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Debattenordnung und Debattenstil Überlegungen zur Reform des Deutschen Bundestages | APuZ 24-25/1985 | bpb.de

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APuZ 24-25/1985 Der Verhaltenskodex von Abgeordneten in westlichen Demokratien Debattenordnung und Debattenstil Überlegungen zur Reform des Deutschen Bundestages Ansätze und Perspektiven einer Parlamentsreform Anmerkungen zur Diskussion um die Parlamentsreform Artikel 1

Debattenordnung und Debattenstil Überlegungen zur Reform des Deutschen Bundestages

Edwin Czerwick

/ 32 Minuten zu lesen

Einleitung

Übersicht der Hauptargumentationsbezüge in der Debatte über den Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg

Wieder einmal ist in der Bundesrepublik Deutschland eine Kontroverse über eine angebliche oder tatsächliche Krise des Parlamentarismus ausgebrochen. Diese Diskussion ist jedoch weder neu, noch sind die Argumente, die ausgetauscht werden, besonders originell

Im wesentlichen geht es dabei um Ansehen und Stellung des Deutschen Bundestages in der Öffentlichkeit, wobei im einzelnen die mangelnde Verwurzelung des Parlaments im Bewußtsein der Bevölkerung und geringes Interesse an der Parlamentsarbeit beklagt werden.

Da jedoch das öffentliche Erscheinungsbild des Parlaments als in starkem Maße auf Vorurteilen und Unkenntnis beruhend interpretiert wird, zielen die Reformvorschläge auf eine Verbesserung seiner Außenrepräsentation. Insbesondere durch eine Stärkung der kommunikativen Funktionen des Parlaments soll den politischen Entfremdungserscheinungen in der Bevölkerung wirksam entgegengewirkt werden

Verknüpft wird dieses Ziel mit einer Verbesserung der Stellung des einzelnen Bundestagsabgeordneten gegenüber seiner Fraktion.

Nur wenn die Parlamentarier politisch unabhängiger von ihren Fraktionsvorständen würden, könne der Deutsche Bundestag auf größere öffentliche Resonanz hoffen. Die Unabhängigkeit der Abgeordneten wird also als wesentliche Bedingung einer besseren Wahrnehmung ihrer Kommunikationsfunktion gesehen. Vereinfacht könnte von daher die These wie folgt lauten: Die Erweiterung der Kommunikationsfunktion des einzelnen Parlamentariers verbessert insgesamt die Kommunikationsfunktion des Parlaments und stärkt die Position des Deutschen Bundestages im politischen System der Bundesrepublik Deutschland.

Die folgenden Ausführungen sollen demgegenüber zeigen, daß wir 1. noch viel zu wenig über die Voraussetzungen wissen, auf denen diese These beruht; daß 2. die derzeitigen Kommunikationsleistungen des Deutschen Bundestages zu negativ gesehen werden-, daß mit einer Reihe von Reformvorschlägen, sofern sie verwirklicht werden sollten, eher das Gegenteil dessen erreicht wird, was bezweckt werden soll.

I. Die Funktion von Parlamentsdebatten in der Demokratie

Im Zentrum der Vorschläge zur Verbesserung der Kommunikationsfunktion des Deutschen Bundestags stehen Ordnung und Stil von Parlamentsdebatten. Traditionell wird diesen eine große Bedeutung für eine offene und demokratische Gesellschaft zugewiesen 3).

Durch sie soll sich das Parlament als Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion über politische Probleme erweisen. Parlamentarismus-theorien haben dabei den Debatten in unterschiedlicher Begrifflichkeit die folgenden, sich zum Teil überschneidenden idealtypischen Funktionen zugeschrieben: 1. Die Öffentlichkeitsfunktion: Das Parlament soll die Bürger über die aktuellen Probleme der Gesellschaft sowie über die in Aussicht genommenen Wege der Problemlösung informieren, um ihre Aufmerksamkeit auf den aktuellen Entscheidungsbedarf des politischen Systems zu richten. Parlamente sollen aber auch von sich aus initiativ werden, indem sie auf zukünftige Probleme verweisen.

2. Die Repräsentationsfunktion: Mit der Wahrnehmung der Öffentlichkeitsfunktion muß jedoch gewährleistet sein, daß möglichst alle in der Gesellschaft artikulierten Auffassungen zu dem betreffenden Problem zu Worte kommen, bevor sie in unterschiedlichen Lösungskonzepten zusammengefaßt werden. Parlamentsdebatten müssen sich also auf die öffentliche Meinung beziehen lassen und zugleich für die von dort ausgehenden Anforderungen offen sein.

Mit der Erfüllung dieser beiden Funktionen sind eine Reihe von Erwartungen verknüpft, die dem Ideal eines demokratischen Gemeinwesens nahe kommen. Indem das Parlament die Belange der Bürger aufgreift und öffentlich diskutiert, wird die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen politischem System und Bürger tendenziell verringert. Der politische Prozeß wird durchschaubarer und damit auch kritisier-und kontrollierbar. Der kontroverse Charakter von Parlamentsdebatten ermöglicht dem Bürger darüber hinaus ein eigenes Urteil unter Abwägung der unterschiedlichsten Argumente.

Politik wird damit auf eine rationale Grundlage gestellt, deren Endziel zwar nicht (mehr) in der Wahrheit, wohl aber in dem zum gegenwärtigen Zeitpunkt für das Gemeinwohl als richtig erkannten liegt. Da das Gemeinwohl aber beständig über die Lösung der politischen Probleme konkretisiert werden muß, bedarf es einer permanenten Mitwirkung der Bürger am Problemlösungsprozeß, dessen Voraussetzungen wieder von den Parlamenten gestaltet werden müssen.

II. Die Kritik an den Debatten im Deutschen Bundestag

Diese hier nun in sehr verkürzter Form dargestellte Argumentationskette bildet vielfach den Maßstab der Beurteilung von Parlaments-debatten, sowohl durch die Parlamentarier selbst als auch von Seiten der wissenschaftlichen Parlamentarismuskritik. Insofern ist es auch nicht besonders überraschend, wenn an Parlamentsdebatten immer wieder erhebliche Defizite hervorgehoben werden

So wird z. B. festgestellt, der Bundestag sei ein diskussions-und argumentationsfaules Parlament, das seine Arbeit vor allem in den Ausschüssen verrichte und nur dann im Plenum debattiere, wenn es unvermeidlich sei. Dann aber seien die Debatten introvertiert und zu wenig nach außen gerichtet. Wichtige Fragen würden nicht rechtzeitig und gründlich genug diskutiert und statt der Diskussion von Grundsatzfragen überwiege ein Feilschen um Details. Außerdem verkündeten die immer gleichen Sprecher die immer gleichen Inhalte, wobei sich die Stereotypie der Inhalte nicht nur auf eine Debatte oder Wahlperiode begrenzen lasse, sondern seit Bestehen des Bundestages gelte. Als Gesamtfazit der Debattenkritik kann nach wie vor die Aussage Gerhard Loewenbergs gelten, der in den De-batten keinen integralen Bestandteil des im Bundestag stattfindenden Diskussions-und Verhandlungsprozesses sieht, „sondern eher ein Etikett für diesen Prozeß"

Insofern werden die Plenarsitzungen mehr als Schauplatz antizipierter Wahlreden denn als effektives Diskussionsforum öffentlicher Politik beurteilt Kritik am gegenwärtigen Ablauf der Parlamentsdebatten findet sich aber nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur, sondern ist auch bei den Bundestagsabgeordneten selbst verbreitet. In einer von Ewald Rose und Joachim Hofmann-Göttig erhobenen Umfrage äußerten sich 65% der „Neuparlamentarier" und 80% der „Altparlamentarier" nicht zufrieden mit dem Ablauf der Plenardebatten. Gewünscht wurden von den Jungparlamentariern vor allem kürzere Beiträge, größere Spontaneität und mehr frei gestaltete Reden

Noch eindrucksvoller nehmen sich die Ergebnisse aus, die die Ad-hoc-Kommission „Parlamentsreform" bei einer Befragung ermittelt hat, an der sich insgesamt 196 Abgeordnete (37, 7%) beteiligt und 170 die gestellten Fragen auch beantwortet haben. Aus dieser Befragung geht hervor, daß der größte Teil der Parlamentarier ein allgemeines Rederecht, die Einführung „offener" Debattenrunden sowie eine Auflockerung der Debatten durch die Zulassung freier . Wortmeldungen wünscht Sie erwarten, daß mittels eines so veränderten Debattenstils das Ansehen des Bundestages in der Öffentlichkeit verbessert werden kann.

Interessanterweise beziehen sich Kritik und Verbesserungsvorschläge also vor allem auf die Ordnung und den Stil von Debatten. Bevor aber in dieser Richtung Reformvorschläge entwickelt werden, müßte man zunächst einmal prüfen, ob die den Debatten zugrundeliegenden demokratietheoretischen Prämissen überhaupt stichhaltig sind. Sollte sich nämlich erweisen, daß die mit ihnen verbundenen Erwartungen auf falschen Voraussetzungen beruhen, müßten die Reformen zur Verbesserung der öffentlichen Stellung des Deutschen Bundestages an einer ganz anderen Stelle einsetzen als an der Veränderung der Debattenordnung und des Debattenstils. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fehlen u. a. gesicherte Erkenntnisse darüber, — welchen Stellenwert Parlamentsdebatten im politischen Meinungsbildungsprozeß einnehmen und welche Motive es gibt, sich Debatten anzuhören;

— welche Erwartungen gegenüber Parlamentsdebatten geäußert und wie kontroverse Debatten beurteilt werden;

— wie die in den Debatten geäußerten Informationen verarbeitet werden und in welcher Weise sie der politischen Orientierung dienen. Eine Beantwortung dieser Fragen ist notwendig, wenn die Bedeutung von Vorschlägen zur Debattenreform eingeschätzt werden soll, denn je nachdem, wie diese Fragen beantwortet werden, wird sich zeigen, ob die bisherige Kritik an den Parlamentsdebatten gerechtfertigt ist und ob die von Kritikern entwickelten Reformvorschläge realistisch sind.

Kompliziert wird die Beantwortung der obigen Fragen allerdings dadurch, daß die Bürger sich in ihrem politischen Informationsstand, dem Grad ihrer politischen Bildung und ihres politischen Interesses usw. unterscheiden und es wenig wahrscheinlich ist, daß Parlamentsdebatten eine derart einheitliche Wirkung entfalten, wie es unterstellt wird. Selbst der beste Debattenstil kann wohl kaum Defizite im politischen Bewußtseinsstand der Bevölkerung ausgleichen; mit einer solchen Aufgabenstellung wäre er schlicht überfordert. Doch scheint eine solch überhohe Erwartungshaltung genau der Maßstab zur Beurteilung von Parlamentsdebatten zu sein, womit ein negatives Ergebnis automatisch vorgegeben ist.

Dagegen gibt es viele Anhaltspunkte dafür, daß die Parlamentsdebatten sehr viel besser als ihr Ruf sind. Wie der folgende Abschnitt am Beispiel der Debatte über den Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg zeigen wird, erfüllen diese durchaus eine Reihe der Funktionen, die ihnen im Rahmen von Parlamentarismustheorien zugeschrieben werden, was bisher offensichtlich viel zu wenig zur Kenntnis genommen wurde. Während die Kritiker des Debattenstils im Deutschen Bundestag die ihrer Kritik zugrundeliegenden Annahmen nicht oder nur sehr selektiv offenlegen und ihre Ergebnisse nur in den seltensten Fällen — und dann zumeist nur in Teilbereichen — auf empirisch abgesicherte Untersuchungen zurückführen können, soll, um diese beiden Schwachstellen wenigstens ansatzweise zu vermeiden, im folgenden die Debatte quantitativ und qualitativ daraufhin analysiert werden, ob sich in ihr Kriterien eines demokratischen Diskussionsstils nachweisen lassen. Diese Kriterien sind: Aktualität und Themen-vielfalt, Transparenz und Meinungsbildung durch zwischenparteiliche Polarisierung sowie gegenseitige argumentative Bezugnahme der Redner.

Wenn sich solche Elemente in der Debatte nachweisen lassen, sind damit natürlich die Argumente der Debattenkritiker noch nicht widerlegt, denn dazu ist die Untersuchungsbasis zu schmal. Das gilt sowohl für die Quantität der ausgewählten Debatten als auch für die Kritikpunkte, die hier nur partiell aufgegriffen werden Immerhin könnte aber der Nachweis von Elementen eines demokratischen Diskussionsstils in Bundestagsdebatten den Geltungsbereich der Debattenkritik ein-schränken und damit den Blick für neue Fragestellungen freilegen, die zu einer differenzierteren Bewertung von Debatten führen.

III. Elemente eines demokratischen Diskussionsstils in der Debatte über den Weltwirtschaftsgipfel von Williamsburg

Vorbemerkung: Das theoretische Konzept, mit dessen Hilfe die Analyse der Debatte angeleitet wird, wird im folgenden als Positionsfixierungskonzept bezeichnet Mit seiner Hilfe lassen sich die spezifischen politischen Positionen der Parteien zu den einzelnen Sachproblemen, ihre politische Identität sowie ihre Sichtweise der anderen Parteien herausarbeiten. Das Positionsfixierungskonzept soll auf Muster zwischenparteilichen Wettbewerbs hinweisen und einen Beitrag zum Nachweis parteispezifischer Kommunikationsbezüge und parteitypischen Kommunikationsverhaltens im Bundestag leisten.

Der Begriff Positionsfixierung spricht zwei Arten der Kommunikation von Parteien an. Er bezieht sich einmal auf deren Anstrengungen, ein möglichst günstiges „Selbstbild" zu entwickeln, zum anderen darauf, die politischen Gegner auf eine Position zu fixieren, die Zustimmungsentzug bewirken soll („Fremdbild"). Positionsfixierungen beinhalten damit sowohl das Element von Kommunikation, das auf die politische Auseinandersetzung zwischen den Parteien bezogen ist, als auch das Bemühen der Parteien (jede für sich selbst), ihre Handlungen, Absichten und Motive den Bürgern mitzuteilen und um Zustimmung für ihre Politik zu werben.

Im folgenden werden deshalb die Redebeiträge der ersten 13 Politiker auf Anzahl und thematischen Bezug der von ihnen geäußerten Selbst-bzw. Fremdbilder untersucht, wobei als Selbstbilder jeweils solche Äußerungen verstanden werden, die sich explizit auf Handlungen, Einstellungen und politische Ziele der eigenen Partei, Parteifreunde, die eigene Person und/oder die politischen Rollen, die diese einnehmen, beziehen. Unter Fremdbildern werden dagegen alle jene Äußerungen verstanden, die politische Grundsätze, Handlungen, politische Ziele oder Rollen der anderen Parteien oder ihrer Repräsentanten betreffen. Die von den Akteuren geäußerten Selbst-und Fremdbilder werden aber nicht gesondert untersucht, sondern einzelnen Akteursgruppen zugeordnet und nach ihren thematischen Hauptbezügen quantifiziert und typisiert. Auf dieser Basis lassen sich schließlich Vergleiche zwischen den einzelnen Akteursgruppen erstellen, die die Grundlage für Aussagen über ihr spezifisches Kommunikationsverhalten im Deutschen Bundestag abgeben.

Die Gründe, warum gerade die Debatte über den Weltwirtschaftsgipfel von Williamsburg zum Analysegegenstand gemacht wird, können in den folgenden Punkten zusammengefaßt werden:

1. Weltwirtschaftsgipfel sind in der Regel mit hohen Erwartungen bezüglich einer Abstimmung der Politik zwischen den westlichen Industrienationen sowie mit der Erarbeitung von Problemlösungsperspektiven verknüpft, was ihnen eine breite öffentliche Aufmerksamkeit sichert.

2. Die auf den Weltwirtschaftsgipfel diskutierten Probleme können in ihrer Dringlichkeit als die zentralen Schwierigkeiten angesehen werden, mit denen die einzelnen westlichen Staaten konfrontiert sind. Insofern fordern sie zu grundsätzlichen Stellungnahmen heraus.

3. Die auf den Weltwirtschaftsgipfeln erarbeiteten Lösungsperspektiven haben für die einzelnen Länder eine zumindest moralische Bindungswirkung und beeinflussen damit auch die Politik der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb geht es auf den Weltwirtschaftsgipfeln immer auch um die Grundsätze deutscher Politik.

4. Der Weltwirtschaftsgipfel von Williamsbürg fand zu einem Zeitpunkt statt, wo in der Bundesrepublik Deutschland die Diskussion um den Stationierungsbeschluß der NATO immer intensiver wurde. Das Gipfelkommuniqu, das die westliche Position in der Stationierungsfrage noch einmal unterstrichen hat, mußte deshalb nahezu zwangsläufig auch zu zwischenparteilichen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik führen.

5. Da die Bundestagsdebatte über den Weltwirtschaftsgipfel mit den zentralen Problemen der wirtschaftlichen Situation in der Bundesrepublik sowie der Wirtschafts-und Finanzpolitik der Bundesregierung kombiniert wurde, bot die Debatte den Parteien die Möglichkeit, die Grundzüge ihrer Politik öffentlich und geschlossen zur Diskussion zu stellen.

6. Darüber hinaus kann die Debatte über den Gipfel von Williamsburg mit der Debatte über den gerade beendeten Weltwirtschaftsgipfel von Bonn verglichen werden, wodurch nicht nur ein aktueller Bezug möglich wird, sondern auch die Abhängigkeit von Debatten vom politischen Kontext deutlich wird. 1. Aktualität und Themenvielfalt der Debatte Offizielle Themen der hier untersuchten Debatte waren in der Hauptsache der Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg, das Jahreswirtschaftsgutachten 1982/83 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der Jahreswirtschaftsbericht 1983 der Bundesregierung sowie der Europäische Rat in Stuttgart. Kurz: Es ging in dieser Debatte um die ganze Palette internationaler und nationaler wirtschaftlicher und politischer Probleme Entsprechend vielfältig waren die thematischen Bezüge der von den Rednern geäußerten Positionsfixierungen. Die Schwerpunkte betrafen vor allem: den Gipfel in Williamsburg, die Entwicklungsländerproblematik, die Sicherheitspolitik, die Arbeitslosigkeit und die Maßnahmen zu ihrer Überwindung wie z. B. Arbeitszeitverkürzung, die Europapolitik, die Wachstumsförderung und Zinsentwick10 lung, die Finanzen der Kommunen, die Sozialpolitik, Existenzgründungsprogramme und Risikokapitalförderung, Entbürokratisierung und Subventionsabbau, die Konsolidierung des Bundeshaushalts, die betriebliche Vermögensbildung, die Frage einer angemessenen Investitionsförderungspolitik, die amerikanische Wirtschaftspolitik, eine liberale Welt-wirtschaftspolitik, die Energiepolitik, die Steuerpolitik sowie die Problematik staatlicher Beschäftigungsprogramme.

Diese Vielfalt der im Deutschen Bundestag diskutierten Themen veranschaulicht das Problembewußtsein der politischen Akteure und auch den hohen Aktualitätsbezug der Debattenbeiträge. Von daher kann man, zumindest was diese Debatte anbelangt, wohl kaum davon sprechen, der Deutsche Bundestag befinde sich mit seinen Debatten nicht auf der Höhe der aktuellen Problemlösungsdiskussion. Im Gegenteil: Mit der Quasi-Institutionalisierung von aktuellen Themen, die zum Gegenstand der politischen Kommunikation gemacht werden, wirkt der Bundestag nicht nur bei der Aufgabe mit, den allgemeinen politischen Problemhaushalt auf den aktuellen Entscheidungsbedarf des politischen Systems zu beziehen, sondern er vermittelt der Öffentlichkeit zugleich die Vielfalt, Intensität und Struktur des politischen Entscheidungsbedarfs. Insofern trägt er wesentlich zu der Herausbildung von öffentlicher Meinung bei Die Anzahl der genannten Themen verweist außerdem auf seine politische Offenheit. Bestätigt diese Debatte also mit ihrer Themenvielfalt das ausgeprägte Problembewußtsein der Parlamentarier, so scheint damit aber zugleich auch ein nicht zu unterschätzender Nachteil verbunden zu sein. Die große Zahl der behandelten Themen macht es fast unmöglich, sie im einzelnen so zu diskutieren, wie das in Anbetracht der jeweiligen Problematik eigentlich wünschenswert wäre. So mag leicht der Eindruck entstehen, als würden in den Debatten wichtige Probleme nur sehr oberflächlich angerissen und die Bürger durch die Vielfalt in ihrer Aufnahmebereitschaft überfordert, zumal eine detaillierte Vermittlung der Problemlösungsansätze zu kurz kommt. Ob dies aber tatsächlich immer als Nachteil gedeutet werden darf, muß so lange offenbleiben, solange nicht geklärt ist, ob der relativ allgemeine Charakter solcher Debatten nicht auch als Anregung zur weiteren Informationssuche der Bürger wirken kann.

Zudem ist darauf zu verweisen, daß im Bundestag ja auch eine Fülle von sehr detaillierten Debatten stattfinden, wobei sich dann allerdings wieder andere Probleme (z. B. das der Verständlichkeit) stellen. Man kann also auch argumentieren, daß Debatten wie die über den Weltwirtschaftsgipfel in ihrer thematischen Offenheit und inhaltlichen Deutungsbedürftigkeit insofern funktional sind, als sie die Bandbreite der politischen Probleme festlegen, die in Fachdebatten dann um so intensiver erörtert werden können. 2. Transparenz und Meinungsbildung durch zwischenparteiliche Polarisierung Im Gegensatz zum vorherigen Abschnitt geht es jetzt um die Frage, ob die Akteure ihre politischen Positionen so vermittelt haben, daß sich die Bürger ein Bild von den unterschiedlichen Auffassungen der Parteien zu den diskutierten Themen machen können. Wie bereits ausgeführt worden ist, gilt dies ja gemeinhin als eine Voraussetzung dafür, den politischen Prozeß nachzuvollziehen und sich eine eigene Meinung über die vorgebrachten Argumente bilden zu können. Auch hierbei kann das Positionsfixierungskonzept die Analyse erleichtern. Je stärker nämlich der Zuhörer in Debatten dem Austausch zwischenparteilicher Positionsfixierungen ausgesetzt ist, desto mehr sieht er sich politischen Alternativen gegenüber, die ihm die Meinungsbildung erleichtern. Positionsfixierungen sind insofern ein Mittel, die Bürger in die potentielle Rolle eines Entscheidenden zu versetzen.

Wenn auch in der Debatte über den Weltwirtschaftsgipfel die Intensität, mit der die angesprochenen Themen diskutiert worden sind, durch ihre Vielfalt gelitten hat, enthielt sie dennoch genügend Ansatzpunkte zu einer Orientierung über die Positionen von Regierung und Opposition bzw.der einzelnen Parteien. Aus der Übersicht (auf Seite 23), in der, in der notwendigen Verkürzung, die Hauptargumentationsbezüge der Akteursgruppen in der Debatte über den Wirtschaftsgipfel zusammengefaßt sind, lassen sich recht deutlich ihre unterschiedlichen politischen Positionen ablesen, mit denen sie sich gegenüber dem Bürger rechtfertigen (Selbstbilder) bzw. die politische Rechtfertigung des jeweiligen Gegners in Frage stellen (Fremdbilder).

Der kontroverse Charakter dieser Debatte zeigt aber nicht nur die Argumentationsweise und ihre inhaltlichen Schwerpunkte bei den einzelnen Akteursgruppen, sondern er veranschaulicht auch, daß die Argumentation der Redner — jenseits der von ihnen zur Stützung ihrer eigenen bzw. Infragestellung der gegnerischen Position verwendeten Einzelargumente — sehr stark auf die Bilanzierung von Politik im allgemeinen abhebt. Unter Bilanzierung von Politik ist die Zuspitzung komplexer Probleme auf relativ eindeutige Alternativen sowie ihre Einbindung in einzelne „Problemlösungsphilosophien" zu verstehen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, sowohl die geäußerten Einzelargumente als auch den ihnen zugewiesenen ideologischen Hintergrund zu überprüfen.

Unter diesem Aspekt greifen deshalb auch kritische Einwände, wie z. B.der häufig erhobene Vorwurf, daß die Parlamentsdebatten viel zu wenig konkret seien, zu kurz, weil sie deren inhaltliche Doppelfunktion (Sachaussage und Ideologietransport) nicht erkennen. Indem nämlich der Austausch von Sachargumenten zum entscheidenden Kriterium für die Qualität von Parlamentsdebatten erhoben wird, wird zugleich einem technokratischen Politikverständnis Vorschub geleistet, welches den immer auch notwendigen ideologischen und damit in einer offenen Gesellschaft kritisierbaren Gehalt von Politik unberücksichtigt läßt. 3. Gegenseitige argumentative Bezugnahme Neben der Themenvielfalt und dem kontroversen Charakter von Parlamentsdebatten ist die gegenseitige argumentative Bezugnahme der Redner ein weiteres Kriterium für einen Diskussionsstil, der dem Bürger die politische Orientierung erleichtern soll. Erst ein intensives Eingehen auf die Argumentation des politischen Gegners bietet die Voraussetzung dafür, das eigene Problemlösungskonzept hervorzuheben sowie der Debatte eine nach außen wirkende Ordnung zu geben. Andernfalls wäre sie nur eine Abfolge weitgehend unzusammenhängender und kaum verständlicher Feststellungen.

Gegenseitige argumentative Bezugnahme setzt kontroverse parlamentarische Ausein-andersetzung nicht voraus; die ausdrückliche Zustimmung der Opposition zu einer Maßnahme der Regierung ist damit ebenso erfaßt wie deren Ablehnung. Gegenseitige argumentative Bezugnahme kann über Personen und politische Maßnahmen bzw. Unterlassungen hergestellt werden. Sie kann sich an dem in der Debatte entwickelten Kommunikationskontext orientieren, indem z. B. ein Redner auf die Äußerungen eines Vorredners eingeht, sie kann aber auch durch Verweis auf andere Kontexte entstehen.

In der Debatte über den Wirtschaftsgipfel haben die Akteure nicht aneinander vorbeigesprochen, sondern ihre Beiträge waren eng im Sinne von Argument — Gegenargument bzw. Kritik — Rechtfertigung aufeinander bezogen. Dies war ebenso bei der Bewertung der Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels in Williamsburg der Fall, die von den Sozialdemokraten kritisiert, von den Vertretern der Regierung und den Koalitionsparteien dagegen als Erfolg der deutschen Verhandlungsführung gewertet wurden, wie bei den Problemen Arbeitslosigkeit, Sinn und Nutzen einer staatlichen Beschäftigungspolitik sowie Chancen und Risiken einer adäquaten Sicherheitspolitik. Dabei ging es nicht immer nur um den Gegensatz zwischen Regierung und Opposition bzw. Mehrheits-und Minderheitsfraktionen, sondern auch, wie das weitere Beispiel Arbeitszeitverkürzung zeigt, um eine Kontroverse zwischen den beiden Oppositionsparteien SPD und GRÜNE.

Diese wenigen Beispiele, denen sich noch weitere hinzufügen ließen, belegen ein wesentliches Charakteristikum von Parlaments-debatten. Insgesamt läßt sich also feststellen, daß die an der Bundestagsdebatte über den Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg aufgezeigten Elemente eines demokratischen Diskussionsstils die häufig an den Parlamentsdebatten geübte Kritik als überzogen erscheinen lassen Themenvielfalt, kontroverser Charakter von Debatten und Bezugnahme auf die Argumentation des parteipolitischen Gegners sind zwar nicht die einzigen Charakteri-stika, sie gehören aber zu den wesentlichen Voraussetzungen eines demokratischen Debattenstils. Das hier gezeichnete Bild von Bundestagsdebatten mag manchem Leser als zu freundlich und als zu wenig kritisch erschienen. Wie relativ leicht lassen sich doch Debatten zitieren, in denen parlamentarische Diskussionen in sture zwischenparteiliche Polemik ausufern, in denen es dann nicht mehr um die diskursive Lösung gesellschaftlicher Probleme geht, sondern nur noch um die Initiierung oder Zurückweisung gegenseitiger Anschuldigungen.

In solchen Debatten beschäftigen sich Politiker nur noch mit sich selbst und der von ihnen erzeugten Realität vor einer teils erstaunten, teils aber auch verständnislosen Öffentlichkeit. Als Beispiel für einen solchen Diskussionsstil kann zum Teil die Bundestagsdebatte über den Weltwirtschaftsgipfel in Bonn vom Mai 1985 herangezogen werden 14). Obwohl in ihr eine Fülle aktueller Themen angeschnitten worden ist, betrafen diese weniger gesellschaftliche Probleme als vielmehr das Verhalten der Parteien zueinander. Zwischenparteiliche Polemik und Polarisierung beherrschten so über weite Strecken die Diskussion, ohne allerdings den Prozeß der Transparenz und Meinungsbildung zu befördern. Von daher war es auch nicht weiter verwunderlich, daß die Redner nur in Ausnahmefällen auf die Ausführungen ihrer Vorredner Bezug nahmen, zumal sie sich auf vorgefertigte Texte gestützt haben. Insgesamt gesehen entsprach diese Debatte damit kaum dem Postulat eines demokratischen Diskussionsstils, wie es hier entwickelt worden ist. Haben also die Kritiker des Debattenstils im deutschen Bundestag mit ihrer negativen Auffassung über parlamentarische Diskussionen doch recht? Eine pauschale Bejahung oder Verneinung dieser Frage erscheint als wenig angemessen. Wenn man die Situation berücksichtigt, in der die Debatte über den Bonner Weltwirtschaftsgipfel stattgefunden hat, also nach den heftigen Auseinandersetzungen um Bitburg sowie nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl und ihren Folgen, dann stellte diese Debatte eher eine Ausnahme als den Regelfall dar. Nicht jede Bundestagsdebatte findet in einem solch emotional geladenen und kontroversen politischen Klima wie diese statt. Auch ist zu berücksichtigen, daß sich eine Reihe von Rednern um einen demokratischen Diskussionsstil bemüht haben, so daß eine undifferenzierte Verurteilung dieser Debatte unangebracht wäre. Von daher wird deshalb auch an der generellen Einschätzung festgehalten, daß die Qualität von Bundestagsdebatten in ihrer überwiegenden Mehrheit wesentlich besser ist, als ihre Kritiker behaupten. Unter den Voraussetzungen eines demokratischen Debatten-stils werden deshalb im folgenden Abschnitt vor der Entwicklung eigener Reformvorschläge eine Reihe jener Reformvorschläge kritisch untersucht, die in der öffentlichen Diskussion über die Verbesserung des Debattenstils im Deutschen Bundestag immer wieder vorgebracht werden.

IV. Vorschläge zur Reform von Debattenordnung und -stil im Deutschen Bundestag

1. Kritische Anmerkungen zu den Vorschlägen einer Neuordnung der Parlamentsdebatten Hauptziel aller Vorschläge zur Reform der Debattenordnung und des -stils ist es, das Parlament stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken und gleichzeitig dem Bürger das Bewußtsein zu vermitteln, daß im Deutschen Bundestag an seinen Interessen orientiert verantwortungsvoll diskutiert und entschieden wird. Mit der intensiveren Einbeziehung öffentlicher Erwartungen in den parlamentarischen Willensbildungsprozeß soll der Bundestag seine Funktion als direkt gewähltes Repräsentationsorgan des gesamten deutschen Volkes besser als bisher erfüllen können. Die zahlreichen hierzu unterbreiteten Einzelvorschläge lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Verbesserung des Diskussionsstils — sachliche Diskussion statt zwischenparteiliche Polemik;

— kürzere Redebeiträge, damit mehr Redner zu Wort kommen können (mehr Vielfalt);

— mehr freie Reden im Plenarsaal;

— Erweiterung des Wechselspiels zwischen Redner und Zwischenfrager; — Redner mit Kurzbeiträgen (5 Minuten) sollen vor anderen Sprechern zu Wort kommen; — diskussionsfreundliche bauliche Umgestaltung des Plenarsaals.

Verbesserung der Redemöglichkeit von Abgeordneten — Möglichkeit, Reden zu Protokoll zu geben; — frühere Festlegung der Debattenthemen, damit sich Abgeordnete besser darauf vorbereiten können;

— pro Monat soll eine Debatte stattfinden, für die sich jeder Abgeordnete melden kann; — jeder offiziellen Tagesordnung ist ein Zeitraum anzufügen* in dem von den Fraktionen abweichende Meinungen vorgetragen werden können (erweitertes Recht zur Abgabe persönlicher Erklärungen);

— Einführung „offener" Debattenrunden zwischen den von den Fraktionen geplanten Debatten. Partizipationsmöglichkeiten für parlaments-externe Gruppen — Redemöglichkeiten für Betroffene in Ausschüssen und Plenum, wenn sich dafür eine Fraktion ihr Redekontingent anrechnen läßt; — unmittelbare Behandlung von Massenpetitionen im Plenum.

Entlastung des Parlamentsplenums — Einsparung der ersten Lesung bis auf wenige Ausnahmen oder — Wegfall der dritten Lesung, dafür öffentliche Ausschußsitzungen;

— kürzere Debattensitzungen (keine Mammutdebatten); — Verlagerung der Diskussion „unpolitischer" Themen in öffentlich tagende Ausschüsse.

Stärkung des Parlaments gegenüber der Regierung — Beschränkung der Redemöglichkeiten von Mitgliedern der Bundesregierung und des Bundesrats;

— Einführung unvorbereiteter Fragestunden, bei denen die Themen nur einen Tag vorher bekannt gegeben werden;

— Verlagerung des Initiativrechts von der Bundesregierung auf das Parlament. Das Parlament führt über ein Problem eine Grundsatzdebatte durch und beschließt Leitlinien zur Lösung des Problems, an denen sich die Regierung orientieren muß;

— „Politische Stunde": Das Kabinett gibt dem Parlament Auskunft über seine Beschlüsse, bevor die Öffentlichkeit informiert wird. Im Anschluß daran soll sich eine Fragezeit oder eine „Aktuelle Stunde" anschließen.

Erweiterung der Öffentlichkeit — Einführung sogenannter „Erweiterter Ausschußberatungen", die öffentlich sein sollen und die die Belange von Debatten und Einzel-beratung berücksichtigen;

— (versuchsweise) generelle Einführung von öffentlichen Ausschußsitzungen;

— Übertragung aller Debatten durch Rundfunk und Fernsehen;

— Debatten nur am Vormittag bzw. Nachmittag, um Berichterstattung der Medien zu erleichtern. Diese Übersicht zeigt, daß die Reformvorschläge nicht nur auf eine Korrektur der derzeit gültigen Debattenordnung abheben, sondern z. T. auch substantielle Veränderungen beinhalten. Sollten diese alle durchgesetzt werden, würden sie die inner-wie zwischenfraktionellen Beziehungen, das Repräsentationsprinzip und das Verhältnis von Regierung und Parlament verändern, ohne daß die politischen Konsequenzen abgeschätzt werden können und man Gewißheit hätte, daß der intendierte Zweck der Reformen auch tatsächlich erreicht wird

Vorschläge, die auf eine Verbesserung des Diskussionsstils im Deutschen Bundestag gerichtet sind, scheinen dabei noch am wenigsten risikobeladen, wenn gewährleistet ist, daß die gewünschte Verlebendigung der Debatten nicht zum „unverbindlichen Palaverismus" (Norbert Lammert) führt. Eine solche Gefahr ist zumindest potentiell dann vorhanden, wenn es durch die Kürze der Debatten-beiträge, die große Zahl der Sprecher und das Gebot der freien Rede nicht mehr möglich ist, Probleme ausführlich und stringent — und damit auch für den Burger nachvollziehbar — zu behandeln und statt dessen Einzelaspekte, die möglicherweise Profilierungsabsichten von Abgeordneten dienen, im Vordergrund der Diskussion stünden.

Vor einem solchen Mißbrauch sind auch die Vorschläge nicht gefeit, die zu einer Erweiterung und Verbesserung der individuellen Redemöglichkeiten der einzelnen Parlamentarier führen sollen. Je mehr nämlich die Rede-möglichkeiten des einzelnen Abgeordneten ausgebaut werden, desto mehr könnte sich das Parlament vom jetzigen Fraktionenparlament zum Abgeordnetenparlament verändern. Es wäre dann zunehmend schwieriger, zwischen dem politischen Standpunkt einer Fraktion und der „privaten" Auffassung des Abgeordneten zu unterscheiden. Die damit einhergehende Unübersichtlichkeit der politischen Positionen könnte zudem noch dadurch verstärkt werden, daß die „privaten" Äußerungen des Abgeordneten von einer gegnerischen Fraktion zum offiziellen Standpunkt der anderen Fraktion hochstilisiert werden, so daß schließlich der Austrag von politischen Scheingefechten zu einem parlamentarischen Dauerproblem würde. Die Möglichkeit, daß gegnerische Fraktionen die Auffassung eines Abgeordneten dazu benutzen, um Vorteile im zwischenparteilichen . Wettbewerb zu erringen, könnte aber auch dazu führen, daß die Parlamentarier von ihren erweiterten Rede-möglichkeiten, sofern sie eine von der Fraktionsmehrheit abweichende Meinung zur Diskussion stellen wollen, letztlich doch nur sparsam Gebrauch machen. Dann stellt sich zwar nicht mehr das Problem der Übersichtlichkeit parlamentarischer Debatten, es entstehen jedoch gerade für den Abgeordneten andere Konflikte. Er könnte sich nämlich jetzt den Ansprüchen seiner politischen Basis ausgesetzt sehen, die von ihm eine Stellungnahme zu einem bestimmten Thema im Parlament verlangt. Der häufig beklagte Fraktionszwang würde somit durch einen größeren Druck der politischen Basis ergänzt, so daß der mit Bezug auf Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz angestrebten Unabhängigkeit des Abgeordneten letztlich wenig gedient wäre.

Explizit angestrebt wird eine Einbeziehung der politischen Basis in den Willensbildungsprozeß des Parlaments in den Vorschlägen, die eine Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten für außerparlamentarische Gruppen fordern. Diese Vorschläge, die bisher nur aus den Reihen der GRÜNEN erhoben werden, sollen eine engere Anbindung der Parlamentsdebatten an die Interessen der von einzelnen Gesetzesinitiativen betroffenen Gruppen und damit bevölkerungsfreundlichere Entscheidungen ermöglichen. Die Realisierung dieser Vorschläge birgt indes die Gefahr in sich, daß die im Parlament vertretenen Parteien ihre Vorfeldorganisationen mobilisieren, um den von ihnen vertretenen politischen Auffassungen durch scheinpopulistische Maßnahmen mehr öffentliches Gewicht zu verleihen. Das Ergebnis wäre dann eher eine Verfestigung der Parteienstandpunkte — und damit eine Einengung der Möglichkeiten zum Kompromiß — als tatsächliche Artikulationsmöglichkeiten solcher Bevölkerungsgruppen, die sich nicht auf einflußreiche Interessenorganisationen stützen können. Anstelle der Teilnahme parlamentsexterner Gruppen an den Debatten im Deutschen Bundestag ließe sich der gleiche Effekt erzielen, wenn die bereits vorhandenen Möglichkeiten, in Hearings bzw. öffentlichen Ausschußsitzungen den Abgeordneten spezifische Interessen zu Gehör zu bringen, weiter ausgebaut würden.

Daneben müssen aber auch Vorschläge, die zu einer Stärkung des Parlaments gegenüber der Bundesregierung führen sollen, kritisch hinterfragt werden, so z. B.der Vorschlag, das Initiativrecht von der Regierung auf das Parlament zu verlagern oder die Forderung nach Einführung einer „Politischen Stunde", in der die Regierung dem Parlament Auskunft über ihre Beschlußlage geben soll, bevor die Öffentlichkeit informiert ist. Abgesehen von einer Reihe technischer Schwierigkeiten, die sich ergeben würden, wenn die Regierung darauf warten müßte, bis das Parlament zu einem Problem Stellung genommen hat, bevor sie selbst aktiv werden könnte, würde ein solcher Vorschlag den Entscheidungsprozeß verlangsamen und die Möglichkeit der Regierung zur langfristigen Planung einschränken. Darüber hinaus könnte ein solcher Vorschlag ebenso wie derjenige der „Politischen Stunde" zu einer Einmischung des Parlaments in exekutive Befugnisse und damit zu einer Vermischung der Gewalten führen. Sinnvoll wäre die Einführung einer „Politischen Stunde" nämlich nur dann, wenn die Bundesregierung auch bereit wäre, die Unterlagen der Kabinettssitzungen zur Verfügung zu stellen, damit die Abgeordneten sich ein genaues Bild vom Entscheidungsprozeß innerhalb der Bundesregierung machen können. Dazu aber dürfte keine Bundesregierung, die ihre Handlungskompetenz nicht in Frage stellen lassen möchte, bereit sein, weil damit kabinettsinterne Meinungsverschiedenheiten im Parlament und damit in aller Öffentlichkeit ihre Fortsetzung fänden. Dies war mit ein Grund dafür, daß ein früherer Versuch in dieser Richtung wieder aufgegeben worden ist.

Während bisher immer nur vor den Gefahren gewarnt wurde, die sich aus einem Mißbrauch der Vorschläge über eine Reform der Debattenordnung und des -Stils ergeben könnten, sind die in einzelnen Vorschlägen unzweifelhaft enthaltenen positiven Aspekte dagegen ganz bewußt dicht thematisiert worden. Die möglichen negativen Konsequenzen stärker als den Nutzen solcher Vorschläge hervorzuheben erscheint aber vertretbar angesichts einer Diskussion, die allzu hoffnungsvoll auf die mit. einer Debattenreform erzielbaren Ergebnisse blickt und dabei die vorhandenen positiven Aspekte, wie sie die derzeitigen Debatten aufweisen, übersieht. Die Themenvielfalt in den Debatten, ihr kontroverser Charakter sowie die gegenseitige argumentative Bezugnahme der Akteure könnten zwar bei Realisierung einiger der Reformvorschläge verbessert werden, es könnte sich aber auch eine Themenüberflutung einstellen, die kontroverse Debatten zu polemischen Auseinandersetzungen überdehnt, ohne daß es dabei noch zu einer rationalen Auseinandersetzung mit den Argumenten des politischen Gegners kommt. Auf diese Gefahr hinzuweisen erscheint in der aktuellen politischen Situation gewiß überspitzt, jedoch als Warnung sicherlich berechtigt.

Zudem sind eine Reihe von Fragen, wie sie bereits angeschnitten worden sind, bislang unbeantwortet geblieben. Wir wissen weder, welche Erwartungen die Bürger tatsächlich an Debatten stellen, noch wie sie diese verarbeiten und welchen Stellenwert diese im politischen Willensbildungsprozeß einnehmen. Bevor hierzu nicht mehr Informationen verfügbar sind, ist Skepsis gegenüber solchen Versuchen angebracht, über eine Neuordnung der Debattenordnung und des Debat27 tenstils eine Verbesserung des Ansehens des Deutschen Bundestages im öffentlichen Bewußtsein zu erreichen. Reformmaßnahmen dürfen sich außerdem nicht allein auf den Deutschen Bundestag konzentrieren, sondern sollten Parteien, Regierung und Verwaltung mit einbeziehen. Das so häufig beklagte geringe Ansehen des Parlaments scheint nämlich mehr Reflex eines allgemeinen Unbehagens zu sein, als daß es vom Parlament selbst verursacht wäre. Dennoch sollen im letzten Abschnitt einige Vorschläge unterbreitet werden, die dazu geeignet sein könnten, das öffentliche Bild vom Deutschen Bundestag zu verbessern, wobei ihr vorläufiger Charakter angesichts der Fülle offener Fragen eigens betont werden muß. 2. Vorschläge zur Verbesserung des öffentlichen Ansehens des Deutschen Bundestages

Es gibt bisher nur sehr wenige verläßliche Daten über das Ansehen des Bundestages in der Öffentlichkeit. Peter Schindler hat das vorliegende lückenhafte demoskopische Material, das teilweise nur bis gegen Ende der siebziger Jahre reicht, zusammengestellt und u. a. folgende Trends herausgearbeitet:

— eine wachsende Einsicht in die Notwendigkeit des Parlaments;

— ein beachtliches Interesse, einmal den Parlamentsverhandlungen zuzuhören;

— ein 1982 sprunghaft gestiegener ungünstiger Eindruck von der Arbeit des Bundestages

Inwieweit diese Feststellungen heute noch Gültigkeit beanspruchen dürfen, bleibt offen angesichts einer Reihe von politischen Affären, für die der sogenannte „ParteispendenSkandal" nur stellvertretend genannt werden muß.

Immerhin ergibt sich aber aus den vorliegenden Daten die Notwendigkeit, das öffentliche Ansehen des Deutschen Bundestages zu verbessern, wobei zunächst zu trennen ist zwischen dem öffentlichen Bild von Parlamentariern und der politischen Institution Bundestag. Eine Verbesserung des Ansehens der Bundestagsabgeordneten auf Kosten des Bundestages darf ebensowenig angestrebt werden wie der umgekehrte Fall; beides muß im Gleichklang miteinander geschehen.

Bevor aber Vorschläge zur Verbesserung des öffentlichen Ansehens des Bundestages gemacht werden können, soll zunächst versuchsweise die Frage beantwortet werden, worauf eigentlich das Ansehen einer Institution beruht. Die Forschung gibt hierfür einige, wenngleich nicht immer abgesicherte Anhaltspunkte. Im einzelnen werden genannt: Leistung, Tradition, normgerechtes Verhalten und Übereinstimmung der Meinungen bzw. Interessen zwischen der Institution bzw.den in ihr agierenden Personen und ihrer Umwelt. Darauf und inwieweit sie einem demokratischen Diskussionsstil förderlich sind, müssen sich die nachfolgenden Vorschläge beziehen lassen, wenn man auch einräumen muß, daß unter Leistung, Tradition usw. höchst Strittiges verstanden werden kann. a) Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit Wesentlich scheint zunächst zu sein, daß die von Schindler ebenfalls festgestellte, weit verbreitete Unkenntnis über den Bundestag abgebaut und ein realistisches Verständnis von der Arbeitsweise des Parlaments und des einzelnen Abgeordneten vermittelt wird. Neben einer Intensivierung der politischen Bildung kann das zum einen durch eine erweiterte Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages selbst geschehen. Erfolgsträchtiger dürfte es aber sein, mehr Einfluß auf die Parlamentsberichterstattung zu nehmen, die häufig ausgesprochen selektiv, sporadisch und ungenau ist wodurch weder ein Interesse in der Bevölkerung am Bundestag geweckt, noch ein wirklichkeitsnahes Bild vermittelt wird. So berichteten z. B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Rundschau, die Welt sowie die Süddeutsche Zeitung (alle vom 15. Mai 1985) von der bereits weiter oben angesprochenen Debatte über den Bonner Weltwirtschaftsgipfel in einer Weise, die sie in einem noch ungünstigeren Licht erscheinen ließ, als sie ohnehin war. Die Berichterstattung und Kommentierung bezog sich vor allem auf die polemischen Äußerungen zwischen den einzelnen Rednern. Die behandelten politischen Themen dagegen wurden nicht in ihren Auswirkungen dargestellt, son-dem dienten als Transportmittel zur Darstellung der zwischenparteilichen Auseinandersetzungen. Deshalb wurden im wesentlichen auch nur die Debattenredner genannt, die mit ihren provozierenden Diskussionsbeiträgen die Debatte über weite Strecken bestimmt haben. Die Redner, die sich um einen sachlichen Diskussionsteil bemühten, fanden dagegen nur am Rande Erwähnung. Es scheint deshalb dringend geboten, die Parlamentsberichterstattung in die Maßnahmen zur Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Bundestages einzubeziehen. Da es sich in einer freien Gesellschaft verbietet, die Presse in irgendeiner Form zu zensieren, sollten die Rahmenbedingungen der Berichterstattung verbessert werden, z. B.

— durch häufigeres, aber kürzeres Tagen im Plenum, um eine kontinuierliche Berichterstattung zu gewährleisten und um die Presse nicht mit einer Masse von Informationen, die in Mammutdebatten vermittelt werden, zu einer selektiven Berichterstattung zu nötigen; — durch zeitliche Streuung der Ausschußtermine und — sofern die Ausschußarbeit der Öffentlichkeit nicht häufiger als bisher zugänglich gemacht wird — öffentliche Stellungnahmen zu den in den Ausschußsitzungen geführten Diskussionen und gefällten Entscheidungen durch die Ausschußvorsitzenden; — durch Institutionalisierung von Gesprächen zwischen Parlamentariern und Vertretern der Presse über eine angemessene Parlamentsberichterstattung und Verbesserung ihrer Rahmenbedingungen;

— wichtigen ausländischen Staatsmännern sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, im Bundestag zu den Abgeordneten zu sprechen.

Allerdings setzt die Realisierung dieses Vorschlages zwischenparteilichen Konsens voraus, weil es andernfalls zu öffentlichen Auseinandersetzungen über dieses Thema kommen würde, die den zwischenstaatlichen Beziehungen abträglich sein könnten. b) Übereinstimmung der Interessen Eine Übereinstimmung der Interessen zwischen dem Deutschen Bundestag bzw.den Bundestagsabgeordneten und der Offentlichkeit kann nur in einem permanenten Kommunikationsprozeß hergestellt werden. Dies spricht wiederum für die Notwendigkeit, mehr Pariamentsdebatten einzuberufen, aber auch für öffentliche Ausschußsitzungen. Übereinstimmung der Interessen bedeutet in diesem Zusammenhang weniger ähnliche Meinungen zu einem bestimmten politischen Problem, sondern mehr noch den Tatbestand, daß der Deutsche Bundestag als ein Repräsentationsorgan, in dem die Bevölkerung ihre Anliegen vertreten sieht, Anerkennung findet. Das setzt allerdings voraus, daß die im Bundestag gesprochene Sprache so verständlich wird, daß sich darin die Alltagsprobleme der Menschen wiederentdecken lassen. Dies gilt gerade für Fachdebatten, die manchmal den Anschein von Disputen über hochkomplexe wissenschaftliche Probleme erwecken, von denen sich die Bürger, weil sie die Diskussion weder nachvollziehen, noch darin ihre Sorgen entdecken können, enttäuscht abwenden. Wenn es richtig ist, daß Kommunikation über Politik in der Demokratie eine „Sprache für alle" voraussetzt, die Politik nicht nur für wenige reserviert, sondern zu einer Angelegenheit aller macht dann hat der Deutsche Bundestag auf diesem Gebiet noch ein erhebliches Defizit aufzuarbeiten. c) Normgerechtes Verhalten Normgerechtes Verhalten ist eine Forderung, die sich in erster Linie auf das Rollenverständnis der Abgeordneten bezieht. Obwohl darüber nur die Ergebnisse einer im Jahre 1968 durchgeführten Untersuchung vorliegen belegt doch eine Vielzahl von Äußerungen seitens der Parlamentarier, daß sie sich teilweise noch an einem Abgeordneten-bild orientieren, das von der „klassischen" Parlamentarismustheorie abgeleitet ist, aber wenig mit modernem Fraktionenparlamentarismus bundesdeutscher Prägung gemein hat Dieses Verständnis ist im bereits erwähnten Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz niedergelegt, in dem es heißt, daß Abgeordnete „Vertreter des ganzen Volkes (sind), an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewis-sen unterworfen". Dieser Grundsatz, der zweifellos seine Berechtigung hat, läßt aber, wenn er als Norm überdreht wird, eine Fülle kritischer Einwände zu, wie z. B. die enge Interessen-und Parteibindung vieler Abgeordneter, die ihre verbriefte Unabhängigkeit nach außen häufig als folgenloses Postulat erscheinen läßt Je mehr aber der aus Art. 38 Grundgesetz abgeleitete Grundsatz betont wird, desto mehr wird er zum Maßstab für die Abgeordneten, den sie kaum erreichen können; je mehr Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, um so weniger wird die Arbeit der Abgeordneten in der Öffentlichkeit verständlich. Von daher sollten die Parlamentarier von sich aus ein Interesse besitzen, ein realitätsgerechtes Bild ihrer Rolle im parlamentarischen System zu vermitteln, sich zu den politischen Bindungen, denen sie unterliegen, bekennen und sie offensiv als Chance darstellen, daß nämlich durch sie politische Entscheidungen und ein klarer Parteienstandpunkt, an dem die Bürger sich orientieren können, überhaupt erst möglich werden. Das bedeutet, daß der Volksvertreter sich nicht bedingungslos unter die Hoheit der Fraktions-und Parteivorstände unterwirft, sondern Anerkennung der Tatsache, daß sich auch Abgeordnete in der Regel den Mehrheitsentscheidungen ihrer Fraktionen unterordnen müssen. Es gilt also, das Bild des Abgeordneten, wie es die „klassische" Parlamentarismustheorie zur Norm erhebt, den heutigen Gegebenheiten anzupassen und zugleich neu zu begründen.

Ähnlich änderungsbedürftig scheint die Norm, mit der die Position der Institution Bundestag im politischen System gerechtfertigt wird. „Oberstes Entscheidungsorgan", „Forum der Nation" und ähnliche Definitionen sind nicht dazu angetan, ein wirklichkeitsgetreues Bild zu vermitteln, so richtig sie auch unter Zugrundelegung formaler Gesichtspunkte sein mögen. Inzwischen aber ist nicht nur dem politisch Eingeweihten bekannt, daß Entscheidungen oft außerhalb des Bundestages fallen oder daß die Debatten häufig vor leerem Plenum stattfinden. Die Vorurteile, die sich in der Öffentlichkeit auch hierbei aus der Kluft zwischen normativem Anspruch und Wirklichkeit ergeben, sind dem parlamentarischen System im ganzen abträglich Auch hier gilt es, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln, aus dem deutlich wird, daß a) der Bundestag in einer pluralistischen Gesellschaft zwar das formal ausschlaggebende, materiell aber nur ein politisches Entscheidungsorgan unter mehreren sein kann;

b) er kein Monopol auf die Willens-und Meinungsbildung besitzen kann, sondern diese Funktion ebenfalls mit anderen Institutionen teilen muß;

c) der Großteil der politischen Arbeit in den Ausschüssen erledigt wird und das Plenum in erster Linie die Funktion hat, die politischen Entscheidungen der Öffentlichkeit zu begründen; d) deshalb die Quantität der im Plenum versammelten Abgeordneten nichts mit der Qualität der zu fällenden Entscheidungen zu tun hat.

Auch auf die Position der Institution Bundestag bezogen heißt es also wieder, nicht an auch historisch fiktiven Normen festzuhalten, sondern vielmehr diese im Rahmen einer pluralistischen Demokratie neu zu begründen und offensiv zu vertreten. d) Leistung In Fachkreisen besteht Konsens darüber, daß der Bundestag ein sehr fleißiges Parlament ist, insbesondere was seine Gesetzgebungsarbeit betrifft. Allerdings scheint in der Öffentlichkeit häufig der gegenteilige Eindruck vorzuherrschen, vor allem, wenn bei Fernsehübertragungen leere Abgeordnetenbänke gezeigt werden. Von daher ist es notwendig, nicht so sehr die Leistung des Bundestages zu erhöhen, sondern vielmehr seine Leistungen besser nach außen deutlich zu machen. Dies setzt jedoch wieder voraus, daß die Ausschußsitzungen öffentlich stattfinden oder daß zumindest die Ausschußvorsitzenden nach jeder Ausschußsitzung darüber eine Erklärung abgeben. Es sollten aber auch häufigere Plenarsitzungen stattfinden, was eine entsprechende Änderung des parlamentarischen Arbeitsrhythmus bedeuten würde. Beide Vorschläge wurden bereits in einem anderen Zusammenhang erhoben, was die Dringlichkeit ihrer Realisierung nur unterstreicht. In diesem Zusammenhang gilt es aber auch, den vielfach in Aussicht genommenen Ausbau des Wissenschaftlichen Dienstes endlich zu verwirklichen und den Abgeordneten ein erweitertes Recht auf Akteneinsicht zu geben, um auf diese Weise ihre Kontrollmöglichkeiten zu verbessern und ihre Informationsbasis zu erhöhen. Nur so kann gewährleistet werden, daß vom Bundestag verabschiedete Gesetze tatsächlich auch die Wirkung erlangen, die bei ihrer Verabschiedung intendiert war und sich nicht bereits nach kurzer Zeit als novellierungsbedürftig erweisen, was zugleich natürlich kein positives Bild auf die Tätigkeit der Abgeordneten wirft. 5. Tradition Der Deutsche Bundestag ist, verglichen mit anderen westeuropäischen Parlamenten, eine relativ junge Institution. Dennoch hat er sich im Bewußtsein der Bevölkerung inzwischen als notwendiger Bestandteil des politischen Systems durchgesetzt. Dies gilt es weiter auszubauen. Es wäre deshalb auch zu prüfen, ob nicht ein „Tag des Parlaments" begangen werden sollte, in dessen Rahmen der Bundestag über sein Selbstverständnis diskutieren, und mit dem seine Bedeutung für das politische System der Bundesrepublik Deutschland unterstrichen werden könnte. Ein solcher „Tag des Parlaments" könnte auch im Rahmen eines schon häufig geforderten „Tages der Verfassung" begangen werden, mit dem die Verantwortung des Deutschen Bundestages für die Bewahrung und den Ausbau des demokratischen und sozialen Rechtsstaates dokumentiert werden könnte. So trivial dieser Vorschlag auch erscheinen mag, so wenig sollte seine symbolische Wirkung unterschätzt werden.

Die Realisierung der hier unterbreiteten Vorschläge wird das öffentliche Ansehen des Deutschen Bundestages sicher nicht sprunghaft erhöhen können. Dies kann vielmehr nur in einem langwierigen Prozeß erreicht werden, dessen Erfolg auch wesentlich davon abhängig ist, wie sich das Ansehen von Regierung, Parteien und Abgeordneten insgesamt entwickeln wird. Von daher sollte die Wirkung von Vorschlägen, die sich allein auf das Parlament beziehen, nicht überbewertet werden, zumal sich bei ihrer Umsetzung auch eine Reihe negativer Begleiterscheinungen einstellen können, die heute noch nicht vorauszusehen sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. z. B. bereits die Beiträge in: Emil Hübner/Heinrich Oberreuter/Heinz Rausch (Hrsg.), Der Bundestag von innen gesehen, München 1969.

  2. So vor allen Dingen Heinrich Oberreuter, Kann der Parlamentarismus überleben? Bund — Länder — Europa, Zürich-Osnabrück 1977, S. 67 ff.

  3. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied-Berlin 1969, S. 223 ff.

  4. So schon Wilhelm Hennis, Rechtfertigung und Kritik der Bundestagsarbeit, in: Die Neue Gesellschaft, 14 (1967) 2, S. 101 ff.

  5. Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik, Tübingen 1969, S. 474.

  6. Ewald Rose/Joachim Hofmann-Göttig, Selbstverständnis und politische Wertungen der Bundestagsabgeordneten. Ergebnisse repräsentativer Umfragen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 13 (1982) 1, S. 70.

  7. Maria Mester-Grüner, Mehr Mitbestimmung für die Abgeordneten. Ad-hoc-Kommission prüft Ergebnisse einer Abgeordnetenbefragung, in: Das Parlament vom 9. Februar 1985, S. 15. Vgl. auch Jörg Becker, Parlamentarismus und parlamentarische Rede. Eine Analyse der politischen Sprache im Deutschen Bundestag seit 1949, in: Die Mitarbeit, (1979) 2/3, S. 218.

  8. An dieser Stelle kann sich nur auf die Kritik bezogen werden, die den Diskussionsstil in Bundestagsdebatten betrifft. Einwände, die z. B. gegen die Art und Weise erhoben werden, die die Redner von den Fraktionsvorständen ausgewählt werden

  9. Vgl. dazu ausführlich Edwin Czerwick, Parlamentarische Kommunikation im Wahlkampf. Strukturen zwischenparteilicher Kommunikation und Interaktion im Deutschen Bundestag während des Bundestagswahlkampfes 1979/80, Koblenz 1983 (= Heino Kaack/Reinhold Roth (Hrsg.), Forschungsgruppe Parteiendemokratie, Analysen und Berichte Nr. 7, S. 36 ff.

  10. Vgl. 10. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 11. Sitzung (9. Juni 1983), S. 525 ff.

  11. Der Begriff findet hier Verwendung im Sinne von „thematischer Struktur öffentlicher Kommunikation". Vgl. dazu Niklas Luhmann, öffentliche Meinung, in: Politische Vierteljahresschrift, 11 (1970), S. 3 und passim.

  12. Darauf verweist auch Hermann Lübbe, Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach — Husserl — Schapp — Wittgenstein, Freiburg 1972, S. 147. 6

  13. Daß die Debatte keinen Sonderfall darstellt, zeigt Edwin Czerwick (Anm. 9), S. 70 ff., sowie mit anderer Fragestellung Hermann Hoppenkamps, Reform oder Manipulation? Untersuchungen zur Zeitungsberichterstattung über eine Debatte des Deutschen Bundestages, Tübingen 1977, S. 165 ff. Zu einem ähnlichen — auf die Aktuelle Stunde bezogenen — Ergebnis gelangt auch Peter Lichtenberg, Die Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag. Ein Beitrag zur politischen Bildung und zum parlamentarischen Selbstverständnis, Berlin 1983, S. 174.

  14. Vgl. 10. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht. 137. Sitzung (14. Mai 1985), S. 10159 ff.

  15. Die Zusammenstellung der Vorschläge erfolgt unter Berücksichtigung der sogenannten „Selbstverständnis-Debatte" des Deutschen Bundestages, (vgl. 10. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 85. Sitzung (20. September 1984), S. 6202 ff.), der Beiträge von Hildegard Hamm-Brücher, Hermann Höcherl, Norbert Lammert, Friedrich Schäfer, Hans Verheyen und Hans de With in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/85 vom 9. Februar 1985, sowie der „Abgeordneten-Initiative zur Respektierung des freien Mandats und zur Wahrung des Parlamentansehens". Ein Dokument der Besorgnis um Parlamentsrechte und Parlamentskultur in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 15 (1984), S. 171 ff.

  16. Von dieser Überlegung hat sich offenbar auch der Ältestenrat mit seinen Reformmaßnahmen leiten lassen, die u. a. die versuchsweise Einführung einer begrenzten Berichterstattung aus dem Kabinett mit anschließenden Fragen der Abgeordneten sowie eine Verkürzung der „Standard" -Redezeit auf zehn Minuten vorsehen.

  17. Vgl. Presse-und Informationszentrum des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1982, verfaßt und bearbeitet von Peter Schindler, Bonn 1983, S. 1045.

  18. Ebd.

  19. Vgl. Hermann Hoppenkamps (Anm. 13) sowie Heinrich Oberreuter, Legitimität und Kommunikation, in: Erhard Schreiber/Wolfgang R. Langenbucher/Walter Homberg (Hrsg.), Kommunikation im Wandel der Gesellschaft. Otto B. Roegele zum 60. Geburtstag, Düsseldorf 1980, S. 72 f.

  20. Vgl. hierzu auch Rudolf Strauch, Im Bundeshaus wird Kärrnerarbeit geleistet. Das Verhältnis des Parlaments zur Öffentlichkeit ist verbesserungsfähig, in: Hartmut Klatt (Hrsg.), Der Bundestag im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum dreißigjährigen Bestehen des Deutschen Bundestages, Bonn 1980, S. 157 ff.

  21. Vgl. Wolfgang Bergsdorf, Angriff auf die Sprach-barrieren. Neue Kommunikationschancen durch „Neue Medien"?, in: Publizistik, 29 (1984), S. 504 ff.

  22. Vgl. hierzu mit weiteren Literaturangaben Presse-und Informationszentrum des Deutschen Bundestages (Anm. 17), S. 137 ff.

  23. Vgl. hierzu Eberhard Schütt-Wetschky, Grund-typen parlamentarischer Demokratie. Klassisch-altliberaler Typ und Gruppentyp, Freiburg-München 1984, S. 39 ff.

  24. Ähnlich, wenn auch mit weitergehendem Anspruch, Schütt-Wetschky (Anm. 23), S. 294.

  25. Vgl. hierzu grundlegend die Habilitationsschrift von Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischer Politik in der politischen Kommunikation der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des Bundestagswahlkampfes 1980, Koblenz 1984.

Weitere Inhalte

Edwin Czerwick, Dr. phil., geb. 1951; z. Z. Lehrstuhlvertreter der Professur für Sozialwissenschaft am Studiengang . Angewandte Informatik" an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz in Koblenz. Veröffentlichungen u. a.: Oppositionstheorien und Außenpolitik. Eine Analyse sozialdemokratischer Deutschlandpolitik 1955 bis 1966, Meisenheim 1981; (zus. mit Ulrich Sarcinelli) Wahlkampf und Außenpolitik, Koblenz 1982; Parlamentarische Kommunikation im Wahlkampf, Koblenz 1983; Legitimationsstrategien der Parteien zwischen Landtagswahlen und Bundespolitik 1979— 1983, Koblenz 1984.