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Das deutsche Amerikabild seit der Weimarer Republik | APuZ 26/1986 | bpb.de

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APuZ 26/1986 Das deutsche Amerikabild seit der Weimarer Republik Die deutsch-amerikanischen Beziehungen in den Nachkriegsjahrzehnten Nach dem Neokonservatismus der Neoliberalismus?. Neuere politisch-ideologische Strömungen in den USA

Das deutsche Amerikabild seit der Weimarer Republik

Gesine Schwan

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit ihrer Entstehung galten die Vereinigten Staaten von Amerika den Deutschen als negatives oder positives Symbol. Infolge ihres Eingreifens in die europäischen Geschicke im Zuge des Ersten Weltkriegs hat sich diese symbolische Bedeutung erheblich verstärkt. Die Bilder, die sich die Deutschen von Amerika seither machen, werden maßgeblich von deren politischer Einstellung und sozialer Herkunft geprägt. Für sie lassen sich vier Indikatoren herausstellen: die liberale Demokratie, die Industrialisierung und Modernisierung, der Kapitalismus und die geistige Tradition von Rationalismus und Pragmatismus. Trotz vielfacher Facetten und gegensätzlicher, aber sich überschneidender Motive ihrer Träger kann man während der Weimarer Republik die deutschen Amerikabilder in prinzipiell proamerikanische und antiamerikanische unterscheiden. Der gemeinsame Nenner der antiamerikanischen ist die Gegnerschaft gegen den politischen und ökonomischen Liberalismus. Auf der Rechten folgt sie aus nationalistischen anti-egalitären, anti-industriellen, anti-technischen, anti-rationalistischen und anti-individualistischen Motiven, die vom Leitbild einer organischen Gesellschaft ausgehen. Auf der Linken wirken ebenfalls anti-individualistische Motive, aber im Gegensatz zur Grundidee einer egalitär-kollektivistischen Gesellschaft. Die Linke ist weder anti-industriell, noch anti-rationalistisch, noch antitechnisch. Proamerikanisch eingestellt sind die reformistischen Sozialdemokraten und Gewerkschafter, das eindeutig prorepublikanische liberale Bürgertum, technische und wirtschaftliche Berufe und eine kleine Zahl modernistischer Intellektueller. Der Antiamerikanismus findet sich bei der feudalistisch-reaktionären Rechten, beim weitgehend nationalistischen Bildungsbürgertum einschließlich der meisten Intellektuellen, bei den Kommunisten und den orthodox-marxistischen Linkssozialisten. Seit dem Ende der sechziger Jahre haben nach einer Phase des weitverbreiteten Proamerikanismus die traditionellen deutschen Leitmotive des Antiamerikanismus wieder zunehmend an Boden gewonnen. Die historische Perspektive zeigt die Gefahren deutscher Fehleinschätzung Amerikas besonders deutlich.

I. Der unwiderstehliche Einfluß Amerikas

Seit ihrer Entstehung haben die Vereinigten Staaten im Bewußtsein der Deutschen eine wichtige Rolle gespielt. Sie galten den Deutschen als negatives oder positives Symbol. Im Zuge des Ersten Weltkrieges jedoch, in den die Amerikaner entscheidend eingriffen und in dessen Folge ihr wirtschaftlicher und politischer Aufschwung sich den Europäern unverkennbar zeigte, verstärkte sich das Interesse der Deutschen für die Vereinigten Staaten noch einmal merkbar. Um die Bedeutung des deutschen Amerikabildes — oder eher der Amerikabilder, wie wir sehen werden — zu verstehen, muß man sich daher das enorme wirtschaftliche und politische Gewicht vor Augen führen, das Amerika in diesem Zeitraum in der Wahrnehmung der Deutschen gewonnen hat: Gegenüber einer Weltmacht hat man andere Gefühle oder Ressentiments als gegenüber einer kleineren Macht — man verspricht sich etwas von ihr oder man fürchtet sie; es ist schwieriger, ihr gegenüber einen nüchternen Blick zu bewahren.

Dies gilt um so mehr, als sich der Einfluß Amerikas nicht auf einzelne ökonomische oder politische Handlungen beschränkt. Von ihrem Ursprung her sind die Amerikaner den Europäern zu sehr verwandt, als daß diese gegenüber der sozialen, wirtschaftlichen, technologischen oder kulturellen Entwicklung Amerikas gleichgültig bleiben könnten. Was in Amerika geschieht, ist von Europa ausgegangen und bezeichnet die Richtung, in die Europa selbst seine Entwicklung nehmen könnte. Der neue Kontinent hat den alten überholt — das ist unangenehm, vielleicht sogar demütigend, vielleicht auch ermutigend, auf jeden Fall ist es aber für die Zukunft Europas wichtig. Und es handelt sich dabei um einen indirekten und deshalb oft geradezu unwiderstehlichen Einfluß.

II. Indikatoren und Faktoren des deutschen Amerikabildes

Es ist daher einsichtig, daß auch das Amerikabild der Deutschen nicht nur — vielleicht sogar eher weniger — von der Entwicklung, von den Tatsachen in Amerika selbst abhängt, sondern vor allem von der Haltung der Deutschen gegenüber ihrer eigenen Gegenwart, ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft bestimmt ist. Daher muß man auch eher von den Amerikabildern in der Mehrzahl sprechen. Die wichtigsten Faktoren, die diese Bilder modellieren, sind zum einen die verschiedenen politischen, sozialen, ökonomischen und ideologischen Positionen, denen die Deutschen anhängen, zum anderen die wichtigsten Ereignisse in den deutsch-amerikanischen Beziehungen während der Periode der Weimarer Republik.

In bezug auf die Politik entscheidet vor allem die Haltung zur liberalen Demokratie darüber, wie man die Vereinigten Staaten wahrnimmt. Es versteht sich von selbst, daß die antidemokratische Rechte ebenso wie die kommunistische Linke die USA von vornherein unter einem pejorativen Blickwinkel betrachtet. Hinsichtlich der sozialen Zugehörigkeit sind es vor allem jene, die sich durch den Fortschritt der Industrialisierung und der Modernisierung bedroht fühlen, die den amerikanischen Einfluß fürchten und sich ihm entgegenstellen: Das soziale Leben in den Vereinigten Staaten erscheint ihnen leer, anonym, entfremdet. In bezug auf die Wirtschaft stellt natürlich das kapitalistische System die Wasserscheide dar. Eine solche eindeutige Trennlinie gibt es für die ideologischen Positionen nicht; jedenfalls ist es schwieriger, sie genau zu bezeichnen. Ein Kristallisationspunkt zur Entscheidung über das Für oder Wider ist wahrscheinlich die Tradition des Rationalismus und des Empirismus, d. h. die Rationalität der wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Kommunikation sowie der Pragmatismus. Ein Blick auf die vier Indikatoren: die liberale Demokratie, die Industrialisierung und Modernisierung, den Kapitalismus und die Mischung von Rationalismus und Pragmatismus zeigt sicherlich, daß hier differenziert werden muß; darüber hinaus sind die Trennungslinien zwischen den verschiedenen Positionen nicht klar: Es kann zu Verbindungen oder zu partiellen Koalitionen zwischen Haltungen kommen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben. Reaktionäre Vertreter aus dem Adel, für die etwa Graf Keyserling steht, können beispielsweise ihre Verachtung für die Vereinigten Staaten mit der ideologischen Gegnerschaft verbinden, die Kommunisten und orthodoxe Marxisten den USA entgegenbringen — natürlich aus sehr unterschiedlichen Motiven. Und auch die Tatsache, zum Bürgertum zu gehören, entscheidet noch nicht über das Amerikabild: Das Bildungsbürgertum, das sowohl gegenüber der liberalen Demokratie als auch gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft distanziert bleibt, bringt dem „oberflächlichen“, „materialistischen“ und „kulturlosen“ Amerika Mißtrauen und Furcht entgegen; das liberale und im technischen Bereich tätige Bürgertum sieht hingegen dort seine Zukunft. Die vier Indikatoren gelten im übrigen nicht nur für Amerika, sondern für den Westen im allgemeinen, wenn auch für die angelsächsische Welt im besonderen. Daher kann es nicht überraschen, daß so manches Amerika-bild zuvor am Beispiel Großbritanniens model-liert worden war, das unter dem Gesichtspunkt der politischen Machtfülle und der wirtschaftlichen Bedeutung vor dem Krieg den Platz Amerikas eingenommen hatte. Großbritanniens Niedergang führt dazu, daß man seine Ängste und Hoffnungen nun auf den Neuankömmling auf der europäischen politischen Szene richtet.

Schließlich tragen eine Reihe von Ereignissen in den deutsch-amerikanischen Beziehungen zur Entstehung und manchmal auch zur Veränderung der Bilder bei, die man sich in Deutschland von Amerika macht: Dazu gehören vor allem die Politik des Präsidenten Wilson und sein Scheitern in Versailles, die Frage der Reparationen und vor allem der Dawes-Plan, die Heraufkunft des soge-nannten Fordismus und des Amerikanismus seit 1924 und schließlich der Börsenkrach in New York von 1929. Insbesondere haben die Enttäuschung über Wilson, aber auch eine Welle des Pro-Amerikanismus seit 1924 heftige Reaktionen hervorgerufen.

Kann man angesichts der genannten unterschiedlichen Indikatoren und Faktoren sowie ihrer möglichen vielfachen Verbindungen im Zuge unterschiedlicher politischer Ereignisse überhaupt einigermaßen beständige und repräsentative Amerikabilder zeichnen? Ich will dies im folgenden versuchen, indem ich typische Korrelationen herausstelle, ohne damit den Anspruch zu erheben, die ganze Weimarer Szene darzustellen.

III. Wohlwollende Amerikabilder

1. Der Vorrang der liberalen Demokratie Auf der politischen Ebene sind es vor allem die Liberalen und die Mehrheit der Sozialdemokraten, die Amerika positiv gegenüberstehen. Ihnen gilt Präsident Wilson wegen seines Ideals der Demokratie als positives Symbol; sie teilen seine Grundsätze des Völkerrechts. Karl Kautsky, der die Vereinigten Staaten vor dem Krieg als das „liberalste Land in der ganzen kapitalistischen Welt“ bezeichnet hat, stellt eine wesentliche Verwandtschaft zwischen dem Programm Wilsons und dem der Sozialdemokraten heraus Da Wilson jedoch zur Bourgeoisie gehört und Präsident eines kapitalistischen Landes ist, muß man diese Verwandtschaft über das demokratische Ideal hinaus rechtfertigen: So wird Wilson zum Vertreter der großen Mehrheit der antikapitalistischen Massen in Amerika.

Die Liberalen, die selber zum Bürgertum gehören, brauchen hingegen solche Rechtfertigungen nicht Der Unterschied zwischen Sozialdemokraten bzw. Sozialisten einerseits und Liberalen andererseits wird auch in der Enttäuschung über den Versailler Vertrag deutlich: Während die Sozialisten Wilsons Niederlage in den Kategorien einer materialistischen Interpretation erklären können, in der das kapitalistische System und die ökonomischen Interessen die Handlungsfreiheit des einzelnen Politikers von vornherein einschränken, fühlen sich die Liberalen persönlich ent-und getäuscht. Sie haben all ihre Hoffnung in diesen Politiker gelegt und sehen sich nun von Wilson geradezu persönlich düpiert. Um sein Verhalten zu erklären, greifen sie auf psychologische und moralische Kategorien zurück; sie werfen ihm vor, seine Prinzipien verraten zu haben, noch schärfer: scheinheilig zu sein

Die Anklage der Scheinheiligkeit, der Hypokrisie, findet sich übrigens als traditioneller Vorwurf bei jenen wieder, die gegenüber Amerika generell Feindseligkeit empfinden. Ihnen zufolge dienen alle vorgebrachten Vorstellungen von Moral und christlichem Idealismus in Amerika in Wahrheit dazu, einen ökonomischen Materialismus zu verschleiern, der skrupellos seine Vorteile verfolgt. Diejenigen dagegen, die mit Amerika sympathisieren, sprechen nicht von Scheinheiligkeit, sondern von Gegensätzen zwischen idealistischen und materialistischen, zwischen pazifistischen und imperialistischen Kräften in Amerika. Solche Gegensätze seien in einem Land von der Ausdehnung eines Kontinents nicht überraschend. Zugleich unterstreichen die Sympathisanten, daß dieses Land nicht nur die schlimmsten Mißbräuche hervorbringt, sondern auch die schärfsten Kritiker dieser Mißbräuche

Festzuhalten ist immerhin, daß sowohl Sozialdemokraten als auch Liberale die Demokratie und das liberale Recht in Amerika über ihre ideologischen Reserven und politischen Enttäuschungen stellen. Sie werden es sein, die die amerikanische Hilfe im Laufe der Dawes-und Young-Pläne begrüßen werden. Sie sind es auch, die mit Blick auf die beiden politischen Pole — die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten — die Orientierung der deutschen Politik gen Westen unterstützen werden, Locarno mehr als Rapallo. 2. Amerikanisches Wirtschaftswunder und Fordismus Dieser Vorrang, der dem politischen Liberalismus eingeräumt wird, findet sich auf der ökonomischen und sozialen Ebene einerseits bei den Gewerkschaftsführern, andererseits bei den Unternehmern, Ingenieuren und den Technikern wieder: „Wenn es für den Neuaufbau der Wirtschaft irgendwo in der Welt ein Objekt des Studiums gab, so waren dies die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Mit dieser Feststellung leitet eine Gruppe von Gewerkschaftsführern, die Amerika im Jahre 1925 besuchten, einen Bericht über ihre Reise ein, die sie unternommen hatten, um die Gründe für das sogenannte amerikanische Wirtschaftswunder sowie die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Arbeiter aus der Nähe zu betrachten. Dieser Bericht gehört in den Kontext einer reichhaltigen Literatur von Reiseberichten unter anderem über technische und wirtschaftliche Erkundungsreisen, die seit dem Ende des Krieges veröffentlicht worden waren und die vor allem seit dem Dawes-Plan im Jahre 1924 eine Welle des begeisterten Amerikanismus auf der einen und scharfe antiamerikanische Reaktionen auf der anderen Seite auslösten.

Mit der festen Absicht, die Augen offenzuhalten und sowohl die negativen als auch die positiven Aspekte der amerikanischen Wirklichkeit festzuhalten, begaben sich die Gewerkschafter auf die Reise. Beeindruckt sind sie vor allem vom hohen Lebensstandard in den USA. Dessen Ursprung sehen sie nicht nur im natürlichen Reichtum des neuen Kontinents, sondern vor allem in der Arbeitsorganisation, in der Technik, in der Massenproduktion und in der Tatsache, daß die großen Unternehmer selbst den makroökonomischen Wert eines hohen Lohnniveaus der Arbeiter erkannt haben Darüber hinaus fällt ihnen die größere soziale Mobilität der amerikanischen Gesellschaft auf: Die Trennung zwischen den sozialen Gruppen und Schichten ist weit weniger deutlich als in Deutschland, der Umgang zwischen Arbeitern und Unternehmern ist weniger autoritär, die sozialen Stufen sind noch nicht versteinert, denn nur das Geld zählt für das gesellschaftliche Ansehen; und schließlich sind die amerikanischen Frauen in ihrer Emanzipation erheblich weiter gelangt als die deutschen

Hier zeigt sich deutlich, wie charakteristische Erscheinungen Amerikas sowohl negativ als auch positiv bewertet werden können: Während die Massenproduktion und die fast ausschließliche Bedeutung des Geldes für das soziale Ansehen im Bildungsbürgertum und bei vielen Intellektuellen Abscheu erregen, stellen sie in der Sicht der Gewerkschafter zumindest auch Vorteile dar; sie erlauben es, die Lebensbedingungen eines großen Teils der Bevölkerung zu verbessern und begünstigen die soziale Mobilität. Hier wird der Unterschied offensichtlich zwischen der Perspektive derer, die zu gewinnen hoffen, und derer, die durch die neuen sozialen und ökonomischen Tendenzen in Amerika zu verlieren glauben.

Auf der anderen Seite kritisieren die Gewerkschafter den antisozialen Charakter der damaligen amerikanischen Rechtssprechung und sind betroffen über die diesbezügliche öffentliche Indifferenz. Die Verschwendung in vielen Unternehmen erscheint ihnen schädlich, und sie erkennen am Horizont die Gefahr einer Überproduktionskrise Aber sie fügen hinzu, daß es Amerikaner sind, die diese Probleme und Mißbräuche am systematischsten und am klarsichtigsten analysieren und kritisieren Diese Kritik zeugt den Gewerkschaftern zufolge von einem gesellschaftlichen Verantwortungsbewußtsein, nach dem man bei deutschen Unternehmern lange suchen müßte In ihrer Zusammenfassung unterstreichen die Gewerkschafter, daß von einem sozialen Frieden in Amerika keine Rede sein kann und daß ihre Beobachtungen sie nicht mit dem Kapitalismus versöhnen konnten. Ihrer Meinung nach haben die amerikanischen Gewerkschaften jedoch gezeigt, daß die kapitalistische Wirtschaft nicht einem fatalen Naturgesetz folgt, das man ohne weiteres hinnehmen müßte. Im Gegenteil: Man kann im Schoße des Kapitalismus selbst die Situation der Arbeiter deutlich verbessern

Dies ist das typische Bild der Reformisten: Sie gehen aus von einer Apriori-Sympathie für die amerikanische Freiheit; sie suchen und schätzen den ökonomischen und sozialen Fortschritt und versuchen, die Erfahrungen für ihre eigene Strategie fruchtbar zu machen, ohne jedoch die Mißbräuche und Gefahren einer unbegrenzten ökonomischen Freiheit zu übersehen.

Auf der Seite des Bürgertums, der Unternehmer, Ingenieure und Techniker findet man ein symmetrisches Bild; deren Einwände stehen zu den gewerkschaftlichen komplementär. Das amerikanische Wirtschaftswunder fasziniert sie wegen des enormen materiellen Aufschwungs und wegen der außergewöhnlichen Profite, aber auch, weil es eine Lösung für die soziale Frage anzubieten scheint, die allzu viele soziale Maßnahmen und vor allem den Sozialismus vermeidet. Henry Ford und sein sogenannter Fordismus, den er in sei-nem 1923 in Deutschland erschienenen Buch „Mein Leben und mein Werk“ propagiert, dienten ihnen als Modell. Seine Idee der perfekten Organisation und der Standardisierung der Produktion, die eine Massenproduktion ermöglichen, welche die Kosten und die Preise radikal zu kürzen erlaubt und zugleich die Erhöhung der Löhne und der Profite gestattet, stellt sich ihnen als Lösung der sozialen Frage dar. Sie schätzen Fords Gegnerschaft gegen soziale Hilfen im Falle der Arbeitslosigkeit und der Not und seine Methoden, die Arbeiter so zu befriedigen, daß die Gewerkschaften überflüssig werden Sie beziehen (und damit unterläuft ihnen ein Mißverständnis) seine Idee des „Service“ auf die preußische Tugend des „Dienstes“ und nähern sich so der Spenglerschen Formel vom „preußischen Sozialismus“ Kurz: Sie verlangen, daß Deutschland sich amerikanisieren solle — der Amerikanismus ist ihnen zufolge die Losung für Deutschland Weniger sagt ihnen zu — und hier zeigt sich, daß ihr Bild dem der Gewerkschafter und der sozialistischen Reformer komplementär ist —, daß Ford die Erhöhung der Gehälter nicht nur als zentrales Element jeder effektiven Untemehmenspolitik preist, sondern auch als Motor der Volkswirtschaft Hier wird eine Nachfragepolitik propagiert, die eher zum Instrumentenkasten der Sozialdemokraten gehört.

Charlotte Lütkens, eine sozialistische Soziologin, die zu den wichtigsten Amerikaspezialisten dieser Zeit zählt, formuliert einige Jahre später von systematisch-marxistischer Warte aus eine scharfsinnige Kritik dieses von deutschen Kapitalisten gepriesenen Amerikanismus. In ihrem Artikel „Die Amerikalegende“ bezeichnet sie das Bild eines liberalen Kapitalismus, der die unterschiedlichen Interessen mit Hilfe der Rationalisierung der Produktion und mit Hilfe kooperativer Methoden auf der Unternehmensebene harmonisieren würde, als eine Legende, die nur dazu diene, die Arbeiter vom Sozialismus abzubringen. Diese Legende hat jedoch ihr zufolge nicht nur den Fehler, daß deren Anhänger den Börsenkrach im Jahre 1929 nicht erklären können, da sie die Abschaffung aller kapitalistischer Krisen und die Interessenharmonisierung gepredigt hatten; ihr Problem liegt darüber hinaus darin, daß jene den deutschen Arbeitern nahelegen könnten, die Amerikaner nicht nur in bezug auf die Produktionsrationalisierung, sondern auch hinsichtlich des hohen Lohnniveaus nachzuahmen. Von diesem Augenblick an aber, so Charlotte Lütkens, erscheint die Standardisierung der Produktion, die zuvor in den strahlendsten Farben gemalt worden war, plötzlich in einer dunklen Tönung, weil ihre Ergebnisse angeblich eine kalte Atmosphäre unpersönlicher und fremder Aggressivität in die sozialen Beziehungen der Deutschen tragen würden. Nach Charlotte Lütkens spiegelt dieses Bild der Vereinigten Staaten nur die Interessen und Ängste derer wider, die es zeichnen: „So schiebt man Amerika unter, was wesentlich das eigene Problem ist. Vielleicht tut man niemals etwas anderes, wenn man ein fremdes Volk betrachtet.“ In dieser Kritik der amerikanischen Standardisierung erkennt Charlotte Lütkens im übrigen ein Zusammentreffen kapitalistischer Interessen mit denjenigen einer Gruppe wichtiger Intellektueller, die ihrerseits geradezu ein Phantom des kulturellen und sozialen Lebens in den Vereinigten Staaten beschwören: Ihr Antiamerikanismus sei weit entfernt von der amerikanischen Wirklichkeit; er übertreibe die Unterschiede zwischen Europa und Amerika und sei lediglich das Resultat ihrer Furcht, das kulturelle und gesellschaftliche Prestigemonopol, das sie in Deutschland noch innehaben, zu verlieren.

Bevor ich mich in einem nächsten Schritt diesem antiamerikanischen Amerikabild zuwende, ist es jedoch geboten, die Argumente derjenigen Intellektuellen etwas näher zu betrachten, die mit Amerika sympathisieren. 3. Sympathie modernistischer Intellektueller Die Zahl der Intellektuellen, die mit dem kulturellen und gesellschaftlichen Leben in Amerika sympathisieren, ist nicht sehr groß. Ihnen gefällt die natürliche und klare Einfachheit des Lebensstils, die Solidarität und der Sinn für Verantwortung, den sie in der Gemeinde und der Nachbarschaft vorfinden, ein grundsätzliches und weitverbreitetes Wohlwollen in allen persönlichen Beziehungen. Anstatt sich in ausweglosen Spekulationen zu verlieren, beweise die intellektuelle Neugier der Amerikaner einen bewundernswerten praktischen Sinn und eine unerschöpfliche Jugend, eine optimistische Aktivität, die bereit sei, zu kämpfen und Risiken einzugehen. Den Amerikanern eigne eine vorzügliche Urteilsfähigkeit, ihr Pragmatismus helfe ihnen, dort zum Handeln überzugehen, wo sich die Europäer mit dem Nachdenken begnügten

Einige empfehlen den Deutschen, diese Haltung und Einstellung zu übernehmen, um die geistige und politische Zerrissenheit, die für Weimar so typisch sei, zu überwinden

Der berühmte Literaturkritiker Alfred Kerr gehört zu jener kleinen Schar intellektueller Amerikasympathisanten. Er begeistert sich für New York, aber auch für Kalifornien: „Du spürst in Californien nicht nur die Wonne des blauen Himmels (der bekanntlich lacht): sondern die Wonne letzt-errungenen Menschenfortschritts; und letzt-ersonnener Arbeitsmöglichkeit.“ In bezug auf New York notiert er: „Eine neue Liebe lebt in meinem Herzen: sie heißt New York“; und er erläutert: „Aber ich liebe Bahnen, die eilen; Wannen, die sich füllen; und Lifts, die gehn“ In bezug auf den typischen Amerikaner schreibt er: „Der wagnisernsteste Mensch ist heute der Yankee. Beispiellos als Plänefasser. Beispiellos als Durchführer. Held ohne Pathos. (Dabei sanft... im Vergleich mit uns).“

Im Vorwort zu seinem Buch „Yankee-Land“ wendet er sich gegen die gerade beginnende Welle des Antiamerikanismus vieler Intellektueller und stellt fest: „Europa schimpft. Seltsam, wie seine Menschen doch erpicht sind, Yankees zu werden. Wie durchaus keiner zurück will in die alte Heimat ... Es muß doch einen Grund haben.“ Und: „Dies Buch betrachtet Amerika nicht unter dem Gesichtspunkt: „Aber Upton Sinclair! * (Ich betrachte Venedig nicht unter dem Gesichtspunkt: , Aber wie schmutzig).“

Wenn Alfred Kerr Upton Sinclair erwähnt, macht er nicht zufällig eine Anspielung auf Bert Brecht. Kerr hatte Weine Vorliebe für Brecht, der aber für Upton Sinclair. Doch Brecht hatte Amerika nicht immer mit dem Blick dieses amerikanischen Amerikakritikers gesehen. Begonnen hatte er als leidenschaftlicher Anhänger des neuen Kontinents. Im Laufe seines Lebens wechselte er jedoch vom Pro-Amerikanismus zum Anti-Amerikanismus. Mit dem Nachvollzug dieser Entwicklung können wir zur Darstellung jener übergehen, die in den Vereinigten Staaten vor allem eine Gefahr für Deutschland und damit einen Gegner sehen.

IV. Die Gegner Amerikas

1. Intellektuelle Kulturkritik an Amerika Am Ende des Ersten Weltkrieges teilt Bert Brecht in bezug auf Europa die Enttäuschung und den desillusionierten Pessimismus zahlreicher Intellektueller seines Alters. 1920 notiert er: „Wie mich dieses Deutschland langweilt! Es ist ein gutes mittleres Land, schön darin die blassen Farben und die Flächen, aber welche Einwohner! Ein verkommener Bauernstand, dessen Rohheit aber keine fabelhaften Unwesen gebiert, sondern eine stille Vertierung, ein verfetteter Mittelstand und ... matte Intellektuelle! Bleibt: Amerika!“ An anderer Stelle heißt es: „Deutschland, du Blondes Bleiches Nimmerleinsland! Voll von Seeligen! Voll von Gestorbenen! Nimmermehr, nimmer-mehr schlägt dein Herz, das Vermodert ist, das du verkauft hast Eingepökelt in Salz von Chile und hast dafür Fahnen erhandelt! Oh Aasland, Kümmernisloch! Scham würgt die Erinnerung und in den Jungen, die du Nicht verdorben hast, Erwacht Amerika!“

Auch Brechts Zeitgenosse Gottfried Benn bringt seine Enttäuschung über Europa und seine Hoffnung auf die Jugendlichkeit Amerikas und dessen sogenannte Männlichkeit plastisch zum Ausdruck: „Alaska Europa dieser Nasenpopel auf einer Konfirmandennase, wir wollen nach Alaska gehen. Der Meermensch, der Urwaldmensch, der alles aus seinem Bauch gebiert, der Robben frißt, der Bären totschlägt, der den Weibern manchmal was reinstößt: der Mann.“

Amerika, das er erst 1935 zum ersten Mal besuchen wird, bedeutet für Bert Brecht zunächst das Symbol der Kraft, einer kämpferischen Mentalität, des sportlichen und fairen Duells (Brecht schwärmt für das Boxen), der Nüchternheit, des technischen Fortschritts, des Sinns für das Praktische, der Effektivität, des Optimismus, der Nonchalence, der Großzügigkeit, des kalten und undurchdringlichen „Poker-face“, des starken Individuums, das sich nicht durch die Gesetze gebunden fühlt Aber ab 1926, als die Amerikabegeisterung in Deutschland auf ihrem Höhepunkt ist, beginnen diese zuvor bewunderten Seiten Amerikas eine negative Bedeutung anzunehmen. Er hat inzwischen die Biographien großer amerikanischer Kapitalisten gelesen und sich der kommunistischen Linken genähert; er beginnt mit der Lektüre des „Kapital“ von Karl Marx, beobachtet das rasante Wachstum der großen Städte (New York, Chikago usw.), und das Bild des Dschungels, das früher durchaus positive Assoziationen eines un-sentimentalen Kampfes weckte („Im Dickicht der Städte“), erhält nun immer erschreckendere Züge. Amerika wird zum Symbol der Grausamkeit und der sozialen Kälte, der Entfremdung, der Oberflächlichkeit („Girl“, „Keep Smiling“), der Herrschaft des Geldes und der Ware (Reklame), der christlichen Heuchelei, die nur dem Profit dient (z. B. bei der Heilsarmee), des Verbrechens, kurz: des Kapitalismus

Dieses Bild verdunkelt sich für Brecht mehr und mehr, und im Laufe der dreißiger Jahre hat die Sowjetunion Amerika als Symbol des Fortschritts und der Humanität ersetzt, ohne daß Brecht daraus allerdings für sein eigenes Leben Folgerungen ziehen würde: Emigrieren wird er in die USA, nicht in die Sowjetunion. Aber Hollywood, überhaupt Kalifornien, wo er während des Krieges lebt, widert ihn nicht nur an, weil die Kunst wie eine einfache Ware behandelt wird. Die Tatsache, daß die Natur dort erst das Ergebnis menschlicher Arbeit und Technik ist, geht ihm gegen den Strich. Ohne künstliche Bewässerung gäbe es keine überbordende Vegetation, sondern nur die Wüste, die man dort zuvor fand. Diese „Natur“ ist nicht „natürlich“, sie ist „produziert“, und Brecht sucht überall ihre Preisschildchen. Dies sei ein künstliches Paradies, auch eine Ware. „Kein Wunder, daß etwas unedles, infames, würdeloses allem Verkehr von Mensch zu Mensch anhaftet und von da übergegangen ist auf alle Gegenstände, Wohnungen, Werkzeuge, ja auf die Landschaft selber.“

Diese Bemerkungen tragen natürlich die Züge der Enttäuschungen eines Emigranten, und sie wurden erst in den vierziger Jahren notiert, also erst nach dem Ende der Weimarer Republik; aber wenn man sie etwa mit der Kalifornien-Begeisterung Alfred Kerrs vergleicht, so zeigen sie deutlich, daß vor allem bei den Intellektuellen die jeweilige subjektive Perspektive das Amerikabild stark beeinflußt. In den fünfziger Jahren wird Brecht endgültig Partei nehmen: „Die Fehler der Russen sind Fehler von Freunden, die Fehler der Amerikaner sind Fehler von Feinden.“

Mit dem halb marxistischen, halb romantischen Verdikt, das Bert Brecht über Amerika im allge-meinen und den künstlichen Charakter der „produzierten“ kalifornischen Landschaft im besonderen spricht, hat dieser Linksintellektuelle viel mit den Rechtsintellektuellen seiner Zeit, mit dem Bildungsbürgertum überhaupt gemeinsam. Ihnen bedeutet der Amerikanismus den Verlust aller Tradition, die vollständige Nivellierung. Die Individuen, die Personen verlieren sich in der Masse, die persönlichen Beziehungen fallen der Sucht nach dem materiellen Erfolg zum Opfer, die moralischen Werte finden sich durch den einzigen Wert des Geldes verdrängt, alles ist standardisiert, es gibt keinen freien Willen, keine Seelentiefe mehr. Die Wirtschaft und die Technik beherrschen alles: Das Denken steht allein im Dienst der Praxis und der materiellen Interessen, alle Theorie wird auf diese Weise pervertiert; der Mensch wird zur Maschine, zur Wahlmaschine, zu einem Produktionsapparat. Anstelle von Personen finden sich in Amerika nur Roboter „Ist es noch schwer, die einander ausschließende Gegensätzlichkeit der beiden Kontinente zu erkennen — die europäische Welt der Charaktere, der plastischen Symbole und des im Volkstum wurzelnden Gemeinschaftsgeistes, der die Musik zum Sprechen, den Stein zum sinnvollen Ebenbilde und das Leben zum tausendfältigen Gleichnis zwingt? — und wiederum: Ein Amerika der Maschinenmenschen, das aus dem einen Grundprinzip des Erfolges eine Wertordnung von beleidigender Dürftig-seit ableitet und das Leben seiner ewigen Geheimisse beraubt?“ So fragt Adolf Haifeld für viele Antiamerikaner in seinem Buch „Amerika und ier Amerikanismus“

Diese Klischees nehmen die Entgegensetzung 'wischen Kultur und Zivilisation auf, die Oswald Spengler bereits am Beispiel der Römer und Griechen aufgestellt hatte: Amerika, ganz allgemein der Materialismus des Westens, spielt die Rolle der Römer, Deutschland und Europa diejenige der Griechen. Dabei verwenden die Rechtsintellektuellen das Vokabular der politischen Romantik und des nationalistischen Konservatismus mit allen antiliberalen, antiindustriellen und antikapitalistischen Ressentiments, die man bei der politischen deutschen Rechten kennt. In seiner gründlichen Studie des deutschen Amerikabildes der zwanziger Jahre kommt Peter Berg zu folgendem Resümee: „Im gesamten Bürgertum, ungeachtet seiner engeren Parteizugehörigkeit, besteht so eine aus dem Empfinden einer tiefen wesensmäßigen Verschiedenheit entspringende, kritische Einstellung gegenüber Amerika.“ 2. Der Vorwurf des Dollarimperialismus Im wirtschaftlichen Bereich wächst die Opposition gegen die Vereinigten Staaten ab 1924, d. h.seit dem Dawes-Plan. Man beginnt, den Einfluß des amerikanischen Kapitals, das durch verschiedene Regelungen dieses Plans auf den deutschen Markt drängt, zu fürchten. Parallel zu den Amerika-und Fordbegeisterten, die wir zunächst vorgestellt haben, gibt es nun auch jene Deutschen, die beklagen, daß ihr Land zur Beute des „Dollar-Imperialismus“ wird. In dieser Hinsicht gehen die extreme Linke und die extreme Rechte zusammen.

In einer Reichstagsrede beklagt die kommunistische Abgeordnete Clara Zetkin Deutschlands „Kolonisierung“, die von Frankreich, Großbritannien und Amerika betrieben werde. Sie erhält den Beifall auch der Rechten Allein aufgrund ihres Geldes werden in dieser Sicht die Amerikaner die zukünftigen Herren der Welt sein, und keine Moral, die sie ansonsten predigen, wird ihren gierigen Imperialismus bremsen. Die ökonomische Analyse, die diesem Bild die theoretische Grundlage liefert, kommt von der sozialistischen und kommunistischen Linken. In der marxistischen Analyse von Arthur Salz verhält sich der amerikanische Imperialismus in Europa genauso wie in Lateinamerika. Die Notwendigkeit, Mehrwert zu schaffen, zwinge zum expansionistischen Dollar-Imperialismus Auf dieser Folie verdient der Hinweis der reformistischen Gewerkschafter in ihrem Amerikabericht Beachtung, daß die Amerikaner in der Entwicklung eines Binnenmarktes einen Weg gefunden hätten, ihr Kapital auch ohne Imperialismus profitabel werden zu lassen, und zwar durch die Erhöhung der Löhne. Diesen Gewerkschaftern zufolge hätte diese Entwicklung daher gerade gezeigt, daß die Amerikaner eben nicht zum Expansionismus und zur Unterwerfung fremder Märkte gezwungen seien

Die deutsche Kritik am Dollar-Imperialismus gewinnt zusätzliche politische Wirkung und Popularität durch eine marxistische Analyse, die von amerikanischen Sozialisten unter dem Titel „Dol-lar-Diplomatie" veröffentlicht wird und im Jahre 1927 in Deutsch erscheint Nicht nur der Linken, sondern auch der Rechten dient sie als Kronzeuge gegen den amerikanischen Imperialismus, den die Rechte vor allem in bezug auf den Versailler Friedensvertrag und die ungerechte Reparationslast attackiert. Die amerikanische Studie enthülle den skrupellosen Expansionismus der Vereinigten Staaten und zeige, daß Deutschland sich unter ihrer Herrschaft bald in der Situation Lateinamerikas befinden werde

Aber während die Linke im Dollar-Imperialismus vor allem das ökonomische System des Kapitalismus brandmarkt, aus dem Imperialismus und Ausbeutung notwendig folgten, betont die Rechte in diesem Zusammenhang den Verlust der nationalen Unabhängigkeit und die Zerstörung der deutschen Kultur durch die , amerikanischen Barbaren*. Es wäre interessant, die ökonomischen Ideen, die dieser nationalistischen Kulturkritik zugrunde liegen, genauer zu verfolgen. 3. Das politische System der Amerikaner:

Korruption, Heuchelei, außenpolitische Unberechenbarkeit

Für Amerikaner wie für Nicht-Amerikaner steht im Zentrum des politischen Systems der Vereinigten Staaten die Freiheit; gleichwohl ist sie eng an Eigentum, Wirtschaft, Handel, kurz an materielle Interessen gebunden. Diese Interdependenz ideeller und materieller Aspekte der amerikanischen Freiheit ist es, die Mißtrauen, Kritik, ja Verachtung bei einer großen Zahl von Deutschen hervorruft. Überwiegend in der Tradition der Philosophie des deutschen Idealismus aufgewachsen, haben sie sich angewöhnt, Staat und Freiheit als etwas zu betrachten, das von der Sphäre der materiellen und egoistischen Interessen abgehoben sein müßte. Die amerikanische Nonchalance, das Gute mit dem Nützlichen zu verbinden, schokkiert sie infolgedessen. Korruption und Heuchelei erscheinen ihnen als die zentralen Merkmale dieser entarteten politischen Freiheit. So setzen sie oft die sogenannte deutsche, d. h. die . ehrliche* Freiheit der , heuchlerischen* der Amerikaner und der Angelsachsen überhaupt entgegen, welche die großen humanitären Werte allein in den Dienst der politischen Macht und des wirtschaftlichen Profits stellten Max Weber unterstreicht die Tatsache, daß die amerikanischen Parteien allein materielle Interessen verfolgten, also keine Gesinnungsparteien seien. Zugleich hebt dieser hochrangige Gelehrte jedoch hervor, daß das amerikanische politische System, dieses System der „Parteibosse“, für den Präsidentenposten unabhängige und intelligente Kandidaten hervorbringe, weil es dieser Typ von Menschen sei, der die Zustimmung der Bevölkerung gewinne

Ein Teil der deutschen Rechten sieht übrigens in Amerikas Hochschätzung der humanitären Werte und der Naturrechte, zu denen die Freiheit gehört, ein Hindernis für eine Politik, die dem wahren Bedürfnis der Völker eher entspräche: eine Politik, in der das Recht der Jugend und der Macht entscheiden müßte

In der Folge dieses Gedankens finden wir häufig den Vorwurf, daß die Amerikaner unfähig seien, eine Synthese zwischen den von ihnen proklamierten Idealen und den Notwendigkeiten der Realpolitik zu finden. Man kritisiert ihre „sprichwörtliche“ Naivität, ihre Moralisiererei ohne politische Weisheit und ohne Weltkenntnis. Diese Nachteile, so heißt es, würden noch durch das demokratische System verstärkt, welches der wankelmütigen öffentlichen Meinung einen viel zu großen Einfluß auf die Politik einräume, wodurch diese letztlich unberechenbar werde

V. Gab es während der Weimarer Republik einen Antiamerikanismus in Deutschland?

Bevor wir auf diese Frage antworten, ist es geboten, den Begriff „Antiamerikanismus“ genauer zu bestimmen. Sicher kann man darunter nicht eine spezifizierte Kritik der Geschichte bzw.des politi-sehen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder kulturellen Lebens in den Vereinigten Staaten verstehen. Ich nenne Antiamerikanismus eine sehr häufig halb rationale, halb emotionale Ablehnung dessen, was man für das Wesen Amerikas hält: eine Apriori-Negation, die sich auf Klischees stützt, die wie alle Klischees Anhaltspunkte in der Wirklichkeit finden, die man aber im einzelnen der Prüfung durch Fakten oder durch Überlegungen, die sie relativieren könnten, nicht aussetzt. Aber was ist denn das Wesen Amerikas? Was ist der sogenannte Amerikanismus?

Vor dessen näherer Bestimmung erscheint es nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, daß die Amerikaner sich selbst auf den Amerikanismus als das Wesen ihres nationalen Lebens berufen, der ihnen als Symbol für ihre Weltmission dient: Es ist das Symbol der Freiheit und der Humanität, im Bild: der „Stadt auf dem Berge“, womit sie auf Jerusalem anspielen

Seit ihrer Gründung ist in den Vereinigten Staaten dieser missionarische Wunsch oder auch diese missionarische Anmaßung, der Menschheit als Wegweiser für Humanität und Fortschritt zu dienen, lebendig. Nach dem Ersten Weltkrieg wird er durch einen außergewöhnlichen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung unterstrichen und erhält so in Europa ein zusätzliches Gewicht, erscheint den Europäern damit verstärkt als Hoffnung, als Bedrohung oder als Anmaßung. Dies erklärt z. T. die Heftigkeit der Gefühle, von denen die Kritik an Amerika begleitet wird.

Um das „Wesen“ Amerikas, wie es in den zuvor dargestellten Amerikabildern wiedergegeben wird, begrifflich genauer zu bestimmen, werde ich im folgenden zwei Amerikanismen zeichnen: einen positiven und einen negativen. Es wird sich zeigen, daß beide einander ergänzen. 1. Der positive Amerikanismus Hier handelt es sich um eine Art zu leben, zu denken und zu handeln, deren Eckpfeiler die individuelle Freiheit ist, welche sich eng an Gleichheit, Menschenrechte und Humanismus gebunden findet und in einer tiefen Religiosität (puritanischer und calvinistischer Herkunft) begründet ist, aus der sowohl das soziale Verantwortungsbewußtsein als auch die wirtschaftliche Aktivität entspringen. Die Verbindung von moralischen Überzeugungen und materiellen Aktivitäten, von Idealismus und pragmatischem Realismus ist die Quelle eines außergewöhnlichen Pioniergeistes, einer jugendlichen Dynamik, eines Optimismus, eines Glaubens an den Fortschritt, die es u. a. dank des reichen Landes erlauben, die ökonomischen und technologischen Mechanismen zu erfinden, welche ein materiell zufriedenstellendes und sozial glückliches Leben begründen können. In Amerika zählen nicht philosophische Spekulationen weit ab von der Realität, nicht die theoretische Reflexion als l’art pour l’art, sondern solche Ideen, aus denen praktische Resultate hervorgehen, zählt der Erfolg. Grundlage von allem ist die Arbeit. Jeder ist der Meister seines Geschicks. Um Erfolg zu haben, nimmt man die Wirklichkeit, wie sie ist, ohne Vorurteil und ohne Sentimentalität. Das Wesen des politischen Systems ist es, die Freiheit durch die Garantie des Privateigentums zu sichern. Politik gilt als ein schlichtes Geschäft. Das befreit sie von ideologisch überladenen, vergifteten und dadurch unlösbaren Konflikten. Dank der demokratischen Kontrolle der Regierung bringen sich sowohl die materiellen Interessen als auch die grundlegenden moralischen Überzeugungen des amerikanischen Volkes zur Geltung. Die politische Freiheit begünstigt die Frauenemanzipation, die bereits weiter fortgeschritten ist als in Europa.

Die Vereinigten Staaten — das ist der ermutigende Wegweiser für den Gang in eine freiere, reichere, interessantere, harmonischere Zukunft. 2. Antiamerikanismus als negativer Amerikanismus Hier handelt es sich um eine Art zu leben, zu denken und zu handeln, deren Eckpfeiler zwar die individuelle Freiheit ist, die aber lediglich dazu dient, das Privateigentum gegen die benachteiligten Massen zu schützen. Infolge ihrer wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung bringt sie eine Massengesellschaft hervor, in der die Individuen zu atomisierten Egoisten werden, in der Gleichheit, Brüderlichkeit und die christlichen Ideale nur die Wirklichkeit des sozialen Darwinismus, der Grausamkeit und der Kriminalität verschleiern, dies vor allem in den großen Städten. Das Geld, der Markt, der materielle Erfolg herrschen uneingeschränkt. Man findet ringsum nur intellektuelle und psychische Nivellierung; die Konformität des geistigen Lebens und der Gefühle zeigt sich überall, der Geist wird pervertiert und im Dienst der materiellen, praktischen und technischen Interessen versklavt. Die Menschen leben oberflächlich dahin, die Tiefe der Seele und der Sinn für das Irrationale und das Geheimnis des Schicksals gehen ihnen ab, die Jagd nach dem Erfolg zerstört alle persönlichen Gefühle, der Roboter ersetzt die Persönlichkeit, die christliche Moral bleibt naiv und ganz überwiegend heuchlerisch, der zur Schau gestellte Optimismus der Bevölkerung beweist eine naive Arroganz, ihr Aktivismus zeugt vom Verlust aller Traditionen und aller politischen Weisheit, das keep-smiling ist Ausdruck der Oberflächlichkeit und der Typisierung aller menschlichen Beziehungen.

Die Innenpolitik der Vereinigten Staaten, derjede höhere ideelle Begründung abgeht, die allein durch materielle Interessen beherrscht wird, zeichnet sich durch Serien von Korruptionen und durch das Doppelspiel von moralisierenden Slogans und der Jagd nach materiellen Vorteilen aus. Ihre Außenpolitik entbehrt jeglicher historischer Erfahrung und Weisheit, wie die Europäer sie haben, und die Launen der wechselnden öffentlichen Meinung zerstören jede politische Kontinuität. Die Frauen haben allen individuellen Charme verloren. Sie sind kalt, und ihr make-up zeigt, daß sie zu Stereotypen erstarren.

Die Vereinigten Staaten — das ist das Land des politischen und ökonomischen skrupellosen Imperialismus, der die Existenz und die nationale, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Unabhängigkeit Europas und Deutschlands bedroht.

In der Zeitung „Blut und Boden“ fordert daher ein Autor der Rechten die Deutschen wie die anderen europäischen Völker auf, diesem Amerika, „dieser modernen Seelenprärie gegenüber die Berglandschaft der eigenen Art zu behaupten“ 3. Antiliberale Leitmotive des Antiamerikanismus Gibt es nun zwischen diesen beiden Amerikanismus-Definitionen einen Mitteltyp, einen „objektiven“? Wahrscheinlich wäre dies ein Typ, der von der individuellen, im Privateigentum begründeten Freiheit ausginge und die Beziehungen zwischen den Elementen dieser Freiheit, im positiven wie im negativen Sinne, zeichnete; der die Ideale wie deren Entartungen zeigte, der den sozialen Mißbräuchen in Amerika die vielfältigen amerikanisehen Initiativen gegenüberstellte, diese Mißbräuche zu beheben.

Der Unterschied, der zwischen dem positiven und dem negativen Amerikanismus besteht, liegt darin, daß die Anhänger des ersten gewöhnlich die negativen Folgen oder die dunklen Seiten im Leben der Vereinigten Staaten nicht bestreiten, sie jedoch relativieren und erklären und dabei zugleich ihre Apriori-Sympathie für den amerikanischen Eckpfeiler: die individuelle Freiheit und alles, was aus ihr folgt, durschscheinen lassen. Die Kräfte, die in Deutschland eine solche Sicht hegen und verbreiten, sind die reformistischen Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die prorepublikanischen, eindeutig demokratischen Liberalen, die technischen und wirtschaftlichen Berufe und eine kleine Zahi modernistischer Intellektueller.

Die Vertreter des negativen Amerikanismus, also die Anti-Amerikanisten, praktizieren eine solche Relativierung nicht. Sie lehnen die Prämisse des Amerikanismus selbst ab, also die individuelle Freiheit, die auf dem Privateigentum aufbaut, und die industrielle kapitalistische Wirtschaft, die daraus folgt. In Deutschland gehören dazu vor allem die feudalistisch-reaktionäre Rechte, das nationalistische rechte Bürgertum, das Bildungsbürgertum einschließlich der meisten Intellektuellen, aber auch die Kräfte der antiliberalen Linken: die Kommunisten und die streng orthodox-marxistischen Linkssozialisten.

Ihr gemeinsamer Nenner ist der Antiliberalismus. Sie sind zugleich antidemokratisch und antikapitalistisch. Die Rechte ist es aus nationalistischen, anti-egalitären, anti-industriellen, anti-technischen, anti-rationalistischen, anti-individualistischen Motiven, die aus der politischen Grundidee einer organischen Gesellschaft folgen. Die Linke ist es auch aus anti-individualistischen Motiven, aber im Gegensatz zur Leitidee einer egalitär-kollektivistischen Gesellschaft; sie ist weder anti-industriell noch anti-rationalistisch noch anti-technisch. Dies schließt einen gewissen Romantizismus vor allem bei den Links-Intellektuellen nicht aus, welche sich hier mit den Intellektuellen der Rechten treffen.

Handelt es sich hier um einen spezifisch deutschen Befund?

Wahrscheinlich nicht, wenn man die extreme Rechte und die extreme Linke in Betracht zieht, die auch in anderen europäischen Ländern antiliberal eingestellt ist. Die Tatsache jedoch, daß der größte Teil des deutschen Bürgertums — aufgewachsen in der Tradition des deutschen Idealismus und vielfach im Staatsdienst tätig — antiamerikanische Ressentiments pflegt, scheint doch einen „Sonderfall" darzustellen. Im bekannten Historikerstreit um die Frage, ob die Deutschen einen „Sonderweg“ gegangen seien, meint Karl Dietrich Bracher, daß man nicht von einem „Sonderweg“, wohl aber von einem „Sonderbewußtsein“ der Deutschen sprechen könne. Die Spuren dieses Sonderbewußtseins in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft zu verfolgen, ist, wie mir scheint, auch politisch von großem Interesse. Dazu abschließend einige Überlegungen.

VI. Deutsche Amerikabilder bis zur Gegenwart

1. Wechselhafte deutsch-amerikanische Bemühungen Seit dem Ende der Weimarer Republik sind mehr als fünfzig Jahre vergangen. Tief einschneidende Ereignisse und Erfahrungen haben in dieser Zeit die deutsche Geschichte und das Bewußtsein der Deutschen hinsichtlich Amerikas geprägt: die Machtergreifung der Nationalsozialisten und das darauf folgende, zwölf Jahre währende totalitäre Regime, in dessen Namen Verbrechen ungekannten Ausmaßes begangen worden sind und dessen Propaganda sich seit der deutschen Kriegserklärung 1941 scharf gegen die USA richtete; das erneute kriegsentscheidende Eingreifen der Amerikaner auf dem alten Kontinent; ihre Anklage deutscher Kriegsverbrecher und ihr politisches Umerziehungsprogramm nach 1945; die Entstehung des Kalten Krieges, der Marshall-Plan, die amerikanische Hilfe für Berlin während der Blokkade und die Teilung Deutschlands; in Westdeutschland daraufhin ein weitverbreiteter Proamerikanismus als Kehrseite eines militanten Antikommunismus, in Ostdeutschland im Gegenzug die Fortsetzung des kommunistischen Antiamerikanismus als Antikapitalismus und Antiimperialismus; im folgenden der 68er Protest in der Bundesrepublik, zunächst gegen den Krieg der USA in Vietnam, zunehmend überhaupt gegen die als imperialistisch verurteilte Politik der Amerikaner in der Dritten Welt; die Entspannungspolitik und die fortschreitende Ablösung des Antikommunismus durch einen Anti-Antikommunismus; eine neu aufkommende Diskussion unter Historikern über den deutschen „Sonderweg“ und in einem breiteren Publikum über die nationale Zukunft der Deutschen überhaupt; schließlich im Spektrum der GRÜNEN und bei Teilen der SPD die erneute Infragestellung der Westintegrationider Bundesrepublik, weil sie den nationalen Interessen der Deutschen entgegenstehe — dies sind einige Anhaltspunkte im heftigen Auf und Ab der Beziehungen zwischen Deutschen und Amerikanern in den vergangenen fünfzig Jahren.

Bei aller Komplexität dieser Beziehungen steht doch fest, daß die Bedeutung der Amerikaner für die deutsche Politik seit dem Zweiten Weltkrieg um ein Vielfaches zugenommen hat, sowohl objektiv als auch in der subjektiven Einschätzung der Deutschen. Schon deswegen ist es wichtig, sich über die inzwischen entstandenen deutschen Amerikabilder Klarheit zu verschaffen, denn daß diese auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen einwirken, versteht sich von selbst. Da sie überdies einen Indikator für die Einstellung der Deutschen zur westlichen liberalen Demokratie darstellen — dem gemeinsamen normativen und politischen Nenner der westlichen Demokratien gegenüber den kommunistisch regierten Staaten —, würde eine genauere Erforschung dieser Bilder auch Aufschluß darüber geben können, in welchem Maße die Deutschen sich dem politischen Westen zugehörig fühlen oder ob sie eher eine dritte, vermittelnde Position zwischen Ost und West, eine neue Art Sonderweg, anstreben.

Freilich kann eine angemessene Analyse der Amerikabilder hier nicht in Schlußbemerkungen angefügt werden, zumal für die Nachkriegszeit deren umfassende und systematische historisch-theoretische Erforschung noch aussteht. Möglich erscheint aber immerhin der Hinweis auf einige Konstanten und einige Neuerungen, die beim Überblick über die diversen Amerikabilder seit der Weimarer Republik auffallen und deren historischer Nachzeichnung und politischer Auswertung nachgegangen werden sollte. 2. Antiamerikanismus und Proamerikanismus seit der Zeit des Nationalsozialismus Entgegen möglichen Annahmen war das deutsche Amerikabild in der Zeit des Nationalsozialismus weder bei Hitler selbst noch bei den Nationalsozialisten generell, noch erst recht bei der deutschen Diplomatie einheitlich, was auch darauf zurückzuführen sein mag, daß die USA in Hitlers Vorstellungen keine wichtige Rolle spielten. Positiv schätzte Hitler die USA insofern ein, als sie für ihn zeitweilig ein wertvolles Potential nordischer Rasse darstellten und er Roosevelts Politik zunächst zur Rechtfertigung seiner eigenen diktatorischen Maßnahmen ins Feld führte. Freilich sind diese „Würdigungen“ auf dem Hintergrund einer prinzipiellen Ablehnung der Vereinigten Staaten zu sehen: Sie waren für Hitler das Sinnbild der feigen und schwächlichen liberalen Demokratie, der Herrschaft des Judentums, der ungesunden Rassenmischung, der Plutokratie und des ausbeuterischen Kapitalismus, der Korruption, der politischen Dummheit und Schwäche, der Oberflächlichkeit. Nicht nur sein schließlicher Haß gegen Roosevelt, sondern auch wichtige Elemente seiner Anti-Amerika-Propaganda, von denen er sich Massenwirksamkeit versprach, kamen in seiner Rede zur Kriegserklärung am 11. Dezember 1941 zum Ausdruck. Er verglich seine Laufbahn mit der des amerikanischen Präsidenten: „Roosevelt war reich, ich war arm. Roosevelt machte im Weltkrieg Geschäfte, ich vergoß mein Blut. Roosevelt spekulierte und scheffelte Millionen, ich lag im Kriegslazarett. Roosevelt stützte sich auf die Macht einer kapitalistischen Partei, ich führte eine Volksbewegung ..

Nach dem deutschen Zusammenbruch trugen drei Faktoren zur Verbreitung eines sympathisierenden Amerikabildes bei: — die Großzügigkeit materieller Hilfe, die die deutsche Bevölkerung von der amerikanischen Besatzungsmacht im Lande und aus den USA selbst erfuhr — man denke an den Marshall-Plan und an die noch persönlicher empfundenen Care-Pakete; — das Erlebnis der Solidarität während der Berliner Luftbrücke, aufgrund dessen die Amerikaner aufrichtig als Freunde und Verteidiger deutscher Lebensinteressen bezeichnet und akzeptiert wurden; — die Aufklärungs-und Fürsprechertätigkeit namhafter ehemals emigrierter und nach 1945 zurückgekehrter Wissenschaftler wie Golo Manns und vor allem Ernst Fraenkels, der sich in Forschung und Lehre in Berlin weitgehend auf die Verbreitung eines wirklichkeitsnahen Verständnisses des amerikanischen politischen Lebens konzentrierte und dabei angesichts seiner ehemaligen gewerkschaftlichen Berater-und Rechtsanwaltstätigkeit nicht zufällig immer wieder auf dessen soziale Ausgestaltung durch Roosevelts New Deal hinwies. Amerika galt als Beispiel der Freiheit, weil es sein Ideal mit politischem Realismus trotz aller Korruptionsniederungen durchhielt und weil es sich zunehmend um sozialen Ausgleich bemühte.

Freiheit, Großzügigkeit, Stärke, Realismus und Effektivität — dies waren Merkmale Amerikas, die nun in den Vordergrund traten.

Freilich hielten sich daneben weiterhin die beiden Grundvorbehalte der Deutschen gegenüber den USA durchaus am Leben: deren angeblicher Mangel an Tradition und kultureller Tiefe sowie ihre sozialen, vor allem rassenpolitischen Ungerechtigkeiten. Diese „Vorbehalte fanden jedoch auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges keine Resonanz. Heute stellt sich allerdings mehr und mehr die Frage, ob der Stolz vieler Deutscher, deren Bildungsschicht sich den Amerikanern ja kulturell und politisch weitgehend überlegen gefühlt hatte, durch das amerikanische Umerziehungsprogramm zur Demokratie nicht tiefer und traumatischer getroffen worden ist, als angesichts des auch moralischen Zusammenbruchs nach 1945 ursprünglich angenommen worden war. Jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck bei der Beobachtung, daß von einem sich links verstehenden Bildungsmilieu in den sechziger Jahren mit zunehmendem Widerhall der moralische Vorwurf Amerikas gegen das nationalsozialistische Deutschland als Faschismus-und Gewaltvorwurf an Amerika zurückgegeben wurde. Westliche Politik bedeutete nun Herrschaft, bedeutete Gewalt: „Politik und Verbrechen“ seien nur zwei Seiten einer Medaille, der Staat fungiere als Mörder, das Modell terroristischer Politik finde sich in Chicago

Der Begriffdes „latenten Faschismus“, der gerade auch für die USA verwendet wird, begann den des spezifischen deutschen Nationalsozialismus zu verdrängen. Reinhard Lettau veröffentlichte mit Erfolg seine Sammlung „Täglicher Faschismus: Amerikanische Evidenz aus sechs Monaten“ Herbert Heckmann und Rolf Hochhuth setzten unter linken politischen Vorzeichen eine Bildungs-, Kultur-und Sozialkritik fort, für die in der Weimarer Republik ein Vertreter der politischen Rechten, Adolf Haifeld, Pate gestanden hatte. Die neueste Version dieser fundamentalen moralischen Verurteilung Amerikas findet sich in dem von Günter Grass kürzlich geprägten Begriff des „Gulag-Kapitalismus“ Wie zur Zeit Weimars treffen sich „rechts“ und „links“ wieder in einem verabsolutierten Antikapitalismus.

In der vor einiger Zeit neu propagierten Losung von der „Selbstbehauptung Europas“ — die, wie gezeigt, bereits in Weimar von der kulturellen Rechten ausgegeben worden war — finden sich die traditionellen deutschen Anti-Amerikanismen wieder zusammen:

Die Vereinigten Staaten betreiben wesentlich eine im kapitalistischen System begründete imperiale Weltpolitik, setzen ökonomische Macht, Krieg und Gewalt ohne Rücksicht auf Alliierte und Gegner in ihrem Weltmachtinteresse ein, ihr demokratisches System bewahrt nicht vor der praktischen Preisgabe der nur ideologisch vorgeschützten westlichen Werte und führt in ihrer internationalen Politik über die Einwirkung der öffentlichen Meinung zu unberechenbaren Schwankungen. Kulturell droht die Amerikanisierung Europas durch Coca-Cola, MacDonalds und billige Hollywood-Produktionen wie „Rambo“ den kostbaren Schatz der verschiedenen europäischen Traditionen zu nivellieren. Ein Verständnis für die Furcht davor — wie überhaupt für die differenziertere Psychologie und Politik der Europäer — vermögen die Amerikaner nicht aufzubringen. Auffälligerweise werden solche Losungen vor allem von Politikern und Literaten, weniger von Wissenschaftlern vorgetragen. 3. Bedeutung und Gefahr deutscher Fehleinschätzungen in historischer Perspektive Das ebenfalls traditionelle Pendant auf amerikanischer Seite, ein Überdruß an europäischer „Degeneration“ und „Engstirnigkeit“, gewinnt offenbar auch wieder an Terrain. „Denken Sie bitte daran“, erinnerte kürzlich ein amerikanischer Politiker seine deutschen Zuhörer, „daß die Vereinigten Staaten schließlich von Europäern gegründet worden sind, die von Europa die Nase voll hatten“. Die Bemerkung verweist auf die lange Geschichte, die das deutsch-amerikanische und das europäisch-amerikanische Verhältnis schon durchlaufen hat, wobei seit dem 19. Jahrhundert die Kernfrage sich immer wieder an die Europäer richtete, welche Stellung sie angesichts der beiden Weltmächte Amerika und Rußland bzw. Sowjetunion einnehmen wollten.

Diesen geschichtlichen Horizont ins Gedächtnis zurückzurufen, scheint mir für die Deutschen, denen sich diese Frage besonders brisant stellt, von großer Bedeutung. Im 20. Jahrhundert haben sie Amerika zweimal gründlich mißverstanden und unterschätzt, z. T. mit denselben „Argumenten“, wie sie heute wieder vorgetragen werden. Das Verhängnis liegt dabei darin, daß die Apriori-Verurteilung Amerikas die rationale Auseinandersetzung mit den Fakten und die argumentative, spezifizierte Einschätzung von Politik und Gesellschaft in Amerika verdrängt. Ich meine, viel ist im europäischen wie im deutschen Interesse daran gelegen, mit aller Anstrengung Vorurteile und emotionale Klischees abzulösen durch eine möglichst genaue Kenntnis und rationale Analyse der amerikanischen Weltmacht und ihrer Politik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hermann Graf von Keyserling, Amerika — der Aufgang einer neuen Welt, Stuttgart—Berlin 1930.

  2. Karl Kautsky, Der amerikanische Arbeiter, zitiert nach: Ernst Fraenkel (Hrsg.), Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, Köln 1959, S. 221.

  3. Vgl. Peter Berg, Deutschland und Amerika 1918— 1929. Über das deutsche Amerikabild der zwanziger Jahre, in: Historische Studien, (1963) 385, S. 21.

  4. Vgl. ebd., S. 21 f.

  5. Ebd., S. 23, 25 f.

  6. Vgl. Ernst Jäckh, Amerika und Wir, 1929— 1951, Stuttgart 1951, S. 29— 33.

  7. Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, Berlin 1926, S. 5.

  8. Ebd., S. 251 f.

  9. Ebd., S. 94, 128, 135, 194.

  10. Ebd., S. 140 f., 253.

  11. Ebd., S. 72.

  12. Ebd., S. 73.

  13. Ebd., S. 95, 253.

  14. Vgl. Peter Berg (Anm. 3), S. 99 f.

  15. Vgl. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, in: Politische Schriften, München—Berlin 1934.

  16. Vgl. Peter Berg (Anm. 3), S. 96— 112.

  17. Ebd., S. 104 f.

  18. Charlotte Lütkens, Die Amerikalegende, in: Sozialistische Monatshefte vom 16. 1. 1932, S. 45— 50.

  19. Ebd., S. 49.

  20. Vgl. Earl R. Beck, Germany Rediscovers America, Florida State University Press, Tallahassee, Florida 1968, S. 247— 253.

  21. Vgl. Peter Berg (Anm. 3), S. 136.

  22. Alfred Kerr, Yankee-Land, Berlin 1925, S. 6.

  23. Alfred Kerr, New York und London. Stätten des Geschicks, Berlin 1923, S. 96 und S. 98.

  24. Alfred Kerr, Yankee-Land (Anm. 22), S. 41 f.

  25. Ebd., S. 8.

  26. Vgl. Helfried W. Seliger, Das Amerikabild Bertold Brechts, Bonn 1974, S. 51 f.

  27. Vgl. ebd., S. 52.

  28. Vgl. ebd., S. 52, 55, 80, 160, 181 f.

  29. Vgl. ebd., S. 88, 101, 105, 131, 145, 157, 199.

  30. Vgl. ebd., S. 223.

  31. Vgl. ebd., S. 242.

  32. Vgl. Peter Berg (Anm. 3), S. 141.

  33. Adolf Haifeld, Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers, Jena 1927, S. 37, zitiert nach Peter Berg (Anm. 3), S. 140.

  34. Vgl. Peter Berg (Anm. 3), S. 152.

  35. Vgl. Anm. 3, S. 86, Anm. 107.

  36. Arthur Salz, Der Imperialismus der Vereinigten Staaten, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, (1923) 50, S. 565— 616.

  37. Vgl. Amerikareise deutscher Gewerkschafter (Anm. 7), S. 255.

  38. Scott Nearing/Joseph Freeman, Dollar-Diplomatie. Eine Studie über amerikanischen Imperialismus. Übers, von Paul Flohr, mit einem Geleitwort v. Karl Haushofer, Berlin 1927.

  39. Vgl. Peter Berg (Anm. 3), S. 90— 96.

  40. Vgl. Adolf von Harnack, Wilsons Botschaft an die deutsche Freiheit, in: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, gehalten am 18., 22. und 25. Mai 1917 im Abgeordnetenhaus in Berlin, Gotha 1917; vgl. auch Ernst Troeltsch, Spektator-Briefe, Tübingen 1924; Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922.

  41. Max Weber, Politik als Beruf, München—Leipzig 1926, S. 42— 46.

  42. Vgl. Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, Berlin 1932.

  43. Vgl. Hermann Graf von Keyserling (Anm. 1).

  44. Vgl. die kritische Interpretation von Martin Kilian: Die Genesis des Amerikanismus. Zum Verhältnis von amerikanischer Ideologie und amerikanischer Praxis 1630— 1789, Frankfurt—New York 1979.

  45. Vgl. Peter Berg (Anm. 3), S. 143.

  46. Zitiert nach James V. Compton, Hitler und die USA. Die Amerikapolitik des Dritten Reiches und die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges, Oldenburg—Hamburg 1968, S. 25.

  47. Hans Magnus Enzensberger, Politik und Verbrechen, Neun Beiträge, Frankfurt 1964.

  48. Erschienen München 1971.

  49. Vgl. Hilton Kramer, Die intellektuelle Opposition im Westen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 4. 1986, S. 25.

Weitere Inhalte

Gesine Schwan, geb. 1943; seit 1977 Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin; Fellow am Woodrow Wilson International Center for Scholars (Washington) und am Robinson College (Cambridge); seit 1985 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Leszek Kolakowski. Eine Philosophie der Freiheit nach Marx, Stuttgart — Berlin — Köln — Mainz 1971; (zus. mit Alexander Schwan) Sozialdemokratie und Marxismus, Hamburg 1974; Sozialismus in der Demokratie?, Stuttgart— Berlin — Köln — Mainz 1982; diverse Artikel zur Partizipation, SPD und Deutschlandpolitik.