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Antisemitismus und Holocaust als Epochenproblem | APuZ 11/1987 | bpb.de

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APuZ 11/1987 Zeitgeschichtliche Erfahrungen als aktuelles Problem Antisemitismus und Holocaust als Epochenproblem Geschichtswissenschaft und Große Politik

Antisemitismus und Holocaust als Epochenproblem

Herbert A. Strauss

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Antisemitismus und Holocaust müssen in die verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit eingeordnet werden, die von der internationalen Forschung diskutiert werden. Der Vorkriegsantisemitismus des Kaiserreiches reflektiert im europäischen Vergleich die Krise des liberalen Nationalstaates. Seine Virulenz und soziale wie politische Bedeutung ergeben sich aus den Interessenlagen der Schichten, die ihn zu mobilisieren versuchen. Trotz seiner politischen Unbedeutsamkeit durchdringt der Antisemitismus vor 1914 breite Mittel-und Oberschichten und Berufsgruppen und verbindet sich mit ihren ideologischen und politischen oder wirtschaftlichen Zielen. Nach dem Ersten Weltkrieg, der als Epochenscheide zu verstehen ist, entwickelt sich in der extremen deutschen Rechten einschließlich Hitlers der Gedanke zum Massenmord an den Juden, deutlich in einem aus dem Jahre 1920 stammenden Dokument, das die Juden zu Geiseln des „internationalen Judentums“ stilisiert und das Motiv „Geiselmord“ vorwegnimmt, das in Hitlers Morddrohungen immer wieder erkennbar ist. Die Haltung der konservativen Eliten der Weimarer Republik zu Antisemitismus und dann später zu Judenverfolgungen und -ermordungen des Dritten Reiches sowie die Passivität der Bevölkerung gegenüber den Judenverfolgungen spiegeln die Grundstruktur des Antisemitismus wider — seine Kongruenz mit archaischen, anti-modernen Ideen und aggressiven nationalistischen Zielen, das Nebeneinander moderater und radikal-chimärischer Strömungen und politischer Traditionen, die taktische Akkommodation der Verfolgungsmaßnahmen an die Ziele des Dritten Reiches. Die brutale Einzigartigkeit des Holocaust läßt sich jedoch nur von den Ursachen her aufhellen. Die Abwesenheit jeder Rationalität verhindert die Epocheneinordnung über die Erklärung der Verbindungslinien hinaus, die zu ihm geführt haben.

I. Die Epoche des „modernen Antisemitismus“ 1879-1945

Nach der Epochenstellung des Antisemitismus und des Holocaust zu fragen, ist aus dem Bedürfnis der historischen Wissenschaft geboren, für die bekannten und oft disparaten Tatsachen, die aus Dokumenten erschlossen werden können, verstehbare Zusammenhänge übergreifender Art zu konstruieren. Die Antisemitismusforschung hat für ihren Gegenstand, den modernen Judenhaß, seit 100 Jahren solche Zusammenhänge sichtbar gemacht. Geschichte und Sozialwissenschaften haben erfolgreich zusammengearbeitet. Die Einordnung des Holocaust ist nach deren Erkenntnissen zwar möglich, was seine Ursachen betrifft. Die Kontroverse darüber ist noch im Gange. Sie scheitert aber mit Recht, wenn einem total Sinnlosen durch Einordnung in Zusammenhänge ein Sinn verliehen werden soll. So gesehen ist das hier zu reflektierende Thema letzten Endes keiner Antwort fähig.

Die Epoche des modernen Antisemitismus ist mit dem Holocaust allen Anzeichen nach zu Ende gegangen. Sie begann nach dem Konsensus der Historiker etwa im 8. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich. Das „Moderne“ in der Verwandlung von Judenhaß in Antisemitismus war, daß sich nun soziale Bewegungen bildeten, daß antisemitische politische Parteien entstanden, daß die religiöse Basis von Vorurteil und Verachtung der Rassenideologie wich. Das positivistische Zeitalter brauchte eine positivistische Rationalisierung seiner Feindbilder. Der moderne Antisemitismus war gegen die „Emanzipation“ der Juden gerichtet, also ihre Gleichstellung in Verfassung, Gesellschaft und Staat.

Die Unterscheidung zwischen christlicher Juden-feindschaft und modernem Antisemitismus ist nicht perfekt: Rassismus hat ältere Wurzeln und Vorläufer; religiöse Judenfeindschaft setzte sich durch die gesamte Epoche des modernen Antisemitismus fort, in manchen Ländern bis in die Gegenwart. Der Holocaust hat im eigentlichen Gewidmet dem Andenken Werner Näfs (St. Gallen-Bern), Verfasser der Perioden der Neueren Geschichte (Aarau 1946).

Sinne „Epoche gemacht“. Dies gilt für die gesamte westliche Welt (auf die diese Überlegungen im allgemeinen beschränkt bleiben müssen). Es gilt deshalb auch für die Bundesrepublik Deutschland. Überall da, wo Meinungsdaten vorliegen, ging seit 1949 der auf diese Weise ermittelte offen ausgesprochene Antisemitismus deutlich zurück. Daß die liberal-demokratische Gesellschaft trotzdem im Kampf gegen den Antisemitismus einen notwendigen Selbstschutz sieht, daß die Überlebenden des Holocaust von allen Zeichen überlebender Barbarei verwundet werden, daß eine neue Form der Judenfeindschaft, der Antizionismus, verstanden und abgewehrt werden muß, unterstreicht, daß die Epoche zu Ende gegangen ist. Antisemitische Stereotypen sind im Gefolge des Holocaust reprivatisiert, latent, der Kommunikation im kleinen und privaten Kreise reserviert. Antisemitismus als öffentliche Aggression, als wirksames Mittel der Politik, ist durch Vorurteile und Diskriminierungen gegen die meist nicht als permanente Einwanderer gesehenen Gastarbeiter, Ankömmlinge aus den früheren überseeischen Kolonien, Menschen anderer Hautfarbe oder Religion ersetzt worden.

Die Sozialstrukturen haben sich sowohl in der jüdischen Gemeinschaft wie in der westlichen Industriegesellschaft grundlegend verändert. Wo Antisemitismus vor allem in ländlich-isolierten oder um Aufstieg bangenden Kleinbürgergruppen vorherrschte, hat der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft Berufe und Mobilität umgeschichtet bzw. geändert. Die Struktur der jüdischen Gemeinschaften ist fast in allen westlichen Ländern (mit Frankreich als möglicher Ausnahme) der Struktur ihrer Umwelten angepaßt oder nähert sich ihr an. Juden scheinen relativ reibungslos in die neuen freiberuflichen oder management-Gruppen eingepaßt worden zu sein. Damit haben Entwicklungen begonnen, die sich gerade in den Punkten von der Epoche des modernen Antisemitismus unterscheiden, an denen die schärfsten Konflikte erkennbar waren.

II. Europäische Wurzeln im christlichen Bild von Juden und Judentum

Der moderne Antisemitismus erscheint in verschiedenen Ansätzen als ein europäisches Phänomen. Er beruht im christlichen Abendland auf einer christlichen Judenfeindschaft, die von den Evangelien bis ins 20. Jahrhundert reicht. Selbstverständlich war die christliche Judenfeindschaft nur ein Hauptmerkmal im Verhältnis der Kirchen, der Theologie, der Gläubigen, der Geistlichen und Orden zu Juden und Judentum. Christliche Judenfeindschaft hat jedoch wesentlich dazu beigetragen, als Glaubensfanatismus oder Rationalisierung eher weltlicher Motive die Stellung der Juden in der christlichen Wirtschaft und Gesellschaft seit dem 12. Jahrhundert herabzudrücken. Religiöser Judenhaß lieferte die self-fulfilling prophecy, nach der Juden zu den Parias und Außenseitern von Jahrhunderten wurden.

Dieser religiöse Judenhaß war europäisch. Er gewann dadurch Virulenz, daß die Großkirchen trotz ihrer religiösen Dienstleistungen für Unter-schichten und Unterprivilegierte im wesentlichen Fürsten-und Staatskirchen, also establishmentKirchen waren, trotz der Entstehung von nichtestablishment-Sekten von Bettel-und

Dienstleistungsorden.

Die soziale Stellung der Kirchen verhinderte nicht in allen europäischen Ländern die Lösung der Gegenwartsfragen des 19. und 20. Jahrhunderts. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten gelang der Übergang zu modernen Soziallehren, die Allianz mit dem liberal-demokratischen Staat und seinen Wirtschaftsprinzipien. Auf dem Kontinent gelang dies im allgemeinen nicht (von historisch wichtigen Ausnahmen wie den Niederlanden oder der Schweiz abgesehen). Die Kirchen bekämpften die „Modernität“ klassisch in der Encyclica „Quanta Cura“ und ihrem „Syllabus“ (1864) oder im Bündnis von „Thron und Altar“ in Preußen-Deutschland. In Frankreich verbündeten sich die Kirchen mit den Konservativen in Armee, Bürokratie und Geistesleben, verloren aber den Kampf um die Macht, als die „Dreyfus-Affäre“ sie gründlich diskreditierte.

Das Judentum symbolisierte den konservativen Kirchen die moderne Welt, die ihre gewohnte Stellung in Staat und Verfassung bedrohte, ihre geistigen und moralischen Grundlagen zerstörte, Privilegien durch Verträge ersetzte. Der Jude stand für Liberalismus, nicht ohne Berechtigung in der staatlichen Wirklichkeit, denn die Gleichstellung der Juden war durch die in der amerikanischen Verfassung und der Französischen Revolution zuerst verwirklichten Bürgerrechtsprinzipien überall in Mittel-und Westeuropa um 1871 vollendet worden.

Antiliberalismus wie Gegnerschaft zum Sozialismus bestimmten auch den neuen christlichen Antisemitismus, wie er im Antisemitismus des preußischen Hofpredigers Adolf Stöcker oder des klerikalen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger politische Gestalt annahm. Selbst wo christliche politische Parteien sich die verfassungsmäßigen Grundrechte zunutze machten wie im Deutschen Reich dauerte in der Publizistik die antijüdische, jetzt antisemitische Linie fort.

III. Formen und Funktionen des nach-christlichen Antisemitismus

So wirksam die Verbindung kirchlicher Politik und Kultur mit einem negativen Judenbild in der Zukunft werden sollte, der moderne Antisemitismus hatte seine ideologischen Wurzeln in säkularen Ideenverbindungen. Auch sie hatten europäische Verbreitung. Die darin letztlich angelegte Verwerfung der jüdischen Gruppenexistenz, jeder autonomen Existenz im pluralen Staat, machte sogar die Liberalen zu fragwürdigen Freunden, wie der Antisemitismus Heinrich von Treitschkes um 1880 demonstrierte.

Die Idee rassischer Überlegenheit entstand wohl zuerst als Reflexion französischer Klassendebatten über die natürliche Superiorität von Franzosen germanischer über solche keltischer Abstammung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Ethnologie, Schädelmessung, Kolonialherrschaft, „Eugenik“ und Sozialdarwinismus vielschichtige Verbindungen hergestellt mit antisemitischer Literatur und Publizistik, Politik und Sozialwissenschaft. Das traditionelle Stereotyp des Juden als physisch minderwertig, deutlich in der christlichen Ikonographie seit dem 16. Jahrhundert erkennbar, wurde auf wissenschaftlicher Ebene zum „eigentlichen“ (materiellen) Grund von Geschichte und Gegenwart, biologistische Reduktionen wurden zum europäischen Paradigma. Der eintretende Verlust von Richtungs-und Glaubenssicherheit integrierte den Antisemitismus in die am Rande der Weltanschauungen um Anerkennung ringenden Heilsersatzlehren nationalistischer Sektierer. Auch der sozialgeschichtliche Ansatz zur Analyse des Antisemitismus deutet auf seine europäischen Wurzeln hin — die vergleichende Antisemitismusforschung zu den hier gestellten Fragen weist allerdings noch erhebliche Lücken auf. Der moderne Antisemitismus war eine Erscheinung des bürgerlichen Zeitalters und der Nationalstaaten und zugleich Ausdruck ihrer Krisen und ihres Krisenbewußtseins. Er wurde aktiviert, wenn die Lösung von Klassenkonflikten, von Machtkämpfen oder die Anpassung vor-moderner staatlicher Ordnungen (z. B. Verfassungen, Machtkonzentrationen in Hof, Armee und Kirche) an sich erfolgreich modernisierende Institutionen (z. B. Industrie-und Finanzwirtschaft, Urbanisierung, Technologien oder Wissenschaften — all dies wie im Deutschen Kaiserreich) mit den vorhandenen Gehorsams-und Leidenstraditionen versagte.

Zunächst schufen erfolgreiche Übergänge von Agrarwirtschaft zu Frühkapitalismus und der politische Aufstieg der Mittel-und Oberklassen durch die Entwicklung der Ständevertretungen zu Parlamenten überall in Westeuropa neue und positive Haltungen zu den jüdischen Bevölkerungen, selbstverständlich als ein Faktor innerhalb der Epochen der allgemeinen Geschichte. Diese Entwicklung blieb aus, wo Leibeigenschaft und feudale Landbesitzverhältnisse traditionelle Rollen und traditionell negative Bilder von Juden, im wesentlichen christlicher Herkunft, perpetuiert hatten. Dies zeigt sich in der gleichzeitigen Existenz ungleichzeitiger Haltungen zu Juden, z. B. im Gegensatz zwischen Rußland-Polen und Holland-Frankreich-Großbritannien-USA.

Judenfeindschaft konnte für politische wie soziale Zwecke mobilisiert werden, wo traditionelle Eliten die Anpassung verweigerten oder dazu unfähig waren. So entstand eine Richtung des modernen Antisemitismus: der Antisemitismus.der alten establishment-EVüen und der Schichten (z. B. nationales Bürgertum und Bildungsprivilegierte in Preußen-Deutschland), die sich aus politischer oder ideologischer Schwäche dazu rechneten. Die soziale Funktion dieses Antisemitismus war die Verteidigung ererbter Wirtschaftsprivilegien oder die erfolgreiche Machtbehauptung im Staate. Im Feindbild „Jude“ konzentrierte sich die Gegnerschaft gegen'Änderungen auf allen Lebensgebieten, die in verschiedenen Perioden und für die verschiedenen öffentlichen Anliegen je verschiedene Namen erhielten, im Kern jedoch auf den gemeinsamen Punkt hinausliefen: die Abwehr der „modernen Welt“ und ihrer Folgen für Macht-und Besitzverhältnisse.

Eine zweite Variante entstand dann in Verbindung mit radikalpopulistischen und nationalistisch-völkischen Kleinbürgern und Arbeitern, auch auf dem Lande oder am Rande des städtischen Bürgertums. Antisemitismus diente um politische und wirtschaftliche Macht ringenden nationalen Minderheiten zur Verteidigung gegen Bedrohungen von Status und Vorteil. Die „Moderne“ bedrohte diese in Form einer liberalen Wirtschaftsordnung oder als sozialistische Revolution. Nationaler Reformismus, irreführend als Sozialismus plakatiert, verband Antisemitismus mit den Propagandisten eines „Dritten Weges“ und der Sicherung des oft den eigenen Interessen widersprechenden, sozialpsychologisch mächtigen Bedürfnisses nach Prestige.

Doch auch die sozialistische Tradition enthielt die antisemitische Komponente, besonders deutlich im französischen Frühsozialismus und der von ihm begründeten Tradition. Selbst die sozialdemokratische Bewegung hatte zunächst Mühe, die Identifikation des jüdischen mit dem kapitalistischen Feindbild zu überwinden: Jaures und die von ihm geführten französischen Sozialisten schlossen sich erst relativ spät den Antidreyfusards an und verstanden den Grundcharakter der Auseinandersetzung um die Gestaltung des Staatslebens, die in diesem Konflikt ausgetragen wurde. Die deutsche Sozialdemokratie durchschaute den Konkurrenz-und Ersatzcharakter des Antisemitismus trotz wohl nie ganz überwundener Versuchungen, den antikapitalistischen Antisemitismus als einen Umweg, also immerhin einen Weg, zum Sozialismus zu interpretieren.

Das Verhältnis kommunistischer Gruppen zum Antisemitismus und zu Juden blieb ambivalent, teils in Abfolge der im Frühsozialismus oder in Karl Marx’ bekannter Kritik von Bruno Bauers Judenfrage (1843) propagierten Identifizierung von Juden und „jüdischem Geist“ mit ausbeuterischem Kapitalismus, teils in Konsequenz der von Austromarxisten entwickelten Weigerung, der jüdischen Gemeinschaft als einer in einzigartiger Weise konstituierten religiös-ethnisch-nationalen Gruppe das Recht auf kollektive Existenz auch in der sozialistischen Zukunft zuzugestehen.

Die Frage, warum es gerade die Juden waren, die sich zu Feindbildern in der europäischen Sozial-und Ideengeschichte eigneten, kann durch einen dritten Ansatz, die Psychologie des Vorurteils und der Wahrnehmung, wenigstens teilweise verstanden werden. Ihr durch christliche Gesetzgebung auf die „middleman" Rolle konzentrierter Sozialstatus und ihre wirtschaftliche Tätigkeit waren seit Jahrhunderten von der christlichen Soziallehre als letztlich illegitim und außerhalb des Moralkodex stehend angesehen worden. Wo vormoderne Wirtschaftsreformen vorherrschend blieben, wo institutionelle Entwicklungen die Be17 seitigung archaischer Vorurteile verhinderten, gewann die auf wenige Gebiete begrenzte wirtschaftliche Tätigkeit der Juden (Einzelhandel, Verbraucherindustrie, Bankwesen) eine neue „hohe Sichtbarkeit“ (high visibility) — Symbol einer Entwicklung, für die die Juden nicht verantwortlich waren, weder als einzelne noch als im wesentlichen kleinbürgerliche und mittelständische Gruppe.

Das (durch volkskundliche Analysen zur Zeit auf seine Breitenwirkung und Kontinuität untersuchte) christliche Zerrbild wurde in ungenügend modernisierten Gesellschaften von „sichtbaren“ Teilbeobachtungen auf ein Ganzes übertragen. Da die Gleichstellung der Juden im Staat überall als Folge liberaler Prinzipien verstanden wurde, kam mit der Krise des Liberalismus in solchen Gesellschaften dann auch die gesamte Stellung der Juden in Verruf. Antisemitismus war Symptom von Problemen, die man nicht bewältigen konnte oder wollte, von Spannungen, die man nicht aufzulösen bereit war.

IV. Epochenwende in Krieg und Revolution: Das Mordmotiv im völkischen Radikalismus von 1920

Der Antisemitismus in Deutschland tritt mit dem Ersten Weltkrieg und der Revolution in eine neue Periode ein, die mit der Judenverfolgung des Dritten Reiches und mit dem Holocaust eine in sich zusammenhängende Epoche darstellt. Die große Intensität, mit der der Antisemitismus nun öffentlich wirksam wird —mit Ausnahme der „ruhigen“ Jahre der Republik von Weimar (1924 bis 1930) —, unterscheidet die deutsche Entwicklung nicht nur von den zur Erklärung des Nationalsozialismus vorgeschlagenen Analogien zum Faschismus. Sie stellt auch eine besondere Entwicklung — einen „Sonderweg“ — im Vergleich mit zeitgenössischen antisemitischen Bewegungen dar, wie sie vor allem in noch vorwiegend agrarischen Ländern Osteuropas (Polen, Rumänien, zum Teil Ungarn) in oft brutalen Formen zu finden waren und zu diskriminierenden Gesetzgebungen und zum Auswanderungsdruck geführt hatten.

Der auf Ereignisse und Persönlichkeiten eingestellte Ansatz der Geschichtswissenschaft hat — dies ist seit langem Allgemeingut unter Schulbuchanalytikern — auf Fehlleistungen und historische Handlungsabläufe hingewiesen, die nun dem Antisemitismus einen neuen Auftrieb gegeben haben. Zentral waren der Krieg und sein Ende in Niederlage und Revolution. So sehr die Leiden und Ängste der Frontsoldaten in diesem von unmenschlichen „Ermattungsstrategien“

irregeleiteten Kampf von den Verwilderungen und Traumatisierungen zu trennen sind, die der Stellungskrieg in Fememord und Freicorps hinterließ, so deutlich zeigt sich der abgrundtiefe Verlust an Verantwortungsfähigkeit für andere Menschen in den Realitäten einer sozialen Auflösung und im Übergang von der Kriegs-zur Friedensgesellschaft. Der Krieg hatte nicht nur die inneren politischen und sozialen Gegensätze verschärft. Er hatte auch, wie gerade an der Haltung der Bevölkerung zum Antisemitismus bis an das Ende der Periode deutlich wird, den Zirkel der Menschen, für die Gemeinschaft des Mensch-seins und der Gruppenbindungen die Verpflichtung zum Einsatz in der Not bedeutet — den Zirkel der menschlichen und moralischen Verantwortung—, verengt und einen Stil in öffentliche Auseinandersetzungen eingeführt, der dann in der Militarisierung der Politik und in den mit blutigen Gewalttaten geführten Auseinandersetzungen politischer Gegner zum Vorschein kam.

Es ist vielleicht kein Zufall, daß es ein deutscher Staatsrechtslehrer war, der den klassischen Pessimismus von Thomas Hobbes (Leviathan, 1651) in einer politischen Theorie erneuerte, die den Konsensus politischen Handelns in einer Freund-Feind-Beziehung auflöste. Kein anderes westliches Land kannte ähnliche Selbstauflösungen, nirgends wurde der Antisemitismus integraler Teil —wie z. B.der bundesdeutsche Historiker Eberhard Jäckel gezeigt hat — einer politischen Bewegung, die ihren moralischen Anspruch direkt aus der Erfahrung des Frontsoldaten von 1914 bis 1918 ableitete, das deutsche Volk in eine zweite Runde um die Kontinentalhegemonie, nun das Rassenimperium, stürzte und eine Anästhesierung der Gefühle bewirkte, nicht nur gegenüber dem dadurch verursachten Massentod von Soldaten und Zivilisten der von ihr angegriffenen Seite, sondern auch gegenüber den Soldaten und Zivilisten des eigenen Volkes.

Die Antisemitismusforschung sieht in dieser Verkettung von Ereignissen und atmosphärischen Änderungen das wesentlich Neue des Nachkriegsantisemitismus. Die Serie der zu registrierenden Vorgänge begann 1916 mit einer Zählung aller Juden, die Frontdienst leisteten: Das preuB ßische Kriegsministerium unter Adolf Wild von Hohenborn schändete damit die bürgerliche Ehre der, wie sich herausstellen sollte, etwa 100 000 jüdischen Frontsoldaten und der 12 000 jüdischen Gefallenen. Daß man in dieser Zählung und dem bis 1932 dauernden Streit darum nach-zurechnen suchte, wie hoch der Prozentsatz (er stimmte!) der Juden an jenen betrug, die im Glauben an ihr deutsches Vaterland starben, zeigt die Verrohung, die hier eingetreten war. Eine weitere Ereignisreihe war die Rolle, die jüdische Soldaten und Politiker in den Friedens-parteien des Ersten Weltkrieges, in der Revolution und in den Anfangsjahren der Republik und ihrer Verfassung gespielt hatten. Die Zivilisten der Revolution hatten es den politisch und militärisch für Kriegführung und Niederlage Verantwortlichen gestattet, sich der Schuldzuweisung für den verlorenen Krieg und für den zunächst von allen Parteien einschließlich der Kommunisten als harsch empfundenen Friedensschluß zu entziehen. Es gibt keine Statistik darüber, ob der „Prozentsatz“ jüdischer Soldaten und Politiker, die öffentlich auf der Friedens-und Republik-seite tätig wurden, dem „Prozentsatz“ der Juden in der Bevölkerung entsprach. Die Gegner der Republik aber benutzten die „hohe Sichtbarkeit“ der Juden, um sie mit Niederlage, Revolution und Republik zu assoziieren und beide durch Vorurteile und Stereotypen zu diffamieren. Zahlreiche Cliquen und Vereine, Wehrverbände und völkische Gruppierungen erklärten die von der Heeresleitung erst im September/Oktober 1918 eingestandene militärische Niederlage, die sie aus der Perspektive ihrer Frontabschnitte und „Absetzbewegungen“ zu verstehen nicht konditioniert waren, als jüdischen Verrat.

Die Hetze gegen die in Deutschland arbeitenden Juden aus Osteuropa war im Vergleich dazu nur ein sekundäres Element. Sie waren bekanntlich zum großen Teil von der Heeresleitung während des Krieges als Munitionsarbeiter angeworben und nach Deutschland gebracht worden! Doch noch 1923 ereignete sich der vielleicht bis ans Ende einzige pogromähnliche spontane Angriff auf Juden, als am 9. November 1923 (sic) Tausende von Arbeitern in das Berliner Scheunen-viertel zogen und dort wohnende Juden und ihr Eigentum verletzten.

Wie ausschließlich die Anästhesierung der Gefühle gegenüber den aus dem Zirkel moralischer Verantwortung ausgeschlossenen Menschen aus innerdeutschen Verhältnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit abzuleiten ist (nicht dem Gulag oder dem Mord an den Kulaken), ist für die Entwicklung der antisemitischen Tiraden und Obszönitäten Hitlers schon für die Frühzeit bis zu jenen Stellen in Mein Kampf bezeugt, in denen der Gasmord an „ 12 000 oder 15 000“ Juden während des Weltkrieges als Mittel empfohlen wurde, die Kriegsmoral zu bessern. Die Tatsachenreihen sind vielfach dokumentiert und interpretiert und schlüssig genug, die total amoralische Vorstellungswelt des späteren Massenmörders mit der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (Euthanasie), der „Liquidation“ der polnischen Intelligenz und politischen Führerschicht, dem „Kommissarbefehl“ und dem Holocaust schlüssig zu verbinden. Ein Referat an dieser Stelle ist unnötig.

Dagegen soll hier kurz an ein Dokument erinnert werden, das weitere Hinweise auf die Verbindung zwischen unverarbeiteten Kriegstraumata, Feindbildern und einem Thema der öffentlichen Diskussion des Krieges gibt, das in der Ätiologie des Holocaust größere Beachtung verdient. Am 16. April 1920 (also etwa gleichzeitig mit Hitlers erster dokumentierter Forderung nach „wissenschaftlichem Antisemitismus“ und „Entfernung der Juden“) übersandte ein Angehöriger des Bayerischen „Schützenregiments Nr. 41, II. Bat., 7. Komp.“, der 26jährige frühere Frontsoldat und Münchner Freicorpskämpfer Hans Knodn, dem Ministerpräsidenten von Kahr seine Vorschläge zur Rettung der Nation Er gehörte, wie der junge Hitler, dem Kreise Dietrich Eckarts an, gab zwar vor, keiner Organisation anzugehören und politisch nur einen „kommenden Führer und Erretter unseres Volkes“ zu erwarten, aber „die Gedanken .. . weitester Volkskreise niedergelegt“ zu haben. Die unmittelbare historische Situation, der diese Vorschläge entsprangen, war gekennzeichnet durch die Niederschlagung des Kapp-Putsches und die der Bildung einer linksradikalen „Roten Armee“ im Ruhrgebiet folgende vorübergehende Besetzung von Frankfurt, Darmstadt und Teilen des Maingaus durch die französische Armee, die auf eine Verletzung der demilitarisierten Zone reagierte.

Knodn stellte zunächst im völkischen Stammtischstil die Verantwortung „der Juden“ für sämtliche Schwierigkeiten von Kriegs-und Nachkriegszeit dar und forderte (wie Hitlers Brief an Gremlich 1919) ihre Beseitigung durch eine „radikale .. . Lösung der Judenfrage bei Vermeidung aller sentimentalen Beweggründe“.

Sein neun Punkte umfassendes Programm schlug vor: Einweisung „des größten Teils der Juden innerhalb 24, längstens 48 Stunden“ in Konzentrationslager und Hinrichtung aller Juden, die fliehen ebenso wie ihrer christlichen Fluchthel-fer; sollte „die Entente“ trotz dieser „vollendeten Tatsache .. . die Feindseligkeiten“ beginnen, begännen auch die Repressalien gegen Juden: „Bei Verhängung der Blockade müssen die Juden dem Hungertode ausgeliefert werden. Erfolgt der Vormarsch der Feinde, so muß die Niedermetzelung der Juden stattfinden, bis der Vormarsch eingestellt wird“; „Repressalien an den Juden“ seien geeignet, auch die „bolschewistischen Armeen“ fernzuhalten und die „Machenschaften des internationalen Judentums, die im Friedensvertrag von Versailles und in der Bolschewisierung der Welt ihre Auswirkung fänden, zum Scheitern zu bringen“; am Ende sollten alle Juden ihres Vermögens beraubt und nach Palästina abgeschoben werden, das unter internationale Aufsicht zu stellen wäre.

Für die Frage der Epocheneinordnung, die hier gestellt ist, weist das Dokument einmal mehr auf die frühe Gegenwart expliziter Vernichtungsvorstellungen unter völkischen Radikalen hin: Es erschreckt durch seine Vorwegnahme der Verfolgungs-und Ausrottungspolitik des Dritten Reiches. Das Staatsministerium notierte, daß „Knodn nicht als Geisteskranker bekannt“ sei;

die Münchner Polizeidirektion verzichtete darauf, „etwas zu veranlassen. Es handelt sich um Phantasien“.

Zu unterstreichen ist die Verbindung des Antisemitismus mit den konkreten Zusammenhängen der deutschen Geschichte. Bisher übersehen wurde die Stilisierung der Juden —„des internationalen Judentums“ — als Geiseln zur Erreichung deutscher Ziele, der Zusammenhang nicht nur mit der von allen Seiten auch im deutschen Bürgerkrieg praktizierten Ermordungen von Geiseln und politischen Gefangenen, sondern auch die Rechtfertigung des Mordes an Juden mit ihrer Stellung als „Geiseln“ eines kollektiv als total feindlich konzipierten „internationalen Judentums“.

Die propagandistische und völkerrechtliche Auseinandersetzung um die Berechtigung der Ermordung von Geiseln (französischer oder belgischer Zivilisten) durchzieht Literatur und Kriegspropaganda seit 1 870 Sie durchzieht Hitlers Vorstellungen von Mein Kampf (vgl. oben) zu seinem Entwurf zum Vierjahresplan von 1936, seine Verknüpfung eines Kriegsausbruchs mit der Vernichtung „des Judentums“, seinen Konferenzen zur Vorbereitung des Angriffs auf die UdSSR und seine zahlreichen Kriegsreden. Was im Zweiten Weltkrieg als die Massengreuel kollektiver Geiselerschießungen von Zivilisten in die Geschichte einging, hatte seine Parallele in der Vorstellung von der Kollektivhaftung der Juden. Unmittelbar feststellbare Wirkungszusammenhänge sind bestimmender für die Ätiologie des Holocaust als Parallelen zu fernliegenden Wahrnehmungseinflüssen.

V. Judenverfolgung nach 1933: Taktischer Realismus

Hans Knodns pathetische Reflexion des Schlechtesten, das seine Zeit zu bieten hatte, fügt sich insofern dem bestehenden Konsensus der Historiker ein, als es die Linie vervollständigt, die man als „Vernichtungsphantasien“ sporadisch in antisemitischen Machwerken seit Anfang des 19. Jahrhunderts verfolgen kann — angefangen mit Hartwig Hundt-Radowskys Judenspiegel (1819). Sie wurden als völkischer Radikalismus extremster Art in Hitler und dem radikal-mörde-rischen Flügel der NSDAP und des Dritten Reichs wirksam.

Die Forschung hat in einer weitreichenden und komplexen Diskussion die Schritte erarbeitet, die zum Entschluß zum Holocaust geführt haben, und sie in die Verwaltungsstruktur des Dritten Reiches eingestellt. Aus „Rassenangst“ folgten Gesundheitspolitik, Sterilisierungsgesetzgebung und „Euthanasie“; der Krieg schuf die Möglichkeiten zur Verwirklichung; die deutsche Bürokratie gewöhnte sich daran, Menschen wie Ware zu verfrachten (W. Scheffler), Polen und Juden brutal zu entmenschlichen, um schließlich von Hungertod und Mord durch Krankheiten und Seuchen in zusammengepferchten Gettos zu Massenerschießungen (Einsatzgruppen) und Vergasungen überzugehen. Die Präsenz eines radikalen Vernichtungswillens gegen die jüdischen Geiseln, die Steigerung der Verfolgungsintensität im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg beruhte auf der unsinnigen Chimäre einer jüdischen Verschwörung und Kollektivverantwortung, wie sie in Knodns Phantasien zum Ausdruck kam. Der Holocaust bleibt nur innerhalb dieses total chimärischen rassischen Kontinentalimperialismus Teil einer Epoche. Er bleibt innerhalb der deutschen Geschichte eine einmalige und erratische Diskontinuität, ein epochales Ereignis sui generis.So verständlich und moralisch unvermeidlich die Konzentration der Epocheneinordnung auf den Holocaust auch ist und bleibt — eine Last der Geschichte, der auch der Historiker nicht entgehen kann —, die Wirklichkeitsebene, die sie zu erklären sucht, soweit sie sich auf die deutsche Geschichte konzentriert, ist die der Täter und Planer und der tausend und aber tausend Bürokraten, Polizisten, Armeeangehörigen, Offiziere, die direkt oder indirekt in die Tötungsvorgänge verwickelt waren. Obwohl die im Rückblick unglaubliche Tatsache akzeptiert werden muß, daß erst um Mitte 1943 das Wissen um die Ermordung der Juden im besetzten Osteuropa durch Urlauber über Polizei, SS, Armee, Partei und Bürokratien aller Stufen hinaus in der Bevölkerung verbreitet wurde (dies war auch die persönliche Erfahrung des Verfassers für den Informationsstand in Berlin im Jahre 1943), machten Terror und Bespitzelung im Inneren und der bald in jede Familie hineinreichende Verlust von Angehörigen im Krieg und durch Luftangriffe sowie der beginnende Verlust des Krieges (El Alamein, Stalingrad, Alliierte Landungen, Kursk) Verdrängung und Indifferenz gegen die bis zum Ende abgeleugneten und geheimgehaltenen Vorgänge im Osten psychologisch verständlicher als die Verweigerung der Sympathie für die doch bereits seit 1933 in aller Öffentlichkeit verfolgten Juden.

Im Gegensatz zu der totalen Diskontinuität des Holocaust werden diese Verfolgungen von der Forschung vor allem des Auslands im allgemeinen als Vorstufen zum Holocaust eingeordnet. Die immer wieder auftauchenden Hinweise aufje wechselnde radikale Endziele legen eine solche Einordnung nahe. Die Fortdauer einer zumindest in ihren inneren Angelegenheiten autonomen jüdischen Gemeinschaft im Rahmen des bereits von Ernst Fraenkel beobachteten „Doppelstaates“ läßt jedoch die erste Verfolgungsphase eher als den Endpunkt der deutsch-jüdischen Geschichte erscheinen denn als ein unmittelbares Vorspiel zum Holocaust.

Zunächst: Die Verfolgungsmaßnahmen des Dritten Reichs lassen sich, mit Ausnahme zweier (relativ kurzer) Perioden von Gewalttaktik (Januar bis Juni 1933 und Frühjahr 1935), bis etwa Ende 1937 als völlig im Einklang mit den politischen Vorstellungen des deutschen Konservatismus verstehen, so etwa die Entfernung von Beamten, die Begrenzung der jüdischen Berufstätigkeit, der Widerruf der Emanzipation durch Entzug des Bürgerrechts bzw. Degradierung zu Bürgern zweiter Klasse. Die Rolle Hjalmar Schachts in der Wirtschaftspolitik symbolisiert die Funktion eines „christlichen Antisemiten“ (Schacht in Nürnberg, 1946).

Die Kontinuität ergibt sich aus der bereits vor 1914 feststellbaren Allianz eines konservativ-bürgerlichen mit dem radikal-populistischen Antisemitismus. Sie war symbolisiert in der Annäherung von Deutschnationaler Volkspartei und Nationalsozialisten in der Spätphase der Republik von Weimar, in der konservativen Verantwortung für die Ernennung Hitlers zum Kanzler. Obwohl später entmachtet, war doch das überwiegend konservative Kabinett Hitlers, später die Bürokratie, zunächst aktiv, dann eher mitarbeitend und geführt, an den Verfolgungsmaßnahmen bis zum Ende (vgl. Anwesenheitsliste der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942) beteiligt. Die ideologischen und persönlichen Verbindungen, die über die unvollendete Revolution von 1918/19 durch die Beamtenestablishments von Weimar tradiert wurden, beruhten für viele auf oft zu spät erkannten Täuschungen und Selbsttäuschungen deutlich auf dem Gebiet der Judenverfolgungen. Dabei war die bereits für die Periode vor dem Ersten Weltkrieg festgestellte Assoziation von Antisemitismus mit innenpolitischen Ordnungsvorstellungen und außenpolitischen Zielen, seine „Kongruenz“, einer der wirksamen Faktoren konservativer Politik.

Die Zuordnung der Verfolgungsperiode 1933— 1937/38 zu der traditionell rechtsbürgerlich-radikalen Koalition von Antisemiten wird auch in der Verbindung deutlich, in die die Judenpolitik mit der Periodisierung der politischen und wirtschaftlichen Ziele des Dritten Reichs gebracht werden muß. Bis etwa Mitte 1933 diente die brutale Gewaltphase zur Einschüchterung und Entmachtung der verbleibenden gegnerischen Machtpositionen. Bis Mitte 1935 schritt die „gesetzliche Ausschließung“ der Juden, vor allem von den Universitäten, den freien Berufen und der Kultur fort. Das innenpolitische Programm schien die „Beruhigung“ der Wirtschaft und die Verlangsamung der Zerstörung zu verlangen. Die im Bündnis mit der militärischen Führung der alten Reichswehr beschlossene Aufrüstung auf der Basis solider wirtschaftlicher und technischer Infrastrukturen verlangte eine Beruhigung der Außenpolitik, das Bild eines friedlichen Deutschland, also taktische Akkommodation der Verfolgungsmaßnahmen. Zugleich diente lokaler Terror als Ersatzrevolution für die dem Bündnis mit der Rüstungsindustrie geopferten „Mittelstände“. Auch für die mit den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 vorgetäuschte Beruhigung, „Legalisierung“ der antijüdischen Politik müssen Aufrüstung und Rheinlandbesetzung in Rechnung gestellt werden. 1936 diente der Selbstdarstellung des Dritten Reiches durch die Olympischen Spiele in Berlin und brachte die temporäre Verlangsamung der Propaganda (nicht der sich vervielfältigenden „Gesetze“ und „Verordnungen“ und des zunehmenden lokalen Gestapodrucks). Die Regierung verzichtete darauf, „spontane“ Pogrome zu inszenieren, als Wilhelm Gustloff, der „Gauleiter“ der NSDAP in der Schweiz, 1936 ermordet wurde.

Daß dann Ende 1937 die letzte, offene gewaltsame Phase des radikalen Antisemitismus begann, die in den Pogromen der sogenannten „Reichskristallnacht“ am 9. /10. November 1938 enden sollte, hängt mit Änderungen des Außenhandels und mit der ab 1938 ins Auge gefaßten Möglichkeit militärischer Aggressionen und des „Anschlusses“ Österreichs zusammen. Die Rüstungsindustrie hatte Vollkapazität erreicht und konnte von der Einverleibung („Arisierung“) der verbleibenden jüdischen Rohstoff-und Devisenkapazität profitieren. Schachts bilaterale Verträge hatten den Außenhandel von den in der westlichen Welt vorhandenen (zwar unwirksamen, aber von der Berliner Regierung gefürchteten) Boykotten deutscher Einfuhren unabhängiger gemacht. Der außenpolitische Effekt hatte sich in der Wahrnehmung der Bürokratie verringert. Der Einmarsch in Österreich hatte gezeigt, daß brutale Gewalt die „Entfernung“ der Juden beschleunigte. Die Pogrome von 1938 symbolisierten so den Übergang zu den radikalen Vorstellungen der völkischen „Phantasten“ von 1920 und den ersten Übergang zum Holocaust. Auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Verfolgungen der Juden im Dritten Reich mit den Perioden der deutschen Innen-, Außen-und Militärpolitik zu interpretieren und die taktische Abfolge der Maßnahmen in diese Politik einzuordnen, die aus dem Gewirr polyzentrischer Einflüsse unter zentraler Führung hervorgingen, heißt Perioden aus der Sicht und Politik der Täter und Machthaber zu definieren. Das Widersinnige und Chimärische des Antisemitismus wird dadurch nicht vermindert. Im Gegenteil: Gerade die Verbindung von total Archaischem wie dem Antisemitismus mit Aufrüstung und Wirtschaftspolitik weist auf den Charakter des Nationalsozialismus und des Dritten Reiches als einer Konfliktphase der Entwicklung hin, die sich am Beispiel des Antisemitismus als zentrales Problem deutscher (und anderer europäischer) Gesellschaften nachweisen läßt.

VI. Die öffentliche Meinung: Antisemitismus als Modernisierungsdefizit

Der Antisemitismus, dies wurde im ersten Abschnitt deutlich, reicht nicht nur als christliches Stereotyp über die Moderne und Aufklärung hinweg in die Traditionen der europäischen Geschichte. Er gewinnt seine Bedeutung auch als Teil von Ideologien, die mit dem Bild des Juden „moderne Entwicklungen“ verbinden, die sie in der einen oder anderen Form nicht bewältigen können oder wollen. (Nicht alle diese historischen Funktionen sind schon heute im einzelnen oder vergleichend verfolgt worden.) Der deutsche Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg war nicht imstande, seine Marginalität und (häufige) Absurdität in eine kontinuierliche politische Bewegung einzubauen, etwa im Gegensatz zu Österreich, wo sich antisemitische Programme in großen Parteien nach 1918 fortgesetzt finden, oder zu Frankreich, wo die Tätigkeiten xenophober und antisemitischer Politiker der Zwischenkriegszeit und Vichy-Regierung auf Kontinuitäten hindeuten konnten. Der deutsche Antisemitismus wurde trotz seines vom Konsensus der Historiker festgestellten politischen Versagens schon 20 Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges als soziale und kulturelle Norm von Verbänden propagiert, die establishment wie populistische Ziele vertraten. Daß dies in einer Gesellschaft geschah, in der die Beziehungen zwischen Menschen und Klassen oder Religionen, zwischen Beamten und Bevölkerung, zwischen Oben und Unten an entscheidenden Stellen von militärischen Modellen und Umgangsformen beeinflußt waren, hat zu dem Stereotyp beigetragen, das dann durchaus anachronistisch zur Auflösung Preußens nach 1945 führen sollte. Der Stellenwert des Antisemitismus im Kaiserreich wird von Historikern verkannt, die primär politische Quellen zur Beurteilung heranziehen.

Auch in der Weimarer Republik waren die Erfolge des Antisemitismus, gemessen an den Wahlerfolgen der Parteien, zunächst gering. Die Deutschnationale Volkspartei erreichte nie mehr die 20, 5% der Stimmen, die sie in der zweiten Reichstagswahl von 1924 verbuchen konnte, und die Kleinparteien der Völkischen kamen bis 1930 nie über insgesamt 8% aller Stimmen hinaus. Selbst wenn die auch nach 1923 in der Wochen-zeitung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens zuverlässig registrierten Fälle von Ausschließungen, Diskriminierungen, Boykotten, Schändungen, die Nazifizierung der Studentenschaften, des Landbundes, der Handlungsgehilfen etc. nicht präzis in ihrem Stellenwert erkennbar sind — daß bürgerliche Parteien in der Krise von 1931/32 es scheu vermieden, den Antisemitismus klar und deutlich zu bekämpfen, ist Indiz für die gesellschaftliche Wirkung des Motivs.

Man kann mit den Forschern übereinstimmen, die den Antisemitismus nicht für das wirksamste Motiv in Propaganda und Wahlerfolgen der NSDAP erkennen können. Selbst wenn am 5. März 1933 sämtliche 51, 9% der Wähler der NSDAP-DNVP-Regierungskoalition nicht wegen, sondern trotz des Antisemitismus dieser Parteien diesen ihre Stimme gegeben hätten — die politische Kultur der Weimarer Republik, ihre Kunstdebatten, ihre Kulturpolitik, die Auseinandersetzungen um Reformen aller Art hatten die Juden mit allem identifiziert, was man in Wirtschaftskrise und Zerfall der Republik als Bedrohung und Verunsicherung empfunden hatte.

Damit ist auch für das Dritte Reich die Frage nach der Epochenstellung berührt, die seine antisemitische Politik zumindest für die Vorkriegsund Vor-Holocaust-Periode für die öffentliche Meinung bedeutet hat. Die Forschung stimmt darin überein, daß es zwar bis zum Ende unter der Bevölkerung Menschen gegeben hat, die Beistand für Juden als eine moralische Pflicht ansahen, trotz des praktisch allgemeinen Versagens der Gegenlegitimationen durch kirchliche oder weltliche Institutionen und Eliten. Sie hat aber auch ohne Widerspruch festgestellt, daß wirkliche Identifizierung mit den öffentlich inszenierten Leiden der Verfolgten, z. B. anläßlich der Zerstörung der Gotteshäuser im November 1938, in den (allerdings mit Vorsicht zu interpretierenden) Quellen der Zeit nicht zu finden ist, wenn man von Berichten zufälliger und nicht beteiligter Zeugen absieht.

Haltungen dieser Art sind gewiß für Situationen zu erwarten, in denen totale Politik und Propaganda, Furcht vor Terror und Brutalität die Bereitschaft zu öffentlicher Kommunikation privatisieren, wo sie überhaupt besteht. Die Passivität der deutschen Bevölkerung gehörte damit auch in den Periodenzusammenhang des Dritten Reiches. Ebenso in diesen Zusammenhang gehört die Kongruenz antisemitischer Inhalte mit Staats-und Gesellschaftsvorstellungen und innen-und außenpolitischen Zielen, die das Dritte Reich aus den historischen Situationen und einem als breit anzunehmenden Konsensus übernommen hatte, in den dreißiger Jahren zu erfüllen schien und pervertierte.

Die historische Meinungsforschung hat sich bisher den Diskontinuitäten und Assoziationen, denen hier nachzugehen wäre, nur für die Zeit des Krieges zugewandt. Sollten die Quellen gesicherte Ergebnisse erlauben, würden sich die beobachteten Haltungen als Reflexe der Konflikte um die Modernisierung erweisen, die das deutsche Judentum schließlich zerstört haben. Die Kontinuität dieser Konflikte und ihre Lösung oder Unterdrückung in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit kann als zentrales Konzept der vergleichenden Antisemitismusforschung Licht auf den Stellenwert des Problems auch in der Gegenwart werfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. 1, Ministerium des Innern 66282.

  2. Im Umkreis der Weltkriegsdiskussion entstanden die folgenden Arbeiten: A. Lutteroth, Der Geisel im Rechtsleben, Breslau 1922, S. 246— 293; G. Vollmer, Entwicklung und heutige Bedeutung der Geiselschaft. Eine völkerrechtliche Studie, Diss. jur. Köln 1926, S. 40— 101; R. v. Keller, Der Geisel im modernen Völkerrecht, Diss. jur. Berlin 1932, S. 13— 72. Aus der Nachkriegssicht: O. M. Uhler, Der völkerrechtliche Schutz der Bevölkerung eines besetzten Gebietes gegen Maßnahmen der Okkupationsmacht unter besonderer Berücksichtigung der Genfer Civilkonvention vom 12. August 1949, Zürich 1951, S. 80— 156. Eine Reihe hier nicht aufgeführter Völkerrechtler der Zwischenkriegszeit hielten Repressalien an Geiseln einschließlich ihrer Exekution für Rechtens.

Weitere Inhalte

Herbert A. Strauss, Dr. phil., geb. 1918; seit 1982 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin; von 1948 bis 1982 Hochschullehrer für Neuere europäische Geschichte am City College of New York und der City University of New York; von 1962 bis 1986 Generalsekretär der American Federation of Jews from Central Europe; seit 1965 Fellow im Board of Directors des Leo Baeck Instituts; Gründer und seit 1971 Leiter der Research Foundation for Jewish Immigration; seit 1975 Generalsekretär des Jewish Philantropic Fund of 1933. Veröffentlichungen u. a.: Staat, Bürger, Mensch. Die Grundrechtsdebatte der Deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt 1848/1849, Aarau 1947; (Ed.) Jewish Immigrants of the Nazi Period in the USA, Bde. I—III, V—VI, 1978— 1987 (Bd. IV in Vorbereitung); Jewish Emigration from Germany. Nazi Policies and Jewish Responses, in: Year Book, Leo Baeck Institute, XXV, 1980, S. 313— 361, und ibid., XXVI, 1981, S. 343— 409; Biographisches Handbuch der deutsch-sprachigen Emigration nach 1933; (Hrsg. zus. mit Werner Röder) International Biographical Dictionary of Central-European Emigres 1933— 1945, 3 Bde. in 4, 1980, 1983; (Hrsg. zus. mit Norbert Kampe) Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 213, Bonn 19863; (Hrsg. zus. mit Christhard Hoffmann) Juden und Judentum in der Literatur, München 1985.