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Neue soziale Bewegungen und politische Parteien | APuZ 44/1986 | bpb.de

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APuZ 44/1986 Soziale Selbsthilfe — Privatisierung oder Vergesellschaftung des Sozialstaats? Ergebnisse einer Studie über die Sozialen Selbsthilfegruppen in der Bundesrepublik Deutschland Sozial-und arbeitsmarktpolitische Auswirkungen neuer sozialer Bewegungen Neue soziale Bewegungen und politische Parteien

Neue soziale Bewegungen und politische Parteien

Klaus von Beyme

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Neue soziale Bewegungen beanspruchen das Beiwort „neu“ in einigen Punkten zu Recht, in anderen zu Unrecht. Eine organisationstheoretische Perspektive zeigt, daß die alte Arbeitsteilung zwischen Bewegungen und Verbänden, die im 19. Jahrhundert vorherrschte, nicht wiederkehren wird. Intentional soll es bei den neuen sozialen Bewegungen überhaupt keine Arbeitsteilung geben. De facto stellt sie sich jedoch wieder her. Eine Gefährdung der Repräsentativverfassung moderner parlamentarischer Demokratie durch die Forderungen der neuen sozialen Bewegungen, die Autonomie statt Repräsentation anstreben, ist so wenig als säkularer Trend feststellbar wie die Aushöhlung der Repräsentativverfassung durch die funktionale Repräsentation im Neokorporatismus, die gelegentlich als zweites Gefährdungsmoment herausgestellt worden ist. Es läßt sich weder ein stabiles Milieu feststellen, das den neuen Bewegungen und Parteien neuen Typs einen dauerhaften Vorteil gegenüber dem sozialen Milieu der alten Parteien bietet, noch läßt sich bisher die lineare Erklärung neuer sozialer Bewegungen im Sinne alter, fortschrittsgläubiger Stadienlehren erhärten. Die Einbindung in die Themen und Mechanismen bestehender Gesellschaften ist so groß, daß zu erwarten ist, daß die epochalen Wandlungen im Sinne der Änderung von Spielregeln und Politikinhalten bei den neuen sozialen Bewegungen eher geringer sein wird als in den Epochen ideologisch versäulter Bewegungen der Vergangenheit.

Einleitung

Abbildung 2

Die neuen sozialen Bewegungen haben in Deutschland eine Welle enthusiastischer Begleitforschung hervorgebracht, der gelegentlich eine gewisse Distanzlosigkeit nachgesagt werden muß. Die Begeisterung war um so spontaner, als das Parteikonzept durch die Phase der kommunistischen Aufbausekten in der Linken stark diskreditiert worden war. Die Vielzahl der neuen Bewegungen war für undogmatische Linke um so faszinierender, als die deutsche Tradition der Arbeiterbewegung vom Primat der Partei geprägt war. Der Primat von Räten, Genossenschaftsbewegung oder Gewerkschaften — organisatorische Gegen-modelle, die in anderen Ländern eine Weile einflußreich waren — hatten in der deutschen Tradition wenig Durchsetzungschancen. Diese Tradition war von Kautskyschen Formelkompromissen über die Gleichberechtigung der Säulen der Arbeiterbewegung bei faktischer Vormacht der Partei geprägt. Die linkslibertäre Gegenkultur — erstmals mit der Spontibewegung in Erscheinung getreten — schien ein Novum in Deutschland, das von den Führern der alten Studentenbewegung zum Teil mit so großem Unverständnis kommentiert wurde wie von den Kommunisten Moskauer Orientierung, die das „kleinbürgerliche Ideologiegemisch“ bei „konzeptionsloser Organisationstheorie“ eigentlich nur unter dem Aspekt der Funktionalisierbarkeit für die eigene „Bewegung“ positiv einzuschätzen vermochten Die SPD hatte allzu lange in der rückwärtsgewandten Theorie als die „Urpartei“ schlechthin gegolten, deren Genesis man an ihr leidend „aufarbeitete“. Organisatorische Vielfalt der Möglichkeiten und konstitutionelle Kreativität mußte daher in der deutschen Linken stärker als in anderen Ländern wieder erlernt werden.

Die Begeisterung über die Vielfalt neuer Organisationsformen in der nach-leninistischen Phase der Linken hat leider auch die politikwissenschaftliche Forschung vielfach in eine gewisse Kritiklosigkeit getrieben. Jede Institutionalisierung schien des Teufels. Auch in seriöse Texte schlichen sich Formulierungen ein wie: „So gewinnt, eher gefühlsmäßig als theoretisch begründet, die These an Plausibilität, daß die neuen sozialen Bewegungen nur dann eine Zukunft, eine Realisierungschance ihrer Zielvorstellungen besitzen, wenn sie ihren , Bewegungs-Charakter, ihre Merkmale der Spontaneität, der Autonomie, der Dezentralität, der geringen Formalisierung beibehalten.“ Trotz aller Beschwörungen, man dürfe die neuen sozialen Bewegungen nicht idealisieren, wurden gerade die expressiv-symbolischen Möglichkeiten der neuen Bewegungen liebend überschätzt Die Selbstproduktion durch „aktive Praxis und Lernprozesse“ ist immer wieder formelhaft beschworen worden. Nur selten wurde jedoch eine gegenstandsadäquate Methode aus dem Bereich der verstehenden Methoden selbständig in der Bewegungsforschung weiterentwikkelt. Prozessuale Auffassung, akteurzentrierte Betrachtungsweise und handlungsanalytische Ansätze haben ihre Berechtigung Vor allem bei der Erforschung ausländischer Bewegungen wurden Einsichten möglich, die einem deutschen Forscher sonst verschlossen geblieben wären. Fatal ist jedoch die metatheoretische Überhöhung solcher Ansätze. Die Respektierung der Regeln teilnehmender Beobachtung auf dem Boden der analytischen Wissenschaftstheorie hätte die gleichen Resultate bringen können. Bedenklich ist auch das Ausspielen solcher Ansätze gegen jeden Versuch, systemtheoretisch den Stellenwert der neuen sozialen Bewegungen zu ermitteln. Die beiden Ansätze verhalten sich komplementär. Für alle Fragen, die das Handeln der Bewegung überschreiten, ist eine systemtheoretische Perspektive uner-läßlich. Das gilt auch für die Frage nach dem Verhältnis von Parteien und sozialen Bewegungen.

Für dieses Verhältnis ist noch eine andere Neigung der emphatischen Bewegungstheoretiker von negativem Einfluß. Die prozessuale Auffassung von Bewegungen führt vielfach zur Vernachlässigung institutioneller Strukturen. Das Verhältnis von Parteien und sozialer Bewegung fällt damit schon in die Phase des „Endes der Bewegung“. Eine solche Verengung des Blickwinkels ist verzeihlich, wenn ein Soziologe wie Rammstedt vor dem Durchbruch der neuen sozialen Bewegungen — an den alten sozialen Bewegungen geschult — die Begriffe fortentwickelt, die sich in der Sekten-und Bewegungsforschung bewährt zu haben schienen. Weniger einleuchtend war die Verengung der Sichtweise bei einem Politikwissenschaftler wie Raschke, der auf der Basis der Kenntnis über die neuen sozialen Bewegungen ähnlich prozessual verfuhr. Zerhackte Geschichte im taxonomischen Puzzlespiel in die Schubladen der herkömmlichen Phasen und Aktionsformen sozialer Bewegungen zu füllen, kann einer deskriptiver ansetzenden Wissenschaft gegenüber nicht gut als eigenständige Theorie auftreten. Folgenreicher ist jedoch das Manko, daß der herkömmliche Stadienschematismus der Bewegungsforschung Raschkes Stärken in der Erforschung institutionalisierter Gruppen und Parteien für diese Analyse verloren gehen ließ

Die Bedenken gegen den Bewegungsenthusiasmus bedeuten nicht, daß Engagiertheit einzelner Forscher nicht zu fruchtbaren Fragestellungen führen kann. Die Genesis einer Hypothese ist wissenschaftlich relativ bedeutungslos. Mit Popper gilt: , „Wie haben Sie Ihre Theorie gefunden? * berührt eine völlig private Angelegenheit, im Gegensatz zu der Frage , Wie haben Sie Ihre Theorie geprüft? *, die allein wissenschaftlich relevant ist.“ Diese Bedenken heißen auch nicht, daß die neuen sozialen Bewegungen, für die sich mancher Forscher so vordergründig begeistert, mit einem nothing-new-under-the-sun-approach angegangen werden müßten. Angesichts der verbreiteten Methode, mit den Begriffen des 19. Jahrhunderts weiter zu arbeiten, oder aber alles für „neu“ an den sozialen Bewegungen zu erklären, müssen die Unterschiede zwischen alten und neuen Bewegungen schärfer gefaßt werden. Sie können dies weniger durch immanent beschriebene Organisationskriterien als durch die Analyse des Funktionszusammenhangs im politischen und sozialen Gesamtsystem. Der Ansatz, der sich soziale Bewegungen allzu , bewegt* vorstellt, kann Wechselwirkungen zwischen sozialer Bewegung und sozialem Prozeß nicht übersehen. Vor allem aber bei Rammstedt ist dieser Prozeß als ein wechselseitiger konfliktorischer Aufschaukelungsprozeß geschildert, in dem es langfristig nur Anpassung oder Eskalation als Alternativen gibt Eine umfassende Analyse des sozialen Umfelds von Bewegungen zeigt im Lichte von Interessengruppen-und Parteienforschung wesentlich komplexere Interaktionsformen von Gruppen unterschiedlicher Organisationsdichte. Diese sind jedoch weniger dramatisch bewegt und ziehen daher weniger Aufmerksamkeit auf sich.

Nach Rammstedt wurde das Epitheton „neu“ ernster genommen, und neue soziale Bewegungen zunehmend von den älteren abgesetzt. Einerseits wurde die Neuheit von einigen Bewegungsenthusiasten übertrieben, andererseits zeigte sich, daß revolutionäre Perspektiven des 19. Jahrhunderts die Analyse der neuen sozialen Bewegungen eher in die Irre führen.

Was ist neu an den „neuen sozialen Bewegungen“? Das neue an den neuen sozialen Bewegungen liegt vor allem im hohen Autonomiegrad der Akteure, in einer Interessenartikulation, die der Einschaltung organisierter Repräsentanten nicht mehr im Ausmaß der älteren Interessengruppen bedarf. Die Neigung zu direkter Interessenwahrnehmung der Bürger nimmt zu. Ein Policy-mix von konventionellen und unkonventionellen Verhaltensweisen ist typisch für die Art der Interessenwahrnehmung in neuen sozialen Bewegungen Solche organisationstheoretischen Details führen weiter als die evolutionistische Konstruktion einer Abfolge von Herrschafts-, Verteilungs- und Lebensweiseparadigma bei Raschke, die für viele Länder und Epochen zu grobrastig sind und deren elan vital und Antriebskraft im schöpferischen Halbdunkel subjektiver Wertungen zu bleiben droht.

Das prozessuale Verständnis sozialer Bewegungen führte vielfach zu dem Vorurteil, daß es sich um einen nichtinstitutionalisierten Prozeß handele Nur selten setzte sich die Einsicht durch, daß ein Minimum organisatorischer Struktur den sozialen Bewegungen Bestand verleihen muß, um sie von anderen sozialen Interaktionsformen abgrenzen zu können Die losen Vergesellschaftungsformen der älteren Massenpsychologie, in denen die Interaktion auf eine unstrukturierte Masse in Gefolgschaft einer charismatischen Führerpersönlichkeit reduziert wurde, können den Institutionalisierungsgrad der neuen sozialen Bewegungen kaum noch erklären.

Je stärker sich die Einsicht durchsetzt, daß auch neue soziale Bewegungen unter systemtheoretischer Perspektive Institutionen im politisch-sozialen System sind, um so mehr wird der Blick dafür geschärft, daß die Antithese von dynamischen neuen sozialen Bewegungen und institutionalisierten Parteien unscharf ist. Vor drei Irrwegen der Bewegungsforschung muß daher gewarnt werden: 1. Einen normativen Wertbegriffder Bewegung zugrunde zu legen, der nur einen Teil des realen Bewegungsspektrums abdeckt, und sich gegen die Parteien ausspielen läßt. 2. Die organisatorischen Verflechtungen von sozialen Bewegungen und Parteien — sowohl bei den alten wie bei den neuen sozialen Bewegungen — zu unterschätzen.

3. Die Verflechtungen der beiden Aktionsformen auf der Ebene individuellen politischen Verhaltens zu übersehen.

I. Die Überwindung des normativen Bewegungsbegriffs

Die vielfach künstliche Entgegensetzung von neuen sozialen Bewegungen und alten Parteien resultiert aus der Wahl eines normativ geladenen Bewegungsbegriffs. Der bloße Terminus suggeriert Fortschrittlichkeit im Kampf gegen erstarrte Strukturen obwohl der Nationalsozialismus hinreichend Schindluder mit dem Bewegungsbegriff getrieben hatte, um zur Skepsis einzuladen. Heberles Marotte, die sozialen Bewegungen unter den altväterlichen Oberbegriff „Samtschaft“ aus der Soziologie von Ferdinand Tönnies zu subsumieren, hat sich nicht durchgesetzt. Aber auch jeder andere wertfreie Terminus könnte vermeiden helfen, daß positive Nebenbedeutungen gleichsam terminologisch erschlichen werden.

Bei den Bewegungsenthusiasten der achtziger Jahre ist eine bewußte oder unbewußte Anknüpfung an ältere terminologische Traditionen auffällig. In Frankreich entstand der Bewegungsbegriff zunächst bei der Linken; später wurde er von Konservativen und Gaullisten um den Rest seiner Plausibilität gebracht. In Deutschland wurde er hingegen nach den Mißbräuchen durch den Rechtsextremismus eher von den Progressiven positiv besetzt. Soziale Bewegung hatte in der französischen Soziologie der Zeit Saint Simons und Comtes den Beigeschmack von Dynamik im Vergleich zur sozialen Statik. In Deutschland wurde die Rezeption auf die Fundamentalopposition schlechthin gerichtet. Bewegung wurde auf das „Bewußtsein ganzer Völker“ bezogen, wie bei Lorenz von Stein oder wenigstens — wie im

Kommunistischen Manifest — auf das „Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ im Gegensatz zu den vorproletarischen Bewegungen, die angeblich alle „Bewegungen von Minoritäten“ gewesen sindl Tatsächlich schien die Bewegung wenigstens die große Mehrheit aufgeklärter Geister im Vormärz zu umfassen.

Mit der Ausdifferenzierung von Parteien verschwand jedoch der Anspruch auf die Bewegung als volkumspannendes Aggregat. Mit der Übernahme des Parteibegriffs, der sich mühsam genug vollzog war die Anerkennung verbunden, daß es eine Vielzahl von Parteien geben könne, und daß keine in ihrem Anspruch glaubhaft ist, das Gemeinwohl schlechthin zu vertreten, so stark dieser Anspruch in der Parteiprogrammatik auch fortleben mochte. Seit 1848 haben die Programme deutscher Parteien auch den Bewegungsbegriff kaum noch beschworen. Nur einige konservative Parteien im Ausland haben durch Gruppennamen wie „mouvement“ oder „rassemblement" an der vorparteienstaatlichen Bewegungskonzeption anzuknüpfen versucht — mit geringem Erfolg. Entgegen anderslautenden Postulaten muß, soziologisch gesehen, nicht jede Gruppierung als soziale Bewegung verstanden werden, die sich selbst so nennt Es müssen vielmehr objektive Organisationskriterien gefunden werden, um soziale Bewegungen von anderen Aggregaten zu unterscheiden, sonst könnte jeder Prediger in der Wüste ohne Anhang seiner Minisekte die Anerkennung als soziale Bewegung verschaffen. Kriterium ist die Dauerhaftigkeit von Strukturen, die sie von Volksaufläufen oder wilden Streiks unterscheidet. Als weitere Kriterien sind charismatische Führerschaft und ein immanenter Historizismus säkularer oder transzentaler Art als Kriterien gewertet worden Diese Merkmale erscheinen jedoch zu sehr aus der ethnosoziologischen Forschung über nativistische Strömungen in der Dritten Welt zu stammen.

Sind die neuen sozialen Bewegungen überhaupt noch charismatisch geführt zu nennen? In ihrem Selbstverständnis gewiß nicht. Aber die Begriffe der alten sozialen Bewegungen werden den neuen von außen angedient. Die neuen sozialen Bewegungen und Parteien neuen Typs müssen gegen die parasitäre Publizität kämpfen, die einzelne Führungspersönlichkeiten immer wieder erhalten. Die Medien befinden: „Sie sind wer, noch ehe klar ist, wer sie sind.“ Mit abbröckelnder Rotationsbereitschaft wird der Kampf dagegen bei den Grünen immer aussichtsloser. Auch der Historizismus, den man seit Popper den alten sozialen Bewegungen nachsagte — ein irreführender Bewegungsbegriff, weil er bei falsch verstandenen Begriffen der Naturwissenschaften anknüpfte —, ist nicht mehr so dominant wie in den alten sozialen Bewegungen, in deren Tradition die neuen Bewegungen überwiegend mit Erklärungen eines linearen Fortschritts angegangen werden Einige Wortführer der Grünen glauben, daß die neuen sozialen Bewegungen die legitimen Erben der alten linken sozialen Bewegungen geworden sind Das kann jedoch kein ausreichender Grund sein, daß die Sozialwissenschaften das Eigenbild einer epochalen Selbstüberhöhung übernehmen. Neu an den neuen sozialen Bewegungen ist nicht, daß progressive und beharrende Bewegungen einander gegenüberstehen. Das war immer so. Nicht ganz neu ist auch die Ambivalenz von progressiven und konservativen Zielen, so z. B. bei der christlich-sozialen Bewegung. Sie nannte sich bezeichnenderweise erst spät „christlich-demokratisch“. Progressiv war sie nur im sozialen Bereich, konservativ in Kirchenfragen und vielfach auch in der Haltung zur Demokratie. Bei den neuen sozialen Bewegungen ist diese Ambivalenz noch häufiger, gerade weil sie überwiegend nicht mehr Ideologien aus einem Guß anzubieten haben. Viele der poppigsten Erscheinungen im Bereich neuer sozialer Bewegungen gehören eher dem eskapistischen als dem politisch progressiven Lager an. Progressive Gebundenheit an eine Subkultur kann durchaus mit politisch reaktionären Haltungen gekoppelt sein, wie bei der Punkbewegung. „Mit uns zieht die neue Zeit“ singt kaum noch eine Gruppe, die sich heute eher auf Motorrädern als in Marschkolonnen zusammenfindet. Dieser Vers von Hermann Claudius war in der Weimarer Zeit das Bewegungslied par excellence. Es wurde von der Arbeiterbewegung und von den Nazis mit gleicher Inbrunst gesungen „We shall overcome“ oder „Teachers leave us kids alone“ konnte nicht in gleicher Weise zum alle Bewegungen rechts wie links umspannenden Erkennungssong werden. Die Fragmentierung des Bewegungsbewußtseins nimmt zu.

Neu ist an den heutigen sozialen Bewegungen auch nicht, daß Rückzugsgruppen existieren. Sie haben sich freilich in der Vergangenheit seltener als Bewegung organisiert und blieben zunächst eher Bewegungen im Sinne eines geistigen Trends oder einer Strömung wie in der Romantik. Heute fällt das Nebeneinander von Widerstands-und Rückzugsbewegung auf. Gemeinsam ist ihnen die Eindämmung formalorganisierter Handlungsbereiche. Das schließt nicht aus, daß sie sich gelegentlich zur Aktionsgemeinschaft zusammenfinden, von Tu-nix bis zu RAF-Sympathisanten.

Die frühere Soziologie hat sich allzu stark von Ansprüchen der Bewegungen auf radikalen sozialen Wandel blenden lassen und daher vielfach revolutionäre Gruppen zu stark herausgestellt. Auch neuere Typologien die zwischen reformistischen und revolutionären Gruppen unterscheiden, können allenfalls für den linken mainstream der neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik Geltung beanspruchen:

Sozialpsychologische Ansätze wie bei Cantril 1941 hatten den Nachteil, ohne organisatorische Kriterien ziemlich jede Spinnerei als Bewegung zu akzeptieren, aber den Vorteil, daß auch eskapistische Grüppchen in einem wertfreien Bewegungsbegriff ins Blickfeld traten Heute stehen sich mehr denn je Emanzipations-und Widerstands-und Rückzugsgruppen gegenüber Im Gruppengewühl sind sie selbst geschulten „Fraktionologen" kaum so säuberlich unterscheidbar wie in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. Modern und Postmodern — Begriffe, die Habermas ebenfalls strikt scheidet — gehen gerade bei der Postmoderne in der Architektur-und Literaturtheorie stark ineinander über. Zur „neuen Unübersichtlichkeit“ gehört auch, daß Modernisierung und Entmodernisierung als gleichzeitige Prozesse ablaufen Nicht nur in dem Sinn, wie es immer Konservative neben Progressiven gab, sondern beide Ansprüche werden zum Teil von den gleichen Individuen und Gruppen vertreten. Wären Selbst-und Fremdinterpretation prägnanter, müßte es eigentlich häufiger gelingen, soziale Bewegungen nicht „nachherzusagen“ (Charles Tilly), sondern vorherzusagen. Gerade dies ist bisher nie gelungen

Ein weiteres Novum an den neuen sozialen Bewegungen ist, daß es keine Themenkonsistenz wie bei den alten Bewegungen des 19. Jahrhunderts mehr gibt. Die Alternativen werden von den Diskussionsmoden nicht weniger gehetzt als die Etablierten. Die Friedensbewegung stahl der Antikernkraftbewegung die Schau. Die Grünen im Parlament gaben vor, Umweltprobleme diskutieren zu wollen, sie mußten aber feststellen, daß es ihnen an Spezialisten mangelte und daß sie im Bundestag — wie eine Themenanalyse der ersten Zeit ergab — den Themenwandel hin zum Friedens-thema nicht weniger gegen ihre eigene Kontinuität ausspielten als das kurzlebige Gedächtnis der Medien. Das Odium der Einpunktebewegung wurde durch hektische Übernahme immer neuer Themen überwunden Analysen der Aktivitäten der Grünen im Deutschen Bundestag zeigen, daß Sicherheits-, Ökologie-und Gesundheitspolitik die Schwerpunkte der Parteiinitiativen sind Die Bewegungen sind den Parteien in der Enttotalisierung des Erwartungshorizontes mit einiger Zeitverzögerung gefolgt. Die sozialwissenschaftliche Begriffsbildung kann daher immer weniger die Reste eines ganzheitlichen Selbstverständnisses, das sich auch in neuen sozialen Bewegungen noch findet, als zutreffende Analyse des funktionalen Stellenwertes der Bewegungen im System akzeptieren. Die Anerkennung einer Vielzahl von Bewegungen schreitet fort. Die emphatische Forschung sieht das besondere noch an der Vernetzung wie „Lebensweise". Aber die rein progressive Etikettierung weicht einem Realitätsbewußtsein, das auch rückschrittliche Bewegungen miteinbezieht. Bei Raschke gehören dazu nicht nur die grundlegenderen Bewegungen, die sozialen Wandel herbeiführen wollen, sondern auch jene, die dies „verhindern oder rückgängig zu machen“ versuchen Frühere Bewegungsenthusiasten hatten größere Mühe zuzugeben, daß auch Faschismus und Nationalsozialismus aus Bewegungen hervorgegangen waren. Der Vergleich von Bewegungen vom Kommunismus bis zum Faschismus in der frühen Literatur von Heberle bis Wilson ist daher in der Linken vielfach angegriffen worden

Die Zusammenfassung von Kommunismus und Nationalismus als soziale Bewegung erschien ähnlich irreführend wie die Behandlung der Gemeinsamkeiten unter dem Stichwort totalitäre Herrschaftssysteme. Nicht ganz zu Unrecht, denn beide haben den Bewegungsbegriff mißbraucht und ad absurdum geführt, weil beide eine Variante des Transmissionsriemengedankens im Verhältnis der Partei zu den gesellschaftlichen Organisationen vertraten. Ein Minimum an Autonomie der organisatorischen Teile einer Bewegung gehört zum Begriff. Die Grenze verläuft bei den rechtsextremistischen Bewegungen etwa beim Peronismus, dem man eine gewisse Autonomie des Gewerkschaftssektors nicht absprechen kann.

Klammert man die Extreme staatsparteilich pervertierter Bewegungen einmal aus, so bleibt festzuhalten, daß für einen Sozialwissenschaftler Bewegung nicht politisch (links oder rechts) zu defi-nieren ist, und daß neue soziale Bewegungen noch weniger als die alten durch die Fundamentalopposition zum bestehenden System definiert werden können. Der Sozialwissenschaftler wird einem normativen Bewegungsbegriff widerstehen müssen, um die Komplexität der tatsächlichen organisatorischen Muster neuer Protest-und Beharrungsbewegungen in den Griff zu bekommen.

II. Die organisatorischen Verflechtungen von Parteien und neuen sozialen Bewegungen

Unter Vermeidung eines wertgeladenen Bewegungsbegriffs werden gewisse institutioneile Verfestigungen von Bewegungen klarer analysierbar als bei rein emphatisch-prozessualen Ansätzen. Damit fällt auch ein entspannterer Blick auf die Interaktion von Parteien und Bewegungen. Alle Parteien der Geschichte sind aus Bewegungen hervorgegangen. Die Vielzahl der Parteien, die keine Bewegung hinter sich hatten und aus vorübergehenden Führungscliquen entstanden, haben keinen Bestand gehabt. Das bedeutet aber nicht, daß die neuen sozialen Bewegungen schlicht ein analoges Verhältnis zu den Parteien halten wie die alten. Die Vorstellung, daß eine Bewegung zu Ende geht, wenn sie sich als Partei institutionalisiert, ist sowohl ahistorisch als auch für die Analyse der Gegenwart nicht recht zu gebrauchen. Das Verhältnis von Partei und Bewegung ist in vielen Ländern viel komplexer gewesen als in Deutschland, daher droht die Theoretisierung deutscher Erfahrungen für die Deutung der Vergangenheit wie der Zukunft in die Irre zu führen. Wo die Arbeiterbewegung nicht einfach von einer Partei dominiert wurde — und in den außerdeutschen Modellen war das nirgendwo der Fall —, war sie ein gutes Beispiel für die Koexistenz von Bewegung und Partei. Die Christdemokraten haben eine parallele Koexistenz mehrerer Bewegungssäulen von Anfang bis heute gezeigt.

Ein Teil der neuen Berührungsängste mit Parteien und der magischen Überhöhung der nichtinstitutionellen Aspekte der neuen sozialen Bewegungen resultiert aus der einseitigen Verabsolutierung deutscher Traditionen, die zum Teil falsch wahrgenommen werden. Die Angst vor der Institutionalisierung führte in der Wissenschaft zum bewußten oder unbewußten Übernehmen der altenWeber-Michels-Thesen über die Veralltäglichung des Charismas bei institutionalisierten Gruppen, die unweigerlich einem Oligarchisierungsprozeß unterworfen werden.

In der Organisationsgeschichte zeigt sich im Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland ein Paradoxon: Das zentralisierte Frankreich hat im gesellschaftlichen Bereich der Gruppen und Parteien fragmentiert reagiert, während die deutsche Antwort auf die staatliche Zersplitterung eine erstaunlich zentralisierte Gruppen-und Parteien-struktur war. Diese Organisationsstrukturen haben in beiden Ländern vier verschiedene Regime überlebt und erwiesen sich als wesentlich zählebiger als die Verfassungsinstitutionen. Die neuen sozialen Bewegungen haben bei uns insofern gemäß der deutschen Tradition gehandelt, als sie relativ rasch einen „Bundesverband der Bürgerinitiativen“ und eine „Partei auf Bundesebene“ hervorbrachten — zwei Institutionalisierungsversuche, die im Ausland gelegentlich Befremden über den Etatismus der Alternativen hervorgerufen haben.

Sich als Partei zu konstituieren, ist in Deutschland für jede relevante Gruppe eine der ersten Erwägungen, während sie in Ländern mit relativem Mehrheitswahlrecht und anderen hohen Zugangs-barrieren die letzte der möglichen Erwägungen ist. Im internationalen Vergleich zeigt sich, daß die Begriffe der Parteien-und Interessengruppen-forschung keineswegs völlig überholt sind.

In den USA hatte man schon immer geringere Probleme mit sozialen Bewegungen, weil sowohl die Parteien-als auch die Interessengruppenlandschaft von ihnen schon immer tief durchdrungen war. Während die ideellen Fördererverbände (promotional groups) bei uns politisch schwach und in den Gruppentypologien unterbelichtet blieben, waren sie in der amerikanischen Gruppentheorie gang und gäbe. Die „advocacy explosion“'\n der amerikanischen Gesellschaft wel-ehe immer mehr Gruppen stellvertretend für Unterprivilegierte handeln ließ, beseitigte viele Zweifel an der Uneigennützigkeit der neuen Bewegungen, die angesichts der Verquickung ideeller und wirtschaftlicher Interessen bei vielen der alten „promotional groups“ niemals ausgeräumt werden konnten. Soziale Bewegungen hatten in der liberalen Tradition Amerikas weniger fundamentaloppositionelle Grundstimmung und fühlten sich nicht beleidigt, neben dem am Ziel gewonnenen Begriff „movement“ in funktionalen Termini auch „pressure group“ genannt zu werden. Dieser Terminus drückt zwar harte Methoden, aber zugleich volle Anerkennung des Adressaten aus. Auch die Parteienlandschaft war in Amerika schon immer tief von sozialen Bewegungen penetriert. Die dritte Partei war von der Free Soil Party und der Now Nothings Party bis zu Sozialisten und Kommunisten in der Regel eine seltene Option. Soziale Bewegungen haben meist den Weg der Pressure groups, die Unterwanderung einer Partei — der Rechten sagte man die Unterwanderungstaktik nach, der Linken vielfach die Tendenz, sich eher als eigene Partei zu konstituieren — oder der außerparlamentarischen Opposition nach Art der Bürgerrechtsbewegung des SDS oder der Black Power vorgezogen Eigene politische Gruppen-bildung war vielfach nur eine Auseinandersetzung von Fraktionen innerhalb einer großen Partei wie bei der Wallace-Bewegung. Die Ventilfunktion dritter Parteien ist bedeutend, so gering ihre direkte politische Durchsetzungsfähigkeit auch prima vista gewesen ist.

Meine These ist, daß gerade die neuen sozialen Bewegungen Annäherungen an amerikanische Konfliktaustragungsmuster in Europa mit sich gebracht haben. Es gibt heute nach Auflösung der ideologischen Versäulung mehr von einem radikaldemokratischen Konsens bis hin zur Linken, die kein grundsätzlich anderes System mehr (kein realer Sozialismus hat dauerhafte Sogwirkung behalten können), sondern zu den Ursprüngen des Demokratiegehalts der Verfassungsordnung zurück will. Huntington hat für Amerika einen permanenten Konflikt zwischen Idealen und Institutionen herausgearbeitet. Manches davon wird von der Basisbewegung auch bei uns übernommen

Europa hat mit seinen überlappenden Konfliktlinien, die jeder aus einer tiefen Systemkrise (liberale und nationale Bewegung, Arbeiterbewegung)

oder wenigstens aus einer sektoralen Partialkrise hervorgingen (z. B. Agrarbewegung, christlich-sozialeBewegung), die Relikte überwundener Krisen weiter mitgeschleppt. Funktionswandel schuf neue Aufgaben für überholte Gruppierungen (z. B. Ökopartei für die ehemaligen Agrarparteien, die sich in Zentrumsparteien umbenannten).

Damit wurden vielfältige Strukturen zum Aufsaugen neuer Protestbewegungen im politischen Raum bereitgestellt. Wo die Aufsaugfunktion gewährleistet war, wurde das Entstehen einer eigenen Ökopartei von Skandinavien bis Italien verhindert Aber auch hier waren angesichts der eingefrorenen Parteienstruktur neue soziale Bewegungen eher auf den Weg der innerparteilichen Fraktionsbildung als auf den der Parteineugründung verwiesen

Historisch gesehen waren die Beziehungen von den damals neuen sozialen Bewegungen zu den bestehenden Gruppen und Parteien immer viel enger, als von den Interpreten eines epochalen Paradigmawandels in der Gruppenszene zur Kenntnis genommen wird. Am auffälligsten ist das in der Friedensbewegung, wo die Aktion in bestehenden Großorganisationen am stärksten war. Aber auch in der Ökobewegung sind nicht nur neue eigene Sprachrohre geschaffen worden und die kleinen Bürgerinitiativen würden von den Machtadressaten kaum ernst genommen, wenn nicht große Gruppen ihre Interessen verstärkten.

Der Erfolg, den die jeweiligen Bewegungen hatten, ließ sich nicht an der jeweils gewählten Organisationsform festmachen. Die Studentenbewegungen hatten in der Bildungspolitik mit ihrer Druckpolitik vorübergehend großen Erfolg, als sie jedoch politisch die Arbeiter zu organisieren versuchten, erlitten sie totalen Schiffbruch. Die Friedensbewegung — soweit man von Erfolgen reden kann — entwickelte sich zum Teil an den Grünen vorbei. Durch den oben erwähnten raschen Themenwechsel wurden Erfolge durch diskontinuierliche Politik zunichte gemacht. Als man nach Tschernobyl die Kernkraftwerke wieder aufs Korn nahm, „vergaß“ man im gleichen Sektor der Energiepolitik vieles von dem, was man über Kohlekraftwerke zuvor schon erkannt hatte.

Der Verfasser ist vor der Bundestagswahl 1980 in der Sendung „pro und contra“ als Sachverständi-ger gegen den Plan, die Grünen als Bundespartei kandidieren zu lassen, aufgetreten. Im Lichte der Beharrungstendenzen nationaler Organisationsmuster würde ich manche meiner damaligen Empfehlungen, lieber nach amerikanischem Vorbild freie Bewegung zu bleiben, die Druck auf alle Parteien ausübt, inzwischen modifizieren. Die Möglichkeit, der politisch heimatlosen unorthodoxen Linken endlich einen Regenschirm aufzuspannen, mit dem sie trotz aller Heterogenität des geistigen Hintergrunds aus dem Regen der Marginalisierung herauszukommen versucht, wäre für mich heute ein gewichtiges Argument für die Organisation als Partei. Der Erfolg der Parteienkonstituierung könnte hingegen rückwirkend nicht ohne weiteres geltend gemacht werden. In vergleichender Perspektive fällt eher auf, daß schwache, reformistische Umwelt-und Anti-AKW-Bewegungen in Schweden und in den USA im Vergleich zu den Grünen als Partei noch immer durchsetzungsfähiger sind Ein solches Urteil bedarf allerdings der Einschränkung, daß ein Agieren als Bürgerinitiativverband in Deutschland vermutlich keine größeren Erfolge gezeitigt hätte. Auf die Dauer könnte durch die Koalitionssogwirkung auf die SPD der Erfolg der Grünen sogar größer werden, als er auch mit der geschicktesten Pressuregroup-Politik hätte sein können. Zudem sind die Möglichkeiten dieser Politik dank der Ansatzpunkte dezentralisierter Entscheidungsstrukturen — Föderalismus, lückenloses Verwaltungsrechtssystem mit Klagemöglichkeiten, die weit über die Möglichkeiten der meisten Rechtsstaaten hinaus gehen — im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich ziemlich gut ausgenutzt worden. In der Erweiterung der Themenpalette um das Friedens-thema ist die deutsche Bewegung sogar allen anderen Bewegungen voraus

III. Die Komplementarität der Aktionsformen auf der Ebene individuellen politischen Verhaltens

Eine letzte These lautet, daß die neuen sozialen Bewegungen den Parteien noch weniger radikal-alternativ gegenübergestellt werden können als früher, weil es eine größere Rollendifferenzierung im politischen Verhalten der Individuen gibt als je zuvor. Die alten versäulten Subkulturen der Bewegungen, vor allem der von der Wahlpolitik ausgeschlossenen (Sozialisten) oder durch sonstige Restriktionen unterprivilegierten Gruppen (Kulturkampf gegen christliche Parteien) haben keine Vielfalt des politischen Verhaltens erzeugt wie moderne soziale Bewegungen. Man hat einen Unterschied zu früher darin gesehen, daß die neuen sozialen Bewegungen vom neuen Milieu profitierten, während die etablierten Parteien in ihrem traditionellen Milieu kaum noch verankert sind Auch diese Annahme ist zum Teil Frucht des Wünschens. Das neue Milieu bleibt weit autonomer gegenüber der Partei neuen Typs als es das alte Milieu jemals gegenüber einer Partei gewesen ist. Die These von der neuen Subkultur wird von vielen Anhängern der neuen sozialen Bewegungen auch eher für bedenklich gehalten. Traditionell haben solche Unterscheidungen der Stigmatisierung mehr als der Erweiterung von Spielräumen gedient Keine moderne Bewegung kann verhindern, daß ihre Teile bestimmte Aktionsformen wählen und aus der großen Verweigerung heraustreten, wie das im 19. Jahrhundert noch vorkam. Damals konnte die Kirche in Italien bis zum Durchbruch der Popolari-Partei Don Sturzos 1919 fünf Jahrzehnte ihre Bewegung in eine unpolitische Wahlboykott-und Parteienbildungsverbotspolitik kommandieren. Heute ließe sich weder Wahlboykott noch Wahlbeteiligung steuern, weil Individuen und Gruppen in der Bewegung viel zu autonom geworden sind.

Eine gewisse minimale Arbeitsteilung stellt sich jedoch nicht nur zwischen den kollektiven Organisationsformen her, sondern entsteht als Ausdifferenzierung von Rollen, über deren Einsatz Individuen und Kleingruppen relativ autonom und unabhängig von einer Bewegung entscheiden. Vorbei sind die Zeiten, da man vom Durchschnittsbürger nur konventionelles Verhalten erwartete, das die Wahl-und Partizipationsforschung zu mehr oder weniger gebändigten Modellen der elitären Demokratie verarbeitete. Vorbei erscheinen auch die Zeiten, da alles unkonventionelle Verhalten als „revolutionär“ eingestuft und der Revolutions-und Terrorismusforschung überantwortet wird (das bedeutet freilich nicht, daß vor allem einzelne politische Akteure heute immer noch gern nach dem veralteten Forschungsstand verfahren möchten). Selbst Verhalten gegen das Regime wird heute vielfach neutral als „unkonventionelles“ oder stärker als „aggressives“ politisches Verhalten definiert

Ein Teil des „aggressiv“ erscheinenden politischen Verhaltens ist weder persönlich noch sozial-strukturell exklusiv. Individuen gehören nur, wenn sie im Terroristenmilieu fest verankert sind, noch Gruppen an, die grundsätzlich konventionelles politisches Verhalten meiden. Auch als Individuen neigen sie zum Nebeneinander politischer Verhaltensformen. Nicht wenige der motivierenden Theorien sind tentativ formuliert. Ein einflußreiches Buch heißt „An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie“. Das Mehrheitsprinzip wird nicht mehr in Bausch und Bogen verurteilt Das alte Dilemma der Demokratietheorie, daß Minderheiten ihre Zielvorstellungen intensiver wünschen als heterogene Sandhaufenmehrheiten wird erneut zum Gegenstand des Räsonnements. Kaum jemand geht jedoch den gefährlichen antidemokratischen Weg, das Stimmenwägen anstatt des Stimmenzählens zu empfehlen. Moderne Bewegungen beschränken sich auf ein „corriger la fortune“, in dem sie im Protest die Chancen von Minderheiten verbessern. Protest ist der große Gleichmacher. Konventionelles Wahlverhalten benachteiligt kleine Gruppen. Unkonventionelles Verhalten gibt Minderheiten ein größeres Gewicht Gleichmacherei liegt zusätzlich in der Diffusion der Mittel, die einst auf Unterschichtenbewegungen beschränkt waren. Selbst im ruhigen Nordeuropa gibt es gelegentlich Ärztestreiks, und junge Unternehmer benutzen heute gelegentlich die Straßendemonstration, die sie früher als „gewerkschaftliches Mittel“ verabscheut hätten. Da es kaum noch Mitteltabus gibt — abgesehen von offener Violenz — ist der Freizeitprotestler nicht selten zugleich der durchaus rational abwägende Wähler und Teilnehmer an einer friedlichen Bürgerinitiative. Nur übertriebene Stigmatisierung durch staatliche Repression könnte die säuberlich abgegrenzten Revolutionsgruppen wieder herstellen, die das unkonventionelle Verhalten aus der Zeit des Primats der Arbeiterbewegung kennzeichnete.

Auf dem Berliner Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft von 1982, der Anlaß zur Spaltung der Vereinigung wurde, artikulierten sich noch überwiegend die Zeugen eines Epochenwandels durch neue soziale Bewegungen. Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, daß der Schock der Spaltung zur Ernüchterung auch in diesem Forschungsbereich führte. Die folgende wissenschaftliche Tagung von 1983 in Mannheim hat sich mehr um die Verbindungslinien von Parteien, Wählern und sozialen Bewegungen gekümmert. Die Behavioralisten haben damit einiges ernüchterndes Wasser in den Wein des Bewegungsenthusiasmus gegossen. Einige dieser neueren Arbeiten zeigten: Der Konflikt zwischen alter und neuer Politik liegt quer zu den Konfliktlinien des eingefrorenen Parteiensystems und wird von den bestehenden und den neuen Parteien in unterschiedlicher Weise verarbeitet, ohne das Parteien-system an sich zu zerstören. Für die Herausbildung eines neuen, lebensweltlichen Paradigmas scheinen bestimmte ausdifferenzierte Parteiensysteme günstiger zu sein als stark konzentrierte

In Dänemark, den Niederlanden und in Deutschland ließe sich ein Zusammenhang zwischen Anhängern neuer sozialer Bewegungen und kleineren postmaterialistischen Linksparteien nachweisen. In anderen Ländern wie Schweden, wo sich die etablierten Parteien des Themenfeldes annahmen, wurden diese auch „elektoral" belohnt Die Euphorie eines unilinearen Erklärungsmodells wurde gemildert. Es gab einmal eine unheilige Allianz von antiszientistisch gestimmten Alternativen, welche die frohe Botschaft von Ingleharts „Silent Revolution“ auf szientistischer Grundlage verkündeten, daß pro Jahr etwa 1 % Zuwachs an Postmaterialisten zu verzeichnen sei. Manchmal wurde man an die Illusionen der Kautskyschen Sozialdemokratie erinnert, die sich ausrechnete, wann sie elektoral zum Siege kommen müsse — ohne Kenntnis davon, daß verbales Verhalten sich nicht in tatsächliches politisches Verhalten umsetzen muß, und daß die Gewinnung von Mehrheiten mit Konzessionen an vielfältige Sozialgruppen verbunden ist, die der Geschlossenheit eines Programms nicht bekommen. Sie könnten wie einst bei der Sozialdemokratie dazu führen, daß etwa sovieie Verluste an Kern-wählerschaft zu verzeichnen sind, wie es Zugewinne in neuen Zielgruppen gegeben hat Befragungen zeigten, daß nur knapp die Hälfte der Postmaterialisten zu den Grünen neigten. Hauptproblem wurde der Umkehrschluß, warum 65— 75% der sozialstrukturellen Kerntruppen der neuen sozialen Bewegungen (Gebildete, Studierende, Ledige, konfessionell nicht gebundene) eine Option für die etablierten Parteien haben. Sozialisations-und Kommunikationsvariablen erklären die Differenz Sie legen aber die Vermutung nahe, daß angesichts der sich pluralisierenden differenziellen Kontakte von Individuen neue Gruppen es schwer haben, ein größeres sozialstrukturelles Milieu dauerhaft aufzubauen.

Der oben erwähnte Vorteil der Milieustütze für die neuen Parteien wird damit — angesichts der organisatorischen Defizite der Parteien neuen Typs — rasch wieder aufgewogen.

Neuere nichtlineare Erklärungen des Anwachsens der neuen sozialen Bewegungen begnügen sich jedoch nicht mit der Hoffnung auf den Selbstlaufder Ausweitung von postmateriellen Einstellungen in unserer Gesellschaft, sondern sehen die Empfänglichkeit für postmaterielle Botschaften in Wellen des neuen Idealismus, verbunden mit realen Chanceneinschätzungen für die eigene Karriere „Grüner an sich“ wird „Grüner für sich“ nicht selten durch die Einbrüche auf dem akademischen Arbeitsmarkt. Diese Erklärungsmuster lassen die Prognosen für die dauerhafte elektorale Etablierung des Protests der neuen sozialen Bewegungen nicht günstig erscheinen. Die unsicheren Prognosen sind relevant, noch ehe sie ihre Berechtigung erwiesen haben, wenn sie im Verhalten der potentiellen Anhängerschaft der neuen sozialen Bewegungen schon heute das zweigleisige Verhalten — die Arbeitsteilung von konventioneller und unkonventioneller politischer Aktivität — verstärken. Ein Schematismus der 30-Jahres-Zyklen, wie sie Beck für die USA festzustellen glaubte, wird sich für Deutschland kaum nachweisen lassen Die abnehmenden Partei-bindungen der dritten Generation werden durch den säkularen Prozeß der Abnahme von Partei-identifikation überlappt und lassen genaue Zeitangaben eher irreführend werden.

Fussnoten

Fußnoten

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Weitere Inhalte

Klaus von Beyme, Dr. phil., geb. 1934; von 1967 bis 1974 Professor für Politikwissenschaft in Tübingen, seit 1974 in Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Parlamentarische Regierungssysteme in Europa, 19732; Politische Theorien der Gegenwart, 1986 6; Interessengruppen in der Demokratie, 1980 5; Parteien in westlichen Demokratien, 1984 2; Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 1985 4.