princeton (NJ.) 1979, S. 5.

  12. Vgl. M. P. Smith/H. Borghorst, Toward a Theory of Citizenship Participation in Urban Renewal in Two Federal Systems (Pater, IPSA-International Political Science Association), Edinburgh 1976.

  13. Vgl. D. F. Thompson, Political Participation, Princeton (NJ.) 1977, S. 40.

  14. J. J. Rousseau, Letter to d'Alembert on the Theater (1758), zitiert nach der Ausgabe von A Bloom, thaca, New York 1973, S. 66— 67 (Abschnitt VH).

  15. Wichtig für die Auseinandersetzung mit dem Thema „kleine" vs. „große" Staatsgebilde als Rahmen für „volkstümliche Regierungen" ist die von James Madison, Alexander Hamilton und John Jay geführte Diskussion in ihrem Kommentar zur Amerikanischen Verfassung von 1787: The Föderalist Papers. Madison gibt der „Großen Republik“ den Vorzug und verbindet damit Beschränkungen für die Partizipation auf nationaler Ebene. Mit anderen Worten könnte man dazu auch sagen, daß die Möglichkeit zur Erweiterung „volkstümlicher Regierungen" (in der Sprache des 18. Jahrhunderts das, was wir heute als Demokratien bezeichnen würden) in direktem Zusammenhang mit der „Unklarheit" und sogar Inkohärenz der politischen Führung auf nationaler Ebene steht Anders ausgedrückt, man erwartete von der nationalen oder zentralen Regierung nicht, daß sie allzuviel tat. Man könnte auch sagen, daß dies ein im eigentlichen Sinne „liberales" Konzept war.

  16. Klassisch ist die Erklärung von Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France und andere Schriften. Die britische Verfassung (Regime) hat, so heißt es, „vor undenklichen Zeiten" bestanden und Fähigkeiten hervorgebracht, in denen sich wisdom without reflection, and above it, d. h. „Weisheit ohne Überlegung und jenseits davon" verbarg.

  17. Zentrales Werk ist M. Crozier/S. P. Huntington/Watanuki, The Crisis of Democracy, New York . 5, basierend auf Berichten für die „Dreierkommission", die politische Themen der Industrieländer am Rande des Nordatlantik und des Pazifik untersuchte.

  18. "Project 87“ und ähnliche Programme enthalten von der Regierung finanzierte Bürgschaften für die Feiern zum zweihundertsten Jahrestag der ameriManischen Verfassung.

  19. Gleichzeitig mit dem einflußreichen Buch von C. W. Mills (Anm. 5) erschien von W. Lippmann, The Public Philosophy, ein ebenfalls wichtiges, jedoch nicht die Bedeutung des vorhergehenden erreichendes Werk. Es beschäftigt sich vor allem mit Fragen der Exekutive und Begriffen wie „öffentliche Philosophie”, d. h. einer Reihe von „Gemeingütern” oder „öffentlichen Interessen". Obgleich sie von unterschiedlichen „rechten" bzw. „linken“ Positionen her argumentierten, gab es zwischen Mills und Lippmann in einigen Punkten merkwürdigerweise Übereinstimmungen. Laut Mills war im heutigen Amerika der „demokratische Begriff von Öffentlichkeit“ durch „Massen" ersetzt worden, die von „Eliten“ manipuliert werden, von „Eliten“ jedoch, die unterschiedliche „Machtinteressen“ vertraten. Mills war nicht ausdrücklich gegen den Begriff der „guten Eliten", die sich für das „öffentliche“ Interesse einsetzen.

  20. Wichtigstes Beispiel in den Vereinigten Staaten war John Dewey. Vgl. vor allem sein Werk: The Public and its Problems, Denver-— New York 1927, ein Versuch, einen „älteren Liberalismus" im Sinne gemeinsamer Verantwortung für gemeinsame Regierungsarbeit „neu zu definieren". Deweys Konzeption einer offenen Bildung steht in direktem Zusammenhang mit seinem Verständnis von „Öffentlichkeit".

  21. Dies ist charakteristisch für Arbeiten wie die von S. Verba und N. H. Nie (Anm. 9) wie auch für die Hauptströmungen in der politischen Wissenschaft insgesamt.

  22. S. Verba/N. H. Nie (Anm. 9), S. 341.

  23. Ebd., S. 342— 343.

  24. Vgl. J. T. Pedersen, On the Educational Function of Political Participation: A Comparative Analysis of John Stuart Mills Theory and Contemporary Survey Research Findings, in: Political Studies, 30 (1982) 4, S. 557— 568.

  25. Ein Beispiel dafür war kurz nach der Internationalen Konferenz in Augsburg vom Februar 1984 der unerwartete Wahlsieg des US-Senators Gary Hart (über den früheren Vizepräsidenten Walter Mondale) bei den Vorwahlen in New-Hampshire. Betrachtet man das Wahlverhalten in diesem kleinen Bundesstaat, so wird deutlich, daß der Sieg von Senator Hart vor allem auf ein „Anti-ParteienEstablishment“ zurückgeht, mit dem insbesondere die „unabhängigen" Wähler angesprochen werden, die sich am 28. Februar 1984, dem Tag der Vorwahlen, als Mitglieder bei dem Demokraten einschrieben. Man schätzt, daß 40 Prozent der Stimmen für Gary Hart von diesen unabhängigen Wählern stammten, denen es die Wahlgesetze ermöglichen, einer Partei durch eine einfache Erklärung beizutreten, kurz bevor sie ihre Stimme für die Kandidaten der Vorwahlen dieser Partei abgeben. Auf der anderen Seite war Mondale der Favorit von „ordentlichen" Parteimitgliedern. Darüber hinaus stand die Entscheidung so vieler Unabhängiger, Senator Hart zu unterstützen, zweifellos im Zusammenhang mit seinem relativ starken Auftreten bei Wahlveranstaltungen in der Woche davor im Bundesstaat Iowa.

  26. Vgl. dazu z. B. A. Cigler/B. A Loomis, Interest Group Politics, Washington 1983; S. Berger, Organizing Interests in Western Europe, New York 1981; J. Hayward, Institutional Inertia and Political Impetus in France and Britain, in: European Journal of Political Research, 4 (1976), S. 341— 359, und eine in Kürze erscheinende Studie von C. Watkins, ein Vergleich zwischen Gesetzen zur Reinerhaltung der Luft und ihrer Anwendung in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik (noch unveröffentlichte Dissertation (PH. D.), Universität von North Carolina, Chapel Hill [NC) j.

Weitere Inhalte

George K. Romoser, Dr. rer. pol., geb. 1929; Professor für Politische Wissenschaft an der University of New Hampshire (USA); zuvor Lehrverpflichtungen an der Ohio State University, der Indiana University, dem Connecticut College, dem Bologna Center der John Hopkins University, Bologna (Italien), der Universität Mainz, dem Geschwister-Scholl-Institut München sowie der Universität Mannheim; seit 1968 Vorsitzender der amerikanischen „Conference Group on German Politics“. Veröffentlichungen u. a.: Change in West German Politics After Erhards Fall, in: W. G. Andrews (Ed.), European Politics: The Dynamics of Change, New York 1969; Politische Opposition zwischen Konsens und Instabilität, in: H. Oberreuter (Hrsg.), Parlamentarische Opposition, Hamburg 1974; zus. mit H. G. P. Wallach, West German Politics in the Mid-Eighties-Crisis and Continuity (erscheint demnächst).