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Können Frauen die Politik verändern? | APuZ 9-10/1987 | bpb.de

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APuZ 9-10/1987 Politik: Noch immer kein Beruf für Frauen? Frauen an die Macht!? Politische Strategien zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau Können Frauen die Politik verändern?

Können Frauen die Politik verändern?

Carol Hagemann-White

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Annahme, daß Frauen anders denken und sich politisch anders verhalten können als Männer, entspricht mancher Alltagserfahrung. Diese Verschiedenheit ist jedoch das Erbe einer erst im 19. Jahrhundert entstandenen Aufspaltung von Lebens-und Tätigkeitsbereichen. Die moderne staatsbürgerliche Öffentlichkeit —das Medium der Politik heute— hat sich im Zuge der historisch neuen Polarisierung von „männlich“ und „weiblich“ durch Ausschluß von Frauen konstituiert. Zwischen der jeweiligen Eigenart — den Anforderungen und entsprechenden Verhaltensmustern — von Familiensphäre einerseits und Arbeitswelt/Politik andererseits klafften zunehmend Widersprüche, die vor allem Frauen als inneren Konflikt erfuhren. Darüber hinaus verschwand der gesamte Bereich der Generativität aus dem Blick einer männlich orientierten Öffentlichkeit: Diejenigen Denk-und Handlungsweisen und die spezifische Moral, die der Fürsorge von Menschen füreinander und für die nächste Generation entsprechen, wurden abgespalten; es galt und gilt als naiv, sie im harten Berufsleben geltend zu machen. Durch ihre weitaus größere Beweglichkeit zwischen Arbeit und Engagement in beiden Sphären, Familie sowie Arbeitswelt, und durch ihre zusätzlichen Kompetenzen aus der Erfahrung mit der mütterlichen Praxis vermögen Frauen Politik anders aufzufassen und anders geartete Strategien der Lösung politischer Probleme zu entwickeln, als dies in der Regel Männer tun. Erst wenn der politische Prozeß und die politischen Institutionen gleichwertig durch die weibliche Sicht bestimmt werden, können sie allgemeinen und nicht nur partikulären Interessen gerecht werden.

Das Vorurteil, Frauen seien seelisch, geistig und moralisch „anders“ als Männer, dient seit Jahrhunderten dazu, ihr Handeln und Wirken zu begrenzen. Wenngleich die Stereotypen — das eine mal mehr, das andere mal weniger— an manche Erfahrungen des Alltags anknüpften, so dienten pauschale Behauptungen über Frauen und Männer meist dazu, die tatsächliche Vielfalt der Wirklichkeit zum Nachteil der Frauen starr zu regeln.

Eine ebenso lange Tradition hat die Ansicht, daß alle Menschen Anteile von Weiblichkeit und von Männlichkeit in sich tragen. Eine umfangreiche Literatur auch aus der neueren Frauenforschung bestätigt, daß es für die Zuordnung von bestimmten Sicht-und Verhaltensweisen zur Männlichkeit und zur Weiblichkeit durchaus Gründe gibt. Es handelt sich dabei vielfach um Eigenschaften, die bei Angehörigen beider Geschlechter sozial geschätzt, jedoch von Frauen (bzw. von Männern) in höherem Maße erwartet werden. So äußerten Professoren in Interviews, die Kollegin X oder Y sei allgemein anerkannt, da sie in schwierigen Zeiten „der einzige Mann am Fachbereich“ gewesen sei. Dabei nahm der Sprecher selbstverständlich an, es werde jeder verstehen, was da gemeint ist, nämlich ein besonderes Lob der Frau Allerdings stehen Weiblichkeit und Männlichkeit in der sozialen Wertschätzung keineswegs gleichrangig, denn die umgekehrte Aussage über einen männlichen Kollegen wäre nur abwertend vorstellbar.

Das bestimmende Prinzip der Weiblichkeit wird in einer vielzitierten Definition von Jacques Bakan als „Teilhabe/Gemeinschaft“ bezeichnet, das der Männlichkeit als „Handeln/Bewirken“ Der weiblichen Sicht entspringen Gefühle, Werte und Verhaltensweisen, die das Angewiesensein der Menschen aufeinander berücksichtigen und im Konfliktfall für alle erträgliche Problemlösungen suchen. Die männliche Sicht berücksichtigt hingegen vor allem die Erfordernisse und Ansprüche eines autonom handelnden Subjekts, welches Vorhaben entwirft und den Verzicht auf Bindungen und Sicherheiten als Preis in Kauf nimmt, um sie in die Tat umzusetzen. Doch wäre es vorschnell, aus dieser Gegenüberstellung Schlüsse für das politische Wirken der Geschlechter zu ziehen, denn sie ist historisch entstanden und nimmt an gesellschaftlichen Veränderungen teil. Erst im Zusammenhang mit den Bedingungen, die sie hervorbringen, können wir die Polarität weiblich/männlich als Quelle möglichen Wandels in der Politik einschätzen.

Von der Trennung der Sphären zum inneren Konflikt

Die unterschiedlichen und ungleichen Rollen von Frau und Mann werden vielfach als Restbestände einer jahrtausendealten Tradition angesehen, sozusagen als Übrigbleibsel aus dem finsteren Mittelalter. Erst neuere kritische historische Studien haben entdeckt, daß die Polarität der Geschlechtscharaktere und die Vorstellung von weiblichen und männlichen Sphären der Tätig-keit ein Produkt des industriellen Zeitalters sind

Davor gab es zwar „Frauenarbeit“ und „Männerarbeit“, doch beides war für die Masse der Bevölkerung körperliche Schwerarbeit, und — wie heute noch in der Landwirtschaft— „Frauenarbeit“ wie „Männerarbeit“ waren unverzichtbar sich ergänzende Bestandteile eines Produktionsprozesses. Keiner wäre auf die Idee gekommen, daß die Frau deshalb anderer Persönlichkeits-merkmale, anderer Empfindungen bedürfe als der Mann. Nicht die Frau als solche, sondern die Tochter einer Bäuerin konnte die Molkereiwirtschaft betreiben, doch nicht, weil sie besonders gefühlvoll oder zart besaitet war, sondern weil sie aufgrund des Standes ihrer Geburt dazu bestimmt war und es von Kindesbeinen an gelernt hatte. Arbeitsteilung in der ständischen Gesellschaft war vielfältig gegliedert und erschien lebenspraktisch sinnvoll; das Geschlecht war nur ein Gliederungsprinzip unter vielen.

Am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt im gebildeten Bürgertum die Vorstellung Raum zu greifen, daß die Frau und der Mann als solche von Natur aus verschiedene Menschen seien. Das ist nicht selbstverständlich gewesen. Erst im 18. Jahrhundert löste sich das Bürgertum aus seiner Einbindung in die alte, ständische Gesellschaft, materiell wie geistig; es entstand die Idee des Staatsbürgers. Radikalster Ausdruck dieser Loslösung war die Philosophie der Aufklärung, ihre Auffassung von Vernunft und von den Menschenrechten.

Eine kurze Zeit lang bildete diese neue geistige Grundhaltung auch die Basis für eine neue Gemeinschaft gebildeter und freier Geister. Wer sich dieser Denkweise anschloß, wollte sich aus der ständischen Gesellschaft lösen und der Gemeinschaft vernunftbegabter und bildungswilliger Menschen angehören; man suchte die Bekanntschaft miteinander und den intensiven geistigen Austausch. Alle Besonderheiten der Herkunft, der Religion und des Standes sollten demgegenüber bedeutungslos werden. In diesen Kreisen wurde die Assimilation der Juden erstmals — ein Novum von beiden Seiten her— gedacht und dann gefordert Und in den Kreisen der Aufklärung bis in die Frühromantik hinein gelangten auch Frauen zur Bedeutung, waren — wenn auch vereinzelt — vollwertige geistige Partner

Doch die Radikalität des Anspruchs der Aufklärung schoß weit über die damalige Gesellschaftswirklichkeit hinaus. Eine wesentliche Organisationsform der Geisteselite war z. B. das Freimau-rertum, das (zum großen Bedauern Lessings) für Juden (aber auch für Frauen) verschlossen blieb. Aus der Humboldtschen Idee einer Universität als freie Gemeinschaft wahrheitssuchender Geister, unter denen es keine Unterschiede (und schon gar nicht einen solchen im Entscheidungsrecht über Inhalte der Forschung) zwischen Professoren und Studenten geben könne, wurde dann die beamtenrechtlich und hierarchisch gegliederte Universität, an der weder Juden berufen werden noch Frauen studieren konnten.

In dem Maße, wie die formale Bildung —Gymnasien und Hochschule — zur Voraussetzung der Teilhabe am Bildungsbürgertum wurde und die bisher übliche freie Aneignung von Kenntnissen durch Hauslehrer, eigene Lektüre und Gespräche entwertet wurde, im selben Maße wurden die Frauen wirksam und systematisch aus dieser Geisteselite ausgeschlossen Anstelle der Idee der Gleichheit der Menschen begannen psychologische Theorien zu entstehen, die die bis dahin von Überlieferung und Sitte getragenen Unterschiede nunmehr als Ausdruck angeborener seelischer Verschiedenheit zu denken begannen. Zu dieser Zeit entstanden erstmals Theorien über die rassisch bedingte seelische Andersartigkeit der Juden, die ihrer Integration im Wege stünde. Auf eine kurze Formel gebracht: Erst der Zerfall ständischer Grenzen, die Auflösung der realen Notwendigkeit für ihre Trennungen, rief die Psychologie als Rechtfertigung für deren Aufrechterhaltung hervor.

Die mit der Aufklärung einhergehende Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die die Grundlage für unsere modernen Rechtsstaaten mit parlamentarischer Regierungsform wurde, nahm um die Wende zum 19. Jahrhundert Formen an, die Frauen ausschlossen Dies war der Beginn des Phänomens fehlender politischer Partizipation von Frauen. Wir wissen heute, daß Frauen in der Vergangenheit keineswegs immer unpolitisch waren, sondern daß sie sowohl bei politischen Akten und Repräsentationen der Herrschenden als auch bei Aufständen des Volkes durchaus eine aktive und öffentliche Rolle spielten.

Erst zum 19. Jahrhundert hin veränderte sich dies grundlegend. Die damals neu entstehenden Institutionen und Formen politischer Aktivität waren zunächst Kaffeehausgesellschaften (insbesondere in England) und Lesegesellschaften (insbesondere in Deutschland), es waren in zunehmendem Maße Vereine, die Presse, höhere Bildungseinrichtungen und in ihnen Burschenschaften, später Parteien und Parlamente. Alle diese Institutionen zeichnen sich dadurch aus, daß sie Frauen ausdrücklich ausgeschlossen haben. Wo dies nicht durch die eigenen Statuten der Einrichtungen gewährleistet war, wie bei den Lesegesellschaften, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in allen Städten Deutschlands entstanden, gab es im Laufe des 19. Jahrhunderts ausdrückliche gesetzliche Verbote. Doch war diese Ausgrenzung mit einem Begründungsbedürfnis verbunden. Die männliche Sphäre sollte sich dem Inhalt und dem Wesen nach als männlich (und daher für Frauen unzugänglich) beweisen und bestätigen.

Damit ging aber eine einseitige Prägung des Bereichs der Politik einher; die als männlich angesehenen Werte, Fähigkeiten und Vorstellungen wurden in überzogener Ausprägung hochgezüchtet und zur alleinigen Geltung gebracht, während die als weiblich angesehenen abgewehrt, ausgeschlossen und verlacht wurden. Moderne bürgerliche Öffentlichkeit konstituierte sich u. a. durch den Ausschluß von Frauen und darüber hinaus durch eine Geringschätzung des Weiblichen. So wurde die Sphäre der Politik nicht nur zu einem ungewohnten Betätigungsfeld für Frauen, als ihnen der Zugang dazu formal wieder gewährt wurde, sondern auch zu einem Feld, in dem ihnen vieles fremd, uneinsichtig und unsympathisch erscheint.

Der Ausschluß der Frauen aus der bürgerlichen Öffentlichkeit wäre wohl kaum möglich gewesen, wenn nicht zugleich eine grundlegende Neustrukturierung des gesellschaftlichen Lebens im 19. Jahrhundert erfolgt wäre. Im Zuge der Industrialisierung, der Herausbildung des Bürgertums sowie der Verstädterung erfolgte eine vorher nie gekannte Zweiteilung zwischen öffentlichen und privaten Lebensbereichen. Diese Aufsplitterung der Erfahrungs-und Verantwortungsbereiche war Teil einer gesamten, historisch neuen Situation der Frau, die ihre Rolle in Arbeit und Öffentlichkeit, ihre Einbindung in die Generationenfolge und ihre sexuelle und persönliche Unterordnung betraf.

Im Zusammenhang damit entstand allmählich eine Entgegensetzung der moralischen und sozialen Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit, die sie als schlechthin einander entgegengesetzt und miteinander unvereinbar bestimmte. Männer sollten z. B. rational und sachlich sein, aber angriffslustig und wehrfähig. Ihre Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit mußten sie mit Selbstverständlichkeit in formal-juristische, abstrakte Regelungen übersetzen können; und da jede Verwirklichung von Zielen davon abhängt, daß man dazu auch die Macht hat, wurde Macht zu einem Ziel, das um seiner selbst willen angestrebt wird. Machtbeziehungen unter Männern wurden zunehmend durch Verkehrsnormen bestimmt, die rationalen und bürokratischen Regel-systemen entstammen. Diese Strukturen haben sich verfestigt und verselbständigt; sie prägen unser Bild davon, was in der Arbeitswelt und in der Politik als „normal“ angesehen wird.

Die Zuständigkeit von Frauen für das Private bedeutete notwendig, daß sie nur ein enges Feld und beschränkte Möglichkeiten der Einflußnahme hatten. Diffuse persönliche Beziehungen, emotionale und familienbezogene Fähigkeiten waren für die soziale Position entscheidend, die eine Frau erreichen konnte. Innerhalb der Familie gibt es nämlich keinen Aufstieg durch Kenntnis der Spielregeln oder durch Geschick —wie bei ungleicher Macht im öffentlichen Leben —, sondern allenfalls eine indirekte Umstellung der familiären Machtverhältnisse, wobei Mittel wie Manipulation, Fürsorge oder Opfer-haltung eingesetzt werden können.

Im 19. Jahrhundert wurde es moralisch undenkbar, daß Frauen Macht offen anstreben oder ausüben könnten. Frau-sein wurde als Nähe zur Ohnmacht bestimmt: Selbst die Stärke der Frau bestand in ihrer Fürsorge für die, die noch ohnmächtig sind oder sich vorübergehend von den Blessuren der öffentlichen Machtkämpfe erholen müssen.

Im 20. Jahrhundert sind die formalen und rechtlichen Beschränkungen, die Frauen den Zugang zu Bildung, Beruf und politischer Betätigung ver31 wehrten, nach und nach gefallen. Mit der Angleichung der Bildungs-und Erfahrungsmöglichkeiten der Geschlechter hat sich die reale Grundlage dieser psychischen Polarität in erheblichem Maße aufgelöst, ohne daß die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Vorstellungen an Wirkungskraft verloren hätten. In dem Maße, in dem Frauen die häuslich-familiäre Zuordnung nicht mehr als dauerhafte und alleinige Bestimmung ihres Lebens annahmen und in öffentliche Bereiche eindrangen, wurden sie auch zunehmend konfrontiert mit dem öffentlichen, stärker von außen strukturierten männlichen Machtmuster. Die eben skizzierte Trennlinie zwischen an sich unvereinbaren moralischen Systemen, die im 19. Jahrhundert noch als Trennlinie zwischen den Geschlechtern angesehen werden konnte, wurde damit als individuelles Problem und als dauerhafter Entscheidungs-und Identitätskonflikt in die Frau hineinverlagert.

Diesem Konflikthintergrund ist es zuzuschreiben, daß bis vor wenigen Jahren das „besondere“ Verhältnis von Frauen zu Macht und zu Politik vor allem als Abstinenz und als Indirektheit bestimmt werden konnte. Frauen suchten nicht die Macht, sondern die Nähe mächtiger Männer. Politik war im Kern eine Veranstaltung, die Männer ihnen vorführten, deren Glaubwürdigkeit und Tauglichkeit sie durch Wahl oder Zuarbeit anerkannten oder auch nicht. Zur Disposition stand auch die Haltung, die ganze Veranstaltung unglaubwürdig oder einfach uninteressant zu finden. Männer haben Politik gemacht, Frauen waren bestenfalls mit dabei.

Zu diesem Zustand haben beide Geschlechter aktiv beigetragen. Von der Politik läßt sich nicht behaupten (wie in gewissen Bereichen der Erwerbstätigkeit oder familialer Gewaltverhältnisse), daß Frauen aus purer Überlebensnot und Angst gezwungen werden, den unterlegenen Part zu übernehmen. Es geht um Macht und weniger um Gewalt Trotz aller Schwierigkeiten hatten viele Frauen die Möglichkeit zur Teilnahme an Politik, und sie nahmen anders teil als Männer. Diese andere Partizipation erschien lange Zeit entweder als Defizit der Frauen oder als Diskriminierung durch Männer. Erst heute beginnt sich abzuzeichnen, daß eine andere Gestaltung von Politik die Bedingung für die Aktivität von Frauen ist.

Strukturelle Bedingungen für einen weiblichen Zugang zur Politik

Die skizzierte historische Entwicklung weist zwei sich widersprechende Tendenzen auf. Einerseits setzt sich eine zunehmende Angleichung der Tätigkeitsfelder und Handlungsmöglichkeiten der Geschlechter durch. Dem entspricht, daß die empirische Forschung über Geschlechtsunterschiede in den Fähigkeiten und Eigenschaften von Mädchen und Jungen kaum noch praktisch bedeutsame Unterschiede zu erfassen vermag Andererseits aber sehen wir, daß die Ausprägung einer seelischen Verschiedenartigkeit der Geschlechter und der damit verbundene Ausschluß von Frauen aus der bürgerlichen Öffentlichkeit geradezu ein Produkt des 19. Jahrhunderts sind.

Das breite und lebhafte Interesse von Frauen aus allen politischen Richtungen und allen Schichten an einer endlich wirksam werdenden Frauenpolitik wird gerade von der Erfahrung getrieben, daß die heutigen Gesellschaftsverhältnisse die Differenz der Geschlechter weiterhin begünstigen, ja hervorbringen. Längst ist auch nicht mehr von einer bloß formalen Gleichberechtigung die Rede, sondern von der Notwendigkeit, der einseitig männlichen Prägung von Berufen, Politik und Öffentlichkeit entgegenzutreten, weibliche Werte und weibliche Sichtweisen stärker zur Geltung zu bringen.

Zu fragen ist also, worauf solche Differenz von Weiblichkeit und Männlichkeit heute noch beruht. Die Quelle der Differenz scheint eine doppelte zu sein, deren eine Seite die Entwicklung zur Angleichung stärker integriert. Diese doppelte Quelle ist im übrigen ein Grund für die sehr heftigen Kontroversen, ob denn das „Besondere“ der Frauen eine politisch tragfähige Perspektive biete, ob eine „Politik des Unterschieds“ den Weg nach vorne oder nach rückwärts weise. Denn je nachdem, von welcher Quelle aus die im Alltag erfahrenen Unterschiede gesehen werden, erscheint aus der einen Sicht die Angleichung, aus der anderen Sicht die Differenz wesentlich.

Differenz in der Angleichung Die eine Quelle hartnäckig fortbestehender Differenzen ist in den strukturellen Widersprüchen zwischen Familiensphäre (oder Lebenswelt) und Arbeitswelt zu suchen. Nach wie vor sind die Anforderungen an die Menschen und die in der Lebenspraxis jeweils entstehenden Fähigkeiten und Eigenschaften in Familie und Arbeitswelt einander geradezu unvereinbar entgegengesetzt.

Der verantwortliche Umgang mit einem Kleinkind entspricht nicht Verhaltensweisen im Beruf — und umgekehrt. Durch das historische Auseinanderfallen der beiden Bereiche und ihre jeweils erzwungene Einseitigkeit hat sich diese Widersprüchlichkeit so vertieft, daß sie —werden beide Seiten ernsthaft gelebt— die Menschen eher zerreißt als daß sie sich gegenseitig ergänzen würden: Berufstätige Mütter wissen dies nur zu gut.

Wesentlich für die Bedeutung dieser Widersprüchlichkeit für die Politik ist aber die Tatsache, daß die Polarität von Familie und Arbeitswelt für alle Individuen erlebbar und —zumindest untergründig — prägend ist. Die Zuordnung der Frauen zur Familie und der Männer zur Arbeitswelt gilt normativ noch immer, und vieles, was im Alltag als „geschlechtstypisch“ zu beobachten ist, ist genau darauf zurückzuführen, daß z. B. von Frauen die sozialbezogenen Fähigkeiten der Familiensphäre erwartet werden. Doch zwischen beiden Sphären ist das Leben aller Individuen eingespannt, ob sie sich im Moment aktiv in beiden betätigen oder nicht. Die Beschreibung der Widersprüche ist einfacher zu fassen, wenn wir die eine Seite als die des Mannes und die andere als die der Frau bezeichnen, doch handelt es sich um weibliche und männliche Anteile innerhalb eines jeden Individuums, die je nach Bedarf, Kontext und Neigung zugelassen werden können oder auch nicht.

An dieser Stelle soll nur kurz und exemplarisch auf den Inhalt dieser Polarität eingegangen werden Ist mit der Industrialisierung die Arbeit abstrakt, die Arbeitskraft austauschbar geworden, so wird in der Familiensphäre die soziale Beziehung vor allem durch die Unverwechselbarkeit der einzelnen mit ihren Eigentümlichkeiten bestimmt. Aus dieser Sphäre erwächst u. a. ein Gerechtigkeitsempfinden, welches davon ausgeht, daß der Person das ihr gerecht werdende zuteil werden sollte, nicht aber jedem das Gleiche.

In dem Maße, wie der Mann die Seite der formalen Gleichheit, gegründet auf verallgemeinerten Positionsmerkmalen, zu denken und in Rechnung zu stellen gelernt hat, wird für ihn das formale Recht zu einem brauchbaren Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen im Konfliktfall. Insofern die Frau der Seite der Verschiedenheit nahesteht, wird z. B. jede Regelung des Familien-rechts die Frau tendenziell ins Nachteil setzen, weil das, was sie als ihr Interesse und als gerecht empfindet, durch eine rechtliche Lösung nicht erreichbar ist

Die Einübung des Mannes in die formale Gleichheit prädisponiert ihn dazu, in Wissenschaft und Politik die Austauschbarkeit der Beobachter und der Betroffenen zu unterstellen, sogar ein Ideal der Objektivität und der Gerechtigkeit zu machen. Die Austauschbarkeit der Menschen erzeugt jedoch unermeßliche Angst, weil darin das Subjekt ausgelöscht wird; diese Angst wird durch eine spezifische „Profilierungskonkurrenz“ bewältigt. Äußere Abzeichen des Ranges sind nirgendwo wichtiger als am klassischen Ort der Austauschbarkeit, im Militär. Eine ununterbrochene Konkurrenz um kleine Positionsvorteile kann Aufgaben und sachliche Ziele überwuchern; die Bewältigung der Austauschbarkeit erstickt dann die Arbeit selbst.

Insofern Frauen lernen, sich der Seite der Verschiedenheit mit Verstand und Seele zu widmen, versperren sich ihnen tendenziell, solche politischen Sichtweisen, die eine Identifizierung mit der Kategorie als Grundlage des politischen Antriebs erwarten. Sich primär als Klassensubjekt oder primär als Frau gleich aller anderen zu füh-* len und für die Rechte dieser gesamten Gruppe zu kämpfen, widerstrebt dem Sinn für Verschiedenheit. Dies begrenzt die Ausbreitung des Feminismus in der expliziten Gestalt einer sozialen Bewegung. Die Auflehnung der Frauen gegen ihre Unterdrückung und die politische Ausstrahlung der Gemeinsamkeiten in ihrer Situation muß andere Wege gehen — und tut dies auch —, Wege, die vielleicht nicht weniger wirksam sind als die dramatischen Solidaritätskundgebungen etwa aus der Geschichte der Arbeiterbewegung.

Die Entgegensetzung von Familiensphäre und Arbeitswelt hat noch weitere Dimensionen, die hier nicht alle angeführt werden können. So steht die Verengung und Spezialisierung der Aufgabenbereiche in der Arbeitswelt im Gegensatz zur Breite und Vielfalt in der Familiensphäre. Die in der industrialisierten Arbeit umgesetzte Naturbeherrschung erzeugt nicht nur einseitige, beschränkte Tätigkeiten und Arbeitsprozesse, sondern ist in ihrer Gesamtheit eindimensional. Regenerierung des Lebens fordert und fördert hingegen Vielseitigkeit. Sie zu ermöglichen, verlangt Aufmerksamkeit für zahlreiche Faktoren, Erfahrungswissen, den Erhalt und die Berücksichtigung von Komplexität. Ihr ist diejenige Macht fremd, die, auf das Wesentliche zielend, sich von den Nebenumständen, Begleiterscheinungen und verzweigten Folgewirkungen des Handelns nicht beeindrucken läßt, ja diese gar nicht mehr sieht.

In Expertengesprächen mit Politikerinnen zu einem Forschungsprojekt über den politischen Umgang mit Macht bei Frauen und Männern wurde von Frauen der verschiedenen Parteien eine Unterschiedlichkeit im politischen Stil der Geschlechter geschildert, der dieser Gegenüberstellung entspricht Frauen haben, so wurde berichtet, weit eher den Sinn für die Vielfalt der Faktoren und neigen zu einer differenzierteren Sicht von Problemen; sie nehmen eine längere Dauer der Entscheidungsprozesse in Kauf, können andere Strategien entwickeln. Männliche Politiker, so war immer wieder zu hören, reduzieren zu rasch die Komplexität der Wirklichkeit, ihr Blick ist zu eng, sie definieren die Probleme aus der Sicht von Spezialisten und zu wenig aus der Lebenspraxis.

Differenz durch Trennung Die unterschiedlichen Strukturprinzipien von Arbeitswelt und Familiensphäre entfalten ihre Widersprüche innerhalb jedes Individuums; verarbeitet und lebbar gemacht werden sie als weibliche und männliche Elemente in der Beziehung zwischen Frau und Mann. Dennoch bestimmen sie keine Unterschiede in der Erfahrung und somit keine wirkliche Getrenntheit der Geschlechter. Als Trennlinie werden sie erst wirksam in Folge ihrer symbolischen und moralischen Bedeutung, die sie bei der kulturellen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit erhalten. Sie sind für das jeweils andere Geschlecht zugänglich, aber nicht „erlaubt“.

Anders verhält es sich bei der Spezifik der Tätigkeiten, die überwiegend oder ausschließlich von Frauen ausgeführt werden. Die Auswirkungen solcher genuinen Arbeitsteilungen trennen die Geschlechter real. Im Zuge der Industrialisierung haben alle Bereiche weiblicher produktiver Handarbeit diese Spezifik eingebüßt Doch wurde im Bereich der Generativität (d. h. vor allem hinreichende psychische und physische Umsorgung und Sozialisation des Nachwuchses) eine neuartige, geschlechtsspezifische Praxis hervorgebracht. Da die zentrale soziale Erfindung zur Ermöglichung dieses Praxisbereiches die Figur der Mutter ist — sie ist in ihrer Alleinverantwortlichkeit, in ihrem Sozialisationsauftrag und in ihrer psychischen Bedeutung für die gesamte Kultur eine neuzeitliche abendländische Erfindung —, nenne ich diesen Bereich die mütterliche Praxis Sie ist keineswegs identisch mit dem, was stereotyp gemeinhin als „Mütterlichkeit“ verstanden wird, worin nur die dienende und einfühlende, nicht aber die handelnde und denkende Seite gefaßt wird. Mütterliche Praxis hat zur Folge — eine spezifische Beziehung zum Handeln;

— eine eigenständige Konzeption der Macht; — eine ihr gemäße Art des Wissens und so auch der Sprache.

Diese drei Elemente, so meine These, greifen nicht imperialistisch auf andere Bereiche der Gesellschaft über, aber sie konnten auch nicht abgeschafft oder vollständig verdrängt werden. Ihre Ausstrahlung auf andere Bereiche ist eher subversiv als beherrschend.

Die Beziehung zum Handeln Die mütterliche Praxis ist zentral darauf angewiesen, indirekt zu agieren. Nichts, was die Mutter erreichen oder bewirken will, läßt sich durch unmittelbares Zugreifen oder durch Gestaltungswillen erreichen. Man kann Kinder nicht absichtsvoll oder zielstrebig „erziehen“ wie man Gegenstände herstellt. Zupackend sind nur die Gewalt und der Schutz vor unmittelbarer Gefahr. (Wenn die Mutter selbst zupackend handelt und so ein Vorbild abgibt, sozialisiert sie das Kind eben indirekt!) Um indirekt zu erziehen, muß ich allerdings selbst als in die Gesellschaft integrierte Person dem Kind ein Gegenüber bieten; um das Kleinkind einfühlsam zu umsorgen, muß ich selbst den wachen Blick für die Realität haben.

Mütterliche Praxis verlangt eine spezifische Dialektik von direktem, eigenen Handeln und indirektem Modus. Sie erfordert eine freischwebende Aufmerksamkeit, die abwartend das Kind schützt und stützt, ohne es zu etwas „machen“ zu wollen, und zugleich diesem Kind ein eigenwilliges, direkt handelndes Modell und auch Widersacher ist, mit dem es sich auseinandersetzen kann.

Die Konzeption von Macht Eine einseitige Machtposition der Mutter gibt es im negativen Falle der Vernachlässigung oder der Schädigung, und dies ist oft Ausdruck von Ohnmacht, vom Fehlen der Ressourcen, des Wissens oder der Handlungsfreiheit der Mutter. Die reale Macht, etwas zu bewirken, die in der mütterlichen Praxis erfahren wird, konstituiert sich vielmehr, indem sie dem Kind zur Selbstmächtigkeit verhilft.

Die männliche Sicht von Beziehungen und Wirkungsmöglichkeiten ist vom Bild einer Pyramide oder einer Rangfolge geprägt: Macht befindet sich an der Spitze und wirkt von oben nach unten. Zur Sicherung von Macht ist auf den Abstand zum möglichen Konkurrenten zu achten. Sie erscheint auch als „Nullsummenspiel“: Damit einer gewinnt, müssen andere verlieren. Wer etwas erreichen will, muß daher ständig in Konkurrenz stehen.

Die weibliche Sicht geht von einem Geflecht von Beziehungen aus, das wie ein Netz strukturiert ist. Ein Netz kann mehrere Mittelpunkte oder Zentren haben, deren Wirkungsmöglichkeiten sich gerade daraus ergeben, daß sie nicht abgetrennt und am Rande, sondern nach allen Richtungen hin eingebunden sind. Das Geben und Nehmen in persönlichen Beziehungen stärkt diese Einbindung, Distanz schwächt sie. Dies ist kein Nullsummenspiel, denn die Ausübung dieser Art Macht ermöglicht anderen Menschen, Dinge zu tun, die sie ohne diese Einflußnahme nicht vermocht hätten

Das Urbild hierfür ist die mütterliche Macht, wie sie sein sollte und möchte, aber ohne eine wahrhaft kinderfreundliche, zukunftsverantwortliche Gesellschaft kaum sein kann. Es ist die Macht, „die schützend bereit steht ohne unnötig einzugreifen, die existentielle Bedrohungen abwendet, Entwicklungshindernisse beseitigt, dem Kind Raum verschafft und Wege freimacht, worin es seine Erfahrungen machen und sein Leben leben kann“

Viele Mütter leben allerdings unter Bedingungen, unter denen sie dies gar nicht leisten, ja vielleicht sich nicht einmal vorstellen können, und ihre Kinder leiden darunter. Daran wird aber deutlich, welchen Charakters diese mütterliche Macht ist: Je mehr die Mutter davon hat, desto mehr hat auch das Kind davon, und umgekehrt; es gewinnen beide Teile oder beide verlieren. Durch die Generationenkette der Mutter-Tochter-Beziehung haben Frauen insgesamt die lebendigste Vorstellung davon, daß es auch eine solche kreative, helfende, in Gegenseitigkeit wachsende Macht geben kann. Sie wächst durch Teilung und schrumpft durch Konkurrenz. » Die Art des Wissens Wie jeder Praxisbereich begründet die mütterliche Praxis auch eine Sicht der Wirklichkeit und ein spezifisches Erkenntnisinteresse, das die Ordnung des Erlebten bestimmt. Das Interesse des mütterlichen Handelns ist darauf gerichtet, das Leben des Kindes zu gewährleisten, aber eben als ein lebendes, wachsendes Wesen. Das Vorhandene zu erhalten hat Vorrang vor dem Erwerb von Neuem; dieser Praxis ist insoweit eine konservative Werthaltung zu eigen. Erhalten, halten kann sie das Kind aber nur, indem es wächst, sich verändert. Dies erfordert eine Art des Lernens, das nicht erwarten kann, Gelerntes festzuhalten und zukünftig unverändert anwenden zu können. Zuverlässigkeit des Wissens ergibt sich nicht aus der Wiederholbarkeit identischer Erkenntnisprozesse; das Wissen ist aber dennoch generalisierbar. Gültigkeit des Wissens ist gebunden an die Zeit und die Situation, aber nicht deshalb ungewiß. Was auf diese Weise begriffen wird, wird nicht so leicht von den konkreten Erfahrungen abgekoppelt, aus denen es hervorging. Das bringt auch eine andere Sprache für die Gedanken hervor.

Gäbe es eine weibliche Politik?

Die in der Vergangenheit geringere politische Partizipation von Frauen war sicher auch Ausdruck der zeit-und kräftezehrenden Doppelbelastung, auch die Folge eines Zögerns, Verantwortung für weitere Gesellschaftsbereiche zu übernehmen und sich damit Kritik auszusetzen. Doch eine nähere Analyse der strukturellen Quellen einer Geschlechtsspezifik im Verhältnis zur Macht und zur Politik läßt erkennen, daß diese „Defizite“ gerade deshalb so hartnäckig zu überwinden sind, weil sie gegenläufigen Erfahrungen dessen entspringen, was das „Gemeinwohl“ ausmacht und auf welchen Wegen es zu bewirken wäre. Mit dem zunehmenden Selbstbewußtsein von Frauen, als Frauen politisch denken und handeln zu können, eröffnet sich die Möglichkeit, daß Frauen in der Politik eben gerade nicht für das „Besondere“ der weiblichen Sphäre zuständig sind, sondern als politische Kraft darauf drängen, daß das Allgemeine (und nicht mehr nur ein sich für all-gemeingültighaltendes Besonderes) zum Maßstab wird.

Frauen vertreten in der Politik nicht speziell die Sicht der Familiensphäre; aber es sind die Frauen, denen die Verwobenheit von Familiensphäre und Arbeitswelt im Alltag ständig bewußt ist. Sie beginnen, Politik als die Sphäre des gesellschaftlichen Lebens zu bestimmen, in der die Eigengesetzlichkeiten und die Anforderungen beider Teilsphären verhandelt werden, in der die Wesenszüge aus beiden Bereichen gleichermaßen gelten. Selbst der Rückgriff auf Kompetenzen und Wissen aus der mütterlichen Praxis beinhaltet vor allem ein Balancieren zwischen entgegengesetzten Tendenzen, nicht eine Übertragung der Fürsorglichkeit in die Berufswelt.

Die Erkenntnis aus der mütterlichen Praxis für die Politik ist der Sinn für die Zusammengehörigkeit von direktem und indirektem Weg zum Ziel: daß das direkte, zupackende Handeln begleitet sein muß von der schwebenden Aufmerksamkeit für das, was von allein wachsen muß. Der indirekte Modus gewinnt andererseits seine Berechtigung daraus, daß er von der Position der Stärke aus — als bewußte Zurücknahme eines möglichen Übergriffs— eingesetzt wird. Nicht in der Verbindung mit gesellschaftlicher Unterlegenheit, die aus Indirektheit geradezu Unterwürfigkeit oder Verlogenheit machen kann, ist der indirekte Weg des Handelns politikfähig, sondern als die aktive innere Spannung abwartender Geduld. Die Stärkung der weiblichen Stimme in der Politik könnte zu einer Aufwertung des Modells vom Netz gegenüber dem Modell der Hierarchie beitragen. Anstelle der Alternative zwischen Verstaatlichung mit wachsender Bürokratie oder Selbsthilfe als einer Privatisierung, bei der jeder seinem einzelnen Elend überlassen bleibt und die Gesellschaft sich aus der Verantwortung stiehlt, könnte ein weibliches Verständnis von Politik auf dezentrale, aber zugleich gesellschaftliche Formen der Problemlösung verweisen. Anstelle der institutionellen Absicherung von Karrierestrukturen, die demjenigen Menschen den größten Einfluß sichern, der auf dem Weg dahin mit sich oder seiner Familie am unmenschlichsten umgegangen ist, könnte die weibliche Stimme zur Geltung bringen, daß Menschlichkeit Zeit braucht und nur die Bereitschaft dazu ein Recht auf gesellschaftliche Einflußnahme begründet. Die brennenden Probleme unserer Zeit haben sich egen Steuerungs-und Lösungsversuche auch wechselnder Regierungen zunehmend widerspentig gezeigt. Sie werden offensichtlich durch Mehanismen und Strukturen hervorgerufen, die eine igendynamik haben. Möglicherweise bietet eine Veränderung des Stellenwerts und der relativen Mächtigkeit von weiblichen gegenüber männlichen Werten, Erfahrungen und Sichtweisen einen Ansatzpunkt dazu, den Charakter der Politik selbst und dadurch die Eigendynamik dieser zerstörerischen Strukturen zu verändern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich beziehe mich auf Interviews, die von D. Schultz im Rahmen eines Forschungsprojekts „Frauen und Männer im Hochschuldienst“ durchgeführt wurden. Die Redewendung tauchte bei verschiedenen Gesprächspartnern an verschiedenen Hochschulen auf.

  2. Zuerst von Jeanne Block, Conception of sex-role: some cross-cultural and longitudinal perspectives, in: American Psychologist, 28 (1973), S. 512ff., in diesem Kontext verwendet.

  3. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ — eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs-und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1977.

  4. Jacob Katz, Die Entstehung der Juden-Assimilation in Deutschland und deren Ideologie (1935), in: ders., Zur Assimilation und Emanzipation der Juden, Darmstadt 1982.

  5. Entsprechende Schriften gibt es von Philosophen der Aufklärung wie Schlözer, Hippel.

  6. Fritz K. Ringer, The Decline of the German Mandarins, the German Academic Community 1890— 1933, Cambridge 1969; Hans Werner Prahl/Ingrid Schmidt-Harzbach, Die Universität. Eine Kultur-und Sozialgeschichte, München 1981.

  7. Ute Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1978; beiläufig dazu auch Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962.

  8. Zur Bedeutung dieser Unterscheidung vgl.den Beitrag von Birgit Meyer in diesem Heft.

  9. Vgl. Carol Hagemann-White, Sozialisation, weiblich — männlich?, Opladen 1984.

  10. Vgl. Gisela Anna Erler, Frauenzimmer. Für eine Politik des Unterschieds, Berlin 1985.

  11. Eine ausführliche Analyse und begriffliche Bestimmung dieser Widersprüche in fünf Dimensionen hat Hildegard Heise, Flucht vor der Widersprüchlichkeit, Frankfurt 1986, vorgelegt.

  12. Vgl. Ute Gerhard, Uber gegenwärtige und historische Erfahrungen der Frauen mit Recht, in: Gesellschaft. Beiträge zur marxschen Theorie 14, Frankfurt 198 1, S. 139— 167; dies., Frauenalltag und Frauenrechte. Über Rechtsbedürfnisse und Unrechtserfahrungen von Frauen, in: dies. /J. Limbach (Hrsg.), Rechtsgleichheit als Aufgabe, Frankfurt 1987 (im Erscheinen).

  13. Expertengespräche im Rahmen eines Forschungsprojekts „Politischer Umgang mit Macht bei Frauen und Männern“, das im Auftrag der VW-Stiftung zur Zeit durchgeführt wird (Projektleitung: Barbara Schaeffer-Hegel, Christine Kulke, Carol Hagemann-White).

  14. Daß die inhaltliche Bestimmung dessen, was „Frauenarbeit“ und was „Männerarbeit“ ist, sich seit der Industrialisierung immer wieder verschoben und verlagert hat, zeigt A. Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, Frankfurt-New York 1985.

  15. Den Begriff und einen Teil der Analyse entnehme ich dem Beitrag von Sara Ruddick, Maternal Thinking, in: Feminist Studies, 6 (1980) 2, S. 342— 367. Gemeint ist nicht der empirische Durchschnitt, wie Mütter ihre Aufgaben tatsächlich erfüllen, sondern die Eigengesetzlichkeit dieser Praxis, wenn sie gelungen ist.

  16. Vgl. Kathy Ferguson, The Feminist Case against Bureaucracy, Philadelphia 1984; dies., Bürokratie und öffentliches Leben: Die Feminisierung des Gemeinwesens, in: S. Diamond u. a., Bürokratie als Schicksal, Opladen 1985, S. 54— 75.

  17. Carol Hagemann-White, Frauenbewegung und Psychoanalyse, Frankfurt 1986, S. 60 ff.

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Carol Hagemann-White, Dr. phil., geb. 1942; Inhaberin einer Teilzeitprofessur für Politische Wissenschaft mit Schwerpunkt Frauenstudien an der Freien Universität Berlin; Mitgründerin und Vorstandsmitglied des Berliner Instituts für Sozialforschung und Sozialwissenschaftliche Praxis e. V. (BIS); zur Zeit Leitung mehrerer empirischer Forschungsprojekte in der Frauenforschung und in der Evaluation sozialpädagogischer Projekte am BIS. Veröffentlichungen u. a.: (mit R. Wolff) Lebensumstände und Erziehung. Grundfragen der Sozialisationsforschung, Frankfurt 1975; Frauenbewegung und Psychoanalyse, Frankfurt 1979; (mit B. Kavemann u. a.) Hilfen für mißhandelte Frauen, Bd. 124 der Schriftenreihe des BMJFG, Stuttgart 1981; Sozialisation: weiblich — männlich?, Bd. 1 der Reihe „Alltag und Biographie von Mädchen“, Opladen 1984; Zum Verhältnis von Geschlechterunterschieden und Politik, in: C. Kulke (Hrsg.), Rationalität und sinnliche Vernunft, Berlin 1985, S. 146— 153.