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Demographische Entwicklung und Bevölkerungspolitik in der Volksrepublik China | APuZ 39/1985 | bpb.de

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APuZ 39/1985 Artikel 1 Wirtschaftsreformen in der Volksrepublik China Demographische Entwicklung und Bevölkerungspolitik in der Volksrepublik China Bildungspolitik in der Volksrepublik China. Von rot" zu . fachkundig'?

Demographische Entwicklung und Bevölkerungspolitik in der Volksrepublik China

Thomas Scharping

/ 26 Minuten zu lesen

I. Das traditionelle Umfeld

Bevölkerungsdichte 1962

Die chinesische Regierung hat auf dem Feld der Bevölkerungspolitik ein schweres Erbe angetreten. Sie bewegt sich in einem gesellschaftlichen Umfeld, das durch jahrhundertelangen Familienkult und durch die positive Einstellung zu hohen Bevölkerungszahlen gekennzeichnet ist. Noch heute herrscht in der chinesischen Gesellschaft ein faktischer Ehe-und Gebärzwang, der aus früheren Perioden der europäischen Geschichte durchaus bekannt ist: Mit 27 bis 29 Jahren sind über 95% aller Mädchen verheiratet, ein Jahr nach der Hochzeit sind mehr als 85% von ihnen schwanger. Wären nicht langjährige Kampagnen für die Spätehe geführt worden, so würde das Heirats-und Gebäralter noch wesentlich niedriger liegen • Wer als Mädchen, in geringerem Maße auch als Mann, in den entsprechenden Altersgruppen unverheiratet geblieben ist, wird zu einem Problemfall für seinen gesamten Verwandten-und Bekanntenkreis, der nicht rastet und ruht, bis ein Ehepartner gefunden ist Ehe, Familie und Geburt gehen danach eine untrennbare Verbindung ein. Liebesheiraten sind relativ junge Errungenschaft, romantische Gefühle werden nach wie vor stark durch wirtschaftliche und familiäre Gesichtspunkte überlagert. Daß viele Kinder etwas Gutes bedeuten, hat die konfuzianische Tradition tief in den Köpfen der Menschen verankert. Unter den Kindern sind natürlich vor allem die Söhne geschätzt, zum einen als Arbeitskräfte, zum anderen, weil allein sie den Ahnenkult fortsetzen können. Mädchen hingegen gelten weniger; sie werden bis heute von einer frauenfeindlichen Umgebung häufig gesellschaftlich diskriminiert.

Der Familienkult ist aber nicht nur als gesellschaftliches Phänomen zu betrachten. Immer wieder ist er in der Geschichte auch vom Staat aktiv unterstützt worden. So haben chinesische Herrscher stets aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus eine große Bevölkerungs-zahl angestrebt, verwandelten sich doch die Kinder von heute in die Steuerzahler von morgen. Aus dem 9. Jahrhundert ist uns die berühmte Polemik der konfuzianischen Bürokratie gegen den buddhistischen Klerus überliefert, worin es heißt, der Zölibat zerstöre die gesellschaftliche Ordnung, verhindere die Fortpflanzung und münde geradewegs in die Steuerhinterziehung

Die wiederholten Kriege mit westlichen Staaten im Zeitalter des Imperialismus, die chinesischen Bürgerkriege und Revolutionen schufen ein Klima des Nationalismus, der mit der traditionellen Geisteshaltung auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik eine enge Verbindung einging. Zwei Zitate, das eine von Sun Yat-sen, dem Vater der chinesischen Republik, das andere von Mao Zedong, der beherrschenden Gestalt der revolutionären Bewegung, zeigen diese Verbindung in ihrer nationalistischen und in ihrer kommunistischen Variante.

Mit Blick auf das Bevölkerungswachstum Amerikas, Englands, Japans, Rußlands und Deutschlands Sun äußerte Yat-sen 1924, fünf Jahre, nachdem in Versailles Chinas halbkolonialer Status abermals bekräftigt worden war: „Was bedeutet es für China, wenn ihre Bevölkerung dermaßen schnell zunimmt? Wenn ich ihr Bevölkerungswachstum mit dem Chinas vergleiche, zittere ich... Momentan reißen die anderen Nationen China nur deswegen nicht an sich, weil ihre Bevölkerung noch kleiner als die unsrige ist. Wenn nun nach einem Jahrhundert unsere Bevölkerung stagniert, ihre jedoch stark zunimmt, dann werden sie mit ihrer Mehrheit die Minderheit unterwerfen und China annektieren. Wenn diese Zeit gekommen ist, wird China nicht nur seine Souveränität verlieren und als Staat untergehen. Nein, auch das chinesische Volk wird assimiliert werden und als Rasse verschwinden." Die hier von Sun Yat-sen vor 60 Jahren vorgetragene Meinung kann als repräsentativ für eine ganze Epoche gelten. Bis in die fünfziger Jahre konnte man im Zentralorgan der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) Artikel lesen, die mit nur leicht veränderten Worten die These wiederholen: China braucht viele Menschen, um nicht unterjocht zu werden; Geburtenkontrolle ist Mord am chinesischen Volk

Am prägnantesten formulierte Mao Zedong die jahrelange Haltung der KPCh im September 1949. Sein Kommentar zu den bevölkerungspolitischen Argumenten aus dem im gleichen Jahr veröffentlichten China-Weißbuch der amerikanischen Regierung lautete: „Es ist eine ausgezeichnete Sache, daß China eine große Bevölkerung hat Sogar wenn sich die Bevölkerung Chinas auf ein Vielfaches erhöht, wird es trotzdem durchaus möglich sein, eine Lösung zu finden. Diese Lösung heißt Produktion. Die absurden Argumente bürgerlicher Ökonomen, wie zum Beispiel Malthus, daß die Zunahme der Nahrungsmittel mit dem Bevölkerungszuwachs nicht Schritt halten könne, sind nicht nur theoretisch von den Marxisten schon lange entkräftet worden, sie sind auch durch die Tatsachen in der nachrevolutionären Sowjetunion und in den befreiten Gebieten Chinas widerlegt Revolution plus Produktion können die Ernährungsprobleme lösen.. .

Dieses Zitat wurde in der offiziellen Ausgabe der Mao-Schriften kanonisiert. Es ist den Wortführern einer staatlichen Geburtenkontrollpolitik, die ab 1953/54 aktiv zu werden begannen, immer wieder vorgehalten worden und hat die chinesische Bevölkerungsplanung um Jahre zurückgeworfen.

II. Demographische Entwicklung

Schaubild 1: Verstädterung 1950-1983

Quellen: Zhongguo tongji nianjian 1984, Peking 1984, S. 82; P. Bairoch, Urban Unemployment in Developing Countries, Genf 1973, S. 20— 22; Eigen-berechnung nach: Weltbank (Hrsg.), Weltentwicklungsbericht 1982, Washington 1982, S. 118— 119, 156— 157.

Traditionelle Einstellungen und nationale Ressentiments haben die offizielle Bevölkerungspolitik häufig extreme Positionen beziehen lassen. Nicht minder virulent ist Chinas demographische Entwicklung im letzten Jahrhundert verlaufen. Nach notwendigerweise groben Berechnungen rafften zwischen 1850 und 1950 Kriege und Bürgerkriege rund 35 bis 75 Millionen Menschen hinweg, darunter der große Taiping-Aufstand mit allein 20 bis 50 Millionen Todesopfern. Naturkatastrophen taten ihr übriges, um die chinesische Bevölkerung zu dezimieren. Gang und gäbe waren Zahlen von 500 000 bis 5 Millionen Toten bei den verheerenden Dürreperioden und Überschwemmungen, die insbesondere NordChina periodisch heimsuchen

Die politische Stabilität der fünfziger Jahre und in ihrem Gefolge der steigende Lebensstandard beschleunigten das Bevölkerungswachstum wieder. Ab 1949 weist die Wachstumskurve steil nach oben, seitdem werden auch die Probleme der ungebremsten Bevölkerungsdynamik zunehmend akut Lange Zeit mußten solche allgemeinen Trend-aussagen präzise Bevölkerungszahlen ersetzen. Fast 30 Jahre lang war das Ergebnis der ersten chinesischen Volkszählung von 1953, die in der Volksrepublik rund 580, 60 Millionen Bewohner ermittelte, die einzige einigermaßen verläßliche Angabe zur Gesamtbevölkerungszahl. Die 1964 durchgeführte zweite Volkszählung wurde bis 1979 geheimgehalten; spätere Bevölkerungszahlen aus der Kulturrevolution waren inkonsistent und ergaben ein widersprüchliches Bild.

1972 klagte der damalige Finanzminister und heutige Staatspräsident Li Xiannian über die Datenkonfusion, die selbst in den höchsten Regierungsorganen herrschte: Die Plankommission rechnete mit weniger als 750 Millionen Menschen, das Handelsministerium arbeitete für seine Zwecke mit 830 Millionen. Dazwischen lagen andere Behörden wie das Nahrungsmittelministerium, die von 750 bis 800 Millionen Menschen ausgingen Noch größere Abstände klafften fünf Jahre später zwischen verschiedenen westlichen Modell-rechnungen, die fragmentarische Angaben aus China mit angenommenen Zuwachsraten kombinierten: 1977 lagen die niedrigsten und höchsten westlichen Schätzungen der Gesamtbevölkerungszahl um fast 150 Millionen auseinander. Allgemein bestand die Tendenz, die niedrigen Ansätze zu übernehmen, dievon chinesischen Politikern noch Mitte der siebziger Jahre auf internationalen Konferenzen verbreitet wurden

Erst nach dem Ende der Kulturrevolution, nach dem Wiederaufbau der chinesischen Nationalstatistik und der Überprüfung der Melderegister wurden die chinesischen Angaben präziser. Ganz im Sinne ihres Wahlspruchs „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen" ordneten die Pekinger Reformpolitiker eine neue Volkszählung an, die eine General-inventur der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände im Lande gestatten sollte. 1982 wurde dieser dritte Zensus in der Geschichte der Volksrepublik abgehalten. Seitdem sind seine vorläufigen Ergebnisse sowie eine Fülle weiterer Bevölkerungszahlen bekanntgegeben worden, darunter auch zusätzliche Daten aus den vorangegangenen Zählungen von 1953 und 1964, die ein völlig neues Licht auf Chinas Bevölkerungsentwicklung in den letzten drei Jahrzehnten werfen

1. Hohe Gesamtbevölkerungszahl Der demographische Befund ergibt, daß Chinas Politiker bis Mitte der siebziger Jahre die ihnen unterstellte Bevölkerung um rund 100 Millionen Menschen unterschätzt haben. Allgemein haben sich die Modellrechnungen mit relativ hohen Ansätzen bestätigt, lag doch die im Juli 1982 erhobene Gesamtbevölkerungszahl von 1008, 18 Millionen Menschen auch im oberen Bereich der verschiedenen westlichen Schätzungen

2. Ungleichmäßige Siedlungsdichte

Schaubild 2: Geburten-und Sterberaten 1980

Quellen: Zhongguo tongji nianjian 1984, Peking 1984, S. 83; Weltbank (Hrsg.), Weltentwicklungsbericht 1982, Washington 1982, S. 152— 153.

Ebenfalls bestätigt hat sich 1982, daß die Bevölkerungsverteilung innerhalb Chinas nach wie vor äußerst ungleich geblieben ist. Wie die folgende Karte zeigt, zerfällt das Riesen-reich hinsichtlich seiner Bevölkerungsdichte weiterhin in drei scharf voneinander getrennte Zonen: das Kerngebiet, mit seinen fruchtbaren Schwemmlandebenen und Bekkenlandschaften im Norden, Osten und Südosten, in denen sich die Masse der Bevölkerung ballt; eine schon wesentlich dünner besiedelte Zone im Nordosten, Südwesten und Süden; die weiten Steppen-, Wüsten-und Berggebiete im Westen und Norden sowie im äußersten Nordosten und Südwesten, wo die chinesische Ackerbaukultur an ihre natürlichen Grenzen stößt Als Rohstofflieferanten, Leerräume bzw. strategische Schlüsselregionen haben die Randgebiete stets die Aufmerksamkeit von Wirtschaftsplanern und Geopolitikern auf sich gezogen.

Umsiedlungsaktionen und Neuland-kampagnen, Industrieansiedlungen und der Ausbau des Verkehrsnetzes waren ihre Antworten auf das erhebliche Regionalgefälle innerhalb des Landes. Viele chinesische Politiker und Sozialwissenschaftler haben daran die Hoffnung geknüpft, die Bevölkerung aus dem stark besiedelten Osten in den bevölkerungsschwachen Westen umverteilen zu können.

Auffällig hohe Wachstumsraten der Bevölkerung in der Inneren Mongolei und der nördlichen Mandschurei sowie in den nord-westlichen Regionen Xinjiang, Ningxia und Qinghai zeugen von diesen Bemühungen.

Hier lag der durchschnittliche jährliche Zuwachs zwischen 1953 und 1982 bei 2, 9 bis 3, 5%, während er sich im übrigen Land um rund 1, 8% bewegte. Die extrem unterschiedlichen Basiszahlen haben jedoch die Zuwachsraten kaum zum Tragen kommen lassen und dafür gesorgt, daß insgesamt nur eine geringfügige Verlagerung der Bevölkerungsanteile eingetreten ist: 1953 besaßen die genannten. Regionen etwa 4, 7% der chinesischen Bevölkerung, 1982 waren daraus 7, 2% geworden. 3. Verstädterung Nach der hohen Gesamtbevölkerungszahl und der äußerst ungleichmäßigen Siedlungsdichte stellt die Verstädterung das dritte der chinesischen Bevölkerungsprobleme dar.

Auch China bildete in den fünfziger Jahren keine Ausnahme von dem weltweiten Trend zu Landflucht und Überurbanisierung. Schaubild 1 zeigt daß mit dem Höhepunkt des Großen Sprunges im Jahre 1960 auch ein erster Gipfel der Stadtentwicklung erreicht war. Von den Industrialisierungsparolen angezogen, strömten arbeitssuchende Bauern massenhaft in die Städte ein. Ab 1961 begannen die chinesischen Urbanisationsraten jedoch erheblich von dem in anderen Entwicklungsländern üblichen Bild abzuweichen: Groß angelegte Rücksiedlungsaktionen entfernten Millionen der eben erst neu rekrutierten Arbeitskräfte wieder aus den Städten; scharfe Zuzugsbeschränkungen engten die regionale Mobilität ein; und zunehmend wurden auch städtische Bevölkerungsschichten von den zwangsweisen Landverschickungen erfaßt Auf diese Weise wurde die Gesamtzahl der Stadtbevölkerung von 130, 73 Millionen im Jahre 1960 auf 116, 46 Millionen im Jahre 1963 gesenkt. 1964 hatte sich China von den schweren Verlusten des Großen-Sprunges so weit erholt, daß sowohl die absoluten Zahlen wie auch der Anteil der Stadtbevölkerung wieder hochschnellten. Danach stiegen zwar die absoluten Zahlen weiter leicht an, die Urbanisationsrate fiel jedoch dank neuer Umsiedlungsaktionen städtischer Arbeitsloser bis zu einem Tiefpunkt von 17, 1% im Jahre 1972. Gegenläufige Migrationsbewegungen, die teils neue Arbeitskräfte vom Land in die Städte zogen, teils Stadtbewohner aufs Land versetzten und wieder andere Stadtbewohner aus den Dörfern zurück in die Städte holten, kennzeichneten die späten siebziger Jahre, in denen die Urbanisationsraten erneut zu klettern begannen

Im Jahre 1979, dem Jahr des endgültigen innenpolitischen Kurswechsels, wurde schließlich endgültig ein Wendepunkt erreicht Seitdem sorgen Wirtschaftsreformen und Rückwanderungen zwangsumgesiedelter Stadtbewohner für eine rasante Beschleunigung des städtischen Wachstums. Eingemeindungen von Dörfern im Umland der Städte treiben die Urbanisationsraten zusätzlich nach oben. Zwischen 1978 und 1983 ist die Gesamtzahl der Stadtbevölkerung um 68, 81 Millionen Menschen angewachsen — ein absoluter Zuwachs innerhalb von fünf Jahren, der größer ist als der gesamte Zuwachs in den zwei Jahrzehnten von 1958 bis 1978. Angesichts dessen wird die chinesische Regierung sehr darauf achten müssen, daß ihr die Urbanisierungsprobleme im Zuge der gegenwärtigen Modernisierungspolitik nicht über den Kopf wachsen. 4. Aktuelle Geburten-und Sterberaten Neben den in jeder Hinsicht atypischen Migrations-und Urbanisationsziffern sind vor allem die chinesischen Geburten-und Sterberaten von größerem Interesse. Schaubild 2 vergleicht ihre Höhe mit den entsprechenden Daten für andere Ländergruppen. Es sind Angaben für das Jahr 1980, aus dem die letzten Vergleichszahlen vorliegen: , China weist im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern eine bemerkenswert niedrige Geburtenrate auf, was zweifellos auf die erfolgreiche staatliche Geburtenkontrolle zurückzuführen ist. Während die Geburtenrate das niedrige Niveau der westlichen Industriestaaten noch nicht ganz erreicht, hat die Sterberate dieses bereits unterschritten. Mehrere Faktoren sind hierfür verantwortlich: Zum einen spiegeln sich in den Sterberaten die großen gesundheitspolitischen Leistungen der Volksrepublik, in deren Folge die Lebensdauer der Menschen deutlich gestiegen ist Um 1980 lag die durchschnittliche Alterserwartung in China bei 68 Jahren, in Indien und Indonesien hingegen bei 52 bis 53 Jahren. Die Vergleichswerte für die Industriestaaten betrugen 71 bis 75 Jahre Zum anderen erklärt sich die niedrige chinesische Sterberate aber auch aus der Altersstruktur der Bevölkerung: Über die Hälfte aller Chinesen ist jünger als 25 Jahre — ein gewaltiger Kontrast zu den überalterten Populationen der westlichen Welt 5. Bevölkerungsdynamik seit 1950

All diese Zahlen liefern natürlich nur eine Momentaufname für das Jahr 1980. Die heutige Bevölkerungsstruktur ist jedoch nicht das Produkt aktueller Zuwachsraten. Sie resultiert vor allem aus den langfristigen bevölkerungsdynamischen Trends früherer Jahre. Betrachtet man nun in Schaubild 3 die Werte für Geburtenraten, Sterberaten und natürlichen Zuwachs seit 1950, so zeichnet sich eine erstaunliche Zickzack-Kurve ab: Bis Ende der fünfziger Jahre durchläuft China eine typische demographische Übergangsphase: Die Geburtenraten bleiben hoch, die Sterberaten sinken, als Resultat ergibt sich ein starker natürlicher Zuwachs. Ab 1958 fällt die Geburtenrate bis auf ein Tief von 1, 8% im Jahre 1961 ab, um danach im Jahre 1963 eine Rekordhöhe von 4, 3% zu erreichen. Die Sterberaten zeichnen diese Entwicklung spiegel-bildlich nach. So schnellt die Sterbeziffer von den Ende der fünfziger Jahre üblichen 1, 1 bis 1, 2% plötzlich auf 2, 5% im Jahre 1960 hoch, wonach sie sich erneut auf dem früheren Stand einpendelt und dann bis 1980 langsam zurückgeht.

Der heftige Ausschlag der Kurven zeigt die demographischen Auswirkungen einer Tragödie an, deren wirtschaftliche, gesellschaftliche und ideologische Folgen die chinesische Politik bis in die achtziger Jahre hinein erschütterten: Wie aus der bis in den negativen Bereich fallenden Kurve für den natürlichen Zuwachs hervorgeht, hat China in der Krise des Großen Sprunges erhebliche Bevölkerungsverluste erlitten. Eine verhängnisvolle Mischung aus wirtschaftspolitischen Fehlplanungen, außenpolitischen Verwicklungen und klimatisch bedingten Naturkatastrophen bewirkte, daß zwischen 1958 und 1961 schätzungsweise 17 Millionen Menschen verhungerten. Zählt man einen zusätzlichen Fehlbetrag durch weit unterdurchschnittliche Geburtenzahlen hinzu, dann haben die Bevölkerungsverluste mehr als 47 Millionen betragen. Die genauen Zahlen werden niemals ergründet werden können, verbergen sich doch in den offiziellen Bevölkerungsdaten aus dieser Zeit nach wie vor zahlreiche Inkonsistenzen, die auf unzureichende Statistiken hindeuten. Fest steht nur, daß China Anfang der sechziger Jahre weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit eine der schwersten Hungerkatastrophen dieses Jahrhunderts erlebt hat /Nach dem tiefen Einschnitt der frühen sechziger Jahre erholen sich die Zuwachsraten wieder, obwohl ihre Höhe in den Jahren 1962 und 1963 statistisch übertrieben sein kann. Ab 1964 fallen die Geburtenraten, unterbrochen nur von einem kurzfristigen Neuanstieg während der Kulturrevolution. In den siebziger Jahren nimmt der Rückgang der Geburtenraten dann dramatische Formen an. Erst seit 1980 ist dieser Trend wieder in Frage gestellt, ein Umstand, der auf die chinesischen Wirtschaftsreformen zurückzuführen und noch an anderer Stelle zu erörtern ist 6. Zukünftige Entwicklung Wie wird sich Chinas Bevölkerung bis Anfang des nächsten Jahrhunderts weiterentwickeln? Schaubild 4 versucht diese Frage anhand von zwei Projektionen zu beantworten:

Gehen die hier zugrunde gelegten Wünsche der chinesischen Regierung aus dem Jahr 1980 in Erfüllung, dann werden die Geburten-raten bis auf ein Niveau von 1, 3 bis 1, 4% im Jahre 1995 weiter sinken. Danach würden sie sogar auf 0, 7 bis 0, 8% fallen. Die Sterberate bliebe weiter niedrig und würde erst nach der Jahrhundertwende auf Grund einer dann veränderten Alterspyramide wieder steigen. Chinas Gesamtbevölkerungszahl würde auf diese Weise ein Maximum von rund 1, 2 Milliarden Menschen im Jahre 2000 nicht oder nur unwesentlich überschreiten. Die Gesamtbevölkerungszahl würde sich etwa 15 Jahre auf diesem Plateau halten und dann langsam zurückgehen. Sollte die Geburtenkontrolle nicht im gewünschten Umfang wirksam werden, würde hingegen ein hoher Preis zu entrichten sein. Aus der Fülle an verschiedenen Modellrechnungen sei hier die Projektion der Weltbank aus dem Jahre 1981 herausgegriffen, die wie die chinesische Projektion bei einem Bevölkerungsstand von rund 977 Millionen Menschen im Jahre 1980 beginnt Die Weltbank hält es für schwierig, die Geburtenraten noch weiter unter ihr jetziges, ohnehin niedriges Niveau zu drücken. Sie veranschlagt daher einen wesentlich langsameren Rückgang der Raten auf ca. 1, 8% im Jahre 1995 und 1, 4 bis 1, 7% in den folgenden drei Jahrzehnten. Da die Weltbank eine ungünstigere Altersstruktur der Bevölkerung voraussetzt, bleiben ihre projizierten Sterberaten unter den chinesischen Ansätzen.

Der Effekt dieser unterschiedlichen Annahmen wäre bis 1990 kaum meßbar. Im Jahre 2000 ergäbe sich jedoch bereits eine Differenz von etwa 37 Millionen Menschen. Nach diesem Zeitpunkt würden die Unterschiede der Geburten-und Sterberaten allerdings voll auf die Bevölkerungszahlen durchschlagen, denn zwanzig Jahre später wäre die Differenz auf 248 Millionen Menschen angewachsen!

III. Bevölkerungspolitik

Schaubild 3: Demographische Kennziffern 1950— 1983 (unbereinigte Ziffern in von Tausend)

Quelle: Zhongguo tongji nianjian 1984, Peking 1984, S. 83.

Die negativen Auswirkungen eines ungebremsten Bevölkerungswachstums haben die chinesische Führung erst relativ spät zu einer aktiven Bevölkerungspolitik bewogen. Die ersten zaghaften Ansätze zu einer Geburtenkontrollpolitik lassen sich auf das Jahr 1953 datieren, als das Gesundheitsministerium seine Bestimmungen gegen Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch zu überarbeiten begann. Die vereinzelten positiven Stellungnahmen zur Geburtenkontrolle wurden dabei unter dem ideologisch unverdächtigen Motto des „Wohls von Mutter und Kind" abgegeben. 1956 unterstützte zuerst Zhou Enlai in der Öffentlichkeit eine behutsame Geburtenkontrolle; ein Jahr später schloß sich Mao Zedong den Stimmen an, die vor zunehmenden Problemen im Ernährungs-, Bildungs-und Beschäftigungssektor warnten

Der Zeitpunkt dieser Äußerungen war alles andere als zufällig. Er fiel in eine Periode, in der wachsende Landflucht, städtische Versorgungsprobleme und die ersten Anzeichen einer neu ausbrechenden Arbeitslosigkeit, überfüllte Schulen, erschöpfte Bildungsetats und streikende Studenten Chinas Politiker aufhorchen ließen.

Große Erfolge waren der nur zögernd aufgenommenen Bevölkerungspolitik freilich nicht beschieden, denn sie mußte sich weiter mit dem Vorwurf des Malthusianertums auseinandersetzen. Ende 1958 fiel sie endgültig dem Großen Sprung zum Opfer. Leitmotiv dieser Kampagne war die Vorstellung, durch die Mobilisierung des revolutionären Willens und durch den Masseneinsatz billiger Arbeitskräfte die mangelnden finanziellen und technologischen Ressourcen beim Wirtschaftsaufbau ausgleichen zu können. China wollte binnen weniger Jahre England überholen, in einem einmaligen Kraftakt all seine Entwicklungsprobleme bewältigen. Und dafür brauchte es nach Auffassung der Ideologen vor allem eine große Bevölkerung. Der Mensch ist primär Produzent und erst sekundär Konsument — so lautet der Kernsatz einer berühmt gewordenen Polemik um Marxismus und Malthusianismus, als deren Konsequenz Ma Yinchu, Rektor der Beijing-Universität und profiliertester Fürsprecher einer ökonomisch motivierten Geburtenkontrolle, aus seinen Ämtern entfernt und mundtot gemacht wurde

Erst unter dem Eindruck der schweren Wirtschaftskrise, die China als Folge des Großen Sprunges erlebte, wurde ab 1962 wieder an die Politik 1956/57 angeknüpft. Umsiedlungsprogramme, Propagierung der Spätehe, Geburtenplanung und ein neues Interesse für den schon 1956/57 legalisierten Schwangerschaftsabbruch kennzeichneten die frühen sechziger Jahre.

In diesem Zusammenhang wirft der Bericht zweier langjähriger China-Freunde bezeich-nende Schlaglichter auf das konfuzianisch geprägte und kommunistisch durchsetzte Milieu, in dem sich die erneute politische Schwenkung vollzog: Edgar Snow und Han Suyin, häufige Besucher der Volksrepublik, berichteten in den sechziger und siebziger Jahren, daß seit gewisser Zeit Frauen selbst über eine Abtreibung bestimmen können, ohne die vorherige Einwilligung von Ehemann, Großeltern, Arbeitgeber und zuständigem Parteifunktionär einholen zu müssen

Auch der zweite Anlauf zu einer staatlichen Geburtenplanung verlief nach vier Jahren wieder im Sande: 1966 begann die Kulturrevolution. Zwar lehnte die linke Parteifraktion eine Geburtenkontrolle nicht mehr rundweg ab, doch bewirkte der Zusammenbruch der staatlichen Verwaltung und vieler Kontrollinstanzen, daß die Kampagne nicht mehr aktiv weiterverfolgt wurde. Niemand führte die Melderegister, niemand fertigte Statistiken an, niemand vergab Belohnungen oder Strafen. Viele junge Menschen nutzten die ungewohnte Freiheit der Rotgardistenbewegung, um vorher verpönte voreheliche Geschlechts-beziehungen aufzunehmen. Auch hierdurch wurde in der Kulturrevolution die Geburtenrate kurzfristig wieder nach oben getrieben

Eine größere Durchschlagskraft gewann die Geburtenkontrolle erst zu Beginn der siebziger Jahre, nach dem Ende der spontanen Phase der Kulturrevolution und nach der Wiedererrichtung des staatlichen Gewaltmonopols. 1971 trat der Staatsrat mit einer neuen Weisung zur Bevölkerungspolitik hervor, 1974 wurde die Existenz einer direkt der Regierung unterstellten Führungsgruppe für Geburtenplanung bekannt. Seit dieser Zeit erfaßten die Propagandakampagnen und verschiedenen Kontrollmaßnahmen auch zunehmend die ländliche Bevölkerung, die von den früheren Kampagnen zur Beschränkung der Geburtenzahl nur oberflächlich berührt worden war. Die Verkündung ehrgeiziger Planziffern zur Senkung der Geburtenrate im Jahre 1978, die im darauffolgenden Jahr beginnende Propagierung der Ein-Kind-Ehe und ihre Durchsetzung mittels finanzieller Sanktionen sowie die zunehmende Perfektionierung des statistischen Apparates stellten weitere Meilen-steine auf dem Weg zur heute in China praktizierten Geburtenkontrolle dar

Wie sieht nun die heutige Politik im einzelnen aus? Welche Ziele strebt sie an, welcher Mittel bedient sie sich?

Folgende Merkmale zeichnen das chinesische Konzept aus und verleihen ihm seinen auf der ganzen Welt einmaligen Charakter:

Bemerkenswert ist die außerordentlich klare Zieldefinition der heutigen chinesischen Bevölkerungspolitik. Die Probleme des Bevölkerungswachstums sind mit allen ihren ökonomischen und ökologischen Implikationen erkannt. Sie werden seit etwa sechs Jahren sowohl in den demographischen Fachzeitschriften als auch in der breiteren Öffentlichkeit ausführlich diskutiert. Dabei ist die Beschränkung der Geburtenzahlen nicht nur als legitimes Feld staatlicher Politik bestätigt, sondern inzwischen auch zum Verfassungsgebot erhoben worden — ein weltweit beispielloser Vorgang. Artikel 25 der vierten chinesischen Verfassung vom Dezember 1982 verpflichtet den Staat zur Geburtenplanung, „um die Bevölkerungszahlen mit den verschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsplänen in Einklang zu bringen"; Artikel 49 führt die Geburtenplanung unter den grundlegenden Rechten und Pflichten der Bürger auf; Artikel 89 macht den Staatsrat für ihre administrative Umsetzung verantwortlich

Schon 1978 verkündete der damalige Ministerpräsident Hua Guofeng das Ziel, die Geburtenrate bis 1980 auf ungefähr 1% zu senken Dies konnte indessen nicht eingehalten werden, so daß seither die Pläne modifiziert wurden: Noch 1979 wurden Zuwachsraten von lediglich 0, 5% im Jahre 1985 und 0% im Jahre 2000 angestrebt, mittlerweile gehen die Zielprojektionen für die entsprechenden Jahre von 1, 2% und 0, 1% aus

Um diese niedrigen Raten trotz einer stark wachsenden Zahl von Heiratskandidaten erreichen zu können, wurde der Empfehlungscharakter der Ein-Kind-Ehe binnen kurzer Zeit zu einer Vorschrift verschärft. Während die staatlichen Pläne Anfang 1979 nur ca. 20% der städtischen und 5% der ländlichen Paare für die Ein-Kind-Ehe mobilisieren wollten, wurden die Marken ein Jahr später auf 95% bzw. 90% heraufgesetzt Ziel aller Maßnahmen ist es, die Bevölkerung nicht über 1, 2 Milliarden Menschen im Jahre 2000 anwachsen zu lassen. Dieses Ziel wurde in die perspektivische Wirtschaftsplanung aufgenommen, regionale Jahrespläne definieren die zu seiner Erreichung notwendigen Etappen

Administrativ unterscheidet sich die chinesische Geburtenplanung von der in den meisten anderen Ländern der Dritten Welt praktizierten Verwaltungsform durch einen wesentlich höheren Grad an vertikaler Organisation. Die Zersplitterung der Kompetenzen unter Gesundheitsministerium, Wirtschaftsministerium, Innenministerium, verschiedenen Kommissionen und Instituten konnte vermieden werden. Seit 1981 besitzt die frühere Führungsgruppe für Geburtenplanung den Rang einer ständigen Kommission des Staatsrates mit untergeordneten Dienststellen in allen Provinzen und Städten. Auf dem Lande reicht ihr Arm bis zur Gemeindeebene, in den Städten bis zur Ebene der Straßenkomitees, Großbetriebe oder größeren Institutionen. Die Kommission untersteht einem Minister, der seinerseits dem Ministerpräsidenten und dem Politbüro gegenüber verantwortlich ist. Somit kann die Planung und Umsetzung der Geburtenkontrolle in relativ hohem Maße zentral überwacht werden

Die in China angewandten Methoden der Empfängnisverhütung sind vielfältig. Rund 50% der Ehepaare, die kostenlos abgegebene Kontrazeptiva verwenden, benutzen Pessare, während der Gebrauch von Ovulationshemmern und Kondomen, die in den sechziger Jahren eine große Verbreitung besaßen, anscheinend rückläufig ist. Letztere wurden noch 1978 von jeweils 12% und 7% der Geburtenplanung praktizierenden Ehepaare angewandt, 1982 war ihr Anteil auf 8% bzw. 2% gefallen. Gestiegen ist dagegen der Anteil der Sterilisierungen, die überwiegend bei Frauen vorgenommen werden. Hier lauteten die Anteile für 1978 und 1982 etwa 30% bzw. 35%.

Daneben werden auch in größerem Maße kostenlose Schwangerschaftsunterbrechungen durchgeführt, wobei 1979 auf rund 17 Millionen Lebendgeburten rund 5 Millionen Abtreibungen kamen. Die Zahl der Abtreibungen ist offensichtlich erst in den letzten Jahren stark gestiegen, galten sie doch bis Mitte der siebziger Jahre als ein gesundheitsgefährdendes und frauenfeindliches Mittel, das nur auf ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen angewandt werden sollte. Seitdem hat der zunehmende Druck auf die Bevölkerung und auf die für die Geburtenkontrolle zuständigen Kader in dieser Frage zu einem Umdenken geführt Auch mehr oder weniger zwangsweise durchgeführte Abtreibungen sind bekanntgeworden. Mit rund 70% liegt der Anteil der verheirateten Frauen im gebärfähigen Alter, die die verschiedenen Methoden der Geburtenverhütung anwenden, in China merklich höher als in den anderen Entwicklungsländern. Teilweise übertrifft er sogar die entsprechenden Daten für Industriestaaten. Vergleichszahlen für Ende der siebziger Jahre lauten 23% (Indien), 46% (Kolumbien) und 68% (USA)

Vielleicht noch wichtiger als die erwähnten Mittel zur Geburtenverhütung ist ein späteres Heiratsalter. Ihm liegt die allgemeine Überlegung zugrunde, daß sich die potentielle Zahl an Kindern bei verzögettem Eheschluß verringert und der Zyklus des Generationenwechsels verlangsamt wird. Aus diesen Erwägungen heraus hat die Regierung seit den siebziger Jahren eine intensive Kampagne gegen die Frühehe geführt Die bis 1980 gültigen Regeln gestanden der noch stärker traditionell geprägten Landbevölkerung ein niedrigeres Heiratsalter als in den Städten zu, wo die Ernährungs-, Beschäftigungs-und Wohnungsprobleme auch wesentlich akuter sind. Auf dem Land durften Frauen frühestens mit 23 Jahren, Männer frühestens mit 25 Jahren heiraten. In den Städten lagen die Limits bei 25 und 28 Jahren. Dadurch klafften Norm und Realität der familienrechtlichen Bestimmungen weit auseinander, wurden doch im Ehegesetz von 1950 ganz andere Grenzen gesetzt Dort wurde von heiratswilligen Paaren ein Mindestalter von 18 Jahren für Frauen und von 20 Jahren für Männer verlangt. Formal galt das Ehegesetz bis 1980, es wurde jedoch zunehmend durch Parteidirektiven und durch Verwaltungsakte wie die Verweigerung von Ehezeugnissen ausgehöhlt.

Jahrelang ist die Spätehe als großer Erfolg der Geburtenplanung gefeiert worden. Mit dem größeren Maß an Freizügigkeit, das heute in China herrscht, ist es jedoch möglich geworden, auch die Schattenseiten dieser Maßnahme zu erörtern und dabei einige Tabus zu brechen. So setzte sich 1980 die Erkenntnis durch, daß Spätehen statistisch mit einem hohen Maß an Jugendkriminalität einhergehen. Sexualdelikte stehen an einer der ersten Stellen der Verbrechensliste und zeigen den Preis der offiziell dekretierten Enthaltsamkeit an. Außerordentlich offene Diskussionen im chinesischen Parlament haben auch die Tatsache zu Tage gefördert, daß mangelnde Freizeit-und Unterhaltungsangebote viele Jugendliche auf die Straße treiben, den Vandalismus und andere Jugendprobleme zusätzlich verschärfen. Schließlich stellte sich auch heraus, daß die Zahl der illegalen Frühehen in den späten siebziger Jahren immer mehr zugenommen hatte

Vor diesem Hintergrund verabschiedete der Nationale Volkskongreß 1980 ein neues Ehegesetz, in dem das minimale Heiratsalter auf 20 Jahre für Frauen und 22 Jahre für Männer festgesetzt wurde. Die chinesische Regierung signalisierte mit dieser Lockerung, daß sie jungen Menschen zumindest den Rückzug in ein befriedigendes Privatleben ermöglichen will, wenn ihnen das kommunistische Utopia oder auch eine materiell zufriedenstellende Gegenwart nicht geboten werden können. Leider hat der Ansturm auf die Heiratsämter, der nach Verkündung des neuen Ehegesetzes einsetzte, die eben beschlossene Liberalisierung wieder in Frage gestellt: In der ersten Hälfte des Jahres 1981 wurden 6, 73 Millionen neue Eheschließungen registriert, in den Vergleichsmonaten des Jahres 1980 waren es nur 3, 26 Millionen gewesen. Chinas Führung hat seitdem Angst vor der eigenen Courage bekommen; sie übt abermals Druck auf die Bevölkerung aus, um das Heiratsalter de facto wieder heraufzusetzen

Die Probleme der Spätehe demonstrieren, wie die Ebene formaler Rechtsakte durch eine zweite Ebene informeller Normen überlagert wird. In diesem Zusammenhang muß auch die systematische Erzeugung sozialen Drucks gesehen werden, der entscheidend zu den bisherigen Erfolgen der Geburtenkontrolle beige-tragen hat Es ist ein typisch chinesisches Mittel, das in dieser Intensität nur noch in anderen Ländern des konfuzianischen Kulturkreises anzutreffen ist. Sozialer Druck ist nicht nur die ständige Belehrung durch Propaganda und Parteifunktionäre — es sind der Klassenlehrer und der Elternvertreter in der Schule, das Arbeitskollektiv und der Genosse Fabrikdirektor, der Freund der Familie und die Nachbarin von nebenan, die sich aufopferungsvoll um die Geburtenplanung kümmern, mit Rat und Tat zur Seite stehen, rote Ehren-nadeln verteilen, mahnende Worte fallen lassen, in den Kochtopf und auch in das Bett schauen. Der soziale Druck und die mit ihm verbundene Kontrolle ist besonders wirksam, weil die beengten Wohnverhältnisse kaum Raum für eine Privatsphäre lassen. Die Geburtenplanung ist damit in bemerkenswertem Umfang zur öffentlichen Angelegenheit gemacht und auch durchgesetzt worden.

Dennoch haben selbst diese Maßnahmen nicht ausgereicht, um die Probleme entsprechend dem erklärten Willen der chinesischen Regierung in den Griff zu bekommen. Deshalb wurden ab 1979 im Zuge der Wirtschaftsreform auch ökonomische Hebel zur Durchsetzung der Ein-Kind-Ehe eingeführt. Zu den regional unterschiedlich gehandhabten Anreizen gehören: Dienstbefreiungen bei Abtreibungen, Gehaltszulagen von ungefähr 8% bei Einhaltung der Ein-Kind-Grenze, Bildungs-, Beschäftigungs-und Wohnraumgarantien für das Einzelkind, erhöhte Reisrationen. Den Anreizen stehen empfindliche Sanktionen gegenüber: die Verpflichtung, alle bisherigen Zulagen nach der Geburt eines zweiten Kindes zurückzuzahlen, Gehaltsabzüge von 5 bis 10% bei der Geburt jedes weiteren Kindes, Ausschluß des dritten Kindes und aller weiteren Kinder aus der Krankenversicherung, der Wohnraumzuteilung, der Arbeitsplatzvermittlung und der Nahrungsmittelsubventionierung. Das sind drakonische, um nicht zu sagen brutale Maßnahmen, die zu großen Härten in der Gesellschaft geführt haben. Der Widerstand gegen sie ist immerhin so groß gewesen, daß Partei-und Staatsorgane 1982 Sondergenehmigungen für zweite Kinder in besonderen Ausnahmesituationen konzedieren mußten

Eine Voraussetzung für den Einsatz der genannten ökonomischen Hebel ist die weitge-hende Verfügungsgewalt des Staates über die Menschen, nicht nur in einem politischen Sinne, sondern in einem ganz unmittelbaren Bezug zu Arbeitsleben, Wohnverhältnissen und Nahrungsmittelversorgung. An dieser Verfügungsgewalt ist in den letzten Jahren erheblich gerüttelt worden, richten sich doch zahlreiche Reformen gegen die absolute Dominanz von Partei und Staat auf wirtschaftlichem Gebiet

So sind im Zuge der landwirtschaftlichen Reformen die bisherigen Produktionseinheiten und Kontrollinstanzen aufgelöst, die Nutzungsrechte am Boden und an den Betriebsmitteln den einzelnen bäuerlichen Haushalten zugewiesen worden. Da die Zahl der Arbeitskräfte einen entscheidenden Faktor für die Höhe des bäuerlichen Einkommens darstellt, hat diese Politik überall auf dem Land den unerwünschten Nebeneffekt erneut steigender Geburtenraten hervorgerufen. Außerdem hat die Wiederauferstehung des bäuerlichen Traditionalismus den Mord an weiblichen Säuglingen erneut zu einer ernsten Angelegenheit gemacht.

Deswegen wurden 1982 die ökonomischen Hebel verfeinert Die Bauern sind seitdem nicht nur vertraglich verpflichtet, eine bestimmte Menge an Produkten abzuliefern, sondern müssen auch eine bindende Zusage zur Einhaltung maximaler Geburtenzahlen abgeben. Wird diese Zusage nicht eingehalten, dann werden die staatlichen Ankauf-preise für das Getreide gesenkt und die Zwangsabgabenquoten erhöht Außerdem behält sich der Staat das Recht vor, seinen Vertrag mit dem betreffenden Bauern generell zu kündigen. Auch die für die Geburtenplanung zuständigen Kader sind vertraglich verpflichtet worden, auf die Durchsetzung der Spätehe und die Einschränkung der Kinderzahl zu achten. Gelingt es ihnen, den Jahr für Jahr zugeteilten Geburtenplan einzuhalten, dann empfangen sie eine Gehaltserhöhung; gelingt es ihnen nicht, dann drohen auch ihnen Gehaltseinbußen. Seit 1983 ist auf diese Weise der erneute Geburtenanstieg der Vorjahre gebrochen worden. Ob die Zahl der Säuglings-morde ebenfalls abgenommen hat, ist unbekannt Der jetzige Mechanismus könnte ihre Zahl allerdings eher hochtreiben

IV. Ausblick

Schaubild 4: Projektionen 1980— 2020

Quelle: World Bank (Ed.), China: Socialist Economic Annex B, Washington 1981, S. 67.

Trotz der einschneidenden Maßnahmen, die die chinesische Regierung in den letzten Jahren ergriffen hat, sind die Bevölkerungsprobleme Chinas alles andere als gelöst. Für die Zukunft zeichnen sich fünf größere Problem-felder ab: a) Demographische Strukturprobleme Trotz aller Erfolge der Bevölkerungspolitik muß China weiterhin die Last früherer Fehlentwicklungen tragen. Die rigorose Geburten-kontrolle beginnt erst jetzt auf dem Bildungs, sektor Auswirkungen zu zeitigen. Die geburtenstarken Jahrgänge 1963 bis 1970 treten heute und in den kommenden Jahren auf den Arbeitsmarkt, schließen Ehen und zeugen Kinder. Diese Generation wird sich weiter mit schlechten Bildungschancen, beengten Wohnverhältnissen und unerfreulichen Berufsaussichten konfrontiert sehen. Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter ist gegenwärtig doppelt so hoch wie in den fünfziger Jahren; sie wird erst langsam absinken. Somit besteht die Gefahr, daß die Geburtenzahlen trotz aller Einschränkungen wieder klettern.

Vor allem das Beschäftigungsproblem wird sich erst in längeren Zeiträumen lösen lassen, da die Zahl der Eintritte in das Berufsleben bis nach dem Jahr 2000 weiter zunehmen wird. b) Akzeptanzschwierigkeiten Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß das hohe Heiratsalter und die Verpflichtung zu einer niedrigen Kinderzahl in China äußerst unpopulär sind. Diese staatlichen Auflagen laufen traditionellen Wertvorstellungen massiv zuwider, sie greifen tief in die persönliche Freiheit der Menschen ein. Mit der politisch bedingten Vertrauenskrise und dem daraus resultierenden Konsensverlust nimmt auch die Bereitschaft zu nonkonformem Verhalten zu. Deswegen sieht sich die Regierung zunehmend gezwungen, ihre Ziele mit Zwangsmaßnahmen und ökonomischen Hebeln zu verfolgen. Das gesellschaftliche Umfeld der Geburtenplanung ist also labiler, die staatliche Überwachung stabiler geworden. c) Ordnungspolitische Zielkonflikte Während einerseits im Sinne der Modernisierungspolitik mehr gesellschaftliche Freiräume geschaffen werden, setzt andererseits die Geburtenkontrolle alles andere als Freiheit voraus. Dieses Dilemma ist in den letzten Jahren offen zutage getreten und dauert trotz politischer Korrekturen in. Die ökonomischen Hebel werden mit der angestrebten Liberalisierung des Arbeitsmarktes, mit der größeren Mobilität der Arbeitskräfte, der teilweisen Reprivatisierung des Wohnraums und der beabsichtigten Aufhebung der Nahrungsmittelrationierung an Wirkung verlieren. d) Sozialpolitische Implikationen Viele junge Chinesen sorgen sich heute um ihre künftige Altersversorgung, ist doch eine staatliche Rentenversicherung nur in Ansätzen vorhanden. Bis heute ist für die große Mehrheit der Bevölkerung Altersversorgung weitgehend deckungsgleich mit Unterhalt durch die Familie. Ohne eine große Kinderzahl bricht dieses System zusammen. Zwar kann das im Zuge der Geburtenbeschränkung gesparte Geld nach Ansicht der Ökonomen in eine staatliche Altersversorgung umgelenkt werden. Doch sind solche Vorschläge schwer zu verwirklichen, wenn in einem kapital-schwachen Entwicklungsland ständig neue Anforderungen an den Staatshaushalt gestellt werden. Das Problem, wie in relativ kurzer Zeit eine staatliche Altersversorgung auf Massenbasis geschaffen werden kann, bleibt also bestehen. e) Kulturelle Auswirkungen Die kulturellen Konsequenzen der heutigen Bevölkerungspolitik können nicht statistisch vorausberechnet werden. Sie sind nur schwer zu umgrenzen, aber dennoch höchst real. Bis auf den heutigen Tag ist die chinesische Kultur eine Kultur der Gemeinschafts-und Gruppenideale, eine Kultur der Erziehung des Menschen durch Einordnung/Anpassung, Belobigung und Beschämung. Individualismus ist in dieser Gesellschaft nicht gefragt, er wird gewöhnlich als asozial bewertet Die Ein-Kind-Ehe wird eine solche Kultur sehr stark verändern, weil sie ihr einen Teil ihrer Basis entzieht. Nicht nur Familienleben und Erziehungsstil werden sich wandeln, sondern letztlich auch die gesellschaftlichen Umgangsformen und die politische Kultur. China könnte freiere, aber auch rücksichtslosere Menschen bekommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. Yuan Tien, Age at Marriage in the People's Republic of China, in: China Quarterly, 93(1983), S. 90— 107.

  2. C. K. Yang, Religion in Chinese Society, Berkeley 1961, S. 199— 204.

  3. Sun Zhongshan, Sanminzhuyi, Taibei 1970, S. 11, 13— 14.

  4. Renmin ribao vom 25. April 1952.

  5. Mao Zedong, Xuanji, Peking 1967, S. 1400— 1401.

  6. J. S. Aird, Population Growth, in: A Eckstein et al. (Eds.), Economic Trends in Communist China, Chicago 1968, S. 264— 265.

  7. Zitiert nach: L. A Orleans, Chinas Population: Can the Contradictions Be Resolved?, in: Joint Economic Committee (Ed.), China: A Reassessment of the Economy, Washington 1975, S. 71.

  8. Siehe dazu die Äußerungen des chinesischen Vertreters auf der Bukarester Weltbevölkerungskonferenz vom August 1974, in: Peking-Rundschau Nr. 35, Peking 1974.

  9. Siehe folgende Quellen: Renmin ribao vom 28. Oktober 1982; The 1982 Population Census of China (Major Figures), comp. by The Population Census Office Under the State Council and The Department of Population Statistics of the State Statistical Bureau, Hongkong 1982; Zhongguo 1982 nian renkou pucha 10% chouyang ziliao, Peking 1983; Zhongguo tongji nianjian 1984, Peking 1984, S. 81— 106. Vgl. außerdem folgende westliche Analysen: J. S. Aird, The Preliminary Results of Chinas 1982 Census, in: China Quarterly, 96 (1983), S. 613— 640; M. Cartier, Les lecons du troisieme recensement chinois, in: Le Courrier des Pays de l'Est, 282 (1984), S. 31— 51; B. Staiger, Die chinesische Familienplanung im Lichte des Zensus vom Juli 1982, in: China aktuell, 12 (1982), S. 752— 759.

  10. Zur ausführlichen demographischen Analyse von Bevölkerungsstruktur und Bevölkerungsdyna-

  11. Zur Migrationsproblematik siehe: Th. Scharping, Umsiedlungsprogramme für Chinas Jugend 1955— 1980. Probleme der Stadt-Land-Beziehungen inder chinesischen Entwicklungspolitik, Hamburg

  12. Weltbank (Hrsg.), Weltentwicklungsbericht 1982, Washington 1982, S. 158— 159; World Bank (Ed.), China: Socialist Economic Development, Annex B, Washington 1981, S. 5, 75; Zhongguo tongji nianjian 1984, Peking 1984, S. 95.

  13. World Bank (Ed.), Alternative Projections of the Chinese Population, Washington 1981. Beide Projektionen müssen inzwischen korrigiert werden, da aus dem Zensus von 1982 eine Bevölkerung von bereits 987, 05 Millionen im Jahre 1980 abgeleitet wurde.

  14. H. Yuan Tien, Chinas Population Struggle. Demographie Decisions of the People's Republic, 1949— 1969, Columbus 1973, S. 175— 231.

  15. L. A. Orleans, Birth Control Reversal or Postponement?, in: China Quarterly, 3 (1960), S. 59— 73.

  16. T. Spengler, Geplantes Bevölkerungswachstum im Entscheidungsprozeß der Wirtschafts-und SozisP 3jtik der Volksrepublik China, Hamburg 1975,

  17. E. Snow, The Long Revolution, London 1972, S. 42— 50.

  18. J. Banister, Population Policy and Trends in China, 1978— 83, in: China Quarterly, 100 (1984), S. 717— 741.

  19. Renmin ribao vom 6. Dezember 1982.

  20. Renmin ribao vom 7. März 1978.

  21. Renmin ribao vom 11. August 1979; vgl. auch Schaubild 4 und die zugehörigen Erläuterungen im vorliegenden Aufsatz.

  22. Renmin ribao vom 3. Februar 1980.

  23. Zhonghua renmin gongheguo guomin jingji he shehui fazhan diliu ge wunian jihua, 1981— 85, Peking 1983, S. 141.

  24. World Bank (Ed.), China: Socialist Economic Development, Annex B, Washington 1981, S. 50— 51.

  25. Ebd., S. 51— 53, 78; J. Banister (Anm. 18), S. 727— 728; T. Spengler (Anm. 16), S. 146— 151; H. Yuan Tien (Anm. 14), S. 263— 273.

  26. Renmin ribao vom 8. September 1980; Guangming ribao vom 11. September 1980; H. Yuan Tien, Age at Marriage in the People’s Republic of China, in: China Quarterly, 93 (1983), S. 90— 107.

  27. Zhonghua renmin gongheguo guowuyuan gong-bao, 13(1980), S. 385—-393; Zhongguo qingnian, 6(1982), S. 56.

  28. World Bank (Ed.), China: Socialist Economic Development, Annex B, Washington 1981, S. 56— 57, 83— 89; Dagong bao vom 11. März 1982.

  29. Su Xing, Zirenzhi yu nongcun jiti suoyouzhi jingji di fazhan, in: Jingji yanjiu, 11(1982), S. 3— 9; J. Banister (Anm. 18), S. 722— 727.

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