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Strategische Verteidigungsinitiative (SDI). Kriegsführung oder Kriegsverhinderung? | APuZ 14-15/1985 | bpb.de

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APuZ 14-15/1985 Strategische Verteidigungsinitiative (SDI). Kriegsführung oder Kriegsverhinderung? Rückblick und Ausblick auf Genf Zur Wiederaufnahme der Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion „Fahrplan zur Abrüstung"? Zur Doppelbeschluß-Politik der Bundesrepublik Deutschland bis 1983 Artikel 1

Strategische Verteidigungsinitiative (SDI). Kriegsführung oder Kriegsverhinderung?

Claus Richter

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die amerikanische Strategische Verteidigungsinitiative (Strategie Defense Initiative, SDI) steht im Mittelpunkt der neuen Genfer Abrüstungsverhandlungen und zunehmend auch des Interesses der öffentlichen sicherheitspolitischen Diskussion. Irreführende Schlagworte vom „Krieg der Sterne" und von der „Militarisierung des Weltraums", der embryonale Stand der SDI-Forschung und die erst in Umrissen absehbaren Chancen und Risiken der amerikanischen Initiative öffnen Spekulationen, Desinformationen und Polemik Tür und Tor. Der Beitrag stützt sich auf die bisher bekanntgewordenen Fakten und Überlegungen und versucht, zu einer Versachlichung der Diskussion dieses Themas beizutragen. SDI ist der Versuch, Möglichkeiten der Nutzung neuartiger Technologien für eine strategische Abwehr zu erforschen. Gedacht ist an ein mehrschichtiges, nicht-nukleares, reaktives Defensivsystem gegen ballistische Nuklearraketen als die am bedrohlichsten empfundenen Offensivwaffen der Sowjetunion. SDI wird mit sehr unterschiedlichen, z. T. anfechtbaren und kontraproduktiven, aber auch stichhaltigen und überzeugenden Argumenten begründet. Im Mittelpunkt steht hierbei SDI als Reaktion auf entsprechende sowjetische Aktivitäten. In der öffentlichen Diskussion wird häufig übersehen, daß der Weltraum längst militärisch genutzt wird. Dieses Rad läßt sich nicht mehr zurückdrehen. SDI ist derzeit ein reines Forschungsprogramm. Forschungen zur erweiterten militärischen Nutzung des Weltraums werden auf beiden Seiten betrieben; sie sind nicht verboten und sie sind nicht zu verhindern. Hätte man sich in Westeuropa in den vergangenen zwei Jahren weniger vom Wunschdenken, als vielmehr von dieser Tatsache leiten lassen, wäre eine gemeinsame westeuropäische Haltung zum SDI-Forschungsprogramm vermutlich längst gefunden. Fest steht: Nur bei einer Beteiligung der Westeuropäer an den SDI-Forschungen ist ein angemessener technologischer Nutzen zu erzielen und nur bei einer Beteiligung können westeuropäische Interessen eingebracht und berücksichtigt werden. Strategische Abwehrsysteme werden vermutlich von beiden Seiten aufgebaut, wenn sie den eigenen Sicherheitsinteressen dienen, technologisch machbar und kosten-nutzen-effektiv finanzierbar sind. Eine Bewertung der möglichen politischen und strategischen Auswirkungen ist ein schwieriger und dornenreicher Analyseprozeß. Dieser Prozeß muß jetzt in Gang gesetzt werden. Westeuropa sollte hierbei realistisch und pragmatisch vorgehen und zwischen übertriebener Euphorie und Europessimismus zu einer sachbezogenen Position finden. Vieles deutet darauf hin, daß wir am Anfang einer tiefgreifenden militärischen Umwälzung durch die Nutzung einer neuen Dimension stehen. Diese Perspektive mag manchen erschrecken; man sollte sich aber langfristig auf ihre Realisierung einstellen, sofern es nicht zu entsprechenden Rüstungsbegrenzungsvereinbarungen kommt.

Seit dem 12. März 1985 finden in Genf neue Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion statt, über drei Bereiche wird verhandelt: globalstrategische Nuklearwaffen, nukleare Mittelstreckensysteme und Weltraumwaffen -Immer deutlicher kristallisiert sich heraus, daß die Waffen, die im Weltraum, in den Weltraum hinein und aus dem Weltraum heraus wirken können, im Mittelpunkt der Verhandlungen und der öffentlichen sicherheitspolitischen Diskussion stehen werden. Ausgangspunkt aller Überlegungen sind die zunehmenden Aktivitäten der Sowjetunion zur militärischen Nutzung des Weltraums und die daraufhin erfolgte Reaktion der USA in Form der Strategischen Verteidigungsinitiative (Strategie Defense Initiative, SDI). Der folgende Beitrag versucht, die derzeit erkennbaren technischen Umrisse dieser Initiative zu verdeutlichen, die amerikanischen Begründungen der SDI zu analysieren, die wichtigsten bündnis-und rüstungskontrollpolitischen Auswirkungen darzustellen und den sich hieraus für Westeuropa ergebenden Handlungsspielraum ansatzweise abzustecken. Am 23. März 1983, vor nunmehr gut zwei Jahren, überraschte der amerikanische Präsident Freunde wie Gegner in einer vielbeachteten Rede mit der Ankündigung, Möglichkeiten der Nutzung neuartiger Technologien zur Entwicklung eines strategischen Abwehrsystems gegen ballistische Raketen untersuchen zu lassen Nach zwei Vorstudien über die politischen, strategischen und technischen Risiken und Möglichkeiten eines derartigen Projekts gab Präsident Reagan im Januar 1984 mit der Presidential Directive Nr. 119 den Auftrag, ein zunächst auf fünf Jahre befristetes Forschungsprogramm durchzuführen.

Im April 1984 wurde von der amerikanischen Regierung die Strategie Defense Initiative Organization (SDIO) unter Leitung des in Weltraum-Projekten erfahrenen Generalleutnants Abrahamson eingerichtet, um die Forschungsarbeiten der SDI zu koordinieren und gegenüber der amerikanischen Öffentlichkeit, dem Kongreß und den Verbündeten zu vertreten. Seit Dezember 1984 sind zehn zivile Unternehmen damit befaßt, bis zum Sommer 1985 eine jeweils in sich geschlossene Gesamtkonzeption zur Erforschung und Entwicklung eines strategischen Abwehrsystems vorzulegen — die sogenannte SDI-Architektur (architectural design). Frühestens dann werden sich die konzeptionellen und strukturellen Konturen der SDI deutlicher abzeichnen.

I. Technische Umrisse der SDI

Schaubild 1: Flugcharakteristika ballistischer Raketen/Gefechtsköpfe

SDI ist derzeit ein reines Forschungsprogramm zur Untersuchung der Möglichkeiten, ballistische Raketen bzw. die von ihnen ausgestoßenen nuklearen Gefechtsköpfe durch neuartige, nicht-nukleare land-, see-, luft-oder weltraumgestützte Waffen abzuweh-ren Bei dem zu erforschenden Abwehrsystem handelt es sich um ein äußerst komplexes „System von Systemen", das aus einer Vielzahl einzelner und zum Teil kleinster Bausteine zusammengefügt und funktionsfä-hig gemacht werden muß. Gedacht ist — soweit sich dies bislang ausmachen läßt — an ein gestaffeltes, mehrschichtiges Gesamtsystem, dessen einzelne Schichten sich ergänzen und sich an den besonderen Flugcharakteristika ballistischer Raketen bzw.deren Gefechtsköpfen orientieren (vgl. Schaubild 1):

1. Antriebsphase (boost-phase). In dieser nur wenige Minuten dauernden Startphase werden die Raketen beschleunigt. Sie können hierbei aufgrund ihres Hitzeschweifes relativ leicht aufgeklärt werden und bieten ein großes und für die Bekämpfung „lukratives" Ziel, weil alle in der Raketenspitze befindlichen nuklearen Gefechtsköpfe zugleich zerstört werden können.

2. Ausstoßphase, auch als Nach-Antriebs-phase (post-boost-phase) bezeichnet. In dieser ebenfalls nur wenige Minuten dauernden Phase stößt die Raketenspitze, der „bus", die in ihm befindlichen nuklearen Gefechtsköpfe einschließlich möglicher Tarn-, Täusch-und Störkörper aus. Je früher in dieser Phase der „bus" bekämpft wird, desto mehr Gefechts-köpfe können mit einem einzigen Treffer vernichtet werden.

3. Freiflugphase, auch mittlere Flugphase (mid-course-phase) genannt. Alle während der post-boost-phase ausgestoßenen Einzelkörper befinden sich nun — gleichgültig, wie schwer oder wie groß sie sind — unabhängig voneinander auf den ihnen vorbestimmten Flugbahnen. Sie bilden dabei eine Vielzahl von Zielen. Für eine Bekämpfung müßten die nuklearen Gefechtsköpfe von den Tarn-, Täuschund Störkörpern unterschieden werden.

Diese Bekämpfungsart ist sehr schwierig, hat aber den Vorteil, daß die Zielobjekte über einen etwa 20 bis 30 Minuten langen Zeitraum verfolgt werden können. Endanflugphase (terminal-phase). In dieser auch als Wiedereintrittsphase bezeichneten Flugphase dringen die nuklearen Gefechts-köpfe wieder in die Erdatmosphäre ein, um die ihnen vorprogrammierten Ziele zu zerstören. Für eine Abwehr dieser relativ kleinen Flugobjekte verbleiben nur noch wenige Minuten. Die aus diesen Flugcharakteristika resultierenden Abwehrmöglichkeiten lassen die Bekämpfung in der Antriebsphase (boost-defense) und die Bekämpfung in der Endanflugphase (terminal-defense) als besonders erfolgversprechend erscheinen (die Abwehr in den beiden anderen Flugphasen dürfte jeweils eine Mischform dieser Optionen darstellen). Gekennzeichnet sind diese beiden Bekämpfungsarten dadurch, daß boost-defense-Systeme auf neuartigen Technologien basieren und überwiegend im Weltall, terminal-defense-Systeme hingegen eher auf „herkömmlichen" Technologien beruhen und überwiegend land-, see-und/oder luftgestützt disloziert werden dürften 4).

Hieraus läßt sich zweierlei ableiten:

Erstens: Selbst die am weitesten „vorgeschobenen" Komponenten eines Abwehrsystems, also weltraumgestützte boost-defense-Systeme, könnten die Raketen erst dann bekämpfen, wenn sie aus der Erdatmosphäre (etwa in 100 km Höhe) austreten. Nach derzeitigem Erkenntnisstand dürfte es aufgrund der physikalischen Bedingungen unmöglich sein, mit neuartigen Technologien (z. B. Laser-oder Teilchenstrahlwaffen) jemals so viel Energie durch die Erdatmosphäre zu bringen, daß damit Ziele auf dem gegnerischen Territorium (z. B. gehärtete Raketensilos) zerstört werden können. Das strategische Abwehrsystem ist also „reaktiv“, d. h., es kann erst dann wirken, wenn ein Angriff mit ballistischen Raketen bereits stattfindet.

Zweitens: Die Reichweite der terminal-defense-Systeme (überwiegend bodengestützte Abfangraketen) dürfte so begrenzt sein, daß sie nur dem Territorium Schutz bieten, auf dem sie stationiert sind. Ein terminal-defense-System, das Westeuropa schützen soll, müßte also in Westeuropa stationiert werden.

Welche der angeführten Bekämpfungsarten zuerst einsetzbar sein wird, ist noch völlig offen. Angesichts der Vielzahl theoretischer Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Technologien und Optionen dürften auch in Zukunft „Experten" aller Schattierungen die Öffentlichkeit mit immer neuen Vorschlägen und Spekulationen überraschen

Vor allem aber sollte eines nicht vergessen werden: Waffen stehen zwar meist im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion, sind aber nur ein Teil eines strategischen Abwehrsystems. Zusätzlich zur eigentlichen Bekämpfung der anfliegenden Raketen müssen die Funktionen Zielaufklärung, Zielverfolgung, Zielzuweisung und Wirkungskontrolle einschließlich eines u. U. erforderlichen neuen Bekämpfungszyklus erfüllt werden. Die größte technische Herausforderung dürfte hierbei die Entwicklung eines Einsatzführungssystems (Battle Management System) sein, das über eine extrem hohe Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit verfügen muß (und dabei in seiner Gesamtheit ja nie getestet werden kann). Darüber hinaus muß es über einen möglichst langen Zeitraum hinweg einsatzfähig gehalten werden und vor allem hinreichend unverwundbar sein.

Da sich die endgültige technische Ausformung eines möglichen strategischen Abwehrsystems bislang erst in Ansätzen absehen läßt, müssen alle derzeitigen Zeit-und Kosten-Prognosen für das Gesamtsystem der strategischen Abwehr sehr spekulativ bleiben. Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen und Schätzungen ist davon auszugehen, daß eine Entscheidung über die Realisierbarkeit frühestens Anfang der neunziger Jahre getroffen werden kann. Mit dem Aufbau einzelner Komponenten könnte dann unmittelbar begonnen werden, wobei sich der Aufbau eines wirksamen Gesamtsystems über einen langen — u. U. jahrzehntelangen — Zeitraum hinziehen dürfte. Die naturgemäß sehr vagen und subjektiven Vorausschätzungen der Kosten für ein Gesamtsystem schwanken derzeit zwischen 100 bis 1 000 Mrd. US-Dollar

Angesichts der Vielzahl der hier nur angerissenen Probleme stellt sich die Frage, ob ein Gesamtsystem der strategischen Abwehr überhaupt entwickelt und aufgebaut werden kann. Eine spekulative Verneinung der Frage ist wenig hilfreich. Da beim jetzigen Stand der Forschungen diese Frage nicht zu beantworten ist, gilt es, sich auf alle Möglichkeiten einzustellen und den Fortgang der SDI-Entwicklung ebenso wie der Genfer Abrüstungsgespräche sorgfältig zu verfolgen und zu analysieren.

II. Amerikanische Begründungen der SDI

Schaubild 2: Szenario (Dualismus) 1 — Aufbau strategischer Abwehrsysteme durch beide Weltmächte Diese schematische Darstellung geht von der Annahme aus, daß beide Weltmächte — USA und die Sowjetunion (SU) — etwa zeitgleich strategische Abwehrsysteme aufbauen. In dem oben dargestellten Modell schützen die Abwehrsysteme nur die Territorien der beiden Weltmächte. Westeuropa (WE) bleibt mit dem gesamten Bedrohungspotential des Warschauer Pakts konfrontiert, während die Sowjetunion (ebenso wie die USA) weitgehe隆

Viele Beobachter sehen SDI als eine konsequente Fortsetzung amerikanischer konzeptioneller Überlegungen, die bereits seit den siebziger Jahren mit dem Ziel einer grundlegenden Verbesserung des strategischen Kräfteverhältnisses angestellt werden. Der Entschluß zur Ankündigung der SDI im März 1983 war allerdings eine im kleinsten Kreis getroffene „top-down" -Entscheidung, mit der sich die amerikanische Administration zu Anfang offensichtlich schwertat. Inzwischen identifiziert sie sich offensichtlich weitgehend mit SDI, wenngleich auch mit unterschiedlichen Motiven und Interessen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß die Begründungen der SDI vielschichtig sind und ihre Schwerpunkte sich verlagern — und dies auch weiterhin tun dürften Fünf Argumente haben besondere Beachtung verdient: 1. Die „Visionen“

Im Mittelpunkt der offiziellen Begründung der SDI steht derzeit das Ziel, eine nuklearwaffenfreie Welt zu schaffen — eine Zielsetzung, die all jenen entgegenkommt, die die Abschaffung der Nuklearwaffen fordern. Eng mit diesem Ziel verknüpft (und sozusagen sein argumentativer Vorgänger) ist die Absicht, die Gefährdung durch ballistische Raketen auszuschalten

Sicherlich ist es aus der Sicht der USA verständlich, daß sie ihr Hauptaugenmerk auf die Abwehr der für sie am bedrohlichsten wirkenden Waffen, nämlich der ballistischen Raketen, richten. Sicherlich ist es auch legitim, darüber zu reflektieren, wie der derzeitige, nur bedingt stabile Zustand des dynamischen Rüstungsgleichgewichts und der gegenseitigen Verwundbarkeit überwunden werden kann — ein Zustand, der ja nicht in alle Ewigkeit fortgeschrieben werden kann. Sicherlich muß irgendwo ein Anfang gemacht werden — und warum nicht bei den von beiden Weltmächten am gefährlichsten perzipierten globalstrategischen Raketen, deren Reduzierung auch im Interesse Westeuropas liegt?

Die Begründung der SDI mit der Vision einer nuklearwaffenfreien Welt ist jedoch vordergründig und geradezu absurd: Sie vernachlässigt nicht nur die Existenz nicht-ballistischer Nuklearwaffen (Flugzeuge und Marschflugkörper), sondern auch die Nuklearpotentiale der Dritt-Staaten. Solange aber in dieser Welt andere Staaten über eindringfähige Nuklear-potentiale verfügen (und die Zahl der Nuklearstaaten nimmt ebenso zu wie Qualität und Quantität ihrer Nuklearwaffen), können die beiden Weltmächte auf eigene Nuklearwaffen nicht verzichten. Die Annahme aber, daß die nuklearen Dritt-Staaten, die derzeit mit großem Aufwand ihre Nuklearpotentiale auf-bzw. ausbauen, diese im Einklang mit den beiden Weltmächten vernichten würden, ist geradezu utopisch.

Die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt mag vordergründig in der innenpolitischen Diskussion hilfreich sein, wird aber dann problematisch, wenn die in der Öffentlichkeit geweckten Hoffnungen nicht erfüllt werden können. 2. „Moral" und Strategie Die Begründung der SDI mit der Suche nach e__in_e_r___„_m_o_ralisch höherwertigen" Strategie • dürfte sich als ähnlich kontraproduktiv erweisen Beabsichtigt ist, die derzeitige Doktrin der „beiderseitig gesicherten Zerstörfähigkeit" (Mutual Assured Destruction = MAD) abzulösen durch die Philosophie einer „beiderseitigen Sicherheitsgarantie" (Mutual Assured Security = MAS). Diese Zielsetzung erhält aus zwei sehr unterschiedlichen Lagern gleichermaßen Beifall: zum einen von jenen, für die die Abschreckungsstrategie mit ihrer Vergeltungsdrohung'schon immer „unmoralisch" war, zum anderen von jenen, die sie als illusorisch, weil von der Sowjetunion offiziell nie akzeptiert, verwerfen.

Eine „beiderseitige Sicherheitsgarantie" setzt voraus, daß über ihre Kriterien und Bedingungen Einvernehmen erzielt wird. Wäre eine Einigung zwischen West und Ost über diese zentrale Frage möglich, bedürfte es wohl nicht der SDI. Voraussetzung wäre vielmehr eine grundlegende Verbesserung der politischen Großwetterlage. Selbst wenn dies — mit oder ohne SDI — langfristig gelänge, würde man mit der geltenden Bündnisstrategie der Kriegsverhinderung durch Abschrekkung noch auf Jahre und vermutlich Jahrzehnte hinaus leben müssen.

Eine Abwertung dieser Bündnisstrategie als „unmoralisch" bzw. „moralisch minderwertig" könnte sich daher leicht als ein argumentativer Bumerang erweisen. 3. Der „perfekte" Schutzschirm SDI wird derzeit in den USA auf zwei unterschiedlichen Ebenen diskutiert. Zum einen ist da die „große Vision" des Präsidenten, einen perfekten Schutzschirm gegen ballistische Raketen über das Territorium der USA (und ihrer Verbündeten) zu legen. Zum anderen werden „pragmatische" Überlegungen immer deutlicher, die einen perfekten Schutzschirm für illusorisch halten und für einen stufenweisen Aufbau eines möglichst wirksamen Abwehrsystems plädieren, bei dem auf die jeweils verfügbaren Technologien zurückgegriffen werden soll Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sich der pragmatische Ansatz durchsetzen, ohne daß dabei zunächst die große Vision aus den Augen verloren wird. Fast alle Fachleute halten ein perfektes, d. h. 100% wirksames Abwehrsystem, grundsätzlich für nicht realisierbar Die bisherigen Erfahrungen mit technologischen Entwicklungen lehren in der Tat, daß zum einen die „Perfektionierung" eines Systems — selbst wenn sie technologisch realisierbar wäre — unverhältnismäßig hohe, überproportionale Kosten verursacht, zum anderen zu jedem Defensivsystem sowohl dieses System überwindende Offensivsysteme als auch aktive und passive Gegenmaßnahmen entwickelt werden, die einen 100%igen Schutz als nie erreichbar erscheinen lassen. 4. Verhinderung eines Nuklearkrieges Stichhaltiger dagegen erscheint die eng mit der Frage nach dem Wirksamkeitsgrad eines strategischen Abwehrsystems verknüpfte Begründung, durch SDI einen Nuklearkrieg — zumindest auf der globalstrategischen Ebene — verhindern oder zumindest die Gefahr seines Ausbruchs verringern zu können

Der Aufbau eines strategischen Abwehrsystems hätte auch bei nur unvollkommenem Wirkungsgrad zur Folge, daß die Zielplanung für den Einsatz ballistischer Raketen, insbesondere für einen begrenzten Erstschlag, erschwert wird. Diese Erschwerung steigt mit zunehmendem Wirkungsgrad des Abwehrsystems. Auch die Option des Angreifers, durch zusätzlichen Ausbau seines ballistischen Offensiv-Potentials das Abwehrsystem zu überwinden, wird mit zunehmendem Wirkungsgrad des Abwehrsystems deutlich erschwert — eine Erschwerung, die sich mit jedem Grad der Zunahme potenziert, so daß auch ein unterhalb 100%iger Perfektion liegendes Abwehrsystem den Angreifer vor immer größere technologische und organisatorische Probleme stellen und damit in der Tat die Gefahr eines gezielten Nuklearkrieges verringern würde. 5. Reaktion auf sowjetische Aktivitäten Die stichhaltigste — und in der öffentlichen Argumentation zunächst sträflich vernachlässigte — Begründung der SDI ist die der Reaktion auf sowjetische Aktivitäten auf dem Gebiet der Raketenabwehr

Die Sowjetunion verfügt als einziges Land der Welt bereits seit 1971 über ein einsatzbereites Antisatellitensystem und über ein begrenztes Raketenabwehrsystem, das um Moskau stationiert ist. Beide Systeme werden derzeit von der Sowjetunion modernisiert.

Nach amerikanischen Erkenntnissen finden in der Sowjetunion zudem seit langem intensive Forschungen und Entwicklungen auf dem Gebiet der Laser-und Teilchenstrahlwaffen statt, die der Sowjetunion langfristig den Aufbau eines strategischen Abwehrsystems ermöglichen könnten. Hinzu kommt, daß die Sowjetunion eine (selbst von Kritikern der SDI nicht bestrittene) Fähigkeit zu einer flächendeckenden Radarüberwachung aufgebaut hat, die auch für eine strategische Raketenabwehr genutzt werden kann. Vor diesem Hintergrund sehen die USA keine andere Möglichkeit, als ebenfalls auf diesem Gebiet tätig werden zu müssen, um zu verhindern, daß die Sowjetunion im Weltraum ein Über-gewicht erzielt und damit das strategische Gleichgewicht entscheidend gefährdet werden würde.

III. Bündnispolitische Aspekte

Schaubild 3: Szenario 2 — Einbeziehung Westeuropas in den amerikanischen Schutzschirm Diese schematische Darstellung zeigt, daß Westeuropa (WE) — selbst bei einer Einbeziehung in das strategische Abwehrsystem der USA — durch ballistische Raketen kürzerer Reichweite, durch nuklearfähige Flugzeuge (Flgz) und Marschflugkörper (Cruise Missiles = CM) und die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion (SU) gefährdet bliebe.

Westeuropäische Politiker äußern sich inzwischen deutlicher zu jenen Aspekten der SDI. die westeuropäische Interessen unmittelbar berühren. Im Mittelpunkt der meisten Über-legungen steht dabei die Forderung nach Aufrechterhaltung der politischen und strategischen Einheit des Bündnisses

Ausgangspunkt für diese Forderung ist die aufgrund der geographischen Bedingungen vorgegebene unterschiedliche Gefährdung des nordamerikanischen Kontinents und Westeuropas. Während die USA in erster Linie durch globalstrategische Nuklearraketen bedroht sind (und deshalb auf deren Abwehr naturgemäß ihr Hauptaugenmerk legen), ist Westeuropa von dem gesamten Spektrum nuklearer und konventioneller Potentiale und Optionen des Warschauer Pakts unmittelbar betroffen. Die Forderung, keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen zu lassen, ist deshalb unscharf: Zonen unterschiedlicher Sicherheit gibt es längst. Worauf es ankommt, ist zu verhindern, daß Zonen noch unterschiedlicherer Sicherheit entstehen.

Im Mittelpunkt der bündnispolitischen Aspekte der SDI steht deshalb die politische und strategische Einheit des Bündnisses, eine Einheit, die zweifach verdeutlicht und glaubhaft gemacht werden muß — zum einen der eigenen Öffentlichkeit, zum anderen der Sowjetunion gegenüber. Mit dem damit verbundenen Argument einer möglichen An-bzw. Abkopplung der USA und Westeuropas scheint sich ein Phänomen zu wiederholen, das bereits die Diskussion um die NATO-Nachrüstung kennzeichnete: daß nämlich bei Kenntnis gleicher Fakten diametral entgegengesetzte Schlüsse gezogen werden. Deshalb ist es wichtig, sich mit den theoretisch möglichen Modellen des Aufbaus strategischer Abwehrsysteme und deren bündnispolitischen Auswirkungen näher zu befassen. Theoretisch können strategische Abwehrsysteme entweder einseitig (Monopol-Modell) oder beidseitig (Dualismus-Modell) aufgebaut werden. Hieraus ergeben sich völlig unterschiedliche sicherheitspolitische Auswirkungen: 1. Ein amerikanisches Monopol hätte den Vorteil, daß die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Abschreckung und des amerikanischen Schutzversprechens („assurance and deterrence") erheblich gestärkt würde. Die weitgehend unverwundbaren USA wären dann noch eher geneigt, sich auch für Westeuropa zu engagieren, als dies heute ohnehin bereits der Fall ist. Die meisten Beobachter stimmen darin überein, daß ein strategisches Abwehrmonopol so lange nicht beunruhigend oder destabilisierend ist, wie der das Monopol besitzende Staat keine Angriffsabsichten hat.

Kritiker halten dem entgegen, daß man befürchten müsse, die USA erstrebten bewußt eine strategische Überlegenheit und könnten dann eher zu militärischen Abenteuern geneigt sein

2. Ein sowjetisches Monopol würde den offensiven Handlungsspielraum der Sowjetunion dramatisch erweitern und damit die Bedrohung des Westens erheblich erhöhen. Dies aber würde den Sicherheitsinteressen der Allianz zuwiderlaufen und könnte nicht hingenommen werden. Mit dem Aufbau eines strategischen Abwehrsystems durch die Sowjetunion würde zudem die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der „erweiterten Abschreckung" (extended deterrence) der USA für Westeuropa verringert und letztlich aufgehoben. Vor diesem Hintergrund hätte der Westen gar keine andere Wahl, als entweder den Aufbau strategischer Abwehrsysteme durch überprüfbare Rüstungskontrollvereinbarungen generell zu begrenzen oder ebenfalls ein derartiges Abwehrsystem aufzubauen.

3. Damit ist in der militärischen Nutzung des Weltraums eine Eigendynamik angelegt, wie sie auch anderen Bereichen des strategischen Gleichgewichts eigen ist. Keine Seite glaubt, der anderen Seite ein Monopol zugestehen zu können, ohne damit —-zumindest in der eigenen Perzeption — in eine zunehmende Gefährdung aufgrund einseitiger Verwundbarkeit und in ein nicht mehr aufholbares technologisches Hintertreffen zu geraten. Daraus folgt, daß — sofern es nicht zu entsprechenden Vereinbarungen kommt — beide Weltmächte etwa zeitgleich strategische Abwehrsysteme aufbauen werden

4. Für dieses als wahrscheinlich anzusehende Modell gewinnt die Einbeziehung Westeuropas für die Bündnispartner entscheidende Bedeutung. Wird Westeuropa nicht in den Schutz des amerikanischen strategischen Abwehrsystems einbezogen, so entstehen zwei weitgehend unverwundbare Sanktuarien der beiden Weltmächte, während Westeuropa außerhalb dieser Schutzschirme gegenüber dem gesamten Bedrohungsspektrum der Sowjetunion völlig ungeschützt verbliebe (vgl. Schaubild 2). Dies könnte hier regionale nukleare wie konventionelle Kriege wieder möglich und letztlich wahrscheinlicher machen. Neben einem strategischen Abwehr-Monopol der Sowjetunion wäre dies die zweitschlechteste Situation für Westeuropa. 5. Wird Westeuropa jedoch in den strategischen Schutzschirm der USA einbezogen (die USA haben diese Einbeziehung zugesagt), gewinnt das Kriterium der . Abdeckung" Westeuropas entscheidende Bedeutung. Dies bedeutet: Nur wenn alle ballistischen Raketen, die Westeuropa bedrohen (also zusätzlich zu den globalstrategischen auch die regional-strategischen Raketen bis hinunter zu den Kurzstreckenwaffen) abgewehrt werden könnten, würde sich die vom ballistischen Potential der Sowjetunion ausgehende Gefährdung Westeuropas entscheidend verringern. Konkret bedeutet dies für Westeuropa, daß auch die SS-20— 23-Raketen abgewehrt werden müßten (vgl. Schaubild 3).

Es steht aber zu befürchten, daß trotz gegenteiliger Beteuerungen von interessierter Seite Raketen kürzerer Reichweite nicht oder nur mit immensem zusätzlichen Aufwand abgewehrt werden könnten So müßte z. B. für jede eurostrategisch verwendbare sowjetische Rakete zumindest eine Abfangrakete aufgestellt werden. Wo die technologische Machbarkeitsgrenze zur Abwehr von Raketen kürzerer Reichweite liegt und ob eine derartige Abwehr überhaupt noch unter ein strategisches Abwehrsystem eingeordnet werden könnte, kann derzeit nicht im Detail vorhergesagt werden.

Noch bedeutsamer aber ist, daß Westeuropa in jedem Fall — also auch bei einer Einbeziehung in den amerikanischen Schutzschirm und bei einer Abwehrmöglichkeit gegen alle ballistischen Raketen — durch nicht-ballistische nukleare Waffensysteme (insbesondere Flugzeuge und Marschflugkörper und im Falle der grenznahen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland sogar durch weitreichende Artillerie) existentiell gefährdet bliebe. Um diese Bedrohung abzubauen, müßte die Luftverteidigung durch den Aufbau entsprechender Abwehrsysteme ganz erheblich verstärkt werden.

Hinzu kommt: In jedem Fall bliebe die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion bestehen. Eine zunehmende Neutralisierung der global-und regionalstrategischen Nuklearpotentiale könnte die Sowjetunion zu der Annahme verleiten, daß sie unter ihrem eigenen strategischen Schutzschirm ihr Übergewicht im konventionellen Bereich ausbauen und letztlich regional begrenzt ausspielen könnte

IV. Rüstungskontrollpolitische Aspekte

Die vielen mit der Forschung, der Entwicklung und dem Aufbau strategischer Abwehrsysteme verbundenen Unwägbarkeiten stellen eine besondere Herausforderung für die Rüstungskontrolle dar, gleichgültig, ob man durch sie die weitere militärische Nutzung des Weltraums generell begrenzen oder die zur Aufrechterhaltung einer strategischen Stabilität erforderlichen gemeinsamen Vereinbarungen zwischen den beiden Weltmächten durchsetzen will.

Zunächst ist es wichtig, SDI und mögliche strategische Abwehrsysteme von anderen Aktivitäten im Weltraum abzugrenzen. Die militärische Nutzung des Weltraums ist ja keineswegs neu oder — wie es die Sowjetunion suggerieren möchte — erst durch SDI eingeläutet worden; sie begann vielmehr bereits vor Jahrzehnten mit dem ersten Flug einer ballistischen Rakete durch den Weltraum und wird seitdem mit jedem weiteren Start militärischer ballistischer Raketen fortgesetzt. Darüber hinaus werden jährlich Hunderte von Aufklärungs-, überwachungs-, Navigations-und C 3-Satelliten zu militärstrategischen Zwecken, aber auch zur Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen als Nationale Technische Mittel (national technical means = NTM) in den Weltraum verbracht. Darüber hinaus muß SDI (oder richtiger gesagt: müssen die entsprechenden Aktivitäten beider Weltmächte zur Erforschung strategischer Abwehrsysteme) unterschieden werden von Antisatellitenwaffen (anti-satellite weapons = ASAT) und den eher der Luftverteidigung zuzuordnenden Anti-Taktischen-Raketen-Systemen (anti tactical missile Systems = ATM) obwohl es sicherlich strategische, operative, technische und rüstungskontrollpolitische Überschneidungen mit SDI geben dürfte.

Bei ASAThandelt es sich um bereits existierende (Sowjetunion) bzw. in der Erprobung befindliche (USA) Waffensysteme, deren Technik bekannt ist und beherrscht wird. Bei ATM handelt es sich um geplante Waffensysteme zur Bekämpfung von Raketen kürzerer Reichweite, mit denen nicht nur nukleare, sondern auch konventionelle und chemische Raketen abgewehrt werden sollen. Diese Abwehrwaffen könnten sowohl die westliche Luftverteidigung verstärken als auch — quasi „unterhalb“ der SDI — die regionale Bedrohung Westeuropas durch ballistische Raketen verringern. Aus rüstungskontrollpolitischer Sicht ist es zweckmäßig, die beiden zeitlichen Phasen der SDI klar zu trennen, nämlich zum einen die derzeit laufende und zunächst bis 1989 befristete Forschungsphase, zum anderen die — nach offiziellen amerikanischen Angaben — frühestens ab Anfang der neunziger Jahre mögliche Entwicklungs-und Stationierungsphase. Die rüstungskontrollpolitische Bewertung dieser beiden Phasen wird allerdings erschwert durch die Tatsache, daß sich die Trennlinien zwischen ihnen verwischen dürften. 1. Forschungsphase Grundsätzlich ist festzustellen, daß Forschungen auf dem Gebiet einer auch den Weltraum einbeziehenden strategischen Abwehr weder vertraglich verboten noch verifizierbar sind und in keiner anderen Form als durch freiwillige Selbstbeschränkung verhindert werden können. Dies gilt für beide Seiten. Problematisch ist die genaue Abgrenzung von Forschung und Entwicklung, wobei diese aufgrund der Vielzahl der zu erforschenden und entwickelnden Technologien ohnehin nicht mit einer einzigen Definition festgelegt werden könnte. Angesichts der neuartigen Technologien dürften die beiden Weltmächte — und alle Beobachter — durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber haben, ob es sich z. B. bei einer Forschungs-Demonstration nicht bereits um einen Entwicklungstest handelt. Erschwert wird die Problematik, weil bei vielen der neuartigen Technologien bereits einige wenige Grundlagentests genügen könnten, um die generelle Anwendungsfähigkeit bestimmter Verfahren im Weltraum festzustellen und den Aufbau daraufhin einleiten zu können.

Eine Lösung dieser Problematik wäre nur in gezielten Verhandlungen möglich. Diese müßten frühzeitig in den bereits laufenden Forschungsphasen beginnen und rechtzeitig vor Ende der ja ohnehin nicht exakt abgrenzbaren Forschungsphasen getroffen werden — ein schwer lösbares Problem für die Rüstungskontrolle. 2. Entwicklungs-und Stationierungsphase Da der Übergang zwischen Entwicklung und Stationierung noch fließender ist als der oben aufgezeigte, dürfte es mit Beginn der Entwicklungsphase nahezu unmöglich sein, den Aufbau strategischer Abwehrsysteme generell zu verbieten oder signifikant einzugrenzen.

Bereits mit Beginn konkreter Entwicklungen — wie immer sie definiert seien — werden bestehende Rüstungskontrollverträge, die ja Grundlage für verläßliche zwischenstaatliche Beziehungen sein sollen, berührt: der ABM-Vertrag vom 26. Mai 1972, der Weltraumvertrag vom 27. Januar 1967 und der Teststopp-Vertrag vom 5. August 1963

Im Zentrum der rüstungskontrollpolitischen Diskussion über das Für und Wider der SDI steht der ABM-Vertrag. Seine Befürworter halten ihn für das zentrale und wirksame Rüstungskontrollabkommen, mit dessen Hilfe — in Verbindung mit SALTI — das ungefähre strategische Gleichgewicht der beiden Weltmächte anerkannt und festgeschrieben wurde-, eine Aufkündigung dieses Vertrags wird mit dem Ende der Rüstungskontrolle gleichgesetzt. Die Kritiker des ABM-Vertrags hingegen sehen in ihm einen Verhandlungssieg der Sowjetunion, mit dessen Hilfe diese die defensiven Bemühungen der USA in den frühen siebziger Jahren beschränken konnte und der ihr zugleich erlaubte, sich auf den Ausbau ihres offensiven strategischen Nuklearpotentials zu konzentrieren.

Fest steht: Der ABM-Vertrag hatte zum Ziel, durch Begrenzung der ABM-Systeme „wesentlich zur Eindämmung des Wettrüstens mit strategischen Angriffswaffen" beizutragen Dieses Ziel ist — wenn überhaupt — nur bedingt erreicht worden.

Der ABM-Vertrag schränkt ABM-Forschungen nicht ein. Damit sind SDI-Forschungen — ebenso wie die entsprechenden Aktivitäten der Sowjetunion — de jure mit dem ABM-Vertrag vereinbar. Der Vertrag verbietet jedoch, , ABM-Systeme oder Bestandteile zu entwickeln, zu erproben oder zu dislozieren, die see-, lüft-oder weltraumgestützt sind oder als bewegliches System landgestützt sind" Dieses Verbot galt für die damals existierenden Raketen. Umstritten ist, ob hierunter ein Verbot neuartiger Technologien wie Laser, Teilchenstrahlwaffen usw. fallen würde Der ABM-Vertrag kann entweder mit einer vorgeschriebenen sechsmonatigen Frist gekündigt werden, oder es muß über eine Vertragsänderung verhandelt werden. Die vereinbarten Interpretationen sehen vor, „daß für den Fall, daß in Zukunft ABM-Systeme geschaffen werden, die auf anderen physikalischen Prinzipien (z. B. Lasertechnik) beruhen", gesonderte Gespräche darüber zu führen sind

Die Laufzeit des Vertrages ist unbegrenzt; sog. Überprüfungskonferenzen finden alle fünf Jahre statt. Die nächste derartige Konferenz wäre 1987 fällig. Eine Vertragsänderung oder -ergänzung würde voraussetzen, daß es zu beiderseitig annehmbaren neuen Bedingungen kommt. Ansonsten bliebe nur eine Kündigung des Vertrags, mit allen daraus resultierenden Nachteilen und Auswirkungen auf das Ost-West-Verhältnis, besonders aber auf die Rüstungskontrollpolitik selbst. Noch ist nicht offenkundig, ob die Äußerungen einiger Vertreter der US-Administration, „über den ABM-Vertrag hinauszugehen", der offiziellen Position entsprechen oder eher deklaratorische Beigeplänkel zu den Genfer Verhandlungen sind. Die Mehrzahl der Westeuropäer, insbesondere aber die französische Seite, bestehen nachdrücklich auf einer Beibehaltung des ABM-Vertrags.

Der multilaterale Weltraum-Vertragverbietet die Stationierung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen im Weltraum. Der in diesem Vertrag enthaltene Grundsatz der ausschließlichen friedlichen Nutzung des Weltraums betrifft strategische Abwehrsysteme solange nicht, wie ihre Abwehrkomponenten nicht-nuklear sind. Für SDI kann dies nach derzeitigem Kenntnisstand bejaht werden. Der ebenfalls multilaterale Teststopp-Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und im Wasser beträfe strategische Abwehrsysteme nur, sofern zu ihrer Entwicklung und Stationierung entsprechende Versuche (z. B. mit einem nuklear-initiierten Röntgen-Laser) erforderlich wären.

All dies macht deutlich, vor welch ungeheurer Aufgabe die am 12. März 1985 begonnenen Genfer Rüstungskontrollgespräche stehen und welch langer Weg bis zu einer möglichen Einigung zurückzulegen ist Hierbei ist SDI ja nur ein Aspekt: Im Zusammenhang mit möglichen Vereinbarungen über defensive Waffen kommt es nach westlicher Auffassung vor allem darauf an, zu Vereinbarungen über die Reduzierung der Offensivwaffen kommen. Diese enge Verknüpfung der beiden Aspekte ist durchaus sachgerecht und erforderlich, erschwert aber die Verhandlungsführung ungemein. Von entscheidender Bedeutung für die Genfer Verhandlungen wird der ursprünglich von amerikanischer Seite und schließlich einvernehmlich in die vereinbarten Verhandlungsziele aufgenommene Begriff der strategischen Stabilität sein. Eine Definition dieses Begriffs ist ein Jahrhundertwerk: Nicht nur müßte hierüber zunächst Einvernehmen unter den Bündnispartnern erzielt werden, sondern danach müßte auch eine von beiden Weltmächten akzeptierbare Definition der Sicherheitsinteressen beider Seiten gefunden werden. Dennoch muß der Versuch gewagt werden. In seiner Rede vor der Wehrkundetagung hat der Bundeskanzler einige Elemente dieses Begriffes angesprochen Gelingt es nicht, strategische Stabilität unter Berücksichtigung der defensiven und offensiven Elemente der strategischen Potentiale zu definieren und mit dem beiderseitig vereinbarten Ziel einer substantiellen Reduzierung der Offensivwaffen zu verknüpfen, dürften sowohl die einzelnen Verhandlungspakete als auch das Gesamtpaket der Genfer Verhandlungen nicht zu schnüren sein. In Genf verhandeln die beiden Weltmächte. Die Bündnispartner sind zwar — nicht nur durch INF — unmittelbar betroffen, aber ihr Einfluß ist — realistisch gesehen — gering. Die beiden Weltmächte dürften sich weniger von den Sorgen, Befürchtungen, Ängsten und Interessen der Westeuropäer, als vielmehr von ihren eigenen Sicherheitsinteressen leiten lassen.

Der Einfluß Westeuropas könnte nur dann signifikant steigen, wenn die Westeuropäer mit einer Stimme sprechen würden. Hinsichtlich der Bewertung der SDI-Forschungsphase zeichnet sich ein westeuropäischer Konsens ab, dem sich auch Frankreich über kurz oder lang anschließen könnte. Hinsichtlich der Bewertung einer möglichen Entwicklung und Stationierung strategischer Abwehrsysteme aber ist noch ein weiter, dornenreicher Analyseprozeß zurückzulegen.

SDI kann, dies läßt sich schon jetzt sagen, einen wichtigen Erfolg bereits verbuchen: Die Sowjetunion ist aus ihrer Selbstisolation heraus wieder an den Verhandlungstisch zurückgekehrt. Ihre Beurteilung der Eigendynamik der SDI, des damit verbundenen Innovationsschubs und der amerikanischen Entschlossenheit dürfte sich in weiten Teilen mit der der Westeuropäer decken.

Der Beginn der Verhandlungen ist aber nur ein erster Schritt; konkrete Ergebnisse müssen folgen. Allein aus diesem Grunde muß das begonnene Forschungsprogramm weitergeführt werden. Und die Westeuropäer täten gut daran — trotz aller berechtigter Bedenken zur SDI —, Bündnissolidarität zu demonstrieren. Nur so kann der Sowjetunion signalisiert werden, daß ihr Versuch, das Bündnis über die SDI-Thematik zu spalten, ebenso fehlschlagen wird, wie dies bei der NATO-Nachrüstung der Fall war.

V. Optionen für Westeuropa

Die möglichen Reaktionen Westeuropas müssen sich zweckmäßigerweise an den beiden zeitlichen Phasen der SDI orientieren.

1. Es ist davon auszugehen, daß das angelaufene amerikanische SDI-Forschungsprogramm zu Ende gebracht wird, und zwar unabhängig davon, wie der nächste Kongreß aussehen, der nächste amerikanische Präsident heißen oder ob es in Genf zu Vereinbarungen über die militärische Nutzung des Weltraums kommen wird. Forschungsarbeiten lassen sich nicht verhindern, und sie sind nicht verboten.

2. Es muß weiterhin davon ausgegangen werden, daß das unter der Motivation „SDI" zusammengefaßte finanzielle und technologische Potential der USA erheblichen Nutzen nicht nur für den militärischen, sondern auch für den zivilen Bereich bringen wird Der technologische Innovationsschub, der aus der SDI-Forschung resultieren dürfte, könnte sich insofern als gravierend erweisen, als die USA ihren derzeit bereits bestehenden technologischen Vorsprung erheblich ausbauen könnten — mit der Folge, daß sich das technologische Gefälle zwischen den USA und Westeuropa weiter vergrößern würde. Wer glaubt, dies im Rahmen eines (nicht existierenden) westeuropäischen Verbundes oder gar im nationalen Alleingang verhindern zu können, hat die Dimension der amerikanischen Forschungsinitiative nicht begriffen. Die westeuropäischen Staaten müßten daher ein erhebliches Interesse haben, an den SDI-Forschungsergebnissen zu partizipieren. 3. Daraus folgt, daß sich die Westeuropäer allein schon aus industriepolitischem Interesse heraus an diesen Forschungen beteiligen müssen. Die Form dieser Beteiligung muß sorgfältig verhandelt werden; durch SDI darf keine neue technologische Einbahnstraße von den USA nach Westeuropa entstehen. Gewiß ist, daß es diese Beteiligung nicht zum technologischen und finanziellen Null-Tarif geben wird; möglich ist, daß das für Westeuropa abfallende technologische „Know-how" nur begrenzt sein wird. Aber es gibt hierzu keine Alternative: ohne Beteiligung dürfte es keinerlei technologischen Nutzen geben.

4. Die Frage der Beteiligung muß aus westeuropäischer Sicht pragmatisch angegangen werden: Eine Beteiligung am Forschungspro13 gramm signalisiert zwar ein gewisses Einverständnis mit der SDI insgesamt, jedoch kann sie unter dem Vorbehalt geschehen, daß eine Entscheidung hinsichtlich einer Beteiligung an der Entwicklung und am Aufbau eines strategischen Abwehrsystems davon unberührt bleibt. Ferner muß darauf bestanden werden, daß die USA bereits in der Forschungsphase mit der Sowjetunion verhandeln (was ja bereits geschieht), und daß vor einer Entscheidung zur Dislozierung eines amerikanischen strategischen Abwehrsystems die Westeuropäer konsultiert und ihre Anliegen angemessen berücksichtigt werden. 5. Hinsichtlich eines möglichen Aufbaus eines amerikanischen Abwehrsystems sind die Einwirkungsmöglichkeiten der Westeuropäer — realistisch gesehen — jedoch gering. Es ist davon auszugehen, daß die beiden Weltmächte diese Abwehrsysteme aufbauen, wenn es nicht zuvor zu entsprechenden Rüstungskontrollvereinbarungen kommt. Die USA dürften sich hierbei weniger von den Sorgen der Westeuropäer, als primär von ihrer Perzeption der sowjetischen Bedrohung und ihren eigenen Sicherheitsinteressen leiten lassen. 6. Die Westeuropäer stehen damit vor einem sich verschärfenden Problem: Sie müssen entscheiden, ob der Zugewinn an Sicherheit, der für sie mit dem Aufbau eines strategischen Abwehrsystems verbunden wäre, den Aufwand lohnt angesichts der neben den ballistischen Nuklearraketen weiterhin existierenden sonstigen Bedrohungspotentiale. Wird dies bejaht, dann müßten die Westeuropäer zu einem wirklich substantiellen Abbau der sie betreffenden Gesamtbedrohung auf fünf Ebenen tätig werden: Beteiligung an SDf, Stärkung der Abwehrfähigkeit gegen nuklearfähige Flugzeuge, Aufbau einer Abwehrfähigkeit gegen nuklearfähige Marschflugkörper, Erweiterung der Luftverteidigungsfähigkeit gegen Raketen kürzerer Reichweite und Durchführung der bereits einvernehmlich im Bündnis beschlossenen Stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit der Allianz.

Wie dies innenpolitisch, finanziell, organisatorisch und strukturell bewerkstelligt werden kann, steht im wahrsten Sinne des Wortes in den Sternen.

Dieses — zugegebenermaßen spekulative — Optionsspektrum mag wenig hoffnungsfroh stimmen. Eine Alternative hierzu ist aber nicht in Sicht. Es ist wenig hilfreich, vor dieser Realität die Augen zu verschließen. Weder übertriebene Euphorie, noch ein auch auf SDI ausstrahlender Europessimismus sind angezeigt — am allerwenigsten aber ein Wunschdenken, das in der Annahme gipfelt, dies alles ginge an uns vorbei, weil sich SDI ohnehin technologisch und/oder finanziell als nicht realisierbar erweisen würde.

Die irreführenden Schlagworte „Krieg der Sterne" oder „Militarisierung des Weltraums“ sind letztlich nichts anderes als eine hilflose Reaktion auf die längst schon begonnene militärische Nutzung der neuen Dimension. Vieles spricht dafür, daß die Welt am Beginn einer tiefgreifenden militärtechnischen Umwälzung steht, die in ihren derzeit noch gar nicht voll zu erkennenden Ausmaßen jene epochalen Veränderungen wie die Ablösung der Hieb-und Stichwaffen durch die Feuerwaffen, der Kavallerie durch den Panzer oder der Überlagerung der Landkriegführung durch die Nutzung des Luftraums bei weitem in den Schatten stellen könnte. Man mag vor dieser Perspektive erschrecken; man sollte sich aber langfristig auf ihre Realisierung einstellen— es sei denn, in Genf gelänge der sehnlich erwartete wirkliche Durchbruch in der Rüstungskontrolle, indem die Sicherheitsinteressen beider Seiten gemeinsam definiert und akzeptiert, defensive wie offensive Waffen im Rahmen einer klar umrissenen strategischen Stabilität eingebunden und signifikante Reduzierungen der Offensivpotentiale beider Seiten vereinbart und durchgeführt würden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u. a. H. Bühl, USA bringen Sowjets an den Verhandlungstisch zurück, in: Briefdienst 1/85 des Arbeitskreises „Sicherung des Friedens“, Bad Boll 1985.

  2. Fernsehrede Präsident Reagans vom 23. März 1983 (irreführend oft als sog. „Star-War-Speech" angesprochen), in: Wireless Bulletin from Washington Nr. 57/83, United States Information Service, Bonn (1983).

  3. Der Terminus „nicht-nukleare" Waffen schließt ein, daß für bestimmte neuartige Technologien (z. B. Röntgen-Laser) Nuklearmittel als Initialzündung (sozusagen als „Energiequelle") im Weltraum eingesetzt werden, nicht jedoch als eigentliche Abwehr-waffe Verwendung finden. Der Terminus „weltraumgestützte" Waffen schließt ein, daß nicht notwendigerweise alle Waffen permanent im Weltraum stationiert sein müssen; denkbar ist ebenso, daß diese Waffen „bei Bedarf" in den Weltraum verbracht werden (sog. ,, pop-up“ -Verfahren).

  4. Vgl. u. a. Z. Brzezinski/R. Jastrow/M. M. Kampelman, The Case for the Strategie Defense Initiative, in: International Herald Tribune vom 28. Januar 1985.

  5. Aus der Vielzahl bereits vorliegender Analysen, seien hier beispielhaft erwähnt: Union of Concerned Scientists, Space-Based Missile Defense. A report by the Union of Concerned Scientists, Cambridge, Mass., März 1984; A. B. Carter, Directed Energy Missile Defense in Space. Background Paper. Prepared under contract for the Office of Technology Assessment, Washington, April 1984 (sog.. „OTA-Studie“) -, Z. Brzezinski u. a. (Anm. 4).

  6. Vgl. u. a. die sehr unterschiedlichen Kosten-Prognosen in den veröffentlichten Studien (Anm. 5).

  7. Die amerikanische Regierung hat SDI inzwischen in einer Vielzahl von Publikationen in der Öffentlichkeit dargestelltund begründet. Die wichtigsten sind: Department of Defence, Fact Sheet. Overview of Strategie Defense Initiative. News Release of March 9, 1984; Department of Defense, Defense Against Ballistic Missiles. An Assessment df Technologies and Policy Implications. Washington,

  8. Vgl. White House Publikation (Anm. 7).

  9. Diese Begründung wurde bereits in der Fernsehrede des amerikanischen Präsidenten (Anm. 2) gegeben und seitdem insbesondere durch den Präsidenten und den Verteidigungsminister Weinberger immer wieder in den Mittelpunkt gestellt. Vgl. aber auch: J. A. Abrahamson, in: „Welf-Interview vom Oktober 1984.

  10. Fred S. Hofmann (amerikanischer Sicherheitsexperte) hat den pragmatischen Ansatz schon sehr frühzeitig vertreten. Er ließ sich dabei von dem zweifellos richtigen Gedanken leiten, daß die beiden Weltmächte sicherlich nicht die Möglichkeiten strategischer Abwehrsysteme „zu Ende" erforschen und entwickeln, um dann sozusagen mit einer großen Kraftanstrengung das gesamte Abwehr-

  11. Diese Begründung wird selbst von Kritikern der SDI als durchaus realistisch betrachtet — vgl. hierzu u. a. M. Bundy/G. F. Kennan/R. S. McNamara/G. Smith, The President's Choice: Star Wars or Arms Control, in: Foreign Affairs, 63/2 (Winter 1984), S. 264— 278.

  12. Einzelheiten der sowjetischen Aktivitäten auf dem Gebiet der Raketenabwehr werden in der öffentlichen Diskussion inzwischen zunehmend verdeutlicht. Einen Einblick gibt hierzu u. a. H. Rühle, Tschernenkos „Krieg der Sterne". Ein geheimes Kapitel sowjetischer Raketen-Rüstung, in: FAZ vom 22. Januar 1985.

  13. Einen Überblick über die derzeitigen Überlegungen in Westeuropa gibt die ausgezeichnete Studie von P. E. Gallis/M. M. Lowenthal/M. S. Smith,

  14. Mißverständliche Äußerungen einzelner Mitglieder der amerikanischen Administration fördern diese Unterstellungen. Vgl. hierzu u. a. F. C. Ikl, „Wäre ich im Kreml...", Interview durch M. Geist, in: WELT am SONNTAG, 6/85 vom 10. Februar 1985.

  15. Eine detaillierte Analyse dieser Modelle und ihrer Auswirkungen auf das strategische Gleichgewicht müßte in weitere Details einsteigen. Einen interessanten Ansatz hierzu liefert die Studie von P. E. Gallis u. a. (Anm. 13), die auch mögliche Szenarien eines technisch und konzeptionell unterschiedlichen Aufbaus strategischer Abwehrsysteme durch die beiden Weltmächte analysiert.

  16. Insbesondere aus dem Pentagon, aber auch von Teilen der amerikanischen Industrie, wird behauptet, daß die Abwehr sog. „taktischer" Raketen einfacher sei als die Abwehr globalstrategischer Raketen. Ob dies wirklich der Fall ist, kann derzeit nicht bewiesen werden. Den verkaufsfördernden Argumenten der interessierten Industrie sollte mit großer Skepsis begegnet werden, und offizielle Äußerungen sollten daraufhin untersucht werden, ob sie fachlich fundiert sind oder lediglich zur Beruhigung der Westeuropäer dienen. Auch für ein Abwehrsystem gegen Raketen kürzerer Reichweite gilt, daß es alle Funktionen eines strategischen Abwehrsystems erfüllen müßte — und dies bei wesentlich kürzeren Einwirkzeiten.

  17. Vgl. hierzu u. a. H. J. Weise, Amerikanische Pläne für ein weltraumgestütztes Raketen-Abwehrsystem, in: Europa-Archiv 13/84, S. 401— 406.

  18. Unter C 3 (Command, Control and Communication = Führung, Kontrolle und Verbindung) wird die Führungsfähigkeit subsumiert.

  19. Zur ASAT-Problematik siehe u. a. D. S. Lutz, „Sternenkrieg", Weltraumrecht und Rüstungssteuerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/84, S. 31— 44, und W. Mallmann, Aus 160 Kilometer Höhe einen Tennisball erkennen, in: Frankfurter Rundschau vom 31. Dezember 1984.

  20. Der Begriff „taktische" Raketen wird hier nur mit Vorbehalt wiedergegeben, da die Einteilung in taktische und strategische Raketen die Sicht der Weltmächte wiedergibt. Für ein geographisch kleines, grenznahes Land wie die Bundesrepublik Deutschland sind alle Nuklearraketen, die ihr Territorium treffen können, als existenzbedrohend und „strategisch" einzustufen.

  21. ABM(= Anti-Ballistic Missile) -Vertrag: Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion „über die Begrenzung von Systemen zur Abwehr ballistischer Raketen“; Weltraumvertrag: multilateraler Vertrag „über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper"; Teststopp-Vertrag: multilateraler Vertrag „über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser".

  22. Präambel des ABM-Vertrags.

  23. Artikel V des ABM-Vertrags.

  24. Die Grenzen zwischen erlaubten und verbotenen Aktivitäten definierte Gerard Smith, der Leiter

  25. Nr. E der Protokollierten Vermerke der Vereinbarten Interpretationen zu den Abkommen (ABMVertrag und SALT I) vom 26. Mai 1972.

  26. Bundeskanzler Kohl hat in seiner Rede vor der XXII. Wehrkundetagung in München am 9. Februar 1985 einige der Elemente „strategischer Stabilität“ aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland definiert:

  27. Für das SDI-Forschungsprogramm hat die amerikanische Regierung 26 Mrd. US-Dollar eingeplant, in erster Linie im Haushalt des Pentagon und des Energie-Ministeriums. Dies entspricht etwa 80 Mrd. DM oder dem 1 1/2-fachen des derzeitigen Verteidigungshaushaltes der Bundesrepublik Deutschland. Viele dieser Gelder wären sicherlich auch ohne SDI in entsprechende Forschungen investiert worden; allerdings entstand und entsteht durch SDI ein Momentum, das in fast alle Forschungsbereiche ausstrahlt. Rechnet man die damit verbundenen Forschungsaufwendungen der Industrie, der Laboratorien und der Universitäten mit ein, dürfte eine Summe von über 100 Mrd. US-Dollar für die SDI-Forschung nicht zu hochgegriffen sein — also weit mehr, als der gesamte derzeitige Bundeshaushalt beträgt.

Weitere Inhalte

Claus Richter, Master of Arts in International Relations, geb. 1940; Studium der Internationalen Politik an der Boston University, Mass., USA und Studium der Politischen Wissenschaft und Soziologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn; Oberst i. G. Veröffentlichungen zu Themen der Sicherheitspolitik, Militärstrategie und Rüstungskontrolle.