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Über den Umgang mit Medien in Familien Betrachtungen über alte Probleme und neue Belastungen im Alltag | APuZ 3/1986 | bpb.de

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APuZ 3/1986 Artikel 1 Neue Medien und gesellschaftliche Konsequenzen Über den Umgang mit Medien in Familien Betrachtungen über alte Probleme und neue Belastungen im Alltag Kultur, Alltagskultur und neue Informationsund Kommunikationstechniken

Über den Umgang mit Medien in Familien Betrachtungen über alte Probleme und neue Belastungen im Alltag

Jan-Uwe Rogge/Klaus Jensen

/ 45 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ausgehend von aktuellen Erhebungen zum Fernseh-und Medienverhalten wird auf einige Trends im medienbezogenen Handeln von Familien eingegangen, die in zwei Forschungsprojekten ermittelt wurden. Das Erhebungsinstrumentarium bestand aus einer Kombination von Intensivbefragungen und teilnehmenden Beobachtungen. Der Beitrag konzentriert sich in seinen Falldarstellungen auf jene gesellschaftlichen Gruppen, in denen die Medienvielfalt schon vorhandene defizitäre Kommunikationsstrukturen verstärkt und zu neuen Belastungen und Problemen im zwischenmenschlichen Miteinander führt: auf ältere Menschen, unvollständige Familien, auf Familien mit unterschiedlich praktizierter Medienerziehung und auf Familien mit einem arbeitslosen Haushaltsmitglied. Darüber hinaus wird auf einige geschlechts-und generationsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung und Aneignung des alten und neuen Medienangebots eingegangen. Anhand subjektiver Wissens-und Handlungskonzepte über Medien wird dann die lebensgeschichtliche Prägung des medienbezogenen Handelns angerissen. Diese biographische Formung des Medienumgangs bietet eine Erklärung für die Nicht-Akzeptanz neuer Medienangebote. Der den Forschungen zugrundeliegende verstehend-interpretative Ansatz ist ein Beitrag zu einer Theorie mittlerer Reichweite hinsichtlich einer Erforschung medienbedingter Einflüsse auf Gesellschaft und Familie — einer Theorie, die theoretische Grundlagenforschung und praktische Anwendung miteinander verknüpfen will.

L Vorbemerkungen: Familie und Medien in der öffentlichen Diskussion

Der Fernsehkonsum ist — so die neuesten Trends — weiter leicht angestiegen. 183 Minuten war das wohl subjektiv bedeutsamste Medium täglich in bundesdeutschen Haushalten eingeschaltet -Gegenüber 1983 bedeutete dies einen Anstieg um vier Minuten. Und zwei andere Untersuchungen im Auftrag von ARD und ZDF geben Auskünfte über Tendenzen im Zuschauerverhalten: So hat eine Tagebucherhebung in achtzig Haushalten im Kabelpilotprojekt Ludwigshafen ergeben, daß sich der Schwerpunkt der Nutzung neuer Programmformen auf unterhaltende Sendungen und entsprechend konzipierte Kanäle konzentriert. Diese Gewichtung geht einher mit einem „dramatischen Rückgang“ der Nutzung von Informationsangeboten Der Trend erhärtete sich in einer im Frühsommer 1985 durchgeführten Befragung in einigen westdeutschen Kabelhaushalten (Hamburg, Mainz, Ludwigshafen, München), in denen auch das Privatfernsehen SAT 1 zu empfangen war. Dabei konnten die öffentlich-rechtlichen Anstalten ihre führende Position behaupten: ARD und ZDF hatten Einschaltquoten von je 25 Prozent, SAT 1 23 Prozent, die dritten Programme zehn Prozent und SAT sechs Prozent (der Rest entfiel auf ausländische Sender). In jenen Haushalten, die zusätzlich RTL plus empfangen konnten, blieben die Anteile von ARD und ZDF gleich, während die Einschaltquote von SAT 1 auf 14 Prozent sank. Dagegen kam der Luxemburger Sender auf immerhin 16 Prozent 3). Die Umverteilung zugunsten der kommerziellen Anbieter ging besonders zu Lasten der Nachrichtensendungen und der Informationsmagazine von ARD und ZDF. Während der TV-Konsum bei Kindern drastisch anstieg (um etwa 65 Prozent), blieb er bei den Erwachsenen konstant. Bei den Erwachsenen ist allerdings ein Trend zum „Fiction-Vielseher“ (Bernward Frank) festzustellen, der zwar nicht mehr Zeit zum Fernsehen verwendet, der sich aber im Slalom der unterhaltenden Medienangebote besonders kompetent auskennt. Nimmt man dann noch Erhebungen zum Video-konsum hinzu, die beispielsweise eine komplementäre Nutzung von Fernsehen und Video im Hinblick auf Spielfilme und Action zutage förderten scheinen sich jene Befürchtungen zu bestätigen, die in den audiovisuellen Medien anspruchslose Unterhalter, eine Berieselungsanlage mit öffentlich-rechtlichem oder privatem Auftrag sehen. Dieses Verwiesensein auf massenmediale Unterhaltungsangebote, die Bindung freier Zeit durch vorproduzierte Bilderwelten und die Beeinflussung sozialer Institutionen, Strukturen und Prozesse durch alte Medien und neue Kommunikations-und Informationstechnologien waren und sind Diskussions-und Forschungsgegenstand zahlreicher Gremien und Institutionen.

Während man einerseits auf die problematischen Wirkungen der Medien auf Kinder und Jugendliche aufmerksam machte, in den neuen und alten Medien eine Sprengkraft für die Familie sah (und sieht), die statt einem Mehr an Entlastung ungeheure Belastungen mit sich bringen würden gab (und gibt) es andere Untersuchungen, die das Kabelfernsehen für ein harmonischeres Familienleben verantwortlich machten. So kommt eine Erhebung der Demoskopin Noelle-Neumann im Ludwigshafener Kabelpilotprojekt z eben diesem Ergebnis. Da heißt es unter anderem: „Sagten beispielsweise noch vor ihrem Anschluß an das Kabel noch 36 Prozent der Befragten über ihre Familie , Wir sind oft verschiedener Ansicht', so waren es nach einem Jahr Kabelfernsehen 29 Prozent der Befragten. ... , Öfter ist die Stimmung bei uns gereizt', dieser Aussage stimmten nach der einjährigen Erfahrung mit dem vermehrten Programmangebot 17 Prozent zu, vor Sendebeginn im Ludwigshafener Kabelpilotprojekt waren es noch 31 Prozent gewesen ... Eine Erklärung (für die zunehmende Harmonisierung unter den Familienmitgliedern) sieht Noelle-Neumann darin, daß , weniger politisch kontroverse Programme gesehen wurden und sich damit weniger Konflikte in der Familie ergaben'.'' Dieses Ergebnis — ohne daß hier auf die Problematik der Untersuchungsanlage und die oberflächliche Interpretation von Daten eingegangen werden kann — überrascht insofern, als in den Forschungsbemühungen der letzten Jahrzehnte ganz überwiegend das Bedrohliche der technischen Medien für das familiale Zusammenleben und die psychosoziale Entwicklung der Kinder herausgestrichen wurde Und auch die Untersuchungsschwerpunkte verdeutlichen, daß es den Forschungen bisher vor allem darauf ankam, jene Normen und Werte zu betonen, die durch die Medienangebote in die familiäre Kommunikation gelangten, um dort negative Wirkungen zu entfalten: angefangen von der Schmutz-und Schund-Debatte über die Einflüsse verschiedenster Medien auf das Kind bis hin zu den jüngsten Diskussionen über Videospiele und den Horrorfilm. Und es charakterisiert die bisherige Forschung auch, daß sie mediumzentriert arbeitete, d. h., es stand fast ausnahmslos nur ein Medium im Zentrum.

Dieses Vorgehen hatte einige sehr gewichtige Nachteile: Da wurde mit jedem neu auftretenden Medium ein neues Bedrohungspotential registriert (zunächst das Kino, dann die Comics, schließlich das Fernsehen und die neuen Medien in Gestalt von Video und Computer), ohne daß gesellschaftliche, soziokulturelle oder individuelle Zusammenhänge in bezug auf Produktion oder Rezeption von Medien festgestellt und Fragestellungen verändert wurden. Und: Da geriet zusätzlich das Medienensemble, mit dem Familien und Kinder alltäglich umgehen, aus dem Blickfeld. Dies war und ist um so verständlicher, als der Entwicklung neuer Medientechnologien und der Entstehung eines erweiterten Medienangebots besondere Bedeutung für den alltäglichen Medienumgang zukommen.

II. Forschungsansätze

Die Auswirkungen von Entwicklungen und Veränderungen der Kommunikätions-und Informationstechnologien auf den (Familien-) Alltag waren und sind ein entscheidender Ausgangspunkt von zwei Projekten, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und am Ludwig Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen durchgeführt wurden. Im Mittelpunkt beider Projekte stand die Frage, welche Formen integrierter Nutzung des Medienensembles sich in den Familien verfestigt haben bzw. sich durchsetzen werden, wie sich Alltagsrituale im Umgang mit den Medien herausgebildet haben bzw. wie sie sich verändern, und schließlich welche subjektiven Verarbeitungsformen, Deutungsmuster und medienbe-zogene Handlungen vorherrschen bzw. dominieren werden. Mit Hilfe biographischer Interviews wurde zusätzlich die individuelle bzw. gruppen-spezifische Mediennutzungsgeschichte erhellt, auf deren Hintergrund dann aktuelle Umgangs-stile fundierter erläutert werden können.

Eine derartige Zielsetzung spiegelt eine Einschätzung der medienbedingten Einflüsse auf Individuum und Gesellschaft wider, die die Medien, ihre Produktion, Distribution und Nutzung nicht als etwas den je herrschenden Normen und Werten Äußerliches betrachtet, sondern als die sachlogisch-konsequente Fortsetzung einer technologischen Entwicklung, in der das technisch Machbare und die ökonomische Verwertungslogik vor dem Menschen rangiert. Eine Medienkritik jedoch, die sich ausschließlich auf ein der Familie gegenüberstehendes Medium einstellt, muß zwangsläufig oberflächlich und folgenlos bleiben. Denn die Komplexität, mit der Medien in den Familienalltag verwoben sind, sie Alltags-erfahrungen eine Form geben und diese gleichzeitig binden, macht deutlich, daß man den alltäglichen Umgang mit Medien nur in einer Art „Gemengelage“ (Hermann Bausinger) begreifen kann. Vorschnelle Verallgemeinerungen (z. B. der Einfluß der Medien auf die Familie) und damit einhergehende monokausale Korrelationen zeigen immer wieder, daß ein Großteil der gängigen Forschungsanstrengungen wenig zum Verständnis der alltäglichen Rezeption beigetragen haben. Um dieser angedeuteten Komplexität medienbezogenen Handelns aber ansatzweise gerecht zu werden, ist ein verstehend-interpretativer Forschungsansatz notwendig: ein Ansatz, der die Familien in ihren Alltagswelten, ihren individuellen wie sozialen Bedingungen und Voraussetzungen aufsucht, um dann jene Handlungs-und Strukturmomente zu beschreiben, die für den alltäglichen Umgang von Familien mit Medien bedeutsam werden. Verstehend und interpretativ ist dieser Ansatz deshalb, weil er nicht von konkreten Situationen abstrahiert, sondern den Umgang mit Medien auf Lebenswelten bezieht, ihn in Abhängigkeit von ganz konkreten Alltagswelten betrachtet. Ein solcher Ansatz kann davor bewahren, sich vorschnell in Spekulationen über den Umgang von Familien mit Medien zu verlieren, sondern er hält dazu an, so differenziert und alltagsnah wie möglich Daten und Befunde zu erheben, die für je spezifische Formen des Medienumgangs in Familien kennzeichnend und typisch sind. Ein solcher Forschungsansatz versteht sich ausdrücklich nicht im Gegensatz zu jenen quantitativ ausgerichteten Studien, wie sie beispielsweise von ARD und ZDF regelmäßig erhoben werden. Er stellt vielmehr — da er eine Vielzahl an qualitativen und alltagsnahen Einzelbefunden erhebt — eine notwendige Ergänzung und Unterstützung auf dem Weg zu einer Theorie mittlerer Reichweite (bezogen auf den Medienumgang) dar, zu einem Konzept auf mittlerer Ebene, das sowohl theoretische Kenntnisse über den Umgang mit Medien als auch praktische Informationen für die in den Medien Arbeitenden liefert

Nun verlangt die hier vorgeschlagene Mehr-Ebenen-Analyse im gegenwärtigen Stadium zunächst die Untersuchung von Einzelfällen, da sie eine Datenqualität und -Vielfalt bereitstellt, welche die Feststellung von repräsentativen Zusammenhängen zwischen medienbezogenen Umgangsstilen, soziokulturellen Rahmenbedingungen sowie sozialen Handlungszusammenhängen noch schwierig macht. Ungeachtet dessen lassen sich allerdings einige Tendenzen festhalten, die verdeutlichen, daß sich mediale Sozialisation immer in konkreten, in unserem Fall in familialen Umwelten vollzieht — Massenmedien prägen mit den ihnen eigenen Rhythmen Tages-und Wochenabläufe von Haushalten, wirken sich auf Lebens-und Kommunikationsstile aus.

— Haushalte bzw. Haushaltsmitglieder gehen nie mit dem gesamten Medienangebot um, sondern sie stellen sich subjektiv ein Medienangebot zusammen. — Elterliches Handeln prägt maßgeblich die Nutzungsstile und Genrevorlieben von Kindern. — Unter bestimmten Rahmenbedingungen kann das Fernsehen Außenkontakte vermindern, freie Zeit binden und zur schweigenden gemeinsamen Beschäftigung werden.

— Medienumgangsstile sind nicht bloß aktuell, sondern immer auch biographisch geprägt. In die gegenwärtige Wahrnehmung von Medien geht schon immer erworbenes, vorangegangenes Wissen über Medien mit ein. So kann die Integration eines neuen Medienangebots in den Alltag durch die Wirksamkeit biographisch bedingter Offenheit oder Sperren beeinflußt werden.

— Hier findet auch die Distanz, die gegen den Bildschirmtext, den Homecomputer, das Kabel-und Satellitenfernsehen zu beobachten ist, eine Erklärung, In dem Maße, wie sich der Bildschirm als „Leitmedium“ etabliert und als Schlüsselverhalten in Kindheit und Jugend eingeübt wird, könnten sich hier zukünftige medienbezogene Handlungsmuster herausbilden, so daß die Nicht-Akzeptanz als generationsspezifisches Moment erscheint.

— Rezeptionssituationen zeichnen sich durch Mehrdeutigkeiten aus. So kann das Anschauen eines Krimis für die eine Familie Unterhaltung und Entspannung, für eine zweite familiale Gemeinsamkeit bedeuten, für eine dritte kann der Krimi schließlich genutzt werden, vorausgegangene innerfamiliäre Spannungszustände zu kompensieren oder von ihnen abzulenken.

— Medienangebote (und nicht nur unterhaltende) werden häufig genutzt, um innere Leere, Streßzustände und Gefühle des Alleinseins zu kompensieren. Mediale Unterhaltung wird aber auch deshalb genutzt, weil sie Gegenbilder zur Realität anbietet, sie Phantasien und Tagträumen eine szenische Form bietet.

— Bei der Einschätzung des Einflusses der Medien auf individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen existieren geschlechtsspezifische Unterschiede: Während Frauen eher die negativen bzw. problematischen Auswirkungen von Kommunikationstechnologien thematisieren, versuchen die Männer diese eher herunterzuspielen oder als bewältigbar hinzustellen; während man bei den Frauen ein sozialethisch ausgeprägtes Problembewußtsein findet, besitzen Männer häufiger ein technologisches know-how. — Und auch bei den inhaltlichen Interessen an Medien zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Da gibt es zum einen Differenzen bei der Zuwendung zu bestimmten Genres (z. B. „männliche“ Action versus „weibliche“ Familienserien), zum anderen werden die Technikinteressen männlicher Haushaltsmitglieder dazu eingesetzt, traditionelle Rollenverteilungen innerhalb einer Familie zu stabilisieren.

Diese Tendenzen im Nutzungsverhalten und in den Einstellungen zu den verschiedenen Medien basieren auf Erhebungen, die von 1981 bis einschließlich 1985 im Raum Tübingen, Stuttgart und der Schwäbischen Alb durchgeführt wurden Das methodische Instrumentarium bestand aus einer Kombination von problemzentrierten Interviews, teilnehmenden Beobachtungen und Gruppendiskussionenl

Statistisch repräsentative Ergebnisse sind von den Erhebungen nicht zu erwarten. Die Ergebnisse und Trends werden jedoch vor dem Hintergrund anderer umfangreicher Analysen interpretiert und können damit an Aussagekraft und Reichweite gewinnen. Insgesamt wird es zu alltagsnahen Einschätzungen über Unterschiede zwischen den befragten Haushaltstypen ebenso kommen wie zu Feststellungen über Stadt-Land-Unterschiede.Und durch Fallbeschreibungen, deren immanente Deutung und Interpretation im Rahmen vergleichbarer Forschungen, kann auf Entwicklungen, Belastungen und Probleme im familialen „Medienalltag“ ebenso hingewiesen werden wie auf medienbezogene Nutzungsstile von Kindern und Jugendlichen

Wenn eingangs die Forderung nach Alltagsnähe und Differenzierung für Forschungen über medienbedingte Einflüsse erhoben wurde, so soll dies eingelöst werden, indem wir einige Tendenzen am Beispiel von Falldarstellungen verdeutlichen und konkretisieren. Ein solches Vorgehen kann klarmachen, daß sich hinter verallgemeinerten Ergebnissen und Trends immer gelebte Alltage, Träume, Sorgen, Leiden oder auch Gleichgültigkeiten verbergen. Die hier wiedergegebenen Fälle stehen pars pro toto; ihre über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung soll dadurch angesprochen sein, daß sie vor dem Hintergrund von weiteren Sekundäranalysen abgestützt sind. In den Fallbeispielen konzentrieren wir uns zum einen auf jene Haushalte, in denen es zu erheblichen Problemen angesichts einer mediatisierten Umwelt kommt, zum anderen auf subjektive Sperren, die eine Nicht-Akzeptanz neuer Medien bedingen.

III. Problemhaushalte und Problemgruppen — Fallbeispiele

Ein zentraler Kritikpunkt an vielen Forschungen zum Thema „Familie und Medien“ ist, daß zu oberflächlich von der Familie gesprochen wird, die von den Medien bedroht sei. Zweifelsohne werden mittlerweile alle Haushalte vom Fernsehen berührt (und auch solche, die keinen Fernseher haben), aber es gibt eine große Anzahl von Familien, die solcherart fernsehbedingte Einflüsse gekonnter und bewußter verarbeiten als andere. Soziokulturelle und sozioökonomische Rahmenbedingungen spielen dabei eine ganz erhebliche Rolle, weshalb Medienpolitik und Familienpolitik nicht voneinander getrennt diskutiert werden dürfen. Medienbezogene Nutzungsmuster sind niemals isoliert zu betrachten, sondern immer im Zusammenhang mit den realen und praktizierten Interaktions-und Kommunikationsqualitäten in Familien. Von daher ist es unabdingbar, die subjektive Medienwirklichkeit, in der sich mediale Wirkungen aufbauen und vollziehen, zu analysieren; ist es notwendig, medien-bezogenes Handeln oder die Nicht-Akzeptanz neuer Medienangebote aus der Perspektive des rezipierenden Haushaltes zu verstehen. Der Medienumgang stellt sich für Familien nicht nur anders dar (als für den Medienforscher oder -Politiker); Medien sind schlichtweg anders und dementsprechend ist das alltägliche medienbezogene Handeln durch eigene Regeln, Rituale, Muster und Konzepte gekennzeichnet Das können die Fallbeispiele ansatzweise verdeutlichen. 1. Ältere Menschen „Wenn’s heute abend nichts Richtiges gibt“, fängt Martha Krause an, „wenn’s da nichts gibt; ja, was kann ich da machen außer früh ins Bett.“ Martha Krause, 78 Jahre, lebt allein in einer großen Fünf-Zimmer-Wohnung. Ihr Mann starb vor sechs Jahren, sie hat vier Kinder; eine Tochter wohnt mit ihrer Familie ganz in der Nähe, zwei Häuser weiter. Kai und Jens, acht und zehn Jahre alt, ihre beiden Enkelkinder, kommen fast jeden Tag vorbei; aber, so erkennt Martha Krause ganz nüchtern: „Das ist wohl auch wegen dem Fernsehen. Meine Tochter hat nicht so’n Ding. Wegen der Kinder, sagt sie. Damit die nicht so viel glotzen. Jetzt müssen sie, wenn sie was sehen wollen, zu mir kommen.“ Nur am Wochenende kommen die Enkelkinder nicht, da ist Martha Krause immer allein. „Freunde und Bekannte besuchen, wen denn? Die wohnen weit weg, da müßte ich den Bus nehmen. Und abends zurück, hab’ ich Angst. Man liest doch so viel darüber in der Zeitung oder hört, daß sie die oder die belästigt haben. Das war früher anders. Da habe ich mich sicherer gefühlt.“ Zudem hat sie immer weniger Freunde und Bekannte. „Die sterben alle weg.“

Für ihren Fernsehabend richtet sie es sich gemütlich ein, sie sitzt in ihrem Fernsehsessel, knipst eine Stehlampe an, hat ein Gläschen Sherry neben sich. „Wir hatten den Fernseher schon, als mein Mann noch lebte. Aber da haben wir kaum gesehen. Ich kann mich an nichts genau erinnern. Aber jetzt ist es ein Glück, daß es den Apparat gibt; ein richtiges Glück ist das — vor allem eben samstags.“ Heute steht „Der blaue Bock“ auf dem Programm. „Ich sehe, was kommt. Da bleibt ja auch nichts übrig. Aber den , blauen Bock'mag ich. Der Schenk redet so gemütlich daher. Ich hab’ das Gefühl, als sei man so ganz direkt dabei.“ Und auch „den Fuchsberger“ findet Martha Krause „so beruhigend, so richtig seriös. Den würd’ ich mal gern einladen.“

Und manchmal beobachtet sie, wie sie anfängt, sich mit dem Apparat zu unterhalten: „Wenn man älter wird, wird man wohl wunderlich, aber solange das nur so ist, geht’s doch noch, oder?“ Einsam fühle sie sich nicht, sagt sie, sie fühle sich geborgen, und daß die Enkelkinder samstags nicht da seien, ist „manchmal auch schon ein Glück“. Denn wenn sie kommen, richtet sich Martha Krause nach den Wünschen ihrer Enkelkinder. „Und die haben mich in der Hand. Als ich neulich mal was anderes sehen wollte, sagten die, dann kämen sie eben nicht mehr. Da hab’ ich nachgegeben.“ Und nach einer Pause fügt sie noch hinzu: „Das tut schon weh, nicht... wenn, ja, wenn der Fernseher eben wichtiger wird. Aber ich bin ja froh, daß sie überhaupt kommen.“

Mit dem Fernsehprogramm ist sie zufrieden. „Irgendwas ist immer dabei.“ Nein, das mit dem Kabelfernsehen und diesem Video, das sei nun absolut nichts mehr für sie. „Mit so was kann ich doch gar nicht umgehen. Und umgewöhnen will ich mich auch nicht mehr. Ich hab’ genug gelernt in meinem Leben. Ich brauch’ da was Festes, etwas, wo man weiß, woran man ist, was einen beruhigt. Ja, ich brauch’ was im Fernseher, wie den Köpke oder eben den Fuchsberger oder so-was, die geben mir das Gefühl, als würden sie das alles nur für mich machen. Und das ist für’n alten Menschen viel, glauben Sie mir.“

Der Medienkonsum älterer Menschen ist bislang kaum erforscht. Über lapidare Feststellungen, wonach das Fernsehen an der Spitze aller Freizeitaktivitäten stände und als subjektiv unentbehrliches Medium anzusehen sei, sind vereinzelte Untersuchungen bisher nicht hinausgekommen Das Fallbeispiel Martha Krause zeigt dabei jene Aspekte, die den hohen Fernsehkonsum älterer Menschen bedingen: Medien, vor allem die Bilderwelten des Fernsehens, werden zum Ersatz für Defizite im emotionalen und zwischenmenschlichen Bereich; sie kompensieren Einsamkeit oder das Fehlen von Bezugspersonen und verdecken die Unfähigkeit, Nahwelten aufzusuchen. Medien lenken ab von Sorge und Langeweile, nehmen Trauerarbeit ab oder binden sie durch vorproduzierte Szenarien und machen den Verzicht auf nicht mehr zu verwirklichende Bedürfnisse und Interessen einigermaßen erträglich. Die Bilderwelten werden zur Primärerfahrung. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil jene unterhaltenden Fiction-Szenarien, die für ältere Menschen bedeutsam sind, ein nur unzulängliches, wenn nicht gar verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Realität wiedergeben. Hinzu kommt, daß sich ältere Mediennutzer gleichzeitig Informations-und Bildungssendungen verweigern. Angesichts der Zunahme des Anteils von „alten“ Menschen an der Gesamtbevölkerung erscheint es unabdingbar, ihre Mediennutzungsstile differenzierter und alltagsnäher zu erforschen. Und es erscheint nur als folgerichtig, über eine Kommunikationspädagogik für ältere Menschen nachzudenken 2. Unvollständige Familien Waltraud Reißer lebt mit drei Kindern (Jörn, sechs Jahre; Jakob, elf Jahre; Ingrid, fünfzehn Jahre) in einer Drei-Zimmer-Altbauwohnung im Zentrum einer Großstadt. Sie lebt von ihrem Mann seit Jahren getrennt, arbeitet nachmittags als Kassiererin und kommt erst gegen 20. 00 Uhr nach Hause. „Solange erzieht Ingrid“, erzählt Frau Reißer. Am Vormittag ist sie als Heimarbeiterin tätig. Sie bastelt für eine Boutique Holzanhänger. „Das brauch’ ich“, sagt sie, „sonst wird man trübsinnig“. Sie hört nebenbei Radio, „volkstümliche Musik oder Schlager, dann ist man nicht so allein. Und Nachrichten. Nachrichten muß ich immer hören. Ob was passiert ist.

Das muß ich dann auch im Fernsehen sehen oder in der Zeitung lesen. Ich bin ’ne richtige Katastrophenfrau." Sie lacht und ist gleichzeitig traurig. „So mit , Aktenzeichen XY, das soll auch Ingrid schon sehen. Mir läuft’s da immer in Schauern runter, wenn ich das seh’, so richtige Schauer. Wenn ich allein wär’, ich glaub’, ich könnt’s nicht ertragen. Aber zu zweit macht mir die Angst dann nichts aus.“

Bei den Reißers wird nicht nur viel ferngesehen, die Familie besitzt zusätzlich einen Videorecorder. Dazu Ingrid: „Wenn schlechtes Wetter ist oder es ist Winter oder da ist sonst nichts los, glotzen die Kinder nachmittags schon Video, Heimatfilme, so schöne kitschige oder ganz viel Abenteuer. Manchmal auch zwei Stück hintereinander.“ „Ich finde“, beruhigt sich Frau Reißer, „das ist immer noch besser als wenn sie rumgammeln oder nichts machen. Außerdem: was bleibt uns denn sonst?“ Manchmal bestraft sie die Kinder, vor allem Jörn und Jakob, mit Fernseh-oder Videoentzug, aber „dann reden die beiden nicht mehr mit mir. Da haben sie mich in der Hand. Die wissen, ich mag nicht allein sein. Ich geb’ ja fast immer nach.“ Das gilt auch für das abendliche Essen, bei dem häufig die Tagesschau läuft. „Ich glaub’, das ist was für sie, da können sie was von lernen.“ Frau Reißer macht ihre Kinder vor allem auf Katastrophen und Unfälle oder Not und Leid aufmerksam. „Einmal müssen die lernen, aufzupassen, und dann sollen die sehen, daß es uns gar nicht so schlecht geht. Wenn wir dann so dasitzen, zusammen, fühl’ ich mich so richtig wie ’ne Glucke.“

Ihre Weise, mit Medien umzugehen, sie für sich und ihre Beziehungen zu den Kindern einzusetzen, deutet sich auch in zwei anderen Situationen an. Sie läßt ihre Kinder sehr lange am Tisch sitzen, lebt den Kindern die Bedeutung vor, die sie den Medien in dieser Situation zuweist. Die Fernsehsituation bindet die Kinder, schafft zwanghafte Nähe und eine schweigende Gemeinsamkeit. Vor allem Jörn und Jakob haben die mütterlichen Rituale durchschaut und sie für ihre Alltagsstrategien eingesetzt. So wissen die Kinder, daß Medienverbote von der Mutter nie konsequent durchgehalten werden können.

Spät abends sieht Waltraud Reißer täglich eine „Video-Schnulze“. „Da kann ich dann alles vergessen. Aber da muß ich absolut allein sein.

Sonst kann ich mich da nicht richtig reinsteigern.“ In Familien mit alleinerziehenden Elternteilen ist häufig nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität des Medienkonsums ein erhebliches Problem. Fernsehrituale schaffen Stillschweigen der Kinder oder konstruieren eine zwanghafte Nähe, verdrängen reale Konflikte oder bieten vordergründige Gemeinsamkeit und Harmonie.

So zeigt denn dieses Fallbeispiel, daß die Schlußfolgerung, wonach das Kabelfernsehen (oder ein erweitertes Medienangebot) Dissonanzen beseitige, verantwortungslos, oberflächlich und zynisch genannt werden muß. Die dokumentierten Nutzungsstile machen weiter klar, wie Haushalts-mitglieder einzelne Medien gezielt zur Kompensation von emotionalen Defiziten einsetzen, wie Medieninhalte reale Mangelerfahrungen ersetzen können, wie Fernsehsituationen (mütterlicherseits) eingesetzt werden, um Konzepte von Nähe und Bindung auszudrücken oder wie fehlende bzw. schwer lebbare Freizeitalternativen oder Arbeitsbelastungen des Elternteils Kinder auf Medien verweisen. Dabei nehmen die in entsprechenden (Mangel-) Situationen lebenden Familien ein Mehr an Unterhaltung um so selbstverständlicher auf, je mehr und schneller diese Ablenkung und Kompensation versprechen.

Und noch einen Gesichtspunkt macht das Fallbeispiel Reißer deutlich: Die ständige Diskussion und Konzentration auf die jeweils neuen Medien haben die alten Medien in ihrer alltäglichen Fraglosigkeit in den Hintergrund gerückt. Dazu gehört auch der Hörfunk, der quantitativ einen erheblichen Stellenwert in familialen Tagesabläufen — wenn auch meistens morgens — einnimmt. Frau Reißers Rezeptionshaltung läßt dabei qualitative hörfunktypische Nutzungsstile durchscheinen. Das inhaltliche Angebot ist bis auf die musikalische Zusammenstellung — einer der am häufigsten wiederkehrenden Kritikpunkte in den Interviews — relativ unwichtig. Dagegen gewinnt das Radio seinen Stellenwert vor allem aus einer Situationsspezifik. Es dient dazu, negativ-depressive Stimmungen zu kompensieren, außerhäusliche Kontakte herzustellen oder fehlende Kommunikationspartner zu ersetzen. Radio hören stellt durchweg eine Sekundärtätigkeit dar, um beispielsweise die Durchführung von Routinetätigkeiten zu erleichtern

Insgesamt kann am Medienalltag der Reißers gezeigt werden, wie unvollständige Familien Medien einsetzen können, um sich zu entlasten. Gleichzeitig bringt die gezeigte Mediennutzung aber Belastungen mit sich, weil die Flucht in die schweigende Gemeinsamkeit eine dialogische Aufarbeitung von Alltagsproblemen und -konflikten behindert und erschwert. So sind denn die wortlosen Nutzungsrituale letztlich nur Abbild unterentwickelter Kommunikationsqualitäten 3. Unterschiedliche Familien-und Medienerziehung Uwe und Gaby Eilers leben mit ihren beiden Kindern Marco und Sonja, elf und neun Jahre alt, in einer Vier-Zimmer-Wohnung in einem Dorf mit achthundert Einwohnern. Die nächste Mittelstadt ist dreißig Kilometer entfernt. Obgleich es viele Pendler gibt, haben ländliche Rituale und Gewohnheiten ihren festen Platz. Vereine und die Kirche sind wichtige Bezugspunkte. Uwe Eilers spielt Fußball, hat aber ansonsten keine Bindung zum Dorf. Gaby Eilers: „Wir gehören zwar dazu, aber nicht so richtig.“ Herr Eilers ist von 5. 30 Uhr bis 16. 30 Uhr abwesend, danach geht er „kurz in den Garten, ja und dann mach’ ich den Kasten an“. Das Haus liegt in einer günstigen Lage, so daß man „Österreich, Schweiz, Frankreich und diese Sender empfangen kann. Ich brauch’ so’n Quatsch nicht wie Kabel. Naja, wenn’s die anderen brauchen, aber ich hab’s billiger.“ Er findet es „gut“, daß er „immer seine Auswahl hat. Ich hab’ eigentlich jeden Tag meinen Film, den ich brauch’, manchmal sogar zwei.“

Gaby Eilers ist Heimarbeiterin, sie „werkelt“ vormittags vier, nachmittags drei Stunden. Um 00 Uhr beginnt parallel zum Abendessen der Fernsehabend. Uwe Eilers: „Fernsehen ist in Ordnung, das brauch’ ich abends einfach. Was anderes machen als Fernsehen ... natürlich spielen wir zusammen oder ich nehm’ sie mit zum Kicken. Aber ich kann doch nicht auch noch als Konkurrenz zum Fernsehen auftreten, ich hab’ doch genug auf der Arbeit zu tun.“ „Ich seh’ auch viel,“ sagt Gaby Eilers, „weil Uwe eben sieht. Natürlich nicht nur, aber doch ganz häufig.“ Sie weiß jedoch auch: „Tagsüber brauch’ ich das Radio, das läuft, ich hör’ nicht richtig hin, aber es läuft eben.“

Beide machen sich durchaus ihre Gedanken, wie das „mit dem Fernsehen und den Kindern ist“. Dazu Uwe Eilers: „Wenn die Kinder fernsehen, haben sie ihre Gründe. Ich sag’ mir, laß sie, wir haben auch viel Scheiß gemacht. Wir sind doch auch was geworden, und das mit dem vielen Fernsehen der Kinder gibt sich schon wieder ... * Nur wenn sie Zoff machen, ist’s aus mit dem Fernsehen.“ Gaby Eilers hat da eine völlig andere Meinung: „Ich les’ viel, was ist mit dem Fernsehen und so. Da mach’ ich mir schon meine Gedanken, was wird mit den Kindern. Aber bei meinem Mann finde ich keine Unterstützung. Der macht, was er will, und das merken die Kinder.“ Und an einer anderen Stelle des Interviews fügt sie hinzu: „Schlimm ist, daß ich nicht alles durchhalten kann. Ich will nicht, daß sie so viel fernsehen, aber ich steh’ auch unter Strom. Dann ist’s schon bequem, daß es den Apparat gibt. Und hinterher hat man ein doppelt schlechtes Gewissen.“

Marco und Sonja haben die widersprüchliche Haltung ihrer Eltern längst erkannt. Sonja: „Mutti sieht das nicht gern, wenn wir mit Papa sehen, sie meckert, wir sollen weg, sollen lesen, spielen oder Hausaufgaben machen. Lesen will ich abends, gespielt hab’ ich und Hausaufgaben sind auch fertig ... Papa gibt da immer nach, wenn’s beim Fernsehen was Gutes gibt. Mutti ist viel strenger.“ Und Marco ergänzt: „Ja, Mutti ist manchmal streng und manchmal nicht. Das ist schwer, manchmal schreit sie, daß wir soviel ferngucken, manchmal sagt sie nichts. Ich weiß nicht, was richtig ist.“

Das medienbezogene Handeln der Eilers läßt sowohl dorfspezifische Probleme als auch einige sozioökologische Dimensionen der familiären Mediennutzung deutlich werden:

— Eine hohe Arbeitsbelastung, die einhergeht mit dem Fehlen von Freizeitalternativen, führt zu einem höheren Dauerkonsum vor allem der Bildermedien (Fernsehen, Video).

— Gesucht wird vor allem eine eskapistische Mediennutzung, die Langeweile verhindern und de-pressive Stimmungen vermeiden soll.

— Viele Frauen passen sich widerstrebend männlichen Nutzungsstilen und medienbezogenen Umgangsformen an. Das elterliche Medienverhalten dient den Kindern als Vorbild.

— Unterschiedliche Medienerziehungsstile sind ein Abbild unterschiedlich praktizierter Familienerziehung. Während sich Mütter häufig neuen Fragestellungen in der Erziehung zuwenden, orientieren sich Männer häufig an Erziehungstraditionen. Im Hinblick auf die Mütter kann man von einem „weiblichen Unbegaben“ 19) in der Medienerziehung sprechen; sie fühlen sich von ihren Ehepartnern, aber auch den Pädagogen und Politikern allein gelassen.

— Auf dem Lande sind Heimmedien subjektiv bedeutsamer, weil außerhäusliche Medienaktivitäten wegen der kulturellen Unterversorgung nicht wahrgenommen werden können. 4. Arbeitslosigkeit Der Zusammenhang von medienbezogenen Nutzungsweisen und Arbeitslosigkeit ist gleichfalls ein Randthema der Medienforschung. Bei über zwei Millionen Arbeitslosen scheint das ein fahrlässiges Ausblenden sozialer Realität zu sein. Der hier zur Verfügung stehende Raum läßt nur die Darstellung eines Falles zu, obgleich sich der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Medien-nutzung als vielschichtig erweist

Sandra Holst, 31 Jahre, arbeitet ganztägig in der Städtischen Bücherei; Peter Holst, 35, war als Bauingenieur tätig, „ehe die Firma Pleite machte“. Sie haben zwei Kinder, Holger und Heike, sieben und fünf Jahre alt. Die Arbeitslosigkeit von Herrn Holst hat Auswirkungen auf alle Haushaltsmitglieder. Diese Konsequenzen kann man mit Umschichtung, Umorientierung und Funktionswandel umschreiben. Zunächst wurden Zeitschriften, „die man mal so nebenbei kaufte“, nicht mehr gelesen. Ähnliches trifft für Bücher zu. „Wir leihen uns jetzt mehr aus. Und ich kaufe den Kindern weniger. Aber das fällt ihnen nicht so auf, weil ich eigentlich immer was ausleihen kann“, kommentiert Frau Holst die veränderte Lage. Auffälliger ist aber die unterschiedliche Bedeutung, die die Familienmitglieder nun dem Fernsehen zuweisen. Praktizierten die Holsts vor der Arbeitslosigkeit eine sehr konsequente, auf Bildung und gehobene Unterhaltung zugeschnittene Fernsehnutzung, so wird „der Kasten“, wie Peter Holst sich ausdrückt, zunehmend wichtiger, um Langeweile, Unzufriedenheit, Anspannung und Streß zu kompensieren. „Ich merk’ so allmählich, wie der Kasten für mich wichtiger wird. Nicht, daß ich augenblicklich nun viel mehr fernseh’, aber was ich seh’ und wie ich darauf giere, das wär’ mir früher nie in den Sinn gekommen ... Wie der Kasten anfängt, einen großen Raum in meinem Denken einzunehmen — das ist mein Problem.“ Und weiter: „Ich hätte nie gedacht, wie schnell sich so etwas einschleicht ... Ja, und wie schwer es ist, davon wieder loszukommen, sich wieder umzugewöhnen ... und dann natürlich, wie die Kinder, die vorher wenig ferngesehen haben, wie die da mitmachen. Da reicht ’n Vierteljahr, und du hast glotzende Kinder, weil du selber viel glotzt.“

Die beiden Kinder wurden ebenfalls aus ihrem gewohnten Rhythmus gerissen, haben sich allerdings mittlerweile an die neue Struktur gewöhnt. Holger: „Ich darf jetzt mehr fernsehen. Auch abends. Mutti erlaubt mir das.“ Er findet aber auch, und das macht ihn häufig traurig, daß „Mutti mehr schimpft als sonst. Die ist schneller bös’.“ Sandra Holst hat das auch schon an sich beobachtet und gemerkt, wie ihre Tochter dann sehr verunsichert reagiert, sich in ihr Zimmer zurückzieht, in ihre „Kuschelecke“ setzt und ihre Kassetten hört. „Sie braucht diesen Rückzug offensichtlich und fühlt sich auch wohl ganz o. k.

dabei. Denk’ ich mir jedenfalls. Sie weiß ja, daß ich sie lieb hab’.“ Und noch eines hat Frau Holst bemerkt. „Heike hört in der letzten Zeit nur diese lustigen Sachen, grauenhaft, würd’ ich sagen. Ich sag’s natürlich nicht. Aber alles, was irgendwelche Probleme hat, lehnt sie ab. Ja und manchmal fängt sie bei ganz harmlosen Sachen, die sie liest oder sieht, an zu weinen. Sie ist viel labiler geworden. Das ist halt ihre Reaktion auf alles.“

Und auch Holger geht zunehmend problemorientiert-realistischen Medieninhalten aus dem Weg.

Er nutzt das Fernsehen, so Sandra Holst, um „Zeit totzuschlagen“. Heike und Holger haben eine auf Kompensation angelegte Nutzungshaltung entwickelt.

Auch aus diesem Fallbeispiel können einige, noch vorläufige Einschätzungen über den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und dem familiären Medienumgang gemacht werden:

— Die Arbeitslosigkeit eines Familienmitglieds hat häufig Veränderungen in medienbezogenen Nutzungsroutinen zur Folge. Ein steigender Medienkonsum ist dabei genauso zu beobachten wie Umschichtungen. So ist der Medienkonsum von Herrn Holst nur unwesentlich gestiegen, gleichwohl nimmt das Fernsehen nun einen wesentlich umfangreicheren Platz ein. Ähnliches gilt auch für die anderen Familienmitglieder. Umschichtungen im Zeitbudget können ihre Ursachen in einem veränderten Ablauf des Tages oder auch in materiellen Dingen (z. B. Kündigung eines Abonnements, Konsumverzicht etc.) haben.

— Diese eher quantitativen Gesichtspunkte der Nutzung finden ihre Fortsetzung in der Qualität des Medienumgangs. Bei den Holsts ist (wie bei anderen Familien auch) festzustellen, daß vor allem dem Fernsehen stärker die Rolle des Allein-unterhalters zugewiesen wird, daß Medienangebote deshalb gesucht werden, weil sie Entspannung, Abschalten und Flucht aus dem Alltag versprechen. Die psychosozialen Belastungen, die mit der Arbeitslosigkeit einhergehen, machen die Wechselwirkungen von unbefriedigender Alltags-realität und einem auf Entlastung und Kompensation angelegten Medienumgang klar.

— Wesentliche Alltagsfigurationen und -rituale verändern sich aufgrund veränderter Tagesläufe und bringen psychosoziale wie physische Belastungen der Haushaltsmitglieder mit sich. Die zurückgehende bzw. eingeschränkte innerfamiliale Kommunikation ist manchmal nicht (oder nur indirekt) auf die Umschichtung im Medienkon-B sum, besonders auf den Anstieg des Fernsehkonsums zurückzuführen; im Rückgang der Kommunikation drücken sich vielmehr fehlende Handlungskonzepte zur produktiven Bewältigung einer Situation aus, die Orientierungslosigkeit, Entmutigung, Selbstzweifel, Ungewißheit oder Isolation mit sich bringt. 5. Geschlechtsspezifika und Computer Frank Geiger, 14 Jahre, besucht das Gymnasium, besitzt seit drei Jahren eine Telespielkonsole und die dazu passende Software. Sein Vater spielt allerdings genauso häufig mit dem Gerät. Momentan ist das Telespiel allerdings für beide so gut wie vergessen, denn der Vater hat sich im Zuge einer Weiterbildung einen Heimcomputer gekauft. Dazu Herr Geiger: „Ich hab’ mir das Ding angeschafft, um zu sehen, was da läuft, aber auch, weil ich merke, daß die Dinger immer mehr im Betrieb auftauchen. Ich muß wissen, wie das funktioniert, was man damit machen kann — und auch wegen der allgemeinen Situation. Zur Zeit läuft’s zwar gut, aber man weiß nie, was da noch kommt.“

Franks Vater, Günther Geiger, ist Angestellter im Werkzeugmaschinenbau, hat sich zum Leiter einer technischen Abteilung hochgearbeitet. Seit zwei Jahren hat er sich in „die Computersache reingekniet“, Veranstaltungen besucht, Fachliteratur gelesen, sich über das Angebot informiert. „Technik war für mich sowieso immer ein Hobby, da paßte alles zusammen.“ Als der Heimcomputer gekauft wurde, stieg auch Franks Interesse schlagartig. Auch er informierte sich nun in Katalogen, las Bücher, „aber vieles war nichts für mich, alles in Englisch oder so kompliziert, da mußte ich immer meinen Vater fragen.“ Franks Mutter bleibt bei den technischen Themen weitgehend ausgegrenzt. In der Zwischenzeit hat es Herr Geiger gelernt, eigene Spielprogramme für den Computer zu konstruieren, die man auch anwenden kann.

Für Frank hat der Computer dadurch zusätzliche Bedeutung gewonnen. Auch er kann mittlerweile schon kleinere Spiele programmieren. Selbst das Telespiel hat nach einer Phase geringerer Beachtung neue Aufmerksamkeit gefunden. „Ich hab’ nämlich gelesen, daß man Telespiele durch ein Zusatzgerät zum Kleincomputer umwandeln kann. Dann hab’ ich auch meinen Computer.“ Franks Vorliebe für den Computer bedeutet für ihn aber auch Teilhabe an den Handlungsmustern seines Vaters und damit der Erwachsenen. Dies wird überdeutlich im Zusammenhang mit den Geschlechtsrollenstereotypen. „Meine Mutter hat von Computern keine Ahnung. Sie liest lieber oder strickt. Die interessiert sich überhaupt nicht für technische Sachen oder so.“ Dieses (Vor-) Urteil hat seine Auswirkungen auf familiale Handlungsabläufe: Der Heimcomputer steht in einem ausgebauten Hobbykeller, wohin sich Frank und der Vater häufig zurückziehen. Franks Mutter betritt den Raum sehr selten — wenn sie etwas will, bedient sie sich der Haussprechanlage („auch so ’ne technische Spielerei von mir“, erzählt Franks Vater nicht ohne Stolz). Das Thema „Technik“ grenzt die Mutter auch von anderen familiären Kommunikationssituationen aus, z. B. bei den Diskussionen während des Abendessens. Maria Geiger ist „darüber sauer, weil ich da momentan überhaupt nichts machen kann. Ich interessier’ mich nicht dafür, und will das auch nicht lernen. Aber das stinkt mir schon, die Familie wird irgendwie zweigeteilt, und ich hab’ das Gefühl, außen vor zu stehen.“

Bei Berücksichtigung ähnlicher Interviews werden nachstehende Gesichtspunkte deutlich:

— Der Computer und die Computerkultur sind eine „männliche“ Domäne. Während Mütter durchweg eine negative Meinung haben und dem Computer negativ gegenüberstehen, fallen auch Mädchen und weibliche Jugendliche aus dem Rahmen häuslicher Computernutzung heraus. Obwohl sie in entsprechenden schulischen Arbeitsgemeinschaften durchweg vertreten sind sich produktive Kooperationen zwischen den Geschlechtern in Informatikkursen zeigen, sind Schülerinnen in ihrer Freizeit häufig von der Nutzung ausgeschlossen oder fungieren als Staffage unter Computerfreaks

— In dem Maße, wie Mütter und Töchter vom häuslichen Umgang mit dem Computer ausgegrenzt sind, konkretisiert sich in manchen Haushalten das Unbehagen über neue Medien vor allem am Computer. Dieser steht für unterentwickelte zwischenmenschliche Beziehungen und zurückgehende innerfamiliale Kommunikation.

— Die hier angedeutete Geschlechterspezifik im Umgang kann perspektivisch Bedeutung erlangen, setzt sich doch hier jene traditionelle Rollenverteilung fort, die den Arbeitsmarkt schon immer kennzeichnete. Es bildet sich offensichtlich ein „männlicher Umgang“ mit dem Computer heraus; ein Umgang, der um die produktiven Möglichkeiten des Computers weiß. Dagegen steht ein passiv-rezeptiver (= weiblicher) Umgang, der sich in der bloßen Anwendung von Programmen (in Büro-, Heim-und Hausarbeit) erschöpft. Wer sich das Design einer schönen neuen Bürowelt ansieht, kann keinen Zweifel haben, daß sich in den neuen technologischen Schläuchen alter Wein verbirgt. Die kommunika-tions-und informationstechnologischen Entwicklungen finden nicht nur ohne die Frauen, sondern sogar gegen sie statt 6. Kinder und Jugendliche: Mediennutzungsstile und ihre Ambivalenzen Matthias, 14 Jahre, Realschüler, regelmäßiger Fernseher („na, so zwei Stunden am Tag“), häufiger Radiohörer („Musik eben“), liest Motorrad-zeitschriften und Abenteuerbücher. Er erzählt:

„Seit Weihnachten haben wir Video ... Eigentlich seh'ich wenig. Meine Eltern, die nehmen sich Filme auf, vor allem, die spät kommen.

Wenn die die sehen und die gefallen mir, dann seh’ ich mit. Aber da ist häufig viel Quatsch dabei, so Filme von früher. Interessier’n mich nicht... Ich nehm’ auch auf... Formel 1, Bananas, na eben diese Popsendungen. Geil finde ich die Videoclips ... Diese Sachen, echt stark sind da manche Sachen, besser als die Musik manchmal, wirklich wahr. Seh’n tun wir diese Filme dann nachmittags, wenn meine Eltern nicht da sind ... Leihen mach’ ich nicht, viel zu teuer...

Bei Hitchcock und dieser Art Filme, da ist doch absolut was los, das packt einen so richtig ... Da kann man diese Zombiefilme glatt vergessen. Für mich sind diese Horrorfilme absolut langweilig. Da riechst du doch die Marmelade auf zehn Meilen gegen den Wind. Ich hab’ zwei solcher Dinger angefangen, weil meine Freunde gedrängelt haben. Aber ich laß mich doch nicht verkohlen. Nach zehn Minuten bin ich raus... Echt stark find’ ich die Sachen von früher, so die Musketiere oder Ritter, sowas, wo die so Action machen. Sowas kann ich immer und immer wieder sehen, na klar auch lesen. Mensch, da kannst du noch richtig was erleben. Das waren noch ganz klare Sachen, geile Typen... Musik, wenn’s keine Musik gäbe, das wär’ blöd ... Den größten Zoff gibt’s bei uns immer, wenn ich die Musik zu laut hab’. Dann flippt mein Vater immer total aus. Manchmal dreht er sogar die Sicherungen raus. Dauert aber nicht lange, weil ... er sitzt ja sonst auch im Dunkeln ... Wenn ich Musik hör’, kann ich alles vergessen,... das ist wie Träumen, dann bin ich weit weg ... ja, dann geht eben manchmal die Sicherung raus, das ist dann, als ob jemand mit’m Holzhammer was vor die Birne gibt oder so ähnlichjedenfalls.“

Kinder und Jugendliche beurteilen ihre Kultur aus ihrer Situation heraus, ihren alltagsweltlichen Erfahrungen, die für sie absolute Richtigkeit und Gültigkeit besitzen. Diese subjektive Bedeutsamkeit von Medien läßt sich am Interviewausschnitt belegen: — Im Aneignungsprozeß findet ein In-Beziehung-Setzen des massenkulturellen Angebots zur eigenen Lebenswelt statt. Der Umgang mit den Produkten der Kinderkultur hat häufig mehr mit der kindlichen Lebenswelt als mit den inhaltlichen Intentionen dieser Produkte zu tun: Verdrängung von Einsamkeit, Kompensation, Phantasieproduktion. — In die Deutung medialer Gegenstände gehen Werte und Normen kindlicher Alltagswelten mit ein. So sind Musikvorlieben Gesprächsanlaß nach innen (z. B. innerhalb des Freundeskreises)

und Abgrenzung nach außen (z. B. in bezug auf die Eltern, Erzieher), oder der Umgang mit dem Computer symbolisiert ein Stück Autonomie gegenüber der Welt und den Erfahrungen Erwachsener. Entscheidend ist darüber hinaus, daß nicht die Inhalte oder Gebrauchswerteigenschaften eines Mediums dessen Attraktivität allein ausmachen.

Für die Akzeptanz und Bedeutsamkeit sind Aspekte des Umgangs und des Gebrauchs genauso wichtig. Zu den Gebrauchsfunktionen lassen sich z, B. rechnen:

— die Art und Weise, wie kulturelle und mediale Produkte zielgerichtet eingesetzt werden, und — das Streben nach Autonomie, Identität und Selbständigkeit.

Gerade die sinnlich-emotionalen Qualitäten der Kinder-und Jugendkultur werden von Erwachsenen allzu häufig unterschätzt oder nicht wahrgenommen: Für Kinder bedeutsame Zeichentrickserien (wie „Heidi“, „Biene Maja“ oder andere) bewerten sie vorschnell als trivial und stufen den Umgang mit derartigen Produktionen als passive Rezeption ein. Wie wenig Sensibilität für kindliche Genrevorliebe häufig da ist, zeigen diese populären Beispiele überdeutlich: Geht es in „Heidi“ nicht auch um Erziehung durch Erwachsene als Zurichtung, um die Zerstörung kindlicher Identität, geht es in der „Biene Maja“ nicht auch um den Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Anpassung und Revolte, geht es in „Tom & Jerry“ nicht auch um den Kampf zwischen „Groß“ (= Erwachsenen) und „Klein“ (= Kindern) und die Sehnsucht, den übermächtigen Goliath zu bändigen? Ist die Vorliebe für klar strukturierte Actionabenteuer nicht auch die Suche nach Überschaubarkeit oder die Einfachheit der Verhältnisse, nach Bewegung und Körperlichkeit? Wer Kindern zusieht, mit ihnen redet, sie das medial Erlebte zeichnen oder in Spiele umsetzen läßt, merkt schnell, daß in die vermeintlich trivialen Produkte und ihre Aneignung Alltagserfahrungen eingehen, die viel mit Angst und Angstbewältigung, Wünschen und Wunscherfüllung zu tun haben — einer Angstbewältigung freilich, die nicht dialogisch ausgetragen wird, sondern wie die Wunscherfüllung im medialen Kreislauf bleibt.

Dieser Kreislauf und die Ambivalenz des auf die Medien Verwiesenseins macht das Fallbeispiel von Falk überdeutlich. Falk erzählt ständig von „seinen“ Zombies, die ihn bis in den Schlaf hinein verfolgen; er malt seine Alpträume genau aus und genießt die teils bewundernden, teils erschreckten Gesichter seiner Freunde und auch die seiner Eltern. Falk ist vierzehn Jahre und geht auf die Realschule. Dort macht er „Rabbatz“, ist abgestempelt zum „Rabauken“, der nur seine „Horrordinger“ im Kopf hat. „Wenn er das doch aber wenigstens nur für sich behalten könnte“, stöhnt einer seiner Lehrer. Aber diesen Gefallen tut Falk ihnen fast nie.

Die Klassenkameraden verhalten sich ambivalent; einige finden es spannend, was „Falk wohl wieder erzählen wird“, anderen „geht er auf den Wecker“, weil er „ein Rad ab hat“; wieder anderen „ist es klar, daß man nur so reden kann, wenn man sich diese Horrorfilme immer wieder ansieht“. „Wenn ich so wäre“, meint einer, „ich würd’ wohl auch so spinnen.“ Falks Vater duldet die Zombies stillschweigend. „Was soll’s, wenn ich’s ihm verbiete, macht er’s doch. Nur, wenn er Angst hat, muß er eben sehen, wie er damit fertig wird. Das ist dann seine Sache.“ Falks Mutter versteht ihren Sohn nicht. „Es gibt so viele Videofilme, warum gerade diese Sachen?“ Mit seinen Eltern redet Falk nicht über die Filme: „Was soll’s. Die kapiern’n mich ja doch nicht. Denen ist es sowieso egal, was ich sehe oder was ich mach’. Die haben immer was anderes im Kopf.“ Faik kennt seine Zombiefilme, manche hat er schon viele Male gesehen und „immer wird mir dann an der gleichen Stelle kotzig“. „Ich hab’ gehört“, sagt er, „daß es die Zombies richtig geben soll, na, eben nicht richtig, aber, das hat sowas mit Totenbeschwörung zu tun, bei den Negern oder so ähnlich. Hab’ ich gelesen.“ Solche Informationen holt er sich aus dem Lexikon, aber als „ich mehr von meinem Erdkundelehrer wissen wollte und ihn gefragt habe, hat er nur den Kopf geschüttelt“.

Horrorfilme — und das zeigt das Beispiel Falks deutlich — wirken nicht an sich, sondern immer nur für sich, eben in konkreten wie alltäglichen, sozialen wie individuellen, biographischen wie aktuellen Bedeutungszusammenhängen. So können Horrorfilme für Jugendliche Mutprobe, Teilhabe an jugendkulturellen Ausdrucksweisen, Kompensation von Langeweile oder eine ungekonnte zwanghafte Bewältigung psychosozialer Problemlagen sein Falk steht für jene Fans des Horrorfilms, die filmisch aufbereitete Angst-25)

Szenarien brauchen, um sich eigener Identität und Größe zu versichern, weil sie keine anderen Fähigkeiten ausgebildet haben. Falks nahezu zwanghaft neurotischer Umgang mit den Filmen verweist auf emotionale wie kommunikative Defizite in seiner Nahwelt. Zombies geben Falks Vernichtungs-und Gewaltphantasmen eine Form, sie grenzen ihn als Außenseiter aus, aber sie schaffen ihm auch Freunde, geben ihm das Gefühl, jemand zu sein. So setzt Falk denn die Zombies ein, um sich zu definieren, nicht in einem positiven, sondern eher negativen, d. h. ausgrenzenden Sinn: Körperlichkeit und Sinnlichkeit erfährt Falk nur in Schmerz und Ekel. Und Identität erlebt er nur über Ausgrenzung, die durch die Stigmatisierung seiner Horrorhelden seitens der Umwelt noch verstärkt wird. Die Horrorfilme sind für ihn — objektiv gesehen — deshalb bedrohlich, weil sie Zerstörungs-und Vernichtungsängste nur als destruktive Potentiale vorführen. So verhindern sie im Einklang mit dem Versagen der Nahwelt eine dem psychischen Entwicklungsstand angemessene Auf-und Verarbeitung von Konflikten, Ängsten und Phantasien. Über diesen Einzelfall hinausgehend lassen sich gerade am Beispiel der Massenunterhaltung, der verstärkten Tendenz zur eskapistischen Medien-nutzung, der perspektivischen Wahrnehmung des Medienangebots, d. h.der Reduktion der Programmkomplexität auf immer Wiederkehrendes und Bekanntes weitere Gesichtspunkte der Mediennutzung andeuten. So kritisch die Zunahme des Konsums eskapistischer Unterhaltungsprogramme oder die Tendenz zu einer Nivellierung des Programms auf schlichte Unterhaltung, einhergehend mit einer Verdrängung von Bildungs-und Informationssendungen auf Rand-plätze, zu thematisieren ist, genauso bedeutsam scheint die Beantwortung der Frage zu sein, warum sich manche Haushaltsmitglieder verzerrten Realitätsdarstellungen zuwenden.

Hinter dem Umgang mit Unterhaltungsmedien steht offensichtlich eine Fülle unerfüllter Bedürfnisse. Wenn Bedürfnisse nach Ganzheit, Einfachheit, Träumen, Entstrukturierung, Entzeitlichung und der Reduktion von Komplexität in den Medien gesucht werden, dann doch wohl auch, weil die realgesellschaftliche Entwicklung das Ausleben entsprechender Bedürfnisse den Menschen schwer macht oder es ihnen sogar verweigert.

Medien, vor allem das Fernsehen und seine Unterhaltung, geben diesen Bedürfnissen eine rezipierbare bzw. lebbare Form. Aber: dieses Angewiesensein auf Medien und diese Bindung von Bedürfnissen durch bzw. ihre Projektion in Me-dien sind dann bedenklich, wenn sie zwanghaft und neurotisch werden, sie mit Isolation, Kontaktschwierigkeiten und Defiziten in der sozialen Umwelt von Familien und Kindern einhergehen. Eine notwendige Dialogisierung und ein wirkliches Verfügbarmachen der genannten Bedüfnisse werden so verhindert. Eine dialektische Aufarbeitung der Unterhaltung in den Medien, ihren Stereotypen und Klischees sowie der in diesen Unterhaltungsangeboten gebundenen Bedürfnisse und deren reale Aneignung scheint aber noch auszustehen

IV. Subjektive Konzepte über Medien

Medienbezogene Konzepte umfassen Wissens-und Handlungspotentiale von Familien und Kindern, um die Medien und die von ihnen hergestellte Wirklichkeit zur Einteilung alltäglicher Abläufe, zur Konkretisierung gelebter Alltagskulturen und Kommunikation sowie zur subjektiven einzusetzen. Medienbezogene Kon Sinngebung -zepte umfassen das Wissen über verschiedenste Medienangebote. Da haben Eltern ihre Meinung über die Nachteile des Fernsehens und die Vorzüge des Buches, da haben andere ihre Erfahrungen mit bestimmten Genres („Sport ist spannend“; „Dallas ist so schön unrealistisch“); wieder andere wissen, wo sie sich umfassender informieren können („die Zeitung bringt mehr Hintergründe“), vierte weisen Medien eine wichtige Bedeutung in Streßsituationen zu („bloß anschalten und nichts denken“). Diese medienbezogenen Konzepte werden bereits in der Kindheit erlernt. Besondere Bedeutung gewinnen die je verschiedenen Medien(-konzepte) z. B. dann, wenn diese den Kindern von ihren Eltern vorgelebt werden. Dazu der schon vorgestellte Marco Eilers: „Fernsehen ist doch spannend, oder muß doch spannend sein. Sonst würd’ Papa doch was anderes machen, nicht?“

Zu den Medienkonzepten zählt aber auch das Wissen, daß den Medien im Familienalltag unterschiedliche Bedeutung zukommen kann: Da ist der Vater, der über seine Fernsehinteressen seine Macht durchsetzt; da ist die Mutter, die die Bilderwelten oder die Musik des Radios braucht, um Gefühle des Alleinseins zu kompensieren oder Kontakte zur Außenwelt herzustellen; da ist der Jugendliche, der laute Popmusik immer dann sucht, wenn er mit seinen Eltern Streit hat. In den medienbezogenen Konzepten wird der Zusammenhang zwischen den Medieninhalten, den ihnen zugewiesenen subjektiven Bedeutungen, den ritualisierten Umgangsformen und den mit Medien umgehenden Haushaltsmitgliedern deutlich. Umgangsmuster und -rituale zeichnen sich durch Wiederholungen, durch etwas immer Wiederkehrendes, durch Sicherheit Verleihendes, etwas für je spezifische Situationen und deren Bewältigung Typisches aus: der vorher eingestellte Sender am frühen Morgen, die gewohnte Zeitansage, die Lesestrategie für Zeitung und Zeitschrift, das Radio auf der Fahrt zur Arbeit, das Einschalten des Fernsehgeräts nach der Rückkehr, „Tagesschau“ oder „heute“ usw. Wie wirksam diese Rituale sind, tritt dann klar hervor, wenn es um die Integration eines „neuen“ Mediums in gewohnte Interaktions-und Lebenszusammenhänge eines Haushalts bzw. einer Familie geht. Dabei wird klar, daß gewohnte familiäre Alltagsabläufe immer durch lebensgeschichtlich verfestigte (medienbezogene) Konzepte geprägt sind, die man nicht ohne weiteres verändern kann

Neben diesen eher unbewußten Beweggründen gibt es auch rational fundierte Bedenken gegenüber derartigen Neuerungen, die demographisch zu spezifizieren sind. So fördern Auswertungen der Begleitforschungen zum Bildschirmtext oder zum Videotext nur zielgruppenspezifische Interessen zutage. Und auch das über Kabel eingespeiste Satellitenprogramm erzielt nicht jene Reichweiten, die sich die Betreiber erwartet hatten. Allein dem Videorecorder und dem Kabelfernsehen — beide eher die Fortsetzung des Mediums „Bildschirm“ — werden höhere Akzeptanzen entgegengebracht. Insgesamt zeigen aber alle Befragungen, daß sich eine Mehrheit den neuen Medien gegenüber distanziert gibt, uninformiert ist und deutlich ablehnend reagiert. Dabei gibt es allerdings geschlechts-, alters-und generationsspezifische sowie Stadt-Land-Unterschiede

Diese Nicht-Akzeptanz neuer (Medien-) Angebote, die Sperren, die einer Integration in gewohnte Rituale und alltägliche Routine entgegenstehen, sollen nochmals fallorientiert thematisiert werden. Dies auch deshalb, weil es diesbezüglich erhebliche Defizite in der Kommunikationsforschung gibt. Aus methodischen und Verwertungsgründen überwiegend auf die Analyse kurzfristiger Medienwirkungen konzentriert, blieben bisher rezipienten-und prozeßorientierte Untersuchungen über das Nebeneinander von persönlicher Biographie und Mediennutzung weitgehend unbeachtet 1. Biographische Sperren und kulturelle Traditionen Helga Peters, 58 Jahre, Realschullehrerin, verheiratet, zwei Kinder, die nicht mehr im Hause leben, erzählt vom Medienumgang während ihrer Kindheit und Jugend: Es gab nur das Buch, die anspruchsvolle Lektüre, den Theater-oder Konzertbesuch; Kino, Unterhaltungszeitschriften und Radiomusik waren verpönt. „So weit ich denken kann, waren Buch und Lektüre immer mit Lernen, mit Genuß verbunden.“ Als Helga Peters einmal das Radiogerät, das von den Eltern nur der Nachrichten wegen in den zwanziger Jahren gekauft wurde, für eine Unterhaltungssendung benutzt, wird sie ebenso mit Stubenarrest bestraft wie beim Lesen einer Frauenzeitschrift. „Diese Anspruchshaltung, diese bildungsmäßige Orientierung hat sich durchgesetzt, mein Leben lang und — heut’ würd’ ich sagen, schlimm — auch auf meine Erziehung der Kinder durchgeschlagen. Ich hab’ das, was mein Vater an mir praktiziert hat, weitergegeben; natürlich ging das nicht mehr so, die sind viel häufiger ausgebrochen als ich es konnte, ich mich getraute. Wenn ich Ihnen das erzähle, wird mir mit Erschrecken klar, daß ich vieles von dem, was ich zuhause erlernt habe, weitergegeben habe, ohne zu überlegen.“ Auch in der ersten Phase ihrer Ehe setzten sich diese Mediengewohnheiten fort, die Helga Peters in Kindheit und Jugend erfahren hatte: „Nehmen wir das Kino. Erst jetzt, in den letzten Jahren, gehen mein Mann und ich ins Kino, aus Spaß, aus Freude, und ich ärgere mich, daß ich nun merke, so viel verpaßt zu haben. Das ist mit dem Fernsehen oder mit dem Radio, mit dem Buch genauso, dieser Schritt, sich nicht immer für alles rechtfertigen zu müssen, herunter von diesem Bildungskonsum, sich einzugestehen, das war toll, nicht wie ein Lehrer zu fragen, so und was haben wir davon gehabt. Auf vieles bin ich erst in den letzten Jahren gekommen, als die Kinder aus dem Haus waren, aber im Denken und Handeln war’s dann doch ein weiter Schritt, und so ganz raus bin ich nicht und will das auch nicht, denn vieles war doch auch schön. Ich bin doch bewußter mit vielem umgegangen, was mir geboten wurde. Heute wird doch mehr konsumiert oder es ist doch, glaube ich, genauso schlecht, diese Anspruchshaltung.“ Martin Peters’ medienbezogenes Handeln unterscheidet sich nur in Nuancen von dem seiner Frau; auch bei ihm dominiert die Bildung. Nur über den Videorecorder und das Kabelfernsehen sind sie sich uneinig; während sie meint, das passe „nun wirklich“ nicht zu ihr, sagt er: „Mir war das Angebot, das wir bisher hatten, zu eng. Die Auswahl ist so größer. Ich kann wählen zwischen vielen Programmen. Da ist häufiger für mich was dabei. Und diese Weltverbesserer bei uns in den ersten und zweiten Programmen, da sind die anderen Länder neutraler.“

Die biographische Bedingtheit der Mediennutzung geht genauso aus dem Interviewausschnitt von Herrn Eilers hervor: „Im Theater war ich mein Leben nie. Da komm’ ich mir blöd vor. Das ist nicht meine Welt. Im Kino war ich zuletzt ... das ist schon lange her, die Kinder waren noch gar nicht da. Bücherlesen, mein Gott, im Urlaub mal ’n Krimi, gelesen hab’ ich noch nie so gern, das ist mehr Frauensache, glaub’ ich.“ Hinsichtlich der neuen Medien interessieren ihn nur das Video und das Kabelfernsehen. „Wir konnten ja schon immer viel empfangen. Da wird’s eben nicht langweilig.“ Ich frage nach Bildschirmtext, dem Videotext und dem Computer. „Das ist nichts für mich. Ich hab’ andere Sorgen, als darüber was zu denken. Mir reicht das, was ich hab’. Kann sein, daß das mal was für die Kinder sein wird. Aber das muß dann die Schule machen. Das ist mir egal. Ich mach’ mir darüber keine Gedanken.“

In diesen Interviewausschnitten ist ein weiterer Aspekt des medienbezogenen Handelns in Familien angedeutet: In den gegenwärtigen Umgang mit Medien geht erworbenes, vorangegangenes, abgelagertes Wissen mit ein. Medienbezogenes Handeln ist das Ergebnis einer entsprechenden, wenn auch häufig impliziten familialen Medien-erziehung. Lebenszeitlich frühe Erfahrungen prägen ganz entscheidend spätere Aneignungs-und Umgangsstile. Es gibt in den jeweiligen individuellen Lebensgeschichten sogenannte Medienkarrieren — bei Helga Peters sind es beispielsweise ihre Kindheit und Jugend, ihre erste Ehephase ohne Kinder, die Zeit mit den Kindern, nun der Lebensabschnitt mit der Restfamilie. Dabei zeigt sich, daß es — wie auch bei Uwe Eilers ersichtlich — zumindest für verschiedene Zyklen überdauernde Handlungs-und Wissenskonzepte für die Medien gab und gibt. Wenn also der Erwerb bzw. Nichterwerb von medienbezogenen Handlungspotentialen als eine biographisch bedingte Abfolge in Abhängigkeit von soziokulturellen Rahmenbedingungen begriffen wird, hat das eben auch Konsequenzen für die Auswahl des Medienangebots, mit dem ein Rezipient umgeht.

Helga Peters und Uwe Eilers verdeutlichen das auf je spezifische Weise. Sie haben sich „ihre“

Medien zusammengestellt. Diese Auswahl entspricht einer perspektivischen Wahrnehmung des Angebots, soll heißen: ihnen steht nie das gesamte Angebot zur Disposition, sondern ihre soziokulturell geprägte Lebensgeschichte führt zu einem spezifischen medienbezogenen Handlungspotential, führt dazu, daß große Teile des 'Medienangebots handlungsunbedeutsam bleiben, sie existieren nicht in den medienbezogenen Konzepten. 2. Geschlechts-und generationsspezifische Unterschiede

In die Wahrnehmung des Medienangebots gehen aber immer auch generationsspezifische Erfahrungen ein, die dann häufig noch geschlechtsspezifisch gebrochen sind. Dies kann anhand der produzierten Kultur für Kinder gezeigt werden. Die Kinderkultur ist durch zwei Tendenzen geprägt: — Auf der Ebene der hergestellten Kultur wird in den Produkten größtenteils das traditionelle Bild von Kindheit reproduziert. Kindheit wird als Ausschluß aus der Erwachsenenwelt, als Kindlichkeit, Verspieltheit und gesellschaftsferne Unterhaltung vorgestellt.

— Dieser inhaltlichen Kontinuität stehen zwei Brüche gegenüber: Das Vertriebssystem der Kinderkultur vereinnahmt seine Zielgruppe, erschließt sie kommerziell, spricht sie als Kunden an und beendet damit das traditionelle Bild von Kindheit. Die eigentätige „konsumistische Aneignung“ überwiegt. Eine andere Veränderung zeigt sich in der Herausbildung von Qualifikationen, die für den Umgang mit Computern, Tele-und Videospielen erforderlich sind. Hier erlangen Kinder Erfahrungsvorsprünge, werden zunehmend autonomer.

Die unterschiedliche Ausformung der Kinderkultur, die auf soziale, politische wie gesellschaftliche Veränderungen in den letzten fünfzig Jahren zurückzuführen ist, hat auch verschiedenartige Generationserfahrungen mit sich gebracht. Diese Diskrepanzen können in wenigen Stichworten so umschrieben werden:

— Die gegenwärtige Generation geht mit einer Medienvielfalt um, die den Nutzern das Gefühl einer totalen Versorgung suggeriert. Medien sind zu zentralen Bezugssystemen geworden, die zielgerichtet eingesetzt und interpretiert werden. Gesucht wird eine Entdifferenzierung der Wahrnehmung. Man erkennt die erste und zweite Wirklichkeit als gleichberechtigt an und weist dem Bildverstehen eine höhere Bedeutung zu als dem Schriftverstehen.

Noch die Generation der heute Dreißig-bis Vierzigjährigen kannte in ihrer Kindheit die Medien-vielfalt ebensowenig wie die Ausformungen des multimedialen Verbundsystems. Zudem hatte die Wortkultur klaren Vorrang vor der Bildkultur.

Der Trennung in erste und zweite Realität entsprach eine Wertschätzung der Eigentätigkeit und der unmittelbaren Aneignung von Wirklichkeit. Gefragt war darüber hinaus der „richtige“

Umgang mit den Medien; Lese-und Hör-Haltung war erwünscht, Emotion und Gefühl sollten unterdrückt werden. Allerdings: Gerade dieser Teil der Medienerfahrung bzw.der massenkulturellen Sozialisation wird allzu leicht aus der eigenen Biographie verdrängt.

Die hierarchische Erwachsenen-Kind-Beziehung wird durch die technologische Entwicklung zwar nicht aufgehoben, in einigen Erfahrungssektoren jedoch in Frage gestellt. Kinder repräsentieren in der Art und Weise, wie sie sich alte und neue Medien aneignen, auch Zukünftiges mit all den wünschbaren wie problematischen Konsequenzen. Und: Erwachsene repräsentieren Gegenwärtiges mitsamt den notwendigen wie überflüssigen Traditionen. Diese Widersprüchlichkeit von Fortschritt und Tradition, Vergangenheit und Zukunft aufzulösen, auszudiskutieren, auszuleben, das wäre ein Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Kommunikations-und Lernprozeß. Aber dieser findet häufig nicht statt. Vor allem Mütter begegnen den alten und neuen Medien mit Unsicherheiten. Diese werden als Störenfriede und als Sündenböcke für ein defizitäres, nicht gelungenes Familienleben betrachtet. „Man muß alles danach ausrichten, gestern der Fernseher, heute Video und morgen, was weiß ich. Ich werd’ damit nicht fertig. Da hat man sich gerade mit Mühe und Not eine Strategie zurechtgelegt, damit das einigermaßen läuft, schon ist das nächste Ding da. Und man weiß nicht, was soll ich nun machen. Da schwankt alles, aber alles. Und wenn ich dann das hör’, mündiger Bürger, mein Gott, das können doch nur Männer sagen, die vom Familienleben keine Ahnung haben,“ berichtet Sonja Rabe, Mutter von zwei Kindern, „und die die menschlichen Schwächen nicht kennen. Und gegen das Fernsehen stinkt doch sowieso keiner an. Fernsehen ist bei den Kindern doch sowieso das Größte. Der Fernseher schimpft nie, ist immer da, immer lieb, wie die allertollste Mutter. Da ist man doch selber fast ohnmächtig, absolut machtlos.“

Sonja Rabe spricht hier drei Punkte an, die bei der Ablehnung vor allem der neuen Medien (insbesondere des Videos, des Kabelfernsehens und dem Computer) ständig thematisiert werden: Man fühlt sich den Medien ausgesetzt, ist uninformiert und reagiert entsprechend unsicher; man ist sich seiner Schwächen bewußt, sich sicher, der Attraktion eines (neuen) Medienangebots zu verfallen, und vor allem bei Kindern und den Jugendlichen wird eine Verführung zu Passivität und Lustlosigkeit beklagt. Hinzu kommt, daß viele Mütter die „neuen Medien“ unbewußt als „männliche“ Medien begreifen, denen man sich unterzuordnen hat. Die Unsicherheit und Hilflosigkeit wird dadurch verstärkt, daß medienpädagogische Maßnahmen „doch nichts bringen“, so Sonja Rabe.

V. Medienpolitik — Medienpädagogik — Familienpolitik — Ein knapper Ausblick

Alte und neue Medien bringen für das familiäre Zusammenleben mehr Be-als Entlastungen. Diese Belastungen äußern sich in Unsicherheit, Hilflosigkeit und in der Suche nach einfachen Rezepten. Betrachtet man den Umgang von Familien mit Medien aber nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den sozialen Rahmenbedingungen und den Kommunikationsqualitäten, dann wird deutlich, daß es Familien gibt, welche die mit dem Medienumgang einhergehenden Belastungen und Einflüsse durchaus bewältigen können. Aber es existiert eine (größere) Zahl an Familien, besonders der unteren Mittel-wie der Unterschicht, die keine Möglichkeiten haben, mit diesen Belastungen produktiv umzugehen. Häufig gibt es Wichtigeres in der alltäglichen Lebensweise, als über die Einflüsse von Medien nachzudenken und entsprechend zu reagieren. Während Väter einem „laissez-faire“ -Stil huldigen, herrscht bei Müttern häufig Ratlosigkeit. Nicht selten werden pädagogische Ratschläge als Bevormundung betrachtet oder wegen ihrer Untauglichkeit für den Alltag abgelehnt. So kommt es nicht von ungefähr, wenn sich die Wissenskluft über mögliche Bewältigungsstrategien ständig weiter öffnet Eltern, mehr oder Während jene die einen minder gekonnten Umgang mit den Medien alltäglich praktizieren, für den pädagogischen Rat und eine entsprechende Hilfestellung offen sind, verweigern sich jene, die die medienbedingten Einflüsse kaum bearbeiten können. Dies hat weniger mit dem Willen der Beteiligten zu tun als damit, daß viele der vorgeschlagenen pädagogischen Maßnahmen mittelschichtorientiert sind und zu wenig das Ineinander von Mediennutzung und defizitären Alltagserfahrungen beachten.

Stigmatisierungen und selbstgerechte Beurteilungen führen am Kern des Problems vorbei. Dagegen wäre eine handlungsorientierte Hilfestellung angesagt, welche die schichten-und bildungsspezifischen Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewältigung von medialen Einflüssen nicht nur beachtet, sondern auch ernst nimmt. Dazu müssen Medien-und Familienpolitik im Zusammenhang gesehen werden. Das heißt aber auch: Die Entwicklung elektronischer Medien kann angemessen nur im Verhältnis zur Bedeutung und zu den Rahmenbedingungen personaler und familialer Kommunikation betrachtet und beurteilt werden, denn der Maßstab der Medienpolitik darf nicht das technisch Machbare und der Maßstab einer Medienpädagogik darf nicht eine pragmatische Kompensatorik sein: Im Zweifel für den Menschen und eine Medienethik

Und generell sollte gelten: Die Auswirkungen neuer Kommunikationstechnologien sind konkret zu diskutieren und nicht in apokalyptischen Bildern und Horrorgemälden zu beschwören; denn wer so argumentiert, macht sich unglaubwürdig und handlungsunfähig. Aber gleichzeitig auch zu: trifft das Nicht erst Sachzwänge schaffen und dann über Auswirkungen lamentieren. Spätere lapidare Feststellungen wie: „Das habe man aber so nicht gewollt“, gelten nicht, dafür ist das sozial-und kommunikationswissenschaftli-, ehe Problembewußtsein und Forschungsinstrumentarium zu weit entwickelt; dafür liegen (vorläufige) Ergebnisse und Trends vor, an denen nicht vorbeigegangen werden darf. Was aber benötigt wird, sind Arbeiten an einer Theorie mittlerer Reichweite, die im Bereich der Analyse medienbedingter Einflüsse auf Gesellschaft und Familie praktische Anwendung und theoretische Grundlagenforschung miteinander verknüpft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wolfgang Darschin/Bernward Frank, Tendenzen im Zuschauerverhalten, in: Media Perspektiven, (1985) 4, S. 245-258.

  2. Ursula Dehm/Walter Klingler, ProgrammVielfalt versus Programmnutzung, in: Media Perspektiven, (1985) 6, S. 659— 663. Vgl. dazu auch die Frankfurter Rundschau vom 14. 11. 1985, S. 12.

  3. Vgl. dazu die Süddeutsche Zeitung vom 15. 11. 1985, S. 14, sowie Kirche und Rundfunk, Nr. 91/1985 vom 17. 11. 1985.

  4. Jürgen Pfifferling/Joachim Wiedemann, Videoboom und Fernsehkonsum — Eine erste Zwischenbilanz, in: Media Perspektiven, (1983) 8, S. 570— 581. Die hier aufgezeigte Tendenz wird durch GfK-Auswertungen über den Fernsehkonsum in 300 Fernsehhaushalten mit Videorecordern bestätigt. „In diesem Fall steigt die Fernsehnutzung (TV-Programm und Video) bei Kindern und Erwachsenen um durchschnittlich 30%.“ (Kirche und Rundfunk, Nr. 92/1985 vom 20. 11. 1985).

  5. Vgl. hierzu die zahlreichen Veröffentlichungen von Kurt Lüscher; z. B. Medienwirkung und Gesellschaftsentwicklung, in: Media Perspektiven, (1982) 9, S. 545— 555.

  6. Diese Untersuchung ist zitiert bei Ingrid Scheithauer, Das Kabel macht müde, Frankfurter Rundschau vom 10. 7. 1985, S. 10.

  7. „Die in Mainz präsentierten Ergebnisse ... sind eine Anhäufung von Banalitäten und Artefakten, die teilweise auf Suggestivfragen zurückgehen und nur noch ungläubiges Staunen hervorrufen. Bei den vier Indikatoren, mit denen man beweisen will, daß Kabelfernsehen das Familienleben harmonisch mache, tut man so, als wären nicht schon Generationen von Soziologen, Psychologen und Pädagogen mit dem komplexen Gebilde , Familie'befaßt gewesen“ (vgl. Anm. 6).

  8. Eine knappe Zusammenstellung bietet z. B. Karl-Heinz Hochwald, Neue Medien — Auswirkungen in Familie und Erziehung, Münster 1983.

  9. Vgl. Mediaforschung auf mittlerer Ebene, in: Vierteljahreshefte für Mediaplanung, (1985) 1, S. 31— 34.

  10. Ausführlicher finden sich Ergebnisse der ersten Projektphase bei Hermann Bausinger, Alltag, Technik, Medien, in: Harry Pross/Claus-Dieter Rath (Hrsg.), Rituale der Medienkommunikation, Berlin 1983; Klaus Jensen, Die Verwendung von Massenmedien im familialen Alltag, in: Kanal (Teleforum), (1983) 5; Jan-Uwe Rogge, Heidi, PacMan und die Video-Zombies, Reinbek 1985.

  11. In einer ersten Phase wurden 160 Familien (Zwei-Generationen-Haushalte) und zusätzlich 200 Kinder und Jugendliche befragt. In einer zweiten Phase (ab Herbst 1984) wurden im Raum Ulm und Umgebung 72 Haushalte mit 168 Mitgliedern interviewt. Dabei wurden die drei häufigsten Haushaltstypen in der Bundesrepublik (Zwei-Generationen-, Ein-Generationen-und Ein-Personen-Haushalte) berücksichtigt. In beiden Fällen überwogen Familien, die aufgrund der günstigen geographischen Lage der Wohnorte mehrere Fernsehprogramme empfangen konnten. Formale Programm-vielfalt war somit für viele der befragten Familien nicht erst mit der Verkabelung gegeben. Etwa 30 Familien und 40 Kinder, die in der ersten Phase befragt wurden, wurden über drei und mehr Jahre in ihrem medienbezogenen Handeln begleitet. Und auch die zweite Phase, zu der eine neue Stichprobe gezogen wurde, ist als Panel-Studie mit zwei Erhebungswellen angelegt.

  12. Methodische Hinweise zu den Vorgehensweisen finden sich in vielen Arbeitspapieren und Veröffentlichungen, z. B. in: Klaus Jensen/Jan-Uwe Rogge, Überlegungen zu einer Theorie des alltäglichen Umgangs mit Massenmedien in Familien, Tübingen 1985 (masch., erseh. 1986).

  13. Anmerkungen über den Medienmarkt für Kinder und medienbezogene Nutzungsstile von Kindern sowie methodische Anmerkungen über eine qualitative Kindermedienforschung finden sich bei Klaus Jensen/Jan-Uwe Rogge, Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik, Tübingen 1980 (Veröffentlichungen des Ludwig Uhland-Instituts).

  14. Vgl. J. -U. Rogge (Anm. 10).

  15. Vgl. Eva M. Bosch, Ältere Menschen vor dem und im Fernsehen, in: Media Perspektiven, (1981) 6, S. 461— 470. Hier finden sich weitere Hinweise. Eine Zusammenstellung bieten auch Richard H. Davis/G. Jay Westbrook, Television in the Lives of the Elderly, in: Journal of Broadcasting & Electronic Media, (1985) 2, S. 209— 214.

  16. Vgl. Eva M. Bosch, Alter — Medien — Schutz, in: Georg Wodraschke (Hrsg.), Jugendschutz und Massenmedien, München 1985.

  17. Zum Radio vgl. Josef Eckhardt, Stellenwert des Radiohörens, in: Rundfunk und Fernsehen, (1982) 2, S. 178— 188; Michael Buß, Die Massenmedien — Begleiter bei Arbeit und Freizeit, in: Media Perspektiven, (1982) 9, S. 584— 596.

  18. Dies wurde schon in sehr frühen Untersuchungen festgestellt. Vgl. dazu die in methodischer Hinsicht immer noch wegweisende Arbeit von Gerhard Maletzke, Fernsehen im Leben der Jugend, Hamburg 1959, bes. S. 170 ff.

  19. J. -U. Rogge (Anm. 10), S. 68 f.

  20. Damit ist die Vielfalt jener Probleme, die sich bezüglich der Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf den Medienumgang ergeben, nicht angesprochen. Aber der hier vorgestellte Fall läßt eine Anzahl von kritischen Gesichtspunkten durchscheinen. Eine andere Falldarstellung ist abgedruckt in: J. -U. Rogge (Anm. 10).

  21. Aus amerikanischer Sicht vgl. Sherry Turkle, Die Wunschmaschine, Reinbek 1984.

  22. Georg Seeßlen/Christian Rost, PacMan & Co, Reinbek 1984; Matthias Horx, Chip Generation, Reinbek 1984; Jürgen Fritz, Im Sog der Videospiele, München 1985.

  23. Anne Ratzki, Die technologische Revolution findet gegen die Frauen statt, in: Neue Deutsche Schule Extra, (1984) 20, S. 9 (Neue Medien und Lernen).

  24. Ausführlicher dazu z. B. Karl W. Bauer/Heinz Hengst, Wirklichkeit aus zweiter Hand, Reinbek 1978.

  25. Zur Horror-Diskussion vgl. die Beiträge zum „Video-Terror“, in: Loccumer Protokolle, (1985) 23.

  26. Siehe auch Ulrich Saxer, Führt ein Mehrangebot an Programmen zu selektivem Rezipientenverhalten?, in: Media Perspektiven, (1980) 6, S. 395- 406.

  27. Es sei erinnert an die Analyse der Kolportage von Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M. 1967; vgl. aber auch: Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte, Frankfurt/M. 1984 (zuerst 1964).

  28. Grundsätzlicher zu Begriffen wie Medienkonzept, Wissens-und Handlungskonzept: Klaus Jensen/Jan-Uwe Rogge, Überlegungen zu einer Theorie des alltäglichen Umgangs mit Massenmedien in Familien, Tübingen 1985 (masch., erseh. 1986).

  29. „Neu“ wird dabei eher unter dem Blickwinkel der Veränderung von Alltagsgewohnheiten betrachtet, denn technisch ist das Kabelfernsehen kaum etwas „Neues“. Vgl. Günter Bollinger/Martine Kahlert, Kabelpilotprojekt Ludwigshafen. Merkmale erster Teilnehmer, in: Media Perspektiven, (1985) 6, S. 464— 470.

  30. Ausführlicher dazu Jan-Uwe Rogge, Die biographische Methode in der Medienforschung, in: medien + erziehung, (1982) 5.

  31. Ergebnisse der Begleituntersuchung finden sich u. a. bei Dorothea Jansen u. a., Bildschirmtext, in: Rundfunk und Fernsehen, (1982) 4, S. 447— 465.

  32. Eine Darstellung der Videotext-Begleitforschung findet sich in: Media Perspektiven, (1985) Sonderheft 1.

  33. Auf diese Differenzen wird in der Abschlußpublikation, die für den Sommer 1986 vorbereitet wird und deren Veröffentlichung für Ende 1986 vorgesehen ist, näher eingegangen.

  34. Vgl. dazu die neueren Diskussionen in der Medienwirkungsforschung, z. B. Gerhard Maletzke, Probleme der Medienwirkungsforschung, in: Media Perspektiven, (1982) 12.

  35. Auf geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit Medien durch Mädchen wird hier nicht genauer eingegangen (vgl. dazu Anm. 33).

  36. Vgl. Ulrich Saxer, Medienverhalten und Wissensstand, in: Bertelsmann Texte 7. Buch und Lesen, Gütersloh 1978, S. 35— 69.

  37. Vgl. dazu Wolfgang Wunden, Medienethik — Medienpädagogik, Stuttgart 1985 (masch., erseh, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 1986).

Weitere Inhalte

Klaus Jensen, Dr. phil., Dipl. -Psychologe, geb. 1941; Wissenschaftlicher Angestellter am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft; Mitarbeiter in DFG-Forschungsprojekten, u. a. „Medienangebote für Kinder“, „Medienkultur“, „Alte und neue Medien im häuslichen Alltag“. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit Jan-Uwe Rogge) Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik, Tübingen 1980 (Veröffentlichungen des Ludwig-Uhland-Instituts); mehrere Publikationen zum Themenbereich „Kind, Familie und Medien“. Jan-Uwe Rogge, Dr. rer. soc., geb. 1947; Studium der Germanistik, Politischen Wissenschaft und Empirischen Kulturwissenschaft; Wissenschaftlicher Angestellter am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen; Mitarbeiter in DFG-Forschungsprojekten seit 1977, u. a. „Medienangebote für Kinder“, „Medienkultur“, „Alte und neue Medien im häuslichen Alltag“, Fortbildungstätigkeit in der Eltern-und Erwachsenenbildung. Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Sammelbänden, zuletzt u. a. „Heidi, PacMan und die Video-Zombies“, Reinbek 1985.