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Jugend und Region. Sozialleben, Freizeit und Politik auf dem Lande und in großstädtischen Wohngebieten | APuZ 38/1985 | bpb.de

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APuZ 38/1985 Jugend und Region. Sozialleben, Freizeit und Politik auf dem Lande und in großstädtischen Wohngebieten Jugendarbeitslosigkeit. Zu den individuellen Auswirkungen eines verschleppten Arbeitsmarktproblems Technikfeindlich und leistungsscheu? Zum Einstellungswandel der Jugend

Jugend und Region. Sozialleben, Freizeit und Politik auf dem Lande und in großstädtischen Wohngebieten

Rudolf Tippelt

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Studien zur Jugendforschung haben die regionalen Besonderheiten der Erziehung und Sozialisation von jungen Menschen bislang nur wenig bearbeitet Die Basis der Analyse bildet eine repräsentative Erhebung (Erhebungszeitpunkt 1983/84), die das Sozialleben, kulturelle und politische Orientierungen von Jugendlichen in vier Umwelten (Dorf, Arbeitersiedlung, Trabantensiedlung, Villenviertel) vergleichend thematisiert Theoretisch wird davon ausgegangen, daß der Strukturwandel, die Modernisierungs-und Zentralisierungsprozesse des Dorfes ihren Niederschlag in den wahrgenommenen sozialen Problemen und kulturellen Orientierungen der Bewohner finden. Charakteristisch für die Orientierungen der jungen Menschen des Dorfes sind weder Provinzialität noch „kulturell-politische Defizite“, wie noch immer vorschnell attestiert wird; vielmehr führt der Prozeß der Modernisierung auf dem Land zu kulturellen Mischformen: Es bestehen moderne urbane Orientierungen und traditionelle Gewohnheiten nebeneinander.

I. Problemstellung: Sozialleben auf dem Land und in der Stadt

In Studien der Jugendforschung, die die regionalen Besonderheiten der Erziehung und Sozialisation von Jugendlichen thematisierten, wurden soziale Orientierungen und das Sozialverhalten von Jugendlichen meist in einem globalen Stadt-Land-Vergleich bearbeitet In der Gemeindesoziologie und der Erziehungs-und Sozialisationsforschung gilt es aber als höchst zweifelhaft, daß sich die Gesellschaft . dualistisch'als Stadt-Land-Gegensatz einordnen läßt Den jeweiligen Konzepten folgend wird die dualistische Auffassung eines Stadt-Land-Gegensatzes meist mit einer expliziten Wertung vorgetragen, die entweder das Leben in der Stadt — vor allem der Großstadt — oder das Leben auf dem Dorf besonders negativ bzw. positiv erscheinen läßt. Es sind in dieser Diskussion drei allgemeine Thesen zu erkennen:

Defizithypothese zum Sozialleben in der Stadt Diese Position sieht eine Entwicklung als gegeben an, die von der eher intimen, durch Wir-Gefühle gekennzeichneten dörflichen . Gemeinschaft'zur eher unverbindlich lockeren, den einzelnen entfremdenden Situation in der Stadt führt. Der Gemeinschaftsschutz und die Gemeinschaftskontrolle gingen in der Stadt verloren, so daß sich soziale Krisensymptome der Verstädterung häufen. Die Dichte der sozialen Kontakte und des sozialen Netzwerkes seien in der Stadt viel niedriger, die Menschen werden sich untereinander fremd, die Vertrautheit der Wohn-, Arbeitsund Freizeitumgebung sei nicht mehr gege-ben, die gemeinschaftliche Einbindung und Vergewisserung nachbarschaftlicher Beziehungen gehe verloren In einer solchen Situation fallen häusliche Intimität und außer-häusliche Öffentlichkeit auseinander, Familienleben drinnen und geschäftsmäßige Beziehungen draußen werden zu zwei Welten, die nur noch schwer zu integrieren seien

Prototypisch hat A. Mitscherlich in seinem Buch „Die Unwirtlichkeit unserer Städte'diese These vertreten Er stellt fest, daß die industrielle Massenzivilisation zu sozio-emotionalen Pathologien führe, weil die städtischen Wohnquartiere die emotionale Entfaltung des Menschen unterdrücke. Er kritisiert die von ihm ermittelte architektonisch bedingte Verhinderung von Nahkontakten im städtischen Wohnraum und fordert zur Wiederherstellung von Öffentlichkeit in . kleinen Grundeinheiten'auf, denn er sieht in den informellen Kontakten zur Nachbarschaft Möglichkeiten, affektive Erfahrungen zu machen, die sich auf andere öffentliche Bereiche positiv auswirken. Komplementär zur stadtkritischen Argumentation wird das vorindustrielle Dorf bzw. die Kleinstadt nicht selten als vitales, natürliches Gemeindewesen romantisiert Defizithypothese zum Sozialleben im Dorf Bei der Sonderauszählung . Landjugend'der Shell-Jugendstudie '81 kommt Fischer zu dem Ergebnis, daß zwischen den Jugendlichen auf dem Lande und den Jugehdlichen aus den Städten eine . kulturelle Lücke’ klaffe; diese könne dazu führen, daß die eine Gruppe den Lebensbereich der jeweils anderen Gruppe kaum verstehen könne. Als Beweis für diese weitgehende Diagnose von der . kulturellen Lücke'hebt Fischer hervor, daß der Jugendprotest der späten siebziger und frühen achtziger Jahre und die jugendsubkulturellen Innovationen weitgehend großstädtisch geprägt seien die Landjugendlichen dagegen mit kommerziellen Gruppenstilen, wie sie Fußball-und Disco-Fans ausbilden, sympathisieren.

Explorativ erhobene Bewohneraussagen aus kleinen Siedlungseinheiten, die nicht im Sog von Ballungsräumen liegen, führen Kroner zu der Aussage, daß die sozialen alltäglichen Beziehungen im Dorf durch Kontakt-und Kommunikationsdefizite belastet seien, daß sich sprachloses Nebeneinander — so Kroner — mit sprachgewaltigem Gegeneinander abwechseln. Drei Konfliktmuster erschienen besonders relevant Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit zwischen Altbürgern und Neubürgern, die tradierten Formen der . sozialen Kontrolle'und die . Kommunikationsverdünnung aufgrund von Kontaktmangel'. Wenn im Dorf . nichts los ist’ und Freizeit-und Bildungseinrichtungen fehlen, komme es zur nachbarschaftlichen Entfremdung. Die zunehmende Technisierung, der motorisierte Verkehr, die . neue'Dorfstraße hätten ebenfalls dazu beigetragen, daß der öffentliche Raum im Dorf seinen begegnungs-und spielfreundlichen Charakter eingebüßt habe.

Nivellierungsthese Zu einer vergleichsweise optimistischen Einschätzung der . Situation der Landjugend'gelangt U. Planck in einer für den 17— 28jährigen landwirtschaftlichen Nachwuchs repräsentativen Panel-Untersuchung (Meßzeitpunkte 1955, 1968, 1980). Planck stellt in der dritten Repräsentativerhebung fest, daß sich das Land epochal gewandelt habe. Soziale und politische Veränderungen haben dazu geführt, daß sich die Lebensbedingungen der jungen Erwachsenen auf dem Lande — so Planck — verbessert haben, was sich vor allem an einem Zuwachs an frei verfügbarer Zeit, gestiegener Kaufkraft, größerer Mobilität, mehr Selbständigkeit, verbesserter sozialer Sicherheit und mehr öffentlicher Förderung zeige. Der durchschnittliche Bildungsund Ausbildungsstand ist angestiegen, die soziale Kontrolle der Dorfgemeinschaft und die elterliche Bevormundung hätten in den letzten 25 Jahren abgenommen Das Lebensgefühl der jungen Leute auf dem Lande habe sich verändert, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen seien gewachsen, der Erfahrungshorizont habe sich erweitert und Einstellungen und Umweltbewußtsein seien . kritischer'geworden. Die Landjugend identifiziere sich weitgehend mit dem modernen Lebensentwurf der Industriegesellschaft und im Bewußtsein der Statusverbesserung sei sie bei Krisenentwicklungen relativ enttäuschungsfest

Es fehlen derzeit vergleichende Studien, die erziehungs-und sozialwissenschaftlich interessante Informationen zu diesen thesenartig referierten Frage-und Problemstellungen für jugendliche Bewohnerguppen von Gemeinden enthalten.

II. Projektziel und -durchführung

In unserer Studie wurden vier real vorfindliehe Umwelten unterschieden, von denen wir annehmen, daß sie unterschiedliche Entwicklungsvoraussetzungen für Jugendliche implizieren Ziel unserer Untersuchung war es herauszuarbeiten, wie die sozialökologische Umwelt von Heranwachsenden die Freizeitaktivitäten und -interessen, die Wohnortbin- düng, ausgewählte politische und soziale Orientierungen und die Kontakte zu peergroups beeinflußt.

Untersucht wurden im Herbst 1983 und Winter 1983/84 repräsentative Stichproben von 14— 19jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus a) einem strukturschwachen Gebiet und stadtfern liegenden Dorf mit noch teilweise landwirtschaftlich geprägter Bevölkerung (DorfG.), b) einem in einem industrienahen Ballungsgebiet liegenden traditionellen Arbeiterviertel (Mannheim-Waldhof), c) einem Wohnviertel der gehobenen Mittel-klasse und des Besitz-und Bildungsbürgertums (Heidelberg-Neuenheim), d) einer Wohn-und Schlafstadt am Rande einer Großstadt (Trabantensiedlung München-Neuperlach). In jeder dieser Umwelten wurden jeweils 150 Jugendliche aus einem vorliegenden vollständigen Adressenverzeichnis per Zufall ausgewählt Die standardisierten Interviews fanden meist in der familiären Wohnung oder dem eigenen Zimmer der Jugendlichen statt und dauerten ca. 90 Minuten. Insgesamt wurden 400 Jugendliche (pro Umwelt 100 Jugendliche) befragt Um die Erkenntnisse aus den Einzelinterviews zu vertiefen, vernachlässigte Aspekte zu explorieren und den Jugendlichen mehr Gelegenheit zur unbeeinflußten Problemformulierung zu geben, wurden in jeder Umwelt zwei bis drei Gruppendiskussionen mit meist informellen peer-groups durchgeführt. Das Studium statistischer Materialien, Gespräche mit Experten (Jugendleiter, Sozialarbeiter, Bürgermeister, Pfarrer u. a.)

und Gemeindebegehungen (Fotografieren wichtiger Plätze, Bauten etc.) waren notwendig, um die Informationen zu den Gemeinden bzw. Stadtteilen und den Quartieren zu verdichten und damit genauere Kenntnis der räumlichen und sozialen Bedingungen in den Wohnbereichen zu gewinnen.

Da es im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich ist, alle Umwelten in gleicher Weise zu berücksichtigen, konzentriert sich der Autor auf die soziale Lage sowie selektiv ausgewählte Orientierungen und Lebensperspektiven der Jugendlichen vom Dorf. Die Situation der Jugendlichen in anderen Umwelten wird allerdings vergleichend herangezogen

III. Strukturwandel auf dem Lande

Das Land hat sich in den letzten Jahrzehnten strukturell gewandelt: Der ländliche Raum wurde in verschiedener Hinsicht industriel-

Entwicklungen einverleibt Einschneidende Agrarstrukturveränderungen und tendenzielle Entagrarisierung, Motorisierung und zunehmende Verkehrserschließung länd-licher Räume, Schul-, Gebiets-und Verwaltungsreformen mit weitreichenden Folgen, aber auch Öffnung ländlicher Sozialsysteme und kulturelle Standardisierungsprozesse sind Stichworte, die die industrielle Überformung nur andeuten. In der Regionalforschung werden drei Entwicklungen hervorgehoben:

Zentralisierung, Modernisierung und Strukturwandel

Das von uns untersuchte Dorf gehört zu den sogenannten Kleinzentren: G hat heute 3 100 Einwohner (1983) und ist als Verbandsgemeinde der politische und administrative Kern von weiteren 13 Ortsgemeinden. Die Zentralisierungstendenzen dieser Region zeigen sich auch darin, daß G. eine Verbandsgemeinde mit wachsenden Einwohnerzahlen ist. Der Bewohnerzustrom kann nur durch eine rege Neubautätigkeit aufgefangen werden. Obwohl der Anteil der alten Häuser und Bauernhöfe, die vor 1900 erbaut wurden, stetig rückläufig ist (1978 noch 37 % der Bausubstanz) und mittlerweile Ein-und Zweifamilienhäuser das Bild des äußeren Dorfrings prägen, hat sich G. einen historischen Orts-kern bewahrt, der noch die alte Gebäude-und Hofform mit landwirtschaftlicher Nutzung sichtbar werden läßt. Die beiden alten Orts-tore (1776 und 1781 erbaut), der Ulrichsturm mit Schießscharten und Rundbogenfries, der Teil der mittelalterlichen Ortsbefestigung war, die evangelische Kirche (18 Jh.) und das alte Rathaus (1796) wie auch die geographische Lage an den nördlichen Ausläufern des Pfälzer Waldes und des Pfälzer Berglandes geben der Gemeinde, trotz der Wandlungstendenzen, auch heute noch einen historischen Charme. Aber natürlich ist auch G. alles andere als ein unberührtes romantisches Dorf. Von Zentralisierungstendenzen sind die Bewohner in G. insofern weniger hart betroffen, als G. über eine Grund-und Hauptschule verfügt, also Schüler aus anderen Ortsgemeinden nach G. einpendeln, die Grund-und Hauptschüler aus G. aber nicht auspendeln müssen. Ähnliches gilt für Turnhallen und Sportanlagen, denn G. ist hier vergleichsweise gut bestückt Anders ist dies im weiterführenden und berufsbildenden Bildungsbereich, denn zum Besuch der Realschule müssen Schüler zum 6 km entfernten Unterzentrum, zum Besuch des Gymnasiums ins 10 km entfernte Mittelzentrum oder gar in die 30 bis 50 km entfernten Oberzentren (die umliegenden Städte). Berufsfachschulen sind ebenfalls in den Mittel-Und Oberzentren zu erreichen. Die von uns interviewten Jugendlichen sind zwar großenteils in G. geboren worden, aber die Veränderungen der Bewohnerstruktur durch den Zuzug bewirkten, daß nicht einmal die Hälfte der Eltern der Jugendlichen aus G. stammen. Von langen generativen Verwurzelungen an einem Ort kann daher auch in diesem Dorf nicht mehr'ohne weiteres ausgegangen werden. Die ökonomischen Entwicklungen in der Bundesrepublik während der Nachkriegszeit wurden von einem vehementen Modernisierungsschub im primären Sektor begleitet: Wenige hochmechanisierte Landwirtschaftsbetriebe produzieren mit einem wesentlich geringeren Arbeitskräftepotential heute erheblich mehr, als es einer konventionellen Landwirtschaft in den fünfziger Jahren möglich war. Der sekundäre und tertiäre Sektor expandierte in der gleichen Zeit zu Lasten der Dörfer In den Metropolen wuchsen die Industrien und Verwaltungen, so daß die Menschen vom Dorf zunehmend gezwungen waren, Arbeit in den industrialisierten Gebieten zu suchen. Waren 1950 noch 25 % der ländlichen Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft tätig, so sind dies bundesweit heute nur noch 7 %. Zwischen 1960 und 1970 wanderten 1, 5 Millionen Beschäftigte aus der Landwirtschaft in den industriellen und den Dienstleistungssektor ab. Das Land galt während der ökonomischen Prosperitäts-phasen aber nicht allein als Quelle von Arbeitskräften, sondern zugleich wurde die Provinz als neuer und breiter Markt für Konsumgüter entdeckt. Industrielle Erwerbsarbeit, Massenkonsum und verstärkte Partizipation an den Massenmedien sind die Grundlage für die irreversible Umwandlung einer ehemals provinziell-dörflichen zu einer industriell-urbanen Lebensweise

In G. sind die angesprochenen makrostrukturellen Entwicklungen teilweise sehr typisch eingetreten: So ist der Anteil der Erwerbstätigen im land-und forstwirtschaftlichen Sektor von im Jahre 1950 44, 4 % auf 1961 27, 4 % und 1970 12, 2 % extrem zurückgegangen. Der Anteil der im primären Sektor Beschäftigten liegt heute noch 5 % über dem Bundesdurchschnitt. Bestanden 1950 noch 168 landwirtschaftliche Betriebe, 1970 noch immerhin 59 Betriebe, so gibt es Anfang der achtziger Jahre noch 36 Vollerwerbsbetriebe in G. mit allerdings gegenüber früher erweiterter Betriebsgröße (mittlere Größe 28 ha). Die meisten in G. heute zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze sind dem produzierenden handwerklichen Gewerbe und der Bauwirtschaft in Klein-und Kleinstbetrieben zuzurechnen. Größere gewerbliche Ansiedlungen, die von erheblicher Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Region sind, existieren durch großindustriellen Stein-und Lehmabbau. Großflächige Gebiete werden hierdurch der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen. Die . Stärkung der gewerblichen Situation'— ein politisches Planziel — bewirkte u. a., daß sich in G. die Anzahl der einpendelnden Arbeiter aus anderen Regionen mit der Anzahl der in andere Regionen auspendelnden Arbeitskräfte aus G. in etwa die Waage hält Diese angesprochenen ökonomischen Strukturveränderungen führten ebenfalls zu einem Wandel der Berufsstruktur. Es dominieren nicht die selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen (20 %), sondern Arbeiter und Auszubildende aus dem produzierenden Gewerbe überwiegen (57, 9 %). Der Anteil der Angestellten und Beamten liegt weit unter dem Bundesdurchschnitt (19, 1 %, im Bund 38, 4 %). Der Strukturwandel des ländlichen Raumes war ein politisch intendierter Prozeß, kein naturwüchsiger Vorgang, in dessen Verlauf sich mit dem sozioökonomischen Wandel auch soziokulturelle Wandlungen vollzogen. Auf Aspekte des soziokulturellen Bereichs soll im folgenden eingegangen werden.

IV. Sozialleben, kulturelle und politische Orientierungen der Jugendlichen

Die Untersuchung ist für das Dorf G. repräsentativ (jeder dritte Jugendliche war in die Felderhebung per Zufall einbezogen), dennoch handelt es sich um eine Fallanalyse. Es gibt in der Bundesrepublik agrarisch stärker geprägte und ländlichere Räume mit erheblich größeren Mängeln int der Erwerbstruktur und der freizeitbezogenen Infrastruktur; andererseits gibt es auch stärker industrialisierte ländliche Gebiete mit dadurch anderen sozialen Problemlagen. Allerdings zeigen der ökonomische Strukturwandel, die politischen Zentralisierungstendenzen und Modernisierungsprozesse im Dorf G., die oben angesprochen wurden, daß G. in mancher Hinsicht als exemplarisches Beispiel für ländliche Gemeinden stehen kann. 1. Schulische Bildung Im Zuge der Bildungsexpansion, die das Land Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre erfaßte, wurden krasse schulische Benachteiligungen der Kinder und Jugendlichen vom Land, wie sie zwei Jahrzehnte nach dem Kriege bestanden haben, teilweise abgebaut. Durch die Zentralisierung des öffentlichen Schulwesens und die Schaffung weiterführender Mittelpunktschulen wurde bewirkt, daß mehr Schüler durch den Übergang auf eine Realschule oder ein Gymnasium ihren Grad an formaler Bildung erhöhen konnten. In unserer Stichprobe befanden sich nur 33% der 14— 19jährigen (wie in der Trabantensiedlung) als Auszubildende, Beschäftigte oder Arbeitslose außerhalb des allgemeinbildenden und beruflichen Vollzeitschulsystems. Im Vergleich hierzu waren im Quartier des Besitz-und Bildungsbürgertums 9%, in der Arbeitersiedlung 48% aus dem vollzeitschulischen Bildungswesen ausgeschert und befanden sich im Kampf um Ausbildungs-und Arbeitsplätze. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit dem für diese Altersgruppe feststellbaren enormen Absinken der Erwerbstätigkeitsquote in der Bundesrepublik Deutschland

Gegenüber den Eltern haben sich die Bildungsaspirationen der Jugendlichen in allen Untersuchungsgebieten stark erhöht: Im Dorf hatten 7% der Väter und 6% der Mütter das Abitur, 3% der Väter und 3% der Mütter die mittlere Reifeprüfung abgelegt, dagegen befinden sich derzeit 8% der Jugendlichen in der Realschule und 28% streben das Abitur an. Die Jugendlichen aus der Arbeitersiedlung und der Trabantensiedlung (in der die Realschüler weit überwiegen) zeigen ähnlich hohe Bildungsaspirationen, während definitionsgemäß im Quartier des „Besitz-und Bildungsbürgertums" die Mehrheit der Jugendlichen nach hohen Bildungsabschlüssen strebt: Nachdem hier bereits 57% der Väter und 44% der Mütter die Hochschulreife und großenteils auch einen Hochschulabschluß besitzen, befinden sich nun 75% der Jugendlichen in diesem Soziotop auf dem Gymnasium. Die Mädchen partizipieren ebenso an der schulischen Bildung wie die Jungen, so daß geschlechtsspezifische Benachteiligungen in den von uns untersuchten Gebieten heute bei der schulischen Ausbildung kaum noch existieren; aber bekanntlich sagen Bildungsaspirationen und schulische Abschlüsse noch wenig über den beruflichen Werdegang von Frauen aus

Es fehlen auf dem Land, wie in den Städten, qualifizierte Arbeits-und Berufsausbildungsangebote, so daß künftig auch die Dorfjugendlichen gezwungen sein werden, aus ihrer Region abzuwandern, wenn sie ihre Ausbildungs-, Studien-und Berufswünsche nicht mit dem Angebot an Arbeitsplätzen in Einklang bringen können — hier werden starke Diskrepanzen sichtbar.

In der Bildungsforschung wird schulische Bildung auf dem Land auch als . Medium der Modernisierung traditioneller Lebensräume'diskutiert Der Schule wird die Funktion zugesprochen, den Modernisierungsrückstand des Landes aufzuheben und damit die kleinräumlichen, lokalen vorindustriellen Lebensmilieus für den ökonomischen und kulturellen Einfluß der städtischen Zentren zu öffnen

Ein . Nebeneffekt'der Bildungsexpansion ist darin zu sehen, daß eine Verlängerung der Jugendphase und ein psychosoziales Moratorium im Sinne Eriksons für jugendliche Teilgruppen aus sozialen Schichten und Milieus möglich geworden ist, denen ehemals durch den direkten Eintritt in das Arbeitsleben mit 14 Jahren eine experimentierende und reflexive Lebens-und Suchphase nicht zugestanden war. Durch den starken Rückgang der Mithilfe in der Landwirtschaft und das längere Verweilen in Bildungsinstitutionen kommt es auch im Dorf zur Stärkung einer jugendlichen Teilkultur. Dieser These soll im folgenden weiter nachgegangen werden. 2. Motorisierung und Pendeln Wir stellen fest, daß im Dorf 65% der Befragten täglich einen Weg zur Schule oder dem Ausbildungs-und Arbeitsplatz bewältigen müssen, der 5 km übersteigt (Hin-und Rückweg also 10 km und mehr); im Quartier des „Besitz-und Bildungsbürgertums" sind das nur 13%, in der Arbeitersiedlung 38% und in der Trabantensiedlung 42 % der Jugendlichen. Die frühe Verfügung über ein Moped, Motorrad oder Auto gehört daher auf dem Lande nicht zu den Luxusbedürfnissen, sondern ist vielfach Grundlage für die Realisierung von Ausbildungs-und Arbeitsplatzwünschen. Im Dorf und in der Trabantensiedlung sind die größten Auspendlerquoten festzustellen. Diejenigen, die über kein Fahrzeug verfügen oder keinen Zugang zu einem solchen finden, werden in ihren Freizeit-und Gesellungsaktivitäten erheblich eingeengt, denn das Dorf ist mit kommerziellen Treffpunkten wie Kino, Caf, Diskotheken — also Orten, in denen sich jugendkulturelle Aktivitäten frei von der sozialen Kontrolle Erwachsener entwickeln könnten — nicht ausgestattet Der Mangel an kommerziellen Treffpunkten wird auch durch den regionalen Umkreis nicht kompensiert, so daß die Jugendlichen vom Lande, trotz ihrer großen Mobilität, auf breite Auswahlmöglichkeiten aus einem kommerziellen jugendkulturellen Angebot verzichten müssen. Die Quote der Jugendlichen, die regelmäßig trampen, ist auf dem Lande am höchsten. Das beinahe selbstverständliche Mitnehmen von Jugendlichen in die Nachbargemeinden wird von den Jugendlichen nicht nur negativ, sondern auch als ein Beispiel von noch spürbar werdenden solidarischen Beziehungen zwischen Nachbarn empfunden. Da Mädchen seltener über ein eigenes Fahrzeug verfügen, aber nicht minder mobil sind und ebenso häufig wie Jungen den Wohnort verlassen, sind sie häufig gezwungen, sich den männlichen Interessen ihrer Freunde unterzuordnen. 3. Freizeit und Jugendtreffs Die Jugendlichen vom Lande können sich nur auf ein reduziertes kulturelles Freizeitangebot beziehen. Während hinreichende Möglichkeiten bestehen, traditionelle Sportarten auszuüben (Fußball, Handball, Leichtathletik, Turnen etc.), und sich dies in den Freizeitaktivitäten niederschlägt, fehlt insbesondere ein nichtkommerzieller Jugendtreff, ein Caf 6, ein Jugendzentrum, das während der kalten Jahreszeit die Funktion der vielgenutzten Spiel-plätze, Straßenecken etc. übernehmen könnte In den erwachsenenorientierten Gaststätten und Vereinslokalen fühlen sich Jugendliche zu stark . unter Kontrolle", wollen ihre Interaktionen und Beziehungen nicht als öffentliche Präsentation den Erwartungen der Älteren anpassen. Die vorrangige Bedeutung der Treffpunkte in Parks und unbebauten Flächen im Freien, noch weit vor Vereinslokalen, Kirchengemeinderäumen, Diskotheken oder Bildungseinrichtungen, ist ein Befund, der für alle untersuchten Umwelten zutreffend ist. Vergleicht man die Freizeitstätten anderer Umwelten mit dem Dorf, so zeigt sich, daß die Angebotsvielfalt in anderen, nicht dörflichen Umwelten dazu führt, daß dort ausgefallenere, individuelle Sportarten betrieben werden, die Besonderheit individueller Lebensstile die deutlich hervortreten lassen (Squash, Hockey, Rugby, Judo, Rudern, Segeln, Voltigieren, Bodybuilding u. a.). Es überrascht kaum, daß solche individuelleren Sportarten vor allem im Viertel der gehobenen Schichten gefördert werden.

Fragt man im Sinne herkömmlicher Freizeit-forschung nach den subjektiv bedeutsamsten Freizeitaktivitäten, so herrscht der Kontakt mit Freunden, das ungezwungene Zusammensein ohne irgendeinen Anspruch, das Lesen vor; aber auch entspannendes Musikhören und der Konsum von Unterhaltungssendungen im Fernsehen spielen neben sportlichen Aktivitäten eine große Rolle. Die große Ähnlichkeit der Freizeitaktivitäten von Jugendlichen in allen untersuchten Umwelten spricht dafür, daß Prozesse kultureller Standardisierung beispielsweise durch den Massenkonsum und die Massenmedien stattgefunden haben. Der Medienkonsum ist in den Untersuchten Umwelten etwa gleich verteilt. Allerdings haben sich Lebensstile dadurch nicht vollkommen nivelliert, vielmehr drücken sich in der Musik und im Inhalt der konkreten Gespräche mit Freunden die schiebt-und milieuspezifischen Erlebnis-und Verarbeitungsformen aus. In der formalen Kategorie der Aktivität" werden milieuspezifische Lebens-stile daher nicht hinreichend sichtbar.

Festgehalten werden muß, daß das Freizeitrepertoire der Dorfjugendlichen kaum verschie-den von dem der Jugendlichen aus verschiedenen städtischen Bezirken ist Die herkömmliche Vorstellung, daß Dorfjugendliche aufgrund zeitintensiver Mithilfe im familiären Haushalt oder im elterlichen Betrieb über äußerst geringe Freizeit verfügen sich was dann auf die Freizeitaktivitäten auswirken müßte, jedoch für im urbanen immer noch die Dorf angesiedelten Kinder von Nebenerwerbslandwirten und Kleingewerbetreibenden.

Politische Aktivitäten und aktive Formen der Weiterbildung oder Auseinandersetzung mit klassischer Kultur (z. B. in der Form aktiven Musizierens) prägen die Freizeit von Jugendlichen aus den gehobenen Schichten weit stärker als in der Arbeiter-und Trabanten-siedlung oder dem Dorf. Politische Interessen sind bei den Jugendlichen im Dorf entwickelt; nicht im Dorf, sondern in der Arbeitersiedlung ist eine altersbezogene Stagnation politischer Interessen zu konstatieren. 4. Peer-groups und Familie Den informellen peer-groups wird allgemein große sozialisatorische Bedeutung zugesprochen. Der Vergleich mit Studien aus zurückliegenden Jahrzehnten läßt erkennen, daß die soziale Gesellungsform der informellen peergroups gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen hat. So beschreibt beispielsweise Allerbeck in einer Replikationsstudie, daß die Mitgliedschaft in informellen peer-groups in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen hat

In unserer Befragung gab die Hälfte der interviewten Jugendlichen aus dem Dorf an, Mitglied in einer informellen peer-group zu sein, während der Rest eher den individualisierten Freundeskreis vorzieht.

Im Gegensatz zu Befunden früherer Jugend-studien stellen wir fest, daß Mädchen im Dorf wie in anderen Umwelten in peer-groups stark vertreten sind. In der Trabantensiedlung, in denen sich wesentlich mehr peergroups (Cliquen) als Nachbarschaftscliquen zusammenfanden, weil sie sich im Wohnkontext und nicht im schulischen Kontext oder über einen Verein kennenlernten, gehören sogar mehr Mädchen als Jungen zu Cliquen. Klare altersspezifische Effekte sind bei den 14— 19jährigen noch nicht festzustellen. Der Rückzug aus der Clique und die stärkere Hin-wendung zum einzelnen Partner und locke-ren Freundeskreis erfolgt allgemein erst nach dem 19. Lebensjahr

Der Begriff Gleichaltrigengruppe’ trifft nicht exakt den Sachverhalt, weil auch aus unseren Befunden deutlich wird, daß Altershomogenität in peer-groups nur selten gegeben ist; wir sprechen daher auch umgangssprachlich von . Clique

Nicht nur die Jugendlichen im Dorf (50%) sind sehr häufig Mitglieder in Cliquen; auch in der Arbeitersiedlung (55%) und besonders stark in der Trabantensiedlung (57%) beziehen sich Jugendliche intensiv auf Cliquen und verbringen mit ihrer Clique einen großen Teil der Freizeit Lediglich in den gehobenen Schichten ist die kollektive Form der Freundschaft — die sich regelmäßig treffende Clique — wenig üblich (38%), denn dort werden die individualisierten Kontakte zu verschiedenen Freunden bevorzugt Jugendliche aus dem Bildungsbürgertum befürchten zu starke Konformitätsanforderungen an einen Gruppenkodex und einen zu starken Gruppendruck.

Als Grund für den möglichen Bedeutungszuwachs von informellen Cliquen nennen verschiedene Autoren die längere Verweildauer im Bildungssystem. Mit der verlängerten Schulzeit so wird argumentiert, ergibt sich auch eine längere Jugendphase Die peergroups stellen in komplexen Industrie-und Dienstleistungsgesellschaften einen bedeutsamen Identifikations-und Erfahrungsraum dar, der emotionale und moralische Stabilisierungen ermöglicht In einigen Jugendtheorien wird die moderne peer-Kultur nicht nur als autonome, sondern in mancher Hinsicht als dominante Teilkultur betrachtet, die wegen ihrer . Erlebniszentrierung'auch emotionale und moralische Schwierigkeiten auslösen kann

Jugendliche in Cliquen unterscheiden sich von anderen Jugendlichen in verschiedener Hinsicht: So sind die jugendlichen Mitglieder von Cliquen des Dorfes wesentlich freizeit-mobiler, verlassen in der Freizeit häufiger den Wohnort, sind geselliger, verbringen ihre Freizeit seltener allein und sind auch seltener mit der Familie zusammen. Organisierten Freizeitangeboten stehen sie nicht negativer gegenüber, im Gegenteil, sie sind häufiger in Vereinen Mitglied. Die ausgeprägte Freizeit-mobilität der Cliquenmitglieder des Dorfes ist jedoch kein Anzeichen für eine mangelnde Identifizierung mit dem Dorf. Die starke soziale Einbindung in die Cliquen und die öffentlichen Freizeitaktivitäten bewirken vielmehr eine überraschend positive Bewertung des jeweiligen Wohnortes (im Dorf wie in den anderen Umwelten) — und ein Umzug in eine andere Wohngegend wird weniger wünschenswert. Die aktuelle Erfahrung der Geborgenheit im sozialen Netzwerk der peergroups führt zu der Erwartung, auch in späteren Lebensabschnitten enge und fruchtbare Freundschaften zu haben. Die Angst vor Isolation und Einsamkeit tritt bei Jugendlichen aus Cliquen äußerst selten auf.

Die Jugendlichen vom Dorf verfolgen zum großen Teil konventionelle Lebenspläne, wenn man darunter z. B. Heirat und eigene Kinder (91%), Übernahme von Besitz und Eigentum (79%) oder die Aufrechterhaltung enger Sozialkontakte zu den Eltern (97%) versteht Hierin unterscheiden sich die Jugendlichen in Cliquen von anderen Jugendlichen nur wenig; und auch die Jugendlichen vom Dorf insgesamt unterscheiden sich von den Jugendlichen aus anderen Regionen in erster Linie bei der Frage nach dem Eigentum und dem eigenen Haus. Gemessen am Besitz der Eltern erscheinen die optimistischen Erwartungen der Jugendlichen vom Dorf noch einigermaßen realistisch (72% leben im eigenen Haus bzw.der Eigentumswohnung der Eltern), wenn man dies mit den Erwartungen der Jugendlichen aus der Arbeitersiedlung und der Trabantensiedlung vergleicht; denn dort hofft beinahe die Hälfte der Jugendlichen auf ein eigenes Haus oder eine private Eigentumswohnung, ohne daß allgemein die entsprechende elterliche Besitzbasis gegeben wäre: 20% in der Arbeitersiedlung und 12% in der Trabantensiedlung leben im Eigenheim.

Von einer freiwilligen breiten Abwendung von traditionellen Lebensentwürfen und einer bewußten Hinwendung zu pointierten subkulturellen Stilen ist bei den interviewten Jugendlichen kaum die Rede. Die auffallend negative Bewertung pointierter subkultureller Lebensstile mag an der modischen Abwertung von Begriffen liegen und sagt noch nichts über die Einschätzung von subkulturellen Lebensstilen selbst aus. Tatsache ist allerdings, daß auf dem Dorf, wie in anderen Um-welten, Punks, Popper, Rocker lediglich zwischen Tolerierung und Ablehnung eingestuft werden. Während Jugendliche sich subkulturellen Stilen selten zuordnen wollten, werden kleine „Alltagsflips", die Möglichkeiten individueller Selbstdarstellung bieten und geeignet erscheinen, die erwachsene Umwelt zu schokkieren, durchaus für gut befunden. Jugendliche Cliquenmitglieder „schlagen häufiger über die Stränge“, haben häufiger den Wunsch das „Einerlei des Alltags" durch kleine Regelübertretungen zu durchbrechen und für Augenblicke einen latenten Hedonismus freizusetzen. Ohne ausgeprägte oppositionelle Haltungen feststellen zu können, neigen Jugendliche in Cliquen stärker zum Experimentieren und suchen ihren Alltag durch ungewohntes Handeln aufzulockern. Dies gilt sowohl für das Dorf als auch für die anderen Umwelten.

Die Überlegung, daß Jugendliche, die schulisch modernisierenden Einflüssen ausgesetzt sind, die sich in den peer-groups fortsetzen, ihren vermutlich eher an traditionellen Werten orientierten Eltern zunehmend fremd gegenüberstehen müßten, ist plausibel. Um das zentrale Ergebnis vorwegzunehmen: Jugendliche in allen berücksichtigten Regionen haben starke emotionale Bindungen an ihre Eltern, und zwar unabhängig davon, ob sie nun in einer Clique sind oder nicht Es zeigt sich beispielsweise, daß Jugendliche über ein sehr persönliches Problem am liebsten mit ihrer Mutter sprechen

Die große soziale Bedeutung der Freunde und der Clique für viele Jugendliche bestätigt sich auch bei dieser Frage, wobei die emotionale Bedeutung der peers in der Trabantensiedlung am stärksten eingeschätzt werden muß. In der Shell-Studie wurde betont, daß sich Großstadtjugendliche gegenüber Landjugendlichen häufiger in starker opponierender Haltung zu den Erwachsenen befinden, daß sie stärker dazu neigen, in Abgrenzung von der Meinung und den Normen Erwachsener unabhängigeren Orientierungen zu folgen Auch unsere Daten lassen erkennen, daß Jugendliche aus dem Dorf und der gehobenen Schichten häufiger bestrebt sind, in enger Bindung an die Erwachsenen ihr Leben zu gestalten. Dies darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß neben einer explizit erwach-senen-orientierten Haltung (27% im Dorf, 30% im Quartier des Besitz-und Bildungsbürgertums, 15% in der Arbeitersiedlung und 14% in der Trabantensiedlung) auch ein großer Teil der Jugendlichen (29% auf dem Dorf, 44% in der Trabantensiedlung) eine explizit jugendorientierte Grundhaltung einnimmt die dadurch bestimmt ist, daß Jugendliche in Abgrenzung von Erwachsenen deren Ratschlägen und Forderungen mißtrauisch gegenüber stehen und die eigenen alternativen Normen und Verhaltensweisen verteidigen. Allerdings trifft die distanzierte Haltung der Jugendlichen nicht in erster Linie die Eltern, sondern öffentliche und von Erwachsenen geleitete Institutionen, . wie beispielsweise die Schule oder Kontrolle ausübende Nachbarn.

Weil schon fälschlich behauptet wurde, Cliquenbindungen und Elternbindungen würden sich ausschließen, darauf hingewiesen, daß sei in allen Umwelten keine Korrelationen existieren, die eine solche Interpretation -zulas sen: Eine positive Bewertung der peers tritt nicht im Zusammenhang mit der Abwertung der Familie auf Eine Besonderheit des Dorfes ist es, daß das Vertrauen, das Jugendliche in ihre Eltern setzen, sich auf Mutter und Vater breiter verteilt während es sich in den anderen Umwelten eindeutig auf die Mutter konzentriert Die Berufstätigkeit der Mütter hängt damit nicht zusammen, denn wir stellen fest daß berufstätige Mütter genauso oft wie nicht berufstätige Mütter als Vertrauenspersonen genannt werden, also ebenfalls häufiger als die Väter. Wenn Mütter auf dem Dorf doppelt so häufig als Vertrauensperson von Jugendlichen genannt werden als Väter, in den anderen Umwelten aber vier-bis fünfmal so häufig, so könnte die relativ starke erzieherische Position des Vaters auch mit dessen Berufstätigkeit erklärt werden, denn es gibt wesentlich mehr Selbständige, die durch ihre Arbeit daheim zeitlich und räumlich den Jugendlichen noch nicht entrückt sind, es könnte aber auch mit einer traditionell starken sozialisatorischen Position des Vaters auf dem Lande Zusammenhängen

Eine Klärung der Zusammenhänge muß anderen Studien, die die Erziehungseinstellungen der Eltern und das Familienklima ebenfalls untersuchen, Vorbehalten bleiben. 5. Nachbarschaft und soziale Kontrolle Es ist vielfach beschrieben worden, wie jugendliches Verhalten im dörflichen Zusammenhang stark durch die örtliche Öffentlichkeit und speziell durch die Nachbarn kontrolliert wird. Anonymer Rückzug und das Aus-agieren in einem unbeobachteten Freiraum ist in der dörflichen Öffentlichkeit kaum möglich. Die von den Jugendlichen im Dorf vorgebrachte Forderung nach einem jugend-gemäßen Freizeittreff, nach einem Jugendcaf und Jugendkino, in dem man in «eigener Regie" und ohne Kontrolle der Erwachsenen zusammensein kann, ist eine Reaktion auf den engen und einsehbaren Lebenszusammenhang im Dorf. Auch das hohe Mobilitätsverhalten in der Freizeit, der Besuch von Diskotheken oder Kneipen außerhalb des -tes, ist eine einleuchtende Haltung, wenn man der sozialen Kontrolle und Sanktionierung im Dorf entfliehen will.

In mancher Hinsicht ähneln die sozialen Probleme, die aus der Dichte und räumlichen Nähe der Nachbarschaft erwachsen, in der Trabantensiedlung und in der städtischen Arbeitersiedlung jenen im Dorf frappierend, treten aber noch schärfer hervor: Auch in der Trabantensiedlung und der städtischen Arbeitersiedlung ist das jugendliche Verhalten auf den Freiflächen und Spielplätzen zwischen Wohnhäusern aus Fenstern hundertfach einzusehen. Jeder laute Gesang, jede auffällige Aktivität einer Gruppe ist auf der Stelle und unabdingbar . veröffentlicht Verlassen die Jugendlichen die elterliche Wohnung, treten sie in öffentliche Räume, die genauen Regelungen und Verordnungen unterworfen sind, seien es nun Grünanlagen, Einkaufszentren, U-Bahnhöfe oder Hauseingänge. Nachbarn, Hausmeister u. a. üben ihre soziale Kontrolle aus. Nur scheint ein Unterschied zwischen dem dörflichen und dem städtischen Kontext (Trabantensiedlung) der zu sein, daß zwischen den Nachbarn im Dorf wesentlich mehr Kontakte bestehen, daß man . sich persönlich sehr gut bekannt ist'. 87% der Jugendlichen im Dorf sehen persönliche Bezüge als gegeben an und beurteilen die Nachbarn als gastfreundlich, während nur 46% der Jugendlichen in der Trabantensiedlung glauben, daß persönliche Beziehungen zwischen den Nach-barn existieren. Verschärfend kommt die geringe Freizeitmobilität von Jugendlichen aus der Trabantenstadt hinzu: 40% verlassen in ihrer Freizeit selten oder nie den Wohnort.

Die konkreten Interventionen der Nachbarn bei Regelüberschreitungen sind daher in den verschiedenen Wohnkontexten durchaus unterschiedlich: Im Dorf erwartet man eher die Sanktionierung durch die in Kenntnis gesetzten Eltern, während man in den großstädtischen Siedlungen die anonymeren Formen polizeilicher Kontrolle und anderer speziell ausdifferenzierter Organe sozialer Kontrolle befürchten muß. Im Dorf werden die Sozial-und Nachbarschaftsbeziehungen als vergleichsweise eng, intensiv und intim beschrie. ben. Es ist interessant festzustellen, daß nur die Dorfjugendlichen (55%) mehrheitlich die Nähe zum Nachbarn auch mit Hilfe und Solidarität verbinden. In den anderen Umwelten sehen nur ein Drittel der Befragten solidarische Bezüge zwischen den Bewohnern ihres Wohnortes. Die Dorfjugendlichen sehen in der Nähe und den persönlichen Kontakten zu Nachbarn also nicht einseitig die davon ausgehende soziale Kontrolle oder romantisierend eine sich schützende Solidargemeinschaft, sondern die Ambivalenz der Beziehung ist ihnen bewußt. 6. Vereine und Wohnortbindung Die Haltungen zu örtlichen Vereinen und Organisationen gelten als wichtige Indikatoren für die Bindung und soziale Teilnahme von Altbürgern und Jungbürgern in einer Gemeinde Schon weil die Flucht aus dem dörflichen Freizeitterrain wegen langer Distanzen zu anderen Wohnorten oder den Städten nicht täglich möglich ist und daher vor allem an Wochenenden geschieht, wirken sich die Anregungen und Angebote von lokalen Vereinen stark auf die alltäglichen Freizeitaktivitäten von Jugendlichen aus. Die mitgliederstärksten Vereine im Dorf sind Sport-und Hälfte befragten Musikvereine. aller Jugendlichen aktive Mitglieder in einem sind Sport-oder Musikverein. Insgesamt haben sich 60% der befragten Jugendlichen fest den Vereinen oder Jugendorganisationen angeschlossen. Geschlechtsspezifische Präferenzen zeigen sich bei Dorfjugendlichen darin, daß Jungen zwischen 14 und 19 Jahren die Sportvereine signifikant besser beurteilen als Mädchen, während Mädchen die Musikvereine und kirchlichen Jugendgruppen höher bewerten und häufiger an den Aktivitäten dieser Gruppen teilnehmen.

Der hohe Organisationsgrad in Sportvereinen und anderen Organisationen ist auch in den anderen untersuchten Quartieren festzustellen. Lediglich in der Trabantensiedlung liegt der Organisationsgrad (44%) wesentlich niedriger, was u. a. auf das geringere Angebot zurückzuführen ist Die Jugendlichen vom Dorf nehmen vor allem die Angebote des Sportvereins gerne auf und nutzen die für sie dadurch am Ort gebotenen räumlichen Möglichkeiten. Jugendliche vom Dorf (14%) sind doppelt so häufig in zwei oder mehreren Organisationen Mitglied als Jugendliche anderer Areale, und auch die Bindung an kirchliche Jugendgruppen (20%) ist ausgeprägter. Die Hypothese, daß die Bindung an Vereine und Jugendorganisationen in ländlichen Wohngebieten insgesamt stärker sei, bestätigt sich nicht.

Die Mitgliedschaft in einer informellen Freundschaftsclique ist kein Hindernis, auch in Vereinen aktiv zu sein. Eher scheint das Gegenteil zuzutreffen. Das stark ausgeprägte Bedürfnis nach Geselligkeit jener Jugendlichen, die sich zu Freizeitcliquen zusammentun, bewirkt, daß diese Jugendlichen auch an den organisierten institutioneilen Freizeitangeboten stärker mitwirken. Daraus läßt sich ableiten, daß die Mitgliedschaft in informellen . wilden'Cliquen meist nicht aus einem antiinstitutionellen Affekt erwächst, sondern daß der Wunsch nach geselligem Zusammensein mit anderen Jugendlichen das zentrale Motiv für diese Teilnahme darstellt. Man nimmt dann auch in Kauf, daß die Vereine größtenteils von Erwachsenen gelenkt und gesteuert werden. Neben den jeweils besonderen zielorientierten, sportlichen oder anderen Leistungen existiert auch in Vereinen — wie in der Schule oder in den beruflichen Ausbildungsstätten — ein „hidden Curriculum', das den freien Kontakt und ungezwungenen Austausch von Jungen und Mädchen erlaubt. Sind informelle Cliquenkontakte den Aktivitäten in Vereinen eher förderlich, so sind umgekehrt vereinsbezogene, zielgerichtete Aktivitäten kein Ersatz für die jugendlichen Freundschaftsbeziehungen. Das kommt darin zum Ausdruck, daß auch sogenannte .organisierte Jugendliche'kommerzielle und informelle Jugendtreffs neben dem vereinsbezogenen institutionellen Angebot fordern. Um es auf eine Formel zu bringen: Jugendcaf 6 oder offene Jugendhäuser als Treffpunkte für Cliquen und andererseits Vereine als Ort organisierter Freizeit ergänzen sich, sind aber keine sich ausschließenden Alternativen!

Wenn im Porf über die Hälfte der befragten Jugendlichen davon ausgeht, in dh nächsten zehn Jahren den Wohnort durch Umzug zu verlassen, so widerspricht dies der geläufigen Vorstellung, Dorfbewohner seien grundsätzlich umzugsunwillig. Zwar steht in der Tat das eigene Dorf als . Wohnort’ bei vollkommen freier Wahl . obenan'(45%); dieser Bezug auf den Wohnort, an dem man gerade lebt, trifft aber auch in den anderen Umwelten zu. Es wundert nicht, wenn in der Trabantensiedlung dieser Wunsch am seltensten ausgeprägt ist und dort nur die Jugendlichen, die in Cliquen integriert sind — vermittelt über die emotionale Bindung an die Gleichaltrigen — den Wohnort nicht verlassen wollen.

Das Dorf steht als Lebens-und Wohnraum für Dorfjugendliche und Jugendliche aus der Großstadt nicht so hoch im Kurs, wie dies eine das Dorf romantisierende Stadtkritik vermittelt. Wenn man bedenkt, daß im Dorf u. a. erhebliche Bindungen an das Eigentum der Eltern bestehen, überrascht die ausgeprägte Mobilitätsbereitschaft der Dorfjugendlichen, denn ein Viertel der Befragten würde bei absolut freier Wahl ein Leben im städtischen Kontext vorziehen, und knapp ein Fünftel würde gern im Ausland leben. Vor allem den Großstädten — aus Jugendliche dem Arbeiterviertel (27 %) und der Trabanten-siedlung (18%) — können sich relativ häufig vorstellen, in den Vorstädten, am Rande einer Großstadt, zu leben. Der Wunsch, im Ausland ist, zu leben, mit Ausnahme der Jugendlichen aus dem Arbeiterviertel (8%), weit verbreitet, besonders intensiv in den gehobenen Schichten (über 25%); dies verrät Abenteuerlust und Risikobereitschaft, aber auch Unzufriedenheit mit den gegebenen gesellschaftlichen -Rah menbedingungen. Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß hier von Wünschen berichtet wird, nicht von tatsächlichem Verhalten. Wir fanden in allen untersuchten Regionen einen Zusammenhang zwischen der Wohnortbindung und der Mitgliedschaft in Cliquen: Diejenigen Jugendlichen, die in informelle Cliquen integriert sind, wollen signifikant seltener aus dem augenblicklichen Wohnort wegziehen. Dieser Sachverhalt kann dadurch erklärt werden, daß Jugendliche ihre personalen Kontakte und Bindungen an Cliquen nicht aufgeben wollen; die Bindung an die Clique wird deshalb zur Bindung an den Wohnort ausgedehnt. 7. Politische Partizipation und soziale Integration Die Übereinstimmung mit einem Lebensbereich kann sich auch in der aktiven politischen Teilnahme und Einflußnahme am Gemeindeleben und an der Kommunalpolitik ausdrücken: Es wird immer wieder argumentiert, daß auf dem Land dieses vitale Bedürfnis der eigenständigen Einflußnahme, sei es direkt oder indirekt über lokale Politiker und Parteien, sowie die Teilnahme am öffentlichen Leben stark ausgeprägt seien Diese These können wir mit unseren Befunden nicht bestätigen. Zwar engagieren sich mehr Jugendliche in den Jugendorganisationen der etablierten Parteien (8% im Dorf gegenüber jeweils 1 % in anderen Wohngebieten) und es dominieren deutlich konservative parteipolitische Bindungen, wenn man nach der Partei der Wahl fragt; aber das kommunalpolitische Engagement ist insgesamt gesehen eher gering.

Jugendliche auf dem Dorf, die zugleich Mitglied in locker organisierten Jugendgruppen sind, zeigen noch die ausgeprägteste Bereitschaft zur aktiven Partizipation an der Gestaltung der Umwelt. Dies ist ein Trend, der sich beispielsweise in der Trabantensiedlung gegenläufig verhält, denn dort sind die Mitglieder von Cliquen derart auf ihre Freizeitgestaltung fixiert, daß sie sich für kommunalpolitische Entwicklungen kaum interessieren. Es in herrschen allen Untersuchungsregionen passive politische Verhaltensbereitschaften vor: Kommt es zu kommunalpolitischen Fehlplanungen, würde man zwar schon einen Leserbrief unterzeichnen, eine Unterschrift für eine Eingabe leisten oder auch an einer Protestversammlung teilnehmen; zu aktiveren Formen des Protests wäre aber lediglich ein Fünftel der befragten Jugendlichen bereit. Massive, auch For illegale oder gewaltsame -men des Protests werden auf breiter Basis abgelehnt. Diese wenig spektakulären Ergebnisse erhalten aus einer anderen Perspektive Brisanz: Nicht das häufig, aber gleichwohl zu Unrecht befürchtete Überengagement der Jugendlichen ist zu erwarten, sondern ein Rückzug ins Private kann die Folge einer auf die Delegation der Interessenwahrnehmung abgestellten jahrelangen Politik bedeuten. Wenn ein Fünftel der befragten Jugendlichen jeweils aus der traditionellen Arbeitersiedlung und aus der Trabantensiedlung keinerlei Interesse für kommunalpolitische Veränderungen zeigen, so ist das ein alarmierendes Signal. Im Dorf ist dieser vollkommene Rückzug von größeren Teilen der Jugend nicht festzustellen.

Den Jugendlichen aus dem Dorf wird seit langem ein größeres Beharrungsvermögen und eine generalisiert angepaßte Haltung unterstellt Diese Aussage ist nicht haltbar: Zunächst ist festzustellen, daß eine große Heterogenität der politischen Parteienpräferenzen existiert, so daß auf pluralistische Grundzüge der jeweiligen Gemeinden rückgeschlossen werden kann. Im Dorf besteht unter den Jugendlichen eine starke Aufgeschlossenheit gegenüber der CDU (34%), aber auch Sympathisantenkreise von SPD (17%) und GRÜNEN (16%) werden erkennbar. In der traditionellen Arbeitersiedlung dominiert mit großem Vorsprung die SPD (39%). Im Quartier des Besitz-und Bildungsbürgertums haben die GRÜNEN (28%) die größten Sympathieanteile errungen, gefolgt von der CDU — nur hier wird die FDP (7%) in nennenswertem Umfang genannt. In der Trabantensiedlung liegt wiederum die SPD (22%) knapp vor den GRÜNEN (19%). Andere Parteien werden von Jugendlichen in allen Regionen nur in Einzelfällen genannt. Sollten die erfragten Sympathieanteile über die Zeit stabil bleiben, sich im späteren Wahl-verhalten ausdrücken, so wird sich die begonnene Veränderung der Parteienlandschaft, vermittelt über die Jungwähler, fortsetzen Das Dorf bleibt von diesen Veränderungen nicht unberührt. Die Rekrutierung von politischen Eliten durch Parteien wird von 12 bis 16% der Jugendlichen in den jeweiligen Um-welten abgelehnt; dies drückt sich in deren prinzipieller Abwendung von Parteien (auch der GRÜNEN) aus

Die subjektive Erwartung, wie sich eine Gemeinde, aber auch die gesamte Gesellschaft in Zukunft weiterentwickeln, greift tief in die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen ein. In der Sinus-Studie wurde dargelegt, daß Angst heute eine „Triebfeder der Wahrnehmung und Verarbeitung zentraler politischer Probleme bei der Mehrheit der jungen Generation“ ist. Bezogen auf kommunalen Wandel, z. B.den rhalt von Grünflächen oder die Möglichkeit, sich auch in 50 Jahren am Ort wohlzufühlen, herrschen im Dorf tendenziell optimistische Erwartungen vor; dagegen haben die Jugendlichen aus städtischen Regionen in dieser Hinsicht überwiegend pessimistische Zukunftserwartungen. Auf die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen angesprochen, werden allerdings auch im Dorf ausgeprägte Skepsis und Pessimismus sichtbar. Die Mehrheit der Jugendlichen, auch vom Dorf, zweifelt an der These vom evolutionären Gang der Geschichte hin zu einem besseren Leben: Die Angst vor der Gefährdung des Friedens, vor der Zerstörung der Umwelt die Furcht vor Wirtschaftskrisen mit anhaltender Massenarbeitslosigkeit sind nach wie vor die tragenden Themen dieser unverarbeiteten und verbreiteten Ängste; so wird erklärlich, wenn die Jugendlichen vom Dorf wie auch anderswo zu parteipolitischen Nachwuchsorganisationen auf Distanz gehen und andererseits die Vertreter der Friedensbewegung, des Umweltschutzes und der Gleichberechtigung großes Interesse und Hoffnungen auslösen.

Nationalistische Gruppen werden überall abgelehnt, ebenso aktivistische Gruppen, die im Rahmen einer partikularen Interessenvertretung geltendes Recht übertreten. Dagegen sind deutliche Spuren jugendlicher Ausländerfeindlichkeit, besonders im traditionellen Arbeiterviertel, in der Trabantensiedlung und — abgeschwächt — im Dorf, unverkennbar. Den Hintergrund für intolerante und feindliche Haltungen bildet meist die Konkurrenz um knappe Ressourcen wie Arbeitsplätze und Freizeiträume

V. Keine horizontale Nivellierung, aber auch keine . kulturelle Lücke

Es wäre sicher übertrieben, würde man die Ergebnisse unserer Studie zu Freizeit-, Gesel-lungs-und Politikorientierungen von Jugendlichen so deuten, daß eine weitgehende horizontale Nivellierung der Orientierungen und der Lebenssituationen von Jugendlichen in verschiedenen Regionen stattgefunden hat Es ist aber unverkennbar, daß insbesondere umwälzende Neuerungen des Kommunikations-und Transportwesens zur Verdichtung des sozialen Systems in der Bundesrepublik Deutschland führten und eine beträchtliche Aktivierung der Kontakte mit industriell erzeugten Lebensstilen bewirkte. Ehemals abgeschnittene Regionen und ehemals isolierte Bevölkerungsgruppen nehmen heute an den kulturellen, freizeitbezogenen Veränderungen in der Gesellschaft intensiv teil -

Gegen eine verabsolutierte Nivellierungsthese sprechen neben aufgezeigten Unterschieden in den subjektiven Orientierungen und Lebenssituationen von Jugendlichen auch einige „objektive“ Daten, die die Herkunftsfamilien von Jugendlichen betreffen: Um nur einige Fakten zu nennen, zeigt sich, daß im Dorf, verglichen mit den anderen Untersuchungsregionen, nach wie vor die Haushalte durchschnittlich größer sind, Mehrgenerationenhaushalte und Familien mit drei und mehr Kindern üblicher sind, Familien wesentlich häufiger im . eigenen Haus'leben und Ein-Kind-Familien seltener sind.

Haben auch keine horizontalen Nivellierungsprozesse stattgefunden, so wird doch spürbar, daß der verstärkte und verlängerte Schulbesuch die Partizipation an den Massenmedien, an Konsum und Mode, die starke Orientierung an allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Problemlagen der Jugendlichen auf dem Dorf Diagnosen Lügen strafen, wenn von einem ungebrochenen, verbreiteten Provinzialismus der Landjugend gesprochen wird. Ein selbstgenügsamer Provinzialismus existiert nicht Die Jugendlichen des von uns untersuchten dörflichen Umfeldes sind weder wesentlich angepaßter und braver in ihrem alltäglichen Sozialverhalten noch sind sie von den aktuellen politischen Bewegungen abgeschnitten und unbeeindruckt Die Jugendlichen vom Dorf akzeptieren religiös-kirchliche Jugendgruppen stärker als Jugendliche anderer Regionen; doppelt so viele Jugendliche (35%) gehen häufig in die Kirche, und religiöse Feste und Traditionen sind noch für viele bedeutsam. Aber auch hier scheint es äußerst schwierig, die allgemein hohe Akzeptanz und die geringe Ablehnung in aktives Mitarbeiten in kirchlichen Jugendgruppen überzuführen. Die Zukunft der Gesellschaft wird zwar insgesamt von den Jugendlichen im Dorf weniger pessimistisch eingeschätzt, und im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Umwelten sind hier die Jugendlichen mit höherer Bildung nicht pessimistischer als ihre Alterskameraden mit weniger Bildung. Aber die Hoffnung auf eine ungebrochen evolutionäre gesellschaftliche Entwicklung zum Besseren teilt, wie in anderen Umwelten, weit weniger als die Hälfte der Befragten.

Nicht auf eine vorschnell attestierte kulturell-politische Lücke ist zu schließen, eher werden Polarisierungen kultureller und politischer Einstellungen im dörflichen Kontext erkennbar. Besser lassen sich die Vorgänge als . Modernisierungsprozesse'charakterisieren. Dort, wo traditionell-ländliche Normen und Lebensweisen von urbanen-industriellen Lebensweisen überformt und überlagert werden, treten auch ähnliche soziokulturelle Gegenbewegungen und Reaktionen auf dem Land wie in großstädtischen Räumen auf. Typisch für das Dorf sind nicht . kulturelle Lükken’ der Bewohner, sondern kulturelle Mischformen, die im Prozeß der Modernisierung entstehen. Es bestehen moderne, urbane Orientierungen und traditionelle, überlieferte Gewohnheiten nebeneinander

Die Ergebnisse der Studie legen es nahe, Urbanismus und Ruralismus nur bedingt als eine Frage des geographischen Standortes zu betrachten; denn im Dorf leben Jugendliche und Gruppen mit durchaus urbanem Sozialverhalten und Einstellungen, wie umgekehrt das Beispiel der Neubausiedlung in gewissen Aspekten zeigt, daß auch in der Stadt ländliche Charakteristika auftreten. Diese paradoxen Phänomene erhärten im Sinne der These vom Stadt-Land-Kontinuum die Zweifel an einem heute noch existierenden einfachen Stadt-Land-Gegensatz.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe C. M. Arensberg, Die Gemeinde als Objekt und als Paradigma, in: R. König, (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 4, Komplexe Forschungsansätze, Stuttgart 19743; H. Kötter, Stadt und Land, in: H. -G. Wehling, Auf dem Lande leben, Stuttgart u. a. 1983, S. 11-23; H. Kötter /H. -J. Krekeler, Zur Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen, in: R. König (Hrsg.), Bd. 10, Stuttgart, 1977, S. 1-41; in der sozialökologischen Sozialisations-und Jugend-forschung wurde dies hervorgehoben.

  2. Vgl. V. v. Borris /L. Clausen /K. Simons, Siedlungssoziologie. Wohnung — Gemeinde — Umwelt, München 1978, S. 78f.

  3. Grundlegend vgl. bereits E. Durkheim (1903), Erziehung, Moral und Gesellschaft, Frankfurt a. M., 1984; für Durkheim trägt die . Verarmung des Gemeindelebens'wesentlich zur Schwächung des Gemeinschaftsgefühls bei, der aber u. a. durch die Belebung des . Geistes der Geselligkeit'und des . Sinnes der Gruppe'beizukommen sei (S. 268/269).

  4. A. Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt, 1965.

  5. S. zur Diskussion R. König, Neuere Strömungen der Gemeindesoziologie, in: ders. (Anm. 1), Bd. 4, Stuttgart 1974, S. 117-141.

  6. Vgl. A. Fischer, Jugend au dem Lande - eine Jugend wie sie die Erwachsenen gerne hätte in: P. Sinkwitz, Die Lebenslage der Jugend auf dem Lande, in: Fredeburger Heft (1982) 13, S. 50 ff. basierend auf A. Fischer u.a. Jugend 81 - Lebensentwürfe, Alltagskulturen, zukunftsbilder, Shell Jugendstudie, Hamburg 1981

  7. Vgl. J. Zinnecker, Jugendliche Subkulturen, in: Zeitschrift für Pädagogik, 27 (1981), 3, S. 431-440; ders., Jugend heute — Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder, in: deutsche Jugend, 30 (1982), S. 17-26.

  8. Vgl. J. Kroner, Das Dorf als Sozialraum, in: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.), Dorferneuerung zwischen Tradition und Fortschritt, Göttingen 1981, S. 24-32.

  9. Vgl. U. Planck, Situation der Landjugend, Münster-Hiltrup 1982 a; ders., Situation der Landjugend, in: P. Sinkwitz (Anm. 6), 1982, S. 18-36.

  10. Vgl. U. Planck (Anm. 9), 1982 a, S. 127 ff.

  11. Vgl. U. Planck (ebd.), S. 29; einen Überblick zum Forschungsstand und zu Forschungsdefiziten der ländlichen Jugendforschung gibt G. Cramer-Hartmann, Landjugendforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Berichte über Landwirtschaft, Band 60, 2 (1982), S. 305-311.

  12. Vgl. T. Bargel u. a., Soziale und räumliche Bedingungen der Sozialisation von Kindern in verschie-denen Soziotopen, jn: H. Walter (Hrsg.), Region und Sozialisation. Beiträge zur sozialökologischen Präzisierung menschlicher Entwicklungsvoraussetzungen, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 194; U. Bronfenbrenner, Die Ökologie menschlicher Entwicklung, Stuttgart 1981; vgl. auch H. Bertram, Von oer schichtspezifischen zur sozialökologischen Sozialisationsforschung, in: L. A. Vaskovics, Umwelt-bedingungen familialer Sozialisation. Beiträge zur sozialökologischen Sozialisationsforschung, Stutt-8art 1982, S. 25-54.

  13. Der ausführliche Schlußbericht zum Projekt in w Tippelt /J. Krauß /S. Baron, Jugend und Umwelt. Soziale Basisprozesse und soziale Orientie-rungen im regionalen Vergleich, Weinheim u. Basel 1986 (im Druck).

  14. Vgl. C. -H. Hauptmeyer u. a., Annäherungen an das Dorf. Geschichte, Veränderung und Zukunft, Hannover 1983.

  15. Vgl. C. -H. Hauptmeyer Zukunftsperspektiven des Dorfes — historische Aspekte, in: C. -H. Haupt-meyer u. a. (Anm. 14), S. 202 f.

  16. In den USA haben diese Thesen vertreten: A J. Vindich /J. Bensman, Small Town in Mass Society. Class, Power and Religion in a Rural Community, Princeton N. J. 19682, S. 323 ff.

  17. Vgl. Sinus (Hrsg.), Die verunsicherte Generation, Opladen 1983, S. 74; M. Baethge /H. Schomburg /U. Voskamp, Jugend und Krise — Krise aktueller Jugendforschung, Frankfurt 1983.

  18. Vgl. Sinus (Anm. 17), S. 81; H. G. Rolff u. a., Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 1, Weinheim-Basel

  19. K. Blanc /L. Böhnisch, Jugend auf dem Lande, München 1984, S. 9 (Manuskript).

  20. H. G. Rolff u. a. (Anm. 18), S. 55; vgl. D. Ausubel, Das Jugendalter, Fakten, Probleme, Theorie, München 19765, S. 308.

  21. Vgl. H. Becker /J. Eigenbrodt /M. May, Der Kampf um Raum — Von den Schwierigkeiten Jugendlicher, sich eigene Sozialräume zu schaffen, in: Neue Praxis, (1983) 2, S. 125-137.

  22. Vgl. W. Hornstein u. a. Lernen im Jugendalter, Deutscher Bildungsrat, Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 54, Stuttgart 1975, S. 61.

  23. Vgl. K. Allerbeck /W. J. Hoag, Jugend ohne Zukunft?, Hamburg 1984.

  24. Vgl. Sinus (Hrsg.), Gestaltung des Privatlebens im Jugendalter, Heidelberg 1984.

  25. Der Begriff . Clique'wird in der Jugendforschung

  26. Vgl. Sinus (Anm. 17), S. 22; M. Baethge u. a. (Anm. 17).

  27. Vgl. D. Ausubel (Anm. 20), S. 308.

  28. Vgl. F. H. Tenbruck, Jugend und Gesellschaft Soziologische Perspektiven, Freiburg 1962.

  29. Dieser Befund ist über mehrere Studien hinweg stabil; vgl. K. Allerbeck /L Rosenmayr, Einführung in die Jugendsoziologie, Heidelberg 1976, S. 75; Sinus (Hrsg.) (Anm. 17), S. 14 f.

  30. Vgl. A Fischer u. a. (Anm. 6).

  31. Ein hohes Maß der Störung zwischen Eltern und Kindern ist aus den vorliegenden Daten nicht abzulesen. Bereits in den . subkulturtheoretischen'Studien von J. Coleman, The Adolescent Society. The sosial Life of the Teenager and Its Impact on Edu-cation, New York 1961, erweisen sich nicht die eitern, sondern eher die Schulen und deren Repräsentanten als häufige . Partner'bei Konflikten; vgl. auch für die Bundesrepublik Deutschland neuer-Sin 8s Sinus (Anm. 24), S. 19f,

  32. Diese starke Position des Vaters in der Erzienung und Sozialisation war traditionell durch die uerliche Familienwirtschaft, die Position des Hausvaters begründet; vgl. M. Link u. a, Jugend auf dem Lande, Frankfurt 1983, S. 15 ff.

  33. Vgl. H. Lessing, Jugendarbeit als Wi(e) deraneignung von Arbeit, Umwelt und Kultur, in: deutsche Jugend, 10 (1984), S. 450-459.

  34. Beispielsweise sieht U. Planck Vereine als Bindeglieder oder . intermediäre Systeme'zwischen isolierten Personen, die wegen ihrer getrennten Arbeits-, Ausbildungs-und Versorgungsplätze ohne Vereine und lokale Organisationen den Kontakt zur lokalen Gemeinschaft verlieren würden; vgl. (Anm. 10). 1982 a, S. 131.

  35. Vgl. U. Planck (Anm. 9), S. 30.

  36. Vgl. auch U. Planck (Anm. 9), S. 194, der dieser Behauptung widerspricht.

  37. Vgl. J. Hofmann-Göttig, Die jungen Wähler, Frankfurt 1984.

  38. Nicht alle Jugendlichen, die sich für keine Partei entschieden, lehnen Parteien ab. Zu den genannten 12-16% der Jugendlichen kamen weitere ca. 15 % der Befragten, die sich mit Politik und Wahlen noch nicht beschäftigt haben und daher noch keine Partei präferieren. Vor allem Jüngere und Jugendliche mit geringem Bildungsstand sind politisch noch wenig informiert

  39. Vgl. Sinus (Anm. 17), S. 17.

  40. Auf die offen gestellte Frage, Was stört Dich an Deinem Wohnort am meisten’, nennen in der Arbeitersiedlung ein Viertel der Befragten die ausländische Wohnbevölkerung im Stadtteil!

  41. In diesem Punkt ist der älteren amerikanischen Studie von A. J. Vindich /J. Bensman (Anm. 16), S. 333, zuzustimmen, die allerdings unter dem Leitgedanken einer , Middle-Class Revolution'weiterhin gegebene Unterschiede und Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Schichten zu wenig betont

  42. Vgl. die wichtige Studie von H. -U. Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen

Weitere Inhalte

Rudolf Tippelt, geb. 1951, Dr. phil., M. A; Maschinenbauer; Studium der Erziehungswissenschaft, Sozialpädagogik, Soziologie, Psychologie und Philosophie in München und Heidelberg; 1977— 1978 Forschungstätigkeit bei der AfeB in Heidelberg; 1978— 1981 Wiss. Mitarbeiter, danach Hochschulassistent am Erziehungswissenschaftlichen Seminar der Universität Heidelberg. Arbeitsgebiete: Qualifikations-und Bildungsforschung, Jugendforschung, pädagogische Handlungstheorien, Berufs-und Sozialpädagogik. Zahlreiche Buch-und Zeitschriften-publikationen.