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Staat und Kirchen in der DDR | APuZ 2/1985 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 2/1985 Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland Die Katholische Kirche im Spannungsfeld von Gesellschaft und Politik Staat und Kirchen in der DDR

Staat und Kirchen in der DDR

Reinhard Henkys

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Kirchen in der DDR, vor allem die Evangelische Kirche, ziehen immer wieder publizistische und politische Aufmerksamkeit auch außerhalb der Grenzen ihres Landes auf sich. Obgleich die Zahl ihrer Mitglieder inzwischen auf unter 40 Prozent der Bevölkerung gesunken sein dürfte, betrachtet auch die SED sie als eine gesellschaftlich relevante Kraft. Seit ihrer organisatorischen Verselbständigung gegenüber der bis dahin gesamtdeutschen Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1969 hat sich das Verhältnis zwischen Staat und evangelischer Kirche in der DDR von der Konfrontation weg zu einet von beiden Seiten gewollten Kooperation auf Teilgebieten gewandelt, ohne daß die aus dem Antagonismus zwischen atheistischer Ideologie und marxistischem Glauben resultierende Konfliktlage aufgelöst worden ist. Die von der SED gleichzeitig tolerierte und behinderte eigenständige Wirksamkeit der Kirche im gesellschaftlichen Felde hat sie zum programmatischen Zentrum für solche Gruppen und Aktivitäten werden lassen, die in der westlichen Publizistik als „unabhängige Friedensbewegung der DDR" bezeichnet worden sind.

In allen Perioden der bisherigen DDR-Geschichte hat die Partei-und Staatsführung den Kirchen im Lande hohe Aufmerksamkeit gewidmet. In diesen 36 Jahren ist die Säkularisierung voll zum Zuge gekommen. 1949 war in der Deutschen’ Demokratischen Republik ebenso wie in der Bundesrepublik, fast jeder Bürger zugleich auch Kirchenmitglied. Heute wird man höchstens noch bei vier von zehn Landesbewohnern religiöse Bindungen annehmen können. Dennoch scheint der Stellenwert der Kirchenpolitik nicht gesunken, wenn Inhalt und Zielrichtung sich auch erheblich gewandelt haben. Ja, die SED Erich Honeckers räumt den zur Minderheit gewordenen, im Bewußtsein großer Teile der Bevölkerung nicht mehr verankerten Kirchen in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft Rechte zur Mitgestaltung ein, die der Mehrheitskirche in der Periode des Aufbaus des Sozialismus der fünfziger Jahre nachdrücklich bestritten wurden.

Religionszugehörigkeit

Die Entwicklung der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung im Gebiet der DDR ist nur bis 1964 in Volkszählungen erfaßt worden. 1946 waren noch etwa 95 Prozent Mitglieder einer Religionsgemeinschaft (davon 82 % ev. und 12 % röm. -kath.), 1950 rd. 94 Prozent und 1964 waren es nur noch knapp 68 Prozent (59 % ev., 8 % röm. -kath.). In den siebziger Jahren dürfte die Religionszugehörigkeit die 50-Prozent-Grenze unterschritten haben. Heute liegt sie nach Einschätzung kirchlicher Kenner wahrscheinlich unter 40 Prozent. Offiziell allerdings haben die Kirchen die von ihnen genannten Zahlen seit Jahren nicht mehr nach unten korrigiert.

Nach diesen statistisch nicht abgesicherten Schätzungen haben die im Kirchenbund zusammengeschlossenen acht evangelischen Landeskirchen zusammen 7, 8 Millionen, die römisch-katholischen Jurisdiktionsbezirke 1, 2 Millionen Mitglieder. Hinzu kommen die (evangelischen) Freikirchen mit etwa 115 000, bei einer Wohnbevölkerung von 16, 7 Millionen. Der Anteil der Sekten mit wahrscheinlich 150 000, der Angehörigen der jüdischen Gemeinden (rd. 600) und der Anhänger anderer nichtchristlicher Religionen (islamische Gastarbeiter und Studenten) ist unbeachtlich.

Bei dem allgemeinen Rückgang blieb die dominierende Stellung der evangelischen Landeskirchen im seit der Reformation fast durchweg protestantisch geprägten Gebiet der heutigen DDR erhalten, auch wenn die katholische Kirche durch den Flüchtlings-und Umsiedlerstrom aus dem Osten zunächst relativ zunahm und bald im Gesamtgebiet der DDR mit eigenen Gemeinden vertreten war. Hauptsächliches geschlossenes katholisches Siedlungsgebiet ist das thüringische Eichsfeld. Die in „doppelter Diaspora" lebenden katholischen Gemeinden erweisen sich, ebenso wie die Freikirchen, gegenüber der staatlich forcierten Säkularisierung als relativ resistenter als die Gemeinden der evangelischen Landeskirchen. Christen sind in der politischen Führungsschicht der DDR seit deren Umwandlung aus einem antifaschistisch-demokratischen Staat (Verfassung 1949) in einen sozialistischen Staat (Verfassung 1968/74) nicht mehr vertreten. Ihre Repräsentanz durch die CDU in Staatsorganen und Volksvertretungen hat nur noch marginale Bedeutung. Die SED, deren Weisungen sich alle Parteien und gesellschaftlichen Organisationen mit Ausnahme der Kirchen unterstellen, nimmt keine Kir-25 chenmitglieder auf. Berufe und Positionen, für die die Fähigkeit zur SED-Mitgliedschaft Voraussetzung ist (Polizei, Berufssoldaten, Leitungspositionen), sind Christen damit verschlossen. Auch die kulturell tragenden Schichten sind inzwischen weitgehend entchristlicht. Als Folge der Überalterung der christlichen Gemeinden (die Taufziffer liegt seit langem unter 20, in Großstädten unter 10 Prozent der Geburten) bilden Christen auch in der bäuerlichen Bevölkerung, bei selbständigen Handwerkern und Gewerbetreibenden und in der technisch-wirtschaftlichen Intelligenz nur noch eine Minderheit.

Seit den siebziger Jahren zeigt sich jedoch zunehmend unter nicht getauften und nicht religiös aufgewachsenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein neues Interesse an der Kirche bzw. an kirchlich getragener Aktivität (Jugendarbeit, Friedens-und Umwelt-gruppen) und Gemeinschaft. Im kirchlichen Unterricht (Christenlehre, Konfirmandenunterricht) und in den Jungen Gemeinden nimmt die Zahl der teilnehmenden Nichtchristen zu. Zuweilen sind sie in der Mehrzahl. Zur Taufe entschließt sich jedoch nur eine Minderheit von ihnen. Vor allem im evangelischen Bereich mehren sich die Stimmen, die die Taufe als rechtliches Kriterium der Kirchenmitgliedschaft in Frage stellen. Auch das ist — nebem dem Verbot statistischer Erhebungen — ein Grund dafür, daß die Angaben über die Mitgliederzahlen der Kirchen stark schwanken.

Kirchen

Eine gesetzliche Registrierungspflicht für Kirchen und Religionsgemeinschaften besteht nicht. Ihre Gesamtzahl wurde staatliche•rseits früher mit 27, in jüngster Zeit mit 39 angegeben. Dabei dürften auch Gemeinschaften mit nur örtlicher Bedeutung mitgezählt sein.

Die evangelischen Landeskirchen sind seit 1969 im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR zusammengeschlossen und seitdem nicht mehr Mitglieder der bis dahin den Protestantismus in beiden deutschen Staaten zusammenfassenden Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die acht sehr unterschiedlich großen Landeskirchen zählen zusammen etwa 7 200 Kirchengemeinden mit mehr als 4 000 aktiven Geistlichen und zahlreichen weiteren Mitarbeitern. Die Gesamt-mitgliederzahl wird vom Kirchenbund seit Ende der siebziger Jahre auf etwa 7, 8 Millionen geschätzt. Zum Kirchenbund gehören:

Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens (2, 35 Mill.), Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (1, 5 Mill.), Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (ohne West-Berlin, 1, 4 Mill.), Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen (1 Mill.), Evangelisch-Lutherische Kirche Mecklenburgs (750 000), Evangelische Landeskirche Greifswald (früher Pommern, 450 000), Evangelische Landeskirche Anhalts (220 000), Evangelische Kirche des Görlitzer Kirchengebiets (früher Schlesien, 125 000).

Die sächsische, thüringische und mecklenburgische Landeskirche haben sich zusätzlich zur Vereinigten Evangelischen Lutherischen Kirche (VELK) in der DDR zusammengeschlossen, die übrigen bilden den Bereich DDR der Evangelischen Kirche der Union (EKU).

Der Kirchenbund wird von der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen geleitet. Ihr Vorsitzender ist gegenwärtig der Dresdener Landesbischof Johannes Hempel.

Die römisch-katholische Kirche zählt in der DDR etwa 940 Pfarreien mit 1 300 Priestern, dazu Diakone, Seelsorge-und Diakonatshelfer sowie 2 500 vorwiegend in Einrichtungen der Caritas tätige Ordensfrauen und 120 Angehörige von Männerorden. Sie ist in sechs Jurisdiktionsbezirke gegliedert, an deren Spitze Bischöfe stehen. Größtes und einziges voll auf DDR-Gebiet liegendes Bistum ist Meißen (offizielle Angabe: 270 000 Katholiken). Das Bistum Berlin umfaßt auch das kirchlich selbständig verwaltete West-Berlin (160 000 ohne West-Berlin). Die Bischöflichen Ämter Erfurt-Meiningen (250 000), Magdeburg (240 000) und Schwerin (90 000) sind selbständig geleitete Teile westdeutscher Diözesen, die Apostolische Administratur Görlitz ist deutscher Restbestand der Erzdiözese Breslau. Leitungsgremium der römisch-katholischen Kirche in der DDR ist die Berliner Bischofskonferenz (bis 1976 Berliner Ordinarienkonferenz), der die Bischöfe und die drei Weihbischöfe angehören. Vorsitzender ist der Berliner Kardinal Meisner.

Rechtsstellung der Kirchen

Ein ausgeformtes Staats-Kirchenrecht gibt es in der DDR nicht. Artikel 39 der Verfassung von 1968 gewährt allen Bürgern das Recht, „sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen und religiöse Handlungen auszuüben", und stellt fest: „Die Kirchen und Religionsgemeinschaften ordnen ihre Angelegenheiten und üben ihre Tätigkeit aus in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der DDR. Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden." Artikel 20 sichert Glaubens-und Gewissenfreiheit zu. Mit dieser Bestimmung ist der staatliche Verzicht darauf verbunden, materielles Recht für die Kirchen zu setzen. Wo staatliche Gesetze religionsspezifische Bestimmungen enthalten, regeln sie Recht und Grenzen der Religionsausübung der Bürger (z. B. im Strafvollzug). Strafprozeßordnung und Arbeitsgesetzbuch berücksichtigen Besonderheiten kirchlicher Tätigkeit (Zeugnisverweigerungsrecht für Geistliche, kirchliches Arbeitsrecht für Mitarbeiter im Verkündigungsdienst). Die Kirchen, ihre Gemeinden und rechtlich selbständigen Institutionen sind nach Abschaffung der Körperschaften öffentlichen Rechts Rechtspersonen eigener Art, unterliegen also nicht dem Privat-oder Ver-einsrecht. Von der Möglichkeit der Vereinbarungen wurde zur Regelung kirchlicher Ausbildung in Diakonie und Caritas für medizinisches Personal Gebrauch gemacht.

1957 schuf die Regierung das Amt eines Staatssekretärs für Kirchenfragen, der mit seiner Behörde dem Vorsitzenden des Ministerrates zugeordnet ist (und gleichzeitig der Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK der SED untersteht). Auf Bezirks-, Kreis-und Gemeindeebene nehmen die für Inneres zuständigen Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte vergleichbare Aufgaben wahr. Der Staatssekretär hat keine Exekutivbefugnisse. Er vertritt die Politik von Partei und Regierung gegenüber den Kirchen. Seine Haupteinflußmöglichkeit besteht darin, daß sämtliche Kontakte der Kirchen zu Regierungsstellen über den Staatssekretär bzw.seine Behörde laufen müssen. In den siebziger Jahren ist es dazu gekommen, daß der Staatssekretär in gewissen Grenzen auch Wünsche der Kirchen gegenüber Regierungsstellen vertritt und auch Gespräche vermittelt. Jedoch blieben die Bemühungen des evangelischen Kirchenbundes, mit den Ministerien für Volksbildung und Verteidigung zur Regelung von Konflikten ins Gespräch zu kommen, ohne Erfolg.

Konstanten der Kirchenpolitik der SED

Zu keiner Zeit war das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR spannungsfrei. Insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten standen Konfrontation und Auseinandersetzung im Vordergrund. Die Religions-und Kir-chenpolitik der SED hat sich jedoch auch in den Zeiten schärfster Konflikte nicht so sehr vom ideologischen Ziel der Durchsetzung des Atheismus leiten lassen, sondern orientierte sich in der Hauptsache am Ziel des Machtge27 winns und der Machtsicherung für die Partei sowie der Konsolidierung des sozialistischen Staates und seiner Gesellschaftsform. Kirchenpolitik und Deutschlandpolitik der DDR hängen bis heute eng zusammen.

In der DDR hat es bisher keinen ernsthaften Versuch gegeben, die Autonomie der Kirchen zu beseitigen. Während alle anderen gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen durch die SED Zug um Zug dem Führungsprinzip des „Demokratischen Zentralismus" unterworfen wurden, blieben die Kirchen eigenständig. Sie entscheiden autonom über den Inhalt ihrer Tätigkeit, ihre inneren Rechtsverhältnisse, ihre Organisation und die für sie tätigen Personen, die sie nach innen leiten und nach außen repräsentieren. Sie unterhalten eigene Ausbildungsstätten ohne Staatsaufsicht für kirchliche Berufe. Die SED hat die Kultus-und Gottesdienstfreiheit sowie das Recht der Kirchen auf religiöse Unterweisung von Kindern und Jugendlichen nie in Frage gestellt.

Die Restriktionspolitik gegenüber den Kirchen, administrative Behinderungen und politischer Druck auf Christen konzentrierten sich stets auf die Bereiche, in denen die Regelungszuständigkeit des Staates oder gesellschaftlicher Institutionen gegeben ist. Einschränkungen der Religionsfreiheit, wo diese über Kult und innere Autonomie der Religionsgemeinschaften hinausgreift, sind in der DDR Folge der dort verhängten Freiheitsbeschränkungen für alle Bürger; religionsspezifische Freiheitsbeschränkungen sind, von Einzelfällen abgesehen, nicht nachweisbar.

Auch in der Zeit des Stalinismus hat sich die Kirchenpolitik der SED nur wenig am sowjetischen Vorbild orientiert. Sie berücksichtigte in gewissen Grenzen deutsche Traditionen (z. B. Theologische Fakultäten bzw. Sektionen an den Universitäten) und konservierte einige kirchliche Privilegien bzw. hergebrachte Rechte (staatliche Zuschüsse, keine Kollektivierung der kirchlichen Land-und Forstwirtschaft). Vor allem versuchte und versucht die SED der Sondersituation Rechnung zu tragen, daß die DDR das einzige Land des Ostblocks mit rein protestantischer Tradition ist. Im Mittelpunkt der Kirchenpolitik der DDR steht daher — bei Konflikt wie Kooperation — das Verhältnis zur evangelischen Kirche, wobei Versuche unterblieben sind, Minderheitskirchen gegen sie auszuspielen.

Das erste Jahrzehnt

In der Literatur und in zeitgenössischen Äußerungen von Kirchenleuten werden die fünfziger Jahre öfter als Zeit des Kirchenkampfes charakterisiert. Tatsächlich war die Zeit nach der Staatsgründung, in der die SED die Umgestaltung des antifaschistisch-demokratischen Staates in einen sozialistischen Staat durch „Revolution von oben" betrieb, kirchenpolitisch von scharfen Auseinandersetzungen und von dem — erfolgreichen — Bestreben des Staates bestimmt, den Einfluß der Kirchen und religiöser Bindung auf das gesellschaftliche und politische Leben auszuschalten.

Von einem Kirchenkampf läßt sich jedoch insofern nicht sprechen, wenn damit ein Kampf innerhalb der Kirche gemeint ist, wie er in den dreißiger Jahren zwischen den Hitler-hörigen „Deutschen Christen" und der „Bekennenden Kirche" stattfand. Die SED hatte — trotz einiger propagandistisch herausgestellter „Friedenspfarrer" — keinerlei innerkirchlichen Einfluß. Den Angriffen und Eingriffen des Staates standen Kirchenleitungen, Pfarrer und Gemeinden geschlossen entgegen.

Auch die Kirchenverfolgung fiel zurückhaltender aus als etwa in Ungarn oder der CSSR. Es kam zwar zu einigen Prozessen gegen Christen und Theologen, doch eigentliche Schauprozesse blieben aus. Kein Bischof kam in Haft. Hingegen führten die Auseinandersetzungen dazu, daß zahlreiche aktive Christen — vor allem Oberschüler und Mitglieder der Jungen Gemeinden — sich politischer Verfolgung oder Diskriminierungen, insbesondere dem Ausschluß von Schule und Universität, durch Flucht nach Westen entzogen. In den fünfziger Jahren schuf die SED gegenüber den Kirchen Tatsachen, die seitdem zur „Normalität" des Landes gehören, z. B. die Privatisierung der Kirchensteuer, die seitdem rechtlich den Spielschulden gleichgestellt ist, die Entfernung der kirchlich verantworteten Christenlehre aus den Schulräumen und aus dem zeitlichen Zusammenhang mit dem Schulunterricht, die Einführung und politiB sehe Durchsetzung der Jugendweihe, die der evangelischen Konfirmation entgegengestellt wurde, die Nachzensur der kirchlichen Presse mit Hilfe des Vertriebsmonopols der Post. Dies und anderes wurde durch eine massive, durch politischen und administrativen Druck unterstützte Kirchenaustrittspropaganda begleitet, mit deren Hilfe sich die SED für Schlüsselberufe, besonders im Bildungsbereich, ihr ergebene Kader schuf, und durch eine überwiegend primitive und deshalb weithin wirkungslose atheistische und antiklerikale Propaganda nach sowjetischem Vorbild.

Man wird jedoch sehen müssen, daß der Kampf gegen die Kirche, gegen christliche Sitte und religiöse Prägung vor allem der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Repräsentanten galt.

Hauptmotiv war nicht Kirchen-, sondern Klassenkampf. Im Ergebnis jedoch erlitten die christlichen Gemeinden mit der Dezimierung der sie traditionell tragenden Schichten und der weitgehenden Zugangssperre für die im Lande Gebliebenen zu gesellschaftlich prägend wirkenden Berufen damals ihre entscheidende Schwächung.

Der von der SED aus der Führungsposition im Staate heraus im Inneren in Gang gesetzte Klassenkampf war von vornherein mit dem Klassenkampf nach außen, gegen die Bundesrepublik und das von ihr vertretene Wiedervereinigungskonzept zu führen, das der DDR das Existenzrecht und der SED jede Legimität absprach. Das westlich-demokratische Wiedervereinigungsdenken war in der DDR-Bevölkerung breit verwurzelt. Es hatte im Lande zudem in der evangelischen Kirche faktisch eine organisatorische Stütze.

Der nach dem Kriege neu formierte Zusammenschluß des deutschen Protestantismus in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der im Bereich der Kirchenorganisation die Wiedervereinigung vorwegnahm, war von der DDR zunächst akzeptiert und sogar hofiert worden. Die EKD wahrte formale politische Neutralität in der deutschen Auseinandersetzung. Sie bezog sich dabei der DDR gegenüber auf deren antifaschistisch-demokratische Verfassung von 1949 und das von ihr ebenfalls vertretene Wiedervereinigungsziel. Dies schloß allerdings faktisch eine Parteinahme für den provisorischen Charakter der DDR und gegen die als illegitim bewertete sozialistische Umgestaltung des Staates ein. Die SED, die wegen der im deutschen Protestantismus stark verbreiteten Befürwortung eines unbewaffneten, jedenfalls neutralen wiedervereinigten Deutschlands die EKD zunächst durchaus als partiellen Verbündeten ihrer Deutschlandpolitik ansah, wertete den 1957 zwischen EKD und Bundesregierung geschlossenen Militärseelsorgevertrag als Option für das Bonner Konzept und Parteinahme gegen die DDR und brach 1958 die Regierungsbeziehungen zur gesamtdeutschen Kirche ab. Das kirchliche Angebot zum Abschluß eines gleichartigen Vertrages mit Ost-Berlin empfand man als Hohn und lehnte es ab.

Kampf gegen die EKD

In der Folgezeit kam es zu einer Neuorientierung der kirchenpolitischen Ziele Walter Ulbrichts. Die Kirchen im Lande sollten zur Option für den sozialistischen deutschen Staat und seine politischen Ziele gedrängt und veranlaßt werden, in der EKD ihr Gewicht für eine Tolerierung dieser Haltung und eine kritische Distanz der Gesamtkirche zur Westintegration der Bundesrepublik in die Waagschale zu werfen. Einen ersten Ansatzpunkt dafür bot ein im Juli 1958 nach Regierungsverhandlungen mit einer Delegation evangelischer Kirchenvertreter aus der DDR (die einen Verhandlungsauftrag der EKD hatte) veröffentlichtes Kommunique. Die Regierung sicherte darin Überprüfung antikirchlicher Maßnahmen zu, während die kirchliche Seite erstmals erklärte, daß Christen „die Entwicklung des Sozialismus" respektieren und als Staatsbürger auf der Grundlage der Gesetzlichkeit zum „friedlichen Aufbau des Volkslebens" beitragen.

Um Voraussetzungen für die neue Kirchenpolitik zu schaffen, stoppte die SED die gesamte atheistische Propaganda, während gleichzeitig die gegen die „Nato-Kirche" gerichtete antiklerikale Propaganda verschärft, aber vor allem auf im Westen lebende Personen konzentriert wurde, öffentliche Angriffe gegen EKD-treue Bischöfe und Pfarrer in der DDR wurden immer seltener. Die kirchliche Basis sollte für den Sozialismus gewonnen werden. Mit ihrer Hilfe wollte man „reaktionäre" Kir-29 chenleitungen unter Druck setzen und zur Kurskorrektur veranlassen. Die Christen sollten Teil der von Ulbricht ausgerufenen, von der SED geführten „sozialistischen Menschengemeinschaft" werden.

Als Instrument dafür setzte die SED die inzwischen voll gleichgeschaltete DDR-CDU und kollaborierende Kleingruppen wie den neu entstandenen evangelischen Pfarrerbund ein. Walter Ulbricht erklärte zur Bestürzung vieler Altkommunisten bei seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden im Oktober 1960 vor der Volkskammer: „Das Christentum und die humanistischen Ziele des Sozialismus sind keine Gegensätze." Im Februar 1961 meinte er im Gespräch mit einer von dem Leipziger Theologieprofessor Emil Fuchs angeführten Delegation von „fortschrittlichen" Christen, die Ziele des ursprünglichen Christentums und die sozialen und humanistischen Ziele des Sozialismus stimmten so weitgehend überein, „daß sich ein Zusammengehen geradezu aufdrängt". Im weit publizierten Wart-burg-Gespräch mit dem thüringischen Landesbischof Moritz Mitzenheim vom August 1964 sprach Ulbricht schließlich von der „gemeinsamen humanistischen Verantwortung", die Marxisten und Christen verbinde.

Dies Konzept der gesellschaftlichen Integration der christlichen Bevölkerung und der Unterordnung der Kirchen unter Zielvorgaben der Partei blieb erfolglos, da gleichzeitig die Politik der Säkularisierung der Gesellschaft unter ideologischem Vorzeichen und der administrativen Einschränkung kirchlicher Wirksamkeit außerhalb des Kultbereichs fortgeführt wurde. Nach dem Mauerbau von 1961 war ein Ausweichen der Betroffenen nach Westen kaum mehr möglich. Im Ergebnis wurden die Christen nicht für den Sozialismus mobilisiert, die Gemeinden vielmehr weithin in die Resignation geführt. Die Kirchenleitungen konnten dem wenig entgegensetzen. Sie waren in eine Situation gebracht worden, in der das Festhalten an der von der SED politisch bekämpften gesamtdeutschen Kirchenorganisation in der EKD den Rang einer Bekenntnisfrage erhielt. Die EKD-Organe aber, bei denen die Zuständigkeit zur Vertretung kirchlicher Anliegen gegenüber den „Inhabern öffentlicher Gewalt" lag, waren handlungsunfähig geworden: Gegenüber dem

Staat, weil der sie nicht anerkannte; innerkirchlich, weil die Mauer gemeinsame Beratung und Leitung verhinderte. Die verbliebenen Möglichkeiten reichten nur noch zur formalen Selbstbehauptung. Politisch gesehen gab die Zeit des Kalten Krieges weder Staat noch Kirche Spielraum für eine flexiblere Haltung.

Das änderte sich erst, als sich die Möglichkeit der Entspannungspolitik abzuzeichnen begann und die Konsolidierungsphase der DDR abgeschlossen war. Die evangelischen Landeskirchen in der DDR nahmen angesichts der Perspektivlosigkeit ihrer Situation nach dem Mauerbau die neue DDR-Verfassung vom April 1968 zum Anlaß, eine Neuorientierung einzuleiten. Bisher war ihre EKD-Zugehörigkeit zwar politisch bekämpft und administrativ behindert, aber staatsrechtlich nicht in Frage gestellt worden. Dies drohte mit der neuen Verfassung, deren Kirchenbestimmungen offiziell dahin interpretiert wurden, daß an den Grenzen der DDR auch die kirchlichen Organisationsmöglichkeiten enden. Im Juni 1969 wurde der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gegründet; seine acht Mitgliedskirchen schieden aus der EKD aus.

Beginnende Normalisierung

Damit hatten die evangelischen Landeskirchen die Formalvoraussetzungen dafür geschaffen, daß Partei und Regierung ihrerseits bisher vertretene Positionen und Verhaltensweisen überprüfen und eine Neuordnung des Staat-Kirche-Verhältnisses einleiten konnten. Das geschah im Zuge der beginnenden Entspannungspolitik und des Übergangs von Ulbricht zu Erich Honecker in der SED-Führung. Die Gründung des Kirchenbundes und das damit verbundene Ende der gesamtdeutschen EKD erscheint als ein Erfolg der Kirchenpolitik Ulbrichts. Tatsächlich aber handelt es sich um einen recht begrenzten Sieg. Das weiter-gesteckte Ziel der Gleichschaltung, jedenfalls der politischen Integration der Kirchen als Parteigänger des Systems, wie es in Ungarn vorgeführt worden war, wurde nicht erreicht. Der neue Kirchenbund verweigerte ausdrücklich die neben der rechtlichen und organisatorischen Trennung von den Kirchen in der Bundesrepublik geforderte ideologische „Parteinahme im internationalen Klassenkampf auf der Seite des Fortschritts, des Humanismus und des Friedens", wie damals benutzte Formeln hießen. Er bekannte sich zur Fortsetzung der vorgegebenen geistlichen „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland" und schrieb eine ausdrückliche Zuständigkeit seiner Organe für die Wahrnehmung daraus resultierender gemeinsamer Aufgaben mit den Kirchen in der Bundesrepublik in seine Verfassung hinein.

Die SED brauchte fast zwei Jahre, um sich damit abzufinden und die in dieser Haltung liegenden Chancen für die Entspannungspolitik zu erkennen. Erleichtert wurde ihr dies durch das erste selbständige Votum des Kirchenbundes im Bereich angewandter christlicher politischer Ethik: Die Konferenz der Kirchenleitungen — das Leitungsorgan des Kirchenbundes — stimmte Anfang 1971 vorbehaltlos dem ökumenischen Programm zur Bekämpfung des Rassismus zu und stellte sich damit an die Seite der Befreiungsbewegungen insbesondere in Afrika. Kurz darauf, im Februar 1971, kam es zur Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen der DDR-Regierung und der Leitung des Kirchenbundes.

In der Folgezeit bemühten sich Staat wie evangelische Kirche, das Konfrontationsverhältnis abzubauen. Der Kirchenbund entwikkelte sein Selbstverständnis als „Kirche im Sozialismus", unterstrich seine Absicht, Zeugnis-und Dienstgemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft und für sie zu sein. Er erkannte damit die geschaffenen politischen Verhältnisse an und erklärte ausdrücklich, nicht die Rolle einer politischen Oppostion spielen zu wollen, meldete aber gleichzeitig den Anspruch an, über die Wahrnehmung der religiösen Interessen der Kirchenmitglieder hinaus zu Grundfragen des Zusammenlebens der Mensthen in Staat und Gesellschaft von den eigenen Voraussetzungen her Stellung zu nehmen und aktiv zu werden.

Der Staat seinerseits verzichtete darauf, die Kirche von innen her zu „sozialisieren" und sie als „Klassenfeind" zu behandeln, als Restbestand der im Sozialismus überwundenen „bürgerlichen Gesellschaft" zu bekämpfen. Er akzeptierte die Identität der Kirche und ihrer Leitung und beendete damit die für die Ulbricht-Ära kennzeichnende Politik des Baus kirchenpolitischer Fassaden: Die CDU verlor ihre Rolle als Sprecherin des eigentlichen, des „fortschrittlichen" Kirchenvolkes. SED und Regierung verhandelten nunmehr mit der „real existierenden Kirche" statt mit selbst-ausgesuchten, anpassungswilligen, aber kirchlich nicht legitimierten Scheinpartnern (Emil Fuchs, Bischof Mitzenheim). Eine Reihe bisheriger Dauerkonflikte zwischen Staat und Kirche wurde beigelegt. Der religiöse Charakter kirchlicher Wirksamkeit außerhalb des kultischen Bereichs (und damit z. B. die Anmelde-bzw. Genehmigungsfreiheit vieler kirchlicher Veranstaltungen) wurde anerkannt, Kirchbau in sozialistischen Neubeugebieten zugelassen, u. Ä. mehr.

Das Gespräch vom 6. März 1978

Ihre Bestätigung und erheblichen Impuls zur Fortentwicklung fanden die Ansätze, von der Konfrontation zu einer begrenzten Kooperation zwischen Staat und Kirche zu kommen, in einem Gespräch, das der Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär Erich Honecker am 6. März 1978 mit dem Vorstand des evangelischen Kirchenbundes unter Leitung von Bischof Albrecht Schönherr führte. Dabei wurde eine Reihe von bisher strittigen Sachfragen geregelt, u. a. Übernahme kirchlicher Mitarbeiter in die staatliche Sozialversicherung, Pachtzahlung für genossenschaftlich genutztes Kirchenland usw. Von besonderer Bedeutung war, daß Honecker der Kirche das Recht zusprach, über die traditionellen Gottesdienstsendungen im Hörfunk hinaus in einer monatlichen Informationssendung im Hörfunk sowie in sechs Fernsehsendungen pro Jahr sich in eigener Zuständigkeit an die Öffentlichkeit zu wenden.

Vor allem dies wurde als konkreter Beleg dafür gewertet, daß die SED, welche die antireligiöse und antiklerikale Propaganda bereits seit langem eingestellt hatte, nunmehr der Kirche das Recht gesellschaftlicher Tätigkeit auch im sozialistischen Staat bestätigte. Honecker sprach von gemeinsamen Aufgaben bei der Erreichung humanistischer Ziele. Schönherr unterstrich, daß Staat und Kirche sich an die gleichen Menschen wenden. Als Maßstab für das von beiden Seiten gewünschte positive Verhältnis von Staat und Kirche bei fortbestehendem Antagonismus zwischen Ideologie und christlichem Glauben bezeichnete Schönherr die Erfahrungen, die der einzelne christliche Bürger in seiner gesellschaftlichen Situation „vor Ort macht. In der Folge des Gesprächs vom 6. März, bei dem beide Seiten von der Eigenständigkeit des Partners ausgingen, dessen Identität zu respektieren sei, konnte die Kirche ihre öffentliche Tätigkeit erheblich ausweiten und auch die Kooperation mit der EKD verstärken.

Das Gespräch vom 6. März 1978 hat den inhaltlichen, den ideologischen Gegensatz zwischen dem dem Marxismus-Leninismus verpflichteten sozialistischen Staat und der dem Evangelium verpflichteten Kirche nicht zu lösen versucht. Insbesondere die Spannung zwischen der Bildungszielsetzung „kommunistische Persönlichkeit" und der Glaubens-und Gewissensfreiheit wurde nicht aufgelöst. Die zugesagte Toleranz und das Mitwirkungsrecht auch der Christen an der „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft" finden insbesondere im Schul-und Ausbildungsbereich da ihre Grenzen, wo Eltern oder Kinder die von allen geforderte sozialistische Anpassung nicht mitvollziehen. Das gilt für alle Bürger. Doch christliche Kinder und Eltern führt ihr Glaube öfter als andere dazu, Anpassung zu verweigern und eigene Wege zu gehen.

Sichtbar ist das in den letzten Jahren vor allem in der Frage der Friedensverantwortung geworden. Honecker hat der Kirche ausdrücklich das Recht auf eigenständige Friedensarbeit bestätigt. Das ist auch nicht zurückgenommen worden. Doch ihre Konsequenzen werden da, wo sie von der sozialistischen Norm abweichen, nicht akzeptiert. Der Einspruch der Kirche gegen die 1978 verbindlich eingeführte schulische Wehrerziehung blieb wirkungslos. Die gesellschaftliche Verbreitung von — für die kirchliche Diskussion von der SED tolerierten — christlich-pazifistischen Haltungen wird weithin unterbunden, nötigenfalls auch bekämpft, wie etwa das öffentliche Tragen des kirchlichen Friedens-symbols „Schwerter zu Pflugscharen".

Ideologische Entfrachtung

Dennoch ist die ideologische Entfrachtung im Staat-Kirche-Verhältnis sowohl Voraussetzung wie — zumindest mittelfristig geltendes — Ergebnis der mit dem Datum des 6. März 1978 gekennzeichneten Kirchenpolitik der DDR. Unter den Bedingungen der Entspannungspolitik und zu deren Förderung haben sich beide Seiten faktisch drauf geeinigt, sich nicht mehr grundsätzlich in Frage zu stellen und Kooperation dort zu suchen, wo sie beiden Partnern möglich erscheint. Gegensätze sollen nicht zur Konfrontation führen, sondern zu Gesprächen, in denen pragmatischer Konsens gesucht wird.

Kennzeichnend dafür sind Äußerungen von Klaus Gysi, dem derzeitigen Staatssekretär für Kirchenfragen. Im Frühsommer 1980 nannte er im Fernsehen die Frage nach dem Absterben der Religion und der Kirchen „ahistorisch"; sie stelle sich nicht, „und wir stellen sie nicht". Ein Jahr später hat Gysi in London und Genf vor internationaler Zuhörerschaft die Honeckersche Kirchenpolitik, die er als „historisches Experiment" bezeichnete, im Zusammenhang dargelegt. In seiner Genfer Rede finden sich die Sätze: „Solange die Kirche Kirche bleibt, wird sie eigenständig sein müssen. Wir sind der Meinung, sie wird auf diese Weise nie voll integriert in unserer Gesellschaft sein als eine gesellschaftliche Kraft. Aber trotzdem steht vor uns die Aufgabe, einen modus vivendi zu finden. Wir sehen, daß ein großer Teil des langen Weges als gemeinsamer Weg vor uns liegt. Das zwingt uns dazu, zu überlegen, wie wir ihn gemeinsam gehen." Und hinsichtlich des praktischen Staat-Kirche-Verhältnisses sagte er: „Wir wünschen ein Verhältnis, das kooperativ-konstruktiv ist dort, wo wir übereinstimmen, und das dort, wo wir nicht übereinstimmen, sozusagen Tolerierung der staatlichen Entscheidungen ist, wo es solche gibt. Im übrigen Respektierung der Identität des anderen, Respektierung der Eigenständigkeit beider Seiten." (K. Gysi, Kirche und Staat in der DDR. Vortrag im ökumenischen Zentrum Genf vom 29. 5. 1981, Wortlaut in: epd Dokumentation 28/81)

Trennung von Staat und Kirche

Auch innerhalb der DDR liegen inzwischen Veröffentlichungen vor, die dokumentieren, daß die Ideologen die Leitlinien der pragmatischen Kirchenpolitik des Staates nachvollzogen haben. Verwiesen sei auf die 1982 im OstBerliner Dietz-Verlag von einem Autorenkollektiv herausgebrachte Darstellung der „Bündnispolitik im Sozialismus". Als Verfasser des darin enthaltenen Abschnittes „Sozialismus und Religion" (S. 249— 257) gilt Wolfgang Kliem, Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED.

Unter dem Stichwort „Trennung von Staat und Kirche" wird hier einerseits die damit verbundene Freiheit der Kirche von staatlicher Beeinflussung ihrer Angelegenheiten und von staatlichem Hereinreden in das innerkirchliche Leben, in Lehre, Verkündigung, innerkirchliche Gesetzgebung und Personal-entscheidungen, religiöse Unterweisung und Finanzfragen betont, andererseits aber auch formuliert: „Trennung von Kirche und Staat bedeutet jedoch auch, daß die Kirche sich nicht in ausschließlich staatliche Belange einmischt." Und erläuternd heißt es dazu: „Der sozialistische Staat bedarf nicht der Rechtfertigung seines politischen Handelns durch Religion und Kirche und erkennt den Anspruch eines sogenannten Wächteramtes der Kirche über den Staat nicht an. Der sozialistische Staat respektiert die geistig-weltanschauliche Spezifik der Kirche."

Der Hinweis auf „ausschließlich" staatliche Belange impliziert die Existenz gemischter „Zuständigkeiten". Dies folgt aus der ideologischen Anerkennung des Glaubens als mögliche produktive Triebkraft auch für die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft. Kliem formuliert: „Der Marxismus-Leninismus geht überhaupt davon aus, daß ein durch religiöse Überzeugungen motiviertes Verantwortungsbewußtsein ein aufrechtes sittliches Verhalten, einen tätigen Humanismus hervorbringen kann, der von Kommunisten stets geachtet wird und eine wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit bildet." Weiter heißt es: „Tatsächlich ist die sozialistische Gesellschaft ebensowenig eine . atheistische Gesellschaft'wie die kapitalistische Gesellschaft eine . christliche Gesellschaft'ist", und: „Im Gegensatz zum bürgerlichen Materialismus und Atheismus und bei allem kritischen Verhältnis zur Religion lehrt der Marxismus-Leninismus darum nicht den . Kampf gegen die Religion bzw. die Errichtung eines . Reiches der Vernunft'. Er lehrt vielmehr die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus und der Errichtung der kommunistischen Gesellschaft als Weg zu einem menschlichen Dasein ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Allgemein kann man sagen, daß die religiöse Frage der Klassenfrage untergeordnet ist". (S. 253)

Auf dieser Grundlage können Ideologen der SED dann die weitere Sicherung der Gewissens-, Glaubens-und Religionsfreiheit, die volle Einbeziehung der Gläubigen in die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und in den Kampf um die Sicherung des Friedens sowie „die Entwicklung konstruktiver, auf Vertrauen, Offenheit und Sachlichkeit gegründeter Beziehungen von Staat und Kirche" propagieren, „die eine eigenständige Mitwirkung der Kirche an der Lösung der vom IX. Parteitag der SED gestellten Aufgaben einschließt".

„Kirche im Sozialismus"

Der ideologischen Entfrachtung auf Seiten von Staat und Partei korrespondiert auf kirchlicher Seite das Selbstverständnis als „Kirche im Sozialismus". Die Formel geht auf die ersten Berichte der Konferenz der Kirchenleitungen an die Synode des Kirchenbundes 1970 und 1971 und die entsprechenden Synodalentschließungen zurück. Im Konferenzbericht 1971 heißt es: „Eine Zeugnis-und Dienst-gemeinschaft von Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik wird ihren Ort genau zu bedenken haben: In dieser so geprägB ten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie." Die der kirchlichen Sprachwelt zugehörige Begriffsprägung „Zeugnis-und Dienstgemeinschaft" enthält den Anspruch gesellschaftlicher Relevanz der Kirche und definiert ihn. Kirche will damit über den Bereich ihrer Mitglieder hinaus wirken. Sie meldet keine Ansprüche auf Privilegien und Mitentscheidungsrechte an, wohl aber den Willen, von den eigenen Voraussetzungen her in die Gesellschaft hineinzusprechen und ihr — dienend — zur Verfügung zu stehen.

Dabei ist konkret die sozialistische Gesellschaft gemeint, wie sie in der DDR existiert, in der die Kirche lebt, an deren Gestaltung Christen mitwirken sollen. Negativ ausgedrückt enthält dieses Konzept den Verzicht auf Systemopposition, auf Rückzug in ein kultisches Getto oder auf einen „dritten Ort". Positiv wird der Anspruch auf Einbeziehung eigenständiger gesellschaftlicher Wirksamkeit von Christen und Kirche in die garantierte Religionsfreiheit angemeldet, die Hoffnung auf die Veränderungsmöglichkeit der Gesellschaft ausgedrückt (Heino Falcke sprach 1972 auf der Bundessynode von der Hoffnung der Christen auf einen „verbesserlichen Sozialismus") und der humanistische Ansatz des Systems ernst genommen. Die „Kirche im Sozialismus" wolle den sozialistischen Staat an seinen eigenen Grundsätzen, seinem Humanisierungs-und Friedensziel messen und nicht fremde Maßstäbe an ihn anlegen, ist von kirchlicher Seite gelegentlich erläutert worden.

In einer jetzt vorgelegten politologischen Untersuchung (Wider die Militarisierung der Gesellschaft: Kirche und Friedensbewegung in der DDR, Melle 1984) kommt Eberhard Kuhrt zu dem Ergebnis, das Konzept der „Kirche im Sozialismus" trage an den Staat ein eigenes, ihm selbst fremdes Verständnis heran, es erlaube dem Christen, den Staat „besser zu verstehen als er sich selbst". Der Anspruch des sozialistischen Staates, mit seiner Politik eine menschlichere Gesellschaft zu verwirklichen, werde seines ideologischen Charakters entkleidet und ernst genommen:

„Dieses , Ernstnehmen'des Staates und seines Selbstverständnisses ist zu einem Leitmotiv kirchlicher Aussagen über die eigene gesellschaftliche Funktion, zu einem zentralen Begriff des Konzeptes . Kirche im Sozialismus'geworden. Es bedeutet die Anerkennung der Selbstlegitimation dieses Staates: als eines Staates, der die Heraufführung einer humaneren Gesellschaftsordnung anstrebt. Daraus aber leiten die Kirchen das Recht einer kritischen Mitarbeit ab, bei der sie politische Maßnahmen des Staates an seinem eigenen humanen Anspruch messen. Und daraus ergibt sich, daß das . Ernstnehmen'nur die Ziele der staatlichen Politik betrifft und gerade nicht das Selbstverständnis der Partei, allein den richtigen Weg zu diesem Ziel bestimmen zu können. Es ist also ein partielles Ernstnehmen der SED-Politik, das aus dem Vertrauensvorschuß, die deklarierten Ziele als die wirklichen anzuerkennen und sie zu billigen, den Anspruch herleitet, die Mittel nach dem Maßstab christlicher Nächstenliebe zu kritisieren." (S. 59)

Kuhrt hat auch deutlicher als andere Autoren darauf aufmerksam gemacht, daß die mit dem Gespräch vom 6. März 1978 verbundene Anerkennung der gesellschaftlichen Eigenständigkeit der evangelischen Kirche sich in den Äußerungen Honeckers auf jene Bereiche gesellschaftlichen Lebens bezieht, in denen im Prinzip ein Konsens zwischen Staat und Kirche besteht: ökumenische Friedensarbeit und Unterstützung der staatlichen Entspannungspolitik, humanitäre Hilfe für notleidende und um ihre Befreiung kämpfende Völker, diakonische Arbeit in der DDR. Nach seiner Analyse, der im wesentlichen zuzustimmen ist, bildet die Fortsetzung der Entspannungspolitik den tragenden Konsens: „Er um-greift sowohl die staatliche Erwartung, die Kirchen würden auch weiterhin die Außenpolitik der DDR unterstützen, als auch die Erwartung des Kirchenbundes an eine Innenpolitik, in der die Menschenrechte schrittweise verwirklicht werden." Dieser Konsens bestehe jedoch nur ansatzweise und sei eigentlich erst auszubauen: „Der Signalcharakter für das Staat-Kirche-Verhältnis besteht darin, daß beide Seiten einander die Fähigkeit und den guten Willen zur Konsensfindung zusprechen. In den unterschiedlichen Akzenten, die beide Seiten bezüglich der Entspannungspolitik setzen, deuten sich allerdings bei der Interpretation dieser Konkordienformel fortbestehende Differenzen an." (S. 53 f.)

Katholische Kirche und Staat

Seit der Reformationszeit ist die römisch-katholische Kirche im Gebiet der heutigen DDR als Volkskirche nicht mehr heimisch gewesen, mit Ausnahme der kleinen katholischen Siedlungsgebiete im Eichsfeld und im sorbischen Gebiet. Der Zustrom katholischer Flüchtlinge aus den Ostgebieten führte jedoch nach dem Kriege zu der Notwendigkeit, im ganzen Lande Gemeinden und Seelsorge-zentren aufzubauen, für die vielfach Gebäude und andere Voraussetzungen fehlten. Naturgemäß kam es so zu engem'Kontakt mit den heimischen evangelischen Kirchengemeinden, die vielfach Herberge gaben. Dies und die sich entwickelnde gemeinsame Diasporasituation im atheistisch geführten Staat führte Katholiken und Protestanten am Ort zusammen.

Gleichzeitig jedoch hat die „doppelte Diaspora" die katholischen Bischöfe im politisch-gesellschaftlichen Felde besonders vorsichtig werden und — jedenfalls in diesen Fragen — deutliche Distanz zur dominierenden evangelischen Kirche mit ihren Konflikten und Annäherungen zum Staat wahren lassen. Das Bestreben, die eigene Identität unter den gesetzten ungünstigen Bedingungen zu wahren, führte zur Konzentration auf die pastorale Versorgung der Gemeinden unter weitgehendem Verzicht auf Versuche zur Beteiligung am gesellschaftlichen Dialog. Die katholische Kirche nützte dabei ihre Chance, als Minderheitskirche nicht in erster Linie die Aufmerksamkeit des Staates auf sich zu ziehen und aufgrund ihrer Besonderheiten auch weniger Ansatzpunkte zum Konflikt zu bieten.

Das gilt z. B. für die Auseinandersetzung um die Jugendweihe. Dieser 1954 in der DDR mit allem Nachdruck eingeführte Ritus (für den im übrigen Ostblock Vergleichbares fehlt) war von der Partei sichtlich als Gegenveranstaltung für die als allgemeine bürgerliche Sitte verbreitete evangelische Konfirmation der Vierzehnjährigen konzipiert worden, die es im katholischen Bereich nicht gibt. Zwar erklärten beide Kirchen übereinstimmend die Teilnahme an der Jugendweihe für im Prinzip nicht vereinbar mit dem christlichen Bekenntnis, doch stellte sich für die Katholiken die Alternative nicht in vergleichbarer Schär35 fe: Erstkommunion und Firmung katholischer Kinder finden lange vor dem Konfirmationsbzw. Jugendweihealter statt.

Auch der die Kirchenpolitik der sechziger Jahre beherrschende Staat-Kirche-Konflikt um die „gesamtdeutsche" Kirchenorganisation fand die katholische Kirche in der zweiten Linie. Gewiß, einerseits waren die Verhältnisse der römisch-katholischen Diözesen komplizierter als die der evangelischen Landeskirchen: Nur ein einziges Bistum liegt voll auf dem Gebiet der DDR. Die katholische Kirche wurde deshalb nach dem Mauerbau genötigt, ohne rechtliche Preisgabe des Bestands der grenzübergreifenden Bistümer pragmatische Aufgliederungsregelungen zu treffen. Für die in der DDR gelegenen Teile westdeutscher Diözesen wurden am Ende Apostolische Administratoren eingesetzt, die von den westdeutschen Ordinarien unabhängig sind.

Die Verselbständigung der Jurisdiktionsbezirke in der DDR geschah schrittweise, jedoch immer mit Hilfe des Vatikans. Dies erlaubte der DDR-Führung, das Gesicht zu wahren. Sie hatte die Internationalität der katholischen Weltkirche stets anerkannt und war deshalb in ihrem Prestige und Souveränitätsdenken durch langes Herauszögern entsprechender Entscheidungen weniger verletzt als im Falle der EKD, wo bis 1969 westdeutsche Kirchen-leute — wenigstens de jure — an Personal-und Leitungsentscheidungen für die DDR-Kirchen mitbeteiligt waren. Der umgekehrte Fall hingegen war und ist der DDR nicht beschwerlich: Der in Ost-Berlin ansässige katholische Bischof ist nach wie vor Oberhirte auch des West-Berliner Teils der Diözese.

Der Bischof von Berlin ist auch Vorsitzender der 1973 durch vatikanisches Dekret gebildeten Berliner Bischofskonferenz (vorher Ordinarienkonferenz), in der die katholischen DDR-Bischöfe zusammenarbeiten. Bis dahin bestand eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der Deutschen (Fuldaer) Bischofskonferenz, an der teilzunehmen den DDR-Bischöfen jedoch staatlicherseits verwehrt wurde.

Das Bestreben der katholischen Kirche, sich so weit wie möglich aus politischen Konflikten wie Annäherungen herauszuhalten, hat die einzelnen Oberhirten und die Bischofskonferenz auch veranlaßt, nur in seltenen Fällen zu politischen Gegenständen öffentlich Stellung zu nehmen. Nur wo katholische Grundüberzeugungen unmittelbar tangiert werden — wie etwa bei der Hintansetzung des Elternrechts in den staatlichen Schulen oder bei der Freigabe des Schwangerschaftsabbruches — kam es zu von den Kanzeln verlesenen kritischen Hirtenworten. Auch ihren Einspruch gegen das Schulfach Wehrerziehung haben die katholischen Bischöfe in der DDR nicht von sich aus öffentlich gemacht. Eine gewisse Änderung dieser Praxis zeichnete sich erst an der Jahres-wende 1982/83 ab, als die DDR-Bischöfe mit einem gemeinsamen Hirtenwort zum Frieden vor ihre Gemeinden traten und sich darin ökumenische Grundpositionen und Einschätzungen zu eigen machten, die seitens des evangelischen Kirchenbundes seit längerem nachdrücklich vertreten wurden.

Ihre traditionelle Zurückhaltung hat die katholische Kirche in der DDR auch zu deutlicher Distanz von dem evangelischen Konzept der „Kirche im Sozialismus" und zu dem gesellschaftlich-politischen Teil des Gesprächs vom 6. März 1978 veranlaßt. Sie bemühte sich nicht um ein eigenes vergleichbares Arrangement mit Honecker. Ungeachtet dessen gelten die mit dem 6. März gekennzeichneten Grundtatsachen des Staat-Kirche-Verhältnisses auch für die katholische Kirche.

Kirche und Friedensverantwortung

Hauptfeld staatlich anerkannter und geförderter gesellschaftlicher Tätigkeit der Kirchen sind die Arbeit von evangelischer Diakonie und katholischer Caritas im Gesundheits-und Sozialwesen. Mehrfach haben Staatsvertreter öffentlich eingeräumt, daß sie vor allem anerkennen, daß die Kirchen Menschen ausbilden und motivieren können, sich Mitmenschen zuzuwenden, die wenig oder keine Chancen haben. Diakonie und Caritas stellen z. B. jeden zweiten Rehabilitationsplatz für Schwerstbehinderte in der DDR. Die Diakonie beschäftigt rd. 15 000, die Caritas 7 400 hauptberufliche Mitarbeiter. Sie unterhalten zusammen u. a. 85 Krankenhäuser mit mehr als 12 000 Betten, 108 Heime und Einrichtungen für Behinderte (7 000 Plätze), 344 Alten-und Pflegeheime (14 000). Die Mitarbeiter werden in mehr als hundert eigenen Ausbildungsstätten herangebildet.

Mit einer umfangreichen Buchproduktion in eigenen Verlagen, mit Wochen-und Monats-zeitschriften erreichen die Kirchen eine begrenzte Öffentlichkeit, ebenso mit kirchlichen Rundfunksendungen. Sehr anerkannt ist die Kirchenmusik, über den Kreis der Kern-gemeinde hinaus erreichen auch die Kirchentage viele Menschen in der DDR. Im Luther-jahr 1983 wurden bei sieben evangelischen Kirchentagen rd. 200 000 Teilnehmer registriert. Einige Veranstaltungen wurden erstmals direkt im Funk übertragen. Hier wie in der Friedensarbeit, in Umweltgruppen usw. wird die Möglichkeit genutzt, der Öffentlichkeit der DDR Themen, Einsichten und Über-zeugungen bekanntzumachen, die sonst verschwiegen werden.

Die Friedensarbeit ist das in den letzten Jahren öffentlich am stärksten beachtete gesellschaftliche Wirkungsfeld vor allem der evangelischen Kirchen in der DDR. Kirchenoffizielle Stellungnahmen aus der DDR zu Frieden und Abrüstung zeigen eine zunehmende Tendenz zum sogenannten Atompazifismus, die von offiziellen Gremien der EKD in der Bundesrepublik so bisher nicht geteilt wird. Immerhin führten Konsultationen mit der EKD 1982 zu der gemeinsamen Feststellung: „Kein Ziel oder Wert kann heute die Auslösung eines Krieges rechtfertigen. Die Abwendung des Krieges ist Voraussetzung für die Verwirklichung von Menschenrechten, Freiheit und Gerechtigkeit." (epd 18. 8. 1982)

In den Zielen friedliche Koexistenz, europäische Friedensordnung auf der Grundlage der KSZE-Schlußakte von Helsinki, Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West und nukleare Abrüstung stimmt der evangelische Kirchenbund mit der DDR-Führung überein. Er stützt grundsätzlich die Entspannungspolitik und Honeckers erklärte Absicht der „Schadensbegrenzung", sein Ziel einer „Koalition der Vernunft" und die „Verantwortungsgemeinschaft" der deutschen Staaten. Die DDR-Kirche tritt jedoch in diesem Rahmen für einen stärkeren Beitrag der DDR und der anderen sozialistischen Staaten zur Vertrauensbildung und Entwicklung der Friedensfähigkeit der eigenen Gesellschaft ein.

In diesem Zusammenhang kritisiert die kirchliche Friedensarbeit die zunehmende Militarisierung aller Lebensbereiche. Der Kirchen-bund setzte, als er 1978 mit seinem Einspruch gegen die Einführung der Wehrerziehung als Schulpflichtfach erfolglos blieb, der staatlichen Wehrerziehung im kirchlichen Bereich ein Programm der Erziehung zum Frieden an die Seite. Kirchliche Studien begründen die politische Rationalität des Pazifismus; Beschlüsse der Synode des Kirchenbundes enthalten eine Absage an Geist, Logik und Praxis des Systems der Abschreckung.

Seit Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht 1962 hat sich die evangelische Kirche in der DDR für das Recht auf Wehrdienstverweigerung eingesetzt. Auf ihre Vorstellungen geht die Verordnung von 1964 über den waffenlosen Wehrdienst in Baueinheiten zurück. Eine 1965 kirchlich erarbeitete Handreichung für die Seelsorge an Wehrpflichtigen „Zum Friedensdienst der Kirche" rechtfertigt die Wehrdienstverweigerung jedoch nicht nur als individualethische christliche Entscheidung, sondern sieht in dem Dienst der Bausoldaten und der Bereitschaft der Totalverweigerer, ins Gefängnis zu gehen, gegenüber dem als Friedensdienst verstandenen Wehrdienst im atomaren Zeitalter das „deutlichere Zeugnis" des gegenwärtig gebotenen Friedensdienstes.

Erst Ende der siebziger Jahre allerdings griff der Kirchenbund diese These wieder offiziell auf, während sie von Bausoldaten, die den Kern der bis in die sechziger Jahre zurückgehenden Basisgruppen für Friedensarbeit bildeten, ständig in Erinnerung gehalten wurde. 1981 fand dann eine Initiative „Sozialer Friedensdienst" mit mehreren tausend an die Synoden gerichteten Eingaben bzw. Unterschriften in der evangelischen Jugend und darüber hinaus breite Resonanz. Ebenso fanden die seit 1978 regelmäßig in vielen Gemeinden veranstalteten Friedensdekaden, besondere Friedenswerkstätten und Foren zeitweise starken Zuspruch. Das für die Friedensdekaden als gemeinsames Zeichen gewählte Symbol „Schwerter zu Pflugscharen" fand als Auf-näher weite Verbreitung in der DDR, was schließlich zu harten staatlichen Reaktionen und Gegenkampagnen der FDJ führte.

Die — hier nicht weiter darzustellende — eigenständige Friedensarbeit der evangelischen Kirche ist zum „programmatischen Zentrum" (Kuhrt) der sich in der Kirche und um sie sammelnden Gruppen vor allem Jugendlicher geworden, die in westlicher Optik die „unabhängige Friedensbewegung der DDR" darstellen. Der Staat-Kirche-Konsens vom 6. März 1978 bezieht sich ja insbesondere auf das eigenständige Eintreten der Kirche für den Frieden. So konnte sie als eigenständige, nicht gleichgeschaltete und doch loyale Institution den zum Protest vor allem gegen die Militarisierung im eigenen Lande angetretenen Gruppen ein Diskussionsforum geben und ihnen Artikulationsmöglichkeiten eröffnen. Gleichzeitig aber kommt ihr die Funktion des Moderators zu, der nach zwei Seiten hin vermittelt: Die Kirche versucht der staatlichen Seite klar zu machen, daß der christliche Pazifismus sich mit den Zielen und dem System der DDR verträgt, und sie versucht den Friedensgruppen gegenüber zu verdeutlichen, daß sich ihr Protest gegen Fehlentwicklungen richtet, die nicht zwangsläufig mit dem Sozialismus verbunden sind. Die Partei-und Staatsführung ihrerseits versucht, eigenständige Friedensdiskussionen und Aktionen auf den kirchlichen Raum zu beschränken und dem sich hier zeigenden kritischen Potential so wenig Öffentlichkeit wie möglich zu geben, ohne den kirchlichen Freiraum zu beseitigen. Sie ist bemüht, zwei Interessen zum Ausgleich zu bringen: Einerseits die Integrationskraft der Kirche für von der Partei nicht erreichbare Gruppierungen und Protest-anstöße zu erhalten, andererseits die von ihnen ausgehenden gesellschaftlichen Reform-anstöße abzublocken. Literatur Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Dokumente zu seiner Entstehung. Ausgewählt und kommentiert von R. Henkys, Witten u. Berlin 1970;

W. Knauft, Katholische Kirche in der DDR. Gemeinden in der Bewährung 1945— 1980, Mainz 1980;

R. Henkys (Hrsg.), Die evangelischen Kirchen in der DDR. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme, München 1982;

H. Dähn, Konfrontation oder Kooperation? Das Verhältnis von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945— 1980, Opladen 1982;

W. Büscher, P. Wensierki (Hrsg.), Friedensbewegung in der DDR, Hattingen 1982;

K. Ehring, M. Dallwitz (Hrsg.), Schwerter zu Pflugscharen. Friedensbewegung in der DDR, Reinbek 1982;

R. Henkys, Gottes Volk im Sozialismus. Wie Christen in der DDR leben, Berlin 1983;

E. Kuhrt, Wider die Militarisierung der Gesellschaft: Friedensbewegung und Kirche in der DDR, Melle 1984;

Kirchliches Jahrbuch der evangelischen Kirchen in Deutschland, Gütersloh (jährlich, liegt vor bis 1980);

Kirche im Sozialismus, Zeitschrift erscheint sechsmal jährlich, Berlin (West); Evangelischer Pressedienst. Dokumentation, Reihe: Texte aus der DDR, Frankfurt a. M.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Reinhard Henkys, geb. 1928; Journalist, Leiter des Evangelischen Publizistischen Zentrums Berlin (West). Buchveröffentlichungen u. a.: Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht, Stuttgart 1964; (Hrsg.) Deutschland und die östlichen Nachbarn. Beiträge zu einer evangelischen Denkschrift, Stuttgart 1966; Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Dokumente zu seiner Entstehung, Witten — Berlin 1970; (Hrsg.) Die evangelischen Kirchen in der DDR. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme, München 1982; Gottes Volk im Sozialismus. Wie Christen in der DDR leben, Berlin 1983; (Hrsg. zus. mit V. Deile/M. Karnetzki/G. Rein) Und niemandem untertan. Heinrich Albertz zum 70. Geburtstag, Reinbek 1985.