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Großbritannien unter der Regierung Margaret Thatchers | APuZ 38/1987 | bpb.de

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APuZ 38/1987 Artikel 1 Großbritannien unter der Regierung Margaret Thatchers Parteiensystem, Sozialstruktur und Parlament 'in Großbritannien Wandlungen des „Westminster Modells“ Zur Situation der Immigrantenbevölkerung in Großbritannien Die Betroffenen verweigern sich dem Krisenmanagement Der Nordirlandkonflikt

Großbritannien unter der Regierung Margaret Thatchers

Colin Crouch

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die 1979 an die Macht gekommene konservative Regierung hat mit einigen Traditionen britischer Politik — auch der früheren konservativen Politik — gebrochen. Veränderungen wie die Aufgabe keynesscher Prinzipien sind bekannt, weniger jedoch die Art und Weise, wie die Regierung die Rolle einer Reihe von intermediären Institutionen — nicht nur die der Gewerkschaften, sondern auch die kommunalen Institutionen sowie die Interessengruppen im allgemeinen — beschnitten hat. Das bedeutet, daß die britische Gesellschaft einen paradoxen Wandel zu einem mehr zentralisierten Staat bei gleichzeitig vermehrtem Vertrauen in die Kräfte des Marktes durchläuft. Die Bemühungen der Regierung, eine grundlegende Veränderung des Sozialstaates herbeizuführen, sind bis dato wenig erfolgreich gewesen. Die britische Gesellschaft ist in den vergangenen acht Jahren unausgeglichener geworden, obgleich die Regierung Versuche unternimmt, die durch den Markt hervorgerufenen Unterschiede auszugleichen. Hauptleidtragende der Rezession und Arbeitslosigkeit ist eine kleine, mehr und mehr in die Isolation geratene Minderheit von Unterschicht-Familien in den Großstädten. Die große Mehrheit des britischen Volkes hat Anteil am jährlich steigenden Wohlstand, obwohl dieser größtenteils vom befristeten Reichtum des Nordseeöls abhängig ist.

I. Die Hauptanliegen des neuen Konservatismus

Verfügbares Einkommen: Endeinkommen: und Endeinkommens britischer Haushalte 1976— 1984 in Prozent Jeweils in Fünftel der Einkommensverteilung Grundeinkommen: 1976 1981 1984 1976 1981 1984 1976 1981 1984 0, 8 0, 6 0, 3 7, 0 6, 7 6, 7 7, 4 7, 1 7, 1 9, 4 8, 1 6, 1 12, 6 12, 1 11, 7 12, 7 12, 4 12, 7 18, 8 18, 0 17, 5 18, 2 17, 7 17, 5 18, 0 17, 9 17, 5 26, 6 26, 9 27, 5 24, 1 24, 1 24, 4 24, 0 24, 0 24, 3 44, 4 46, 4 48, 6 38, 1 39, 4 39, 7 37, 9 38, 6 39, 0 Tabelle 1: Verteilung des Grundeinkommens, des ver挐٦?

Abkehr vom Konsens Es ist inzwischen zu einer Klischeevorstellung geworden, daß die britische Politik in den achtziger Jahren einen grundlegenden Wandel vollzogen hat. Dafür spricht allein schon der Umstand, daß Begriffe wie Kompromiß-und Konsensfähigkeit, die immer als Tugenden britischer politischer Tradition galten, im Sprachgebrauch von Anhängern der konservativen Mehrheit, und insbesondere in dem der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, mißbräuchlich verwendet werden 1). Das Zusammentreffen verschiedener Faktoren hat diesen Wandel herbeigeführt. Einige Annäherungen an frühere wirtschaftliche Praktiken waren durch das Versagen der Keynesschen Formel — durch „deficit spending“ mit den Inflationsschüben und den Veränderungen der weltweiten Handelsbedingungen fertig zu werden — notwendig geworden. Entweder war eine Wende in Richtung auf eine tiefergreifende Einflußnahme seitens der Regierung auf die Wirtschaft oder — im Gegensatz dazu — ein stärkeres Vertrauen in die Kräfte des Marktes notwendig. Der anhaltende wirtschaftliche Rückgang Großbritanniens fiel mit einer internationalen Wirtschaftskrise zusammen. Welche Politik man auch immer verfolgen würde, die Konsequenzen mußten schwerwiegend sein.

Hinzu kam das spezifisch britische Problem, wie die Regierung sich die Mitarbeit der Gewerkschaften sichern sollte. Die Gewerkschaften mußten entweder enger an die Regierung herangeführt werden, damit sie ihre Macht kooperativ einsetzen konnten, oder sie mußten so geschwächt werden, daß man auf ihre Mitarbeit verzichten konnte. Diese Richtungsfrage mußte aber politisch gelöst werden.

Der Sturz der Labour-Minderheitsregierung 1979 im Anschluß an das Debakel in den Beziehungen zur Industrie und ein weiteres in Sachen schottischer Autonomie verschaffte den Konservativen die Gelegenheit, die Initiative in die Hand zu nehmen. Aber es bedurfte noch weiterer Umstände, um jene fundamentalen Veränderungen zu ermöglichen, die man erreichen wollte, wenn man erst einmal im Amt war. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Rezession Anfang der achtziger Jahre schwächte die Gewerkschaften und führte zu geminderten Erwartungen und einem Vertrauensschwund bei der arbeitenden Bevölkerung. Ihre ein Jahrzehnt zuvor gestellten Forderungen schienen zu einer politischen Belastung geworden zu sein. In den folgenden Jahren fielen Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur mit dem vergeblichen Bemühen zusammen, die traditionelle Arbeiterklasse zahlenmäßig auszubauen. Bei dem anhaltenden Rückgang der britischen Industrie geriet diese in die Isolation, während andere Teile der Gesellschaft aus der zyklischen Wiederbelebung Mitte der achtziger Jahre Nutzen zogen.

Die Labour-Party als stärkste Oppositionspartei verfing sich im Netz ihrer Abhängigkeit von der Arbeiterklasse. Erschwerend kam noch die Hin-wendung der Partei zur radikalen Linken und die darauf folgende Spaltung hinzu. Damit wurde sie bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen für große Bevölkerungsteile nicht mehr wählbar. Verglichen mit allen ihren Vorgängern der Nachkriegszeit war die Regierung somit auf einzigartige Weise kaum ernsthafter politischer Opposition ausgesetzt.

Diese Unabhängigkeit von Zwängen und damit von dem Erfordernis, Kompromisse schließen zu müssen, nahm noch zu, als die Ölkrise der siebziger Jahre dem Ölreichtum der achtziger wich. Die Ausbeutung der Ölvorkommen in der Nordsee nahm ihren Anfang. Die Konservativen zogen aus der Erfahrung, daß die Gewerkschaften nicht imstande gewesen waren, der Labour-Regierung zu helfen, den Schluß, daß eine auf Kompromiß und Konsens beruhende Politik gegenüber den Gewerkschaften für sie nicht sinnvoll sei.

Es ist sicherlich nicht unerheblich, daß im gleichen Zeitraum eine Generation von konservativen Führern einschließlich Margaret Thatcher heranwuchs, welche die Jahrzehnte der beiden Weltkriege und die Jahre der Rezession dazwischen nicht mit den Augen der Erwachsenen erlebt hatte. Ihnen fehlte der Sinn für nationale Gemeinschaft und die Entbehrungen der Arbeiterklasse, welcher die Politik sozialer Reformen der Konservativen der früheren zwanziger Jahre beflügelt hatte. Dies ist von besonderer Bedeutung gerade in einer Zeit, in der der Wohlfahrtsstaat und die Gewerkschaften, die Symbole für den Fortschritt der Arbeiterklasse, zu einem nationalen Problem geworden sind. Freie Märkte und traditionelle Werte Die zentrale These der Konservativen war, daß allein die Kräfte des Marktes in der Lage seien, Großbritannien aus den von gewerkschaftlicher Macht, Regierungseingriffen und Interessengruppen entstandenen Verzerrungen herauszulösen. Es wurde geltend gemacht, daß Unzulänglichkeiten und Leistungsschwächen in Wirtschaft, Arbeiterschaft und Gesellschaft zu lange geschützt worden seien. Staat, Gewerkschaften und Interessengruppen hätten die Freiheit der Menschen eingeengt, indem sie durch Reglementierungen, staatliche Eingriffe, Besteuerung, Ausgaben der Öffentlichen Hand und Gewerkschaftsdruck deren Marktchancen herabsetzten und belasteten 2). Ein weiterer Punkt war, daß Gesetzesnormen und Ordnungsbegriffe an Akzeptanz verloren hätten und daß jene Werte, die Großbritannien in der viktorianischen Ära zur Macht verholfen hatten, durch die moralische Lockerung in den sechziger Jahren verfallen seien. All diese Themen summierten sich zu der Vorstellung vom Niedergang einer Epoche ehemaliger Größe. Gewerkschaftliche Militanz und angebliche Gesetzlosigkeit gerieten unter Beschuß. Tatsächlich wurde das Thema der „viktorianischen Werte“ jedoch eher vernachlässigt: Es gab nichts, was man mit ähnlichen Konzepten der „moralischen Mehrheit“ der Neokonservativen in den USA hätte vergleichen können. Dafür sind mehrere Gründe ausschlaggebend. Das Gefühl einer moralischen Krise trat in Großbritannien viel weniger zutage als in den USA. Von religiöser Seite gab es kaum ein Echo aufThemen der Konservativen: Die Kirchen blieben vorwiegend liberal und befaßten sich mit Fragen wie Atomkrieg und Krise der städtischen Innenzonen. Wie die meisten Gruppen, die weder auf der Seite des Marktes noch auf der des Staates stehen, befanden sich die Kirchen häufig in Konflikt mit der Regierung.

Hinzu kommt, daß die Zahl der Verbrechen im Verlauf der achtziger Jahre gestiegen ist, während die Aufklärungsquote — trotz verstärkter Polizeikräfte und Vollmachten — zurückging. Es gibt wenig in ihrer „Law-and-Order“ -Politik, dessen sich die Regierung rühmen könnte. Verschiedene prominente Konservative, einschließlich eines Vorsitzenden der Partei, wurden in Sex-Skandale verwickelt, und die Bemühungen der Regierung um ein volksnahes Image machten reichlich Gebrauch von Rupert Murdochs Blatt „Sun“, das auf sexuelle Reizthemen spezialisiert ist All diese Faktoren machten die Berufung auf viktorianische Werte schwer. Wenn es zu einem Konflikt zwischen Markt und traditionellen Wertvorstellungen kommt, dann setzen sich zumeist die marktwirtschaftlichen Kräfte durch.

Eine Ausnahme in der Vernachlässigung der „Werte“ ist die Erziehungspolitik. Im Vereinigten Königreich entstand eine gewisse Unruhe über die Auswirkungen „progressiver“ Erziehung auf moralische Wertvorstellungen, nachdem einige lokale (labourregierte) Schulbehörden darauf beharrten, daß Homosexualität in ihrem Schulbereich auf verständnisvolle Weise behandelt werden sollte. Weitere Themen, die zu ähnlichen Sorgen über erzieherische Wertvorstellungen Anlaß gaben, wurden aufgegriffen. Einigen dieser Befürchtungen ist die Regierung entgegengekommen. Das Education Act No. 2 von 1986 bevollmächtigte lokale Polizei-chefs, sich zu Lehrplänen zu äußern, und ermächtigte die Schulleitungen, Sexualkundeunterricht zu untersagen. Allerdings schrieb der Erziehungsminister an alle Schulen, er hoffe, seinem eigenen Gesetz zum Trotz, daß man Sexualkunde beibehalten und auch das Problem Aids dort seinen Platz Enden möge. 3. Der starke Zentralstaat So blieb die Berufung auf viktorianische Werte mehr rhetorischer denn praktisch-politischer Art. Vordringliche Sorge des neuen Konservatismus blieb der Handelsliberalismus. Hier nun kam die Regierung in eine paradoxe Situation. Ganz allgemein gesprochen kann Liberalismus zweierlei bedeuten: Er kann den freien Markt als einen Faktor unter mehreren anderen (wie dezentralisierte Regierung, starke, nichtstaatliche Organisationen, erweiterte Bürgerrechte) betrachten, welche die Freiheiten des Bürgers schützen. Andererseits kann er den Markt aber auch als den bei weitem wichtigsten Ausdruck von Freiheit ansehen — in dem Sinne, daß dezentralisierter Regierung, organisierten Gruppen und Bürgerrechten keine besondere Wächterrolle beim Schutz der Freiheit zufällt. Tatsächlich muß man sie sogar als für die Freiheit hinderlich bezeichnen, wenn sie die Kräfte des Marktes stören. Letztere Interpretation legitimiert die Verwendung staatlicher Macht zur Bekämpfung aller Kräfte, welche den Markt zu stören vermögen. Nur in diesem letzteren Sinn ist der neue Konservatismus in Großbritannien liberal. Das ist ungewöhnlich in der britischen Politik und hat mehr mit französischen jakobinischen Traditionen gemeinsam. Vielleicht ist es das, mehr als alles andere, was den neuen Konservatismus vom alten „Toryismus“ unterscheidet.

Um den Markt zu schützen, hat die Regierung die Macht des Staates verstärkt. Die Reduzierung von Konsultationen mit den Gewerkschaften und in einem gewissen Grade auch mit Arbeitgeberorganisationen hat dazu geführt, daß der Staat unbehelligt vom Rat anderer ist — es sei denn, er möchte ihn hören. In Gremien und Untersuchungsausschüssen finden sich heute nur selten Vertreter der Labour-Partei oder anderer, der Regierung kritisch gegenüberstehender Gruppen.

Ein bedeutender, allen Parteien gemeinsamer Wesenszug des traditionellen englischen Liberalis-B mus sind jene Organisationen, die als „öffentlich“ angesehen werden, aber dennoch gegenüber der jeweiligen Regierung ein autonomes Dasein führen. Dieses Konzept wird nun langsam aufgeweicht. Musterbeispiel einer solchen Institution ist die BBC. Diese wurde von Ministern und Mitgliedern der konservativen Partei öffentlich angegriffen, weil man der Auffassung war, sie lasse der Regierungskritik zu sehr freien Lauf. Als Folge schrumpfte die Mitgliedschaft in den Führungsgremien der BBC allmählich auf einen Kreis bekannter Regierungsanhänger zusammen. Von Ausschüssen, welche Regierungsgelder für die wissenschaftliche Forschung zuteilen, wird zunehmend Rücksichtnahme auf Regierungsinteressen und die der Geschäftswelt erwartet. Das Universitätsfinanzkomitee — es hat seinen Platz zwischen Universität und Regierung — verwandelt sich mehr und mehr zu einer Vertretung von Regierungspolitik und Geschäftsinteressen.

Um die öffentlichen Ausgaben zu senken und die Opposition zu schwächen, verdrängt die Regierung weitgehend die Macht lokaler Behördengewalt. Reihenweise wurden Behörden im Bereich Londons und in Bezirken sechs anderer Großstädte abgeschafft. Die Wahlen waren in diesen Bezirken fast immer von der Labour-Partei gewonnen worden, deren Vertreter sich vielen Regierungsvorstellungen widersetzt hatten. London ist nun die einzige Hauptstadt der westlichen Welt ohne gewählte Regierungsgewalt auf kommunaler Ebene. Die Freiheit lokaler Behörden, über ihre Ausgabenpolitik zu entscheiden, ist nahezu abgeschafft. Zentrale Vorschriften für Wohnungsbau und Erziehung wurden so weit wie möglich durchgesetzt, und weitere Einschnitte im Erziehungsbereich stehen bevor Pläne sind in Vorbereitung, nach denen die Macht der Stadträte in den Innenzonen auf von der Regierung ernannte Kommissionen übergeht, sollten sie nicht mit der Regierungspolitik bei der Bewältigung der Probleme dieser Gebiete konform gehen. Ganz entschieden widersetzt sich die Regierung dem Verlangen nach regionaler Selbstverwaltung. Seit einigen Jahren gibt es einen beträchtlichen Druck seitens der Bevölkerung Schottlands (weit weniger seitens der von Wales) mit Blickrichtung auf regionale Autonomie, ähnlich vielleicht wie bei den deutschen Bundesländern. Heute ist die Partei der Konservativen die einzige in Großbritannien, die sich gegen solche Vorstellungen sträubt.

Es wäre jedoch irreführend anzunehmen, daß eben dieser Wunsch nach Zentralismus auch hinter der Regierungspolitik im Falle Nordirlands steht. Bis Anfang der siebziger Jahre verfügte dieses Gebiet über regionale Selbstverwaltung. Eine frühere konservative Regierung kam jedoch zwangsläufig zu dem Schluß, daß die protestantische Mehrheit ihren seit langem bestehenden politischen Vorteil gegenüber der katholischen Minderheit so sehr mißbrauche, daß diese zunehmend zu Gewalt Zuflucht nehme. Konservative wie Labour-Regierungen haben seither mit verschiedenen Formen der Gewaltenteilung zwischen katholischen und protestantischen Gemeinden experimentiert, doch das Ausmaß an offener und potentieller Gewalt seitens extremer Anhänger auf beiden Seiten machte eine ständige unmittelbare Kontrolle durch Westminster und eine starke militärische Präsenz unerläßlich.

Dieses Vorgehen wird mehr oder weniger von allen politischen Parteien in Westminster bejaht. Die katholische Bevölkerung, von der der größte Teil eine Integrierung Nordirlands in die Republik Irland befürwortet, fühlt sich von den britischen Behörden ungerecht behandelt. Doch sollte man auch die Opfer der Konservativen anerkennen, die die Unterstützung der nordirischen Protestanten, ihrer zuverlässigen Verbündeten in Westminster bis 1974, eingestellt haben. Die jetzige Regierung ist sogar soweit gegangen, sich zu häufigen Beratungen mit der Republik Irland über Angelegenheiten des Nordens zusammenzusetzen — ein kleiner Schritt zwar angesichts des Ausmaßes der Probleme Nord-irlands, doch weitreichend genug, um die nordirischen Protestanten in Zorn zu bringen, die darin eine Ermächtigung der Republik erblicken, sich in die Angelegenheiten des Nordens einzumischen.

Läßt man den Fall Irland einmal beiseite, dann tragen die Zentralisierungsmaßnahmen zusammen mit dem verstärkten Nachdruck auf „law and order“ dazu bei, den eigentümlichen Charakter des Konservatismus in Großbritannien offenzulegen. Verglichen mit dem Konservatismus in den USA, ist er auf ganz ähnliche Art und Weise dem laissez faire verpflichtet; doch während ihr der paradoxe Bezug auf traditionelle Religion und Moral fehlt, schafft er sich seine eigenen Widersprüche in der Kombination aus freier Wirtschaft und starkem, zentralisiertem Staat

II. Politik des freien Marktes

Abhängig von Sozialleistungen Zusammen: (Zahl der Personen) Keine Sozialleistungen, aber Einkommen unter Sozialhilfenniveau Einkommen geringer als 20 % über dem Mindesteinkommen 2 590 000 1 400 000 1 590 000 5 580 000 3 640 000 1 880 000 2 000 000 7 520 000 Tabelle 2: Bedürftigkeit in Großbritannien 1979 und 1983 Quelle: HM Government, Social Trends, London 1987, S. 96. 1979 1983

1. Monetarismus In Großbritannien hat der Staat dazu beigetragen, dem freien Markt Spielraum zu verschaffen. Auf welche Weise sind diese Kräfte freigesetzt worden? Die von der Regierung ins Auge gefaßte Strategie des Monetarismus hat hierbei nur eine geringe Rolle gespielt. Monetarismus sollte an die Stelle der Leitgedanken keynesscher Wirtschaftspolitik treten, einen einfachen objektiven Maßstab für das einzige der Regierung verbleibende Mittel der Wirtschaftslenkung liefern, der Inflation entgegenwirken und ein Eingreifen der Politik in die Wirtschaft vermindern. Kritiker haben schon früh darauf hingewiesen daß die Regierung nicht die Kreditbasis der Wirtschaft kontrollieren und deshalb auch keine wirksame Kontrolle über die Geld-versorgung erlangen kann.

Die Regierung wandte sich aus diesem Grunde nacheinander verschiedenen Modellen der Geldpolitik (M 3, MO) zu, von denen sie günstige Ergebnisse erwartete. Erst injüngster Zeit fand ein Wechsel statt, dessen Erfolg oder Mißerfolg zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden kann.

Ein strikter Monetarismus war jedoch nicht erforderlich. Die steile Rezession der frühen achtziger Jahre erreichte die Kontrolle der inflatorischen Tendenzen mit weniger technischem Raffinement. Dann folgte die jetzt anhaltende zyklische Erholung. 2. Wirtschaftshilfe durch die Regierung Großbritannien macht gerade die Erfahrung einer übertriebenen Version des allgemeinen Übergangs des Westens vom Produzenten zu Aktivitäten auf dem Dienstleistungssektor. Das spiegelt zum Teil das niedrige Leistungsniveau vieler britischer Industriezweige wider und zeigt sich im vergleichsweise günstigen Stand der britischen Wirtschaft bei Dienstleistungen auf dem Finanzsektor gegenüber dem Produktionssektor und dem kurzfristigen Faktor Nordsee-Öl Diese Entwicklung wurde durch die Regierungspolitik gefördert. In Schwierigkeiten geratene Betriebe erhielten keine Überlebenshilfe. Auch wurde verhältnismäßig wenig zur Unterstützung neuer Technologien getan. Die britischen Ausgaben für Forschung und Entwicklung gehören zu den niedrigsten der Industrieländer; ihr Schwerpunkt liegt auf dem Verteidigungssektor und ist zudem wenig koordiniert Die meisten dieser Probleme gehen auf die Zeit der Labour-Regierung zurück. Ein weiteres Problem für die britische Industrie ist die Tatsache, daß die teilweise während der achtziger Jahre verfolgte Hochzinspolitik das Investitionsniveau niedrig gehalten hat.

Großbritanniens Ölreichtum ist ein nicht ungetrübter Segen. Während er auf der einen Seite eine große Erleichterung für die Zahlungsbilanz und das Steueraufkommen bedeutet, hat er das britische Pfund auf den internationalen Geldmärkten in einer Weise nach oben gedrückt, daß die industrielle Wettbewerbsfähigkeit darunter leiden mußte. Dieser Faktor war mitverantwortlich für die Schwierigkeiten vieler britischer Unternehmen während der Rezession. Das kam den Bemühungen der Regierung zur Zurückdrängung von Leistungsschwächen in der britischen Industrie entgegen, obgleich durchaus nicht sicher war, daß nur der weniger Leistungsfähige der Leidtragende war. Für die Zukunft bleibt die Frage offen, ob die britische Industrie sich wieder erholen kann, während das Wirtschaftssystem so stark auf das Ölgeschäft ausgerichtet ist. Die Regierung hat keine Konzeption, wie die Einkommen aus dem Ölreichtum zur Finanzierung neuer Investitionen zu verwenden wären; sie verläßt sich vielmehr auch hier auf die Kräfte des Marktes.

Bevor 1978 das Öl zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor wurde, hatte Großbritannien ein Defizit von 1 984 Millionen Pfund auf seiner Ölrechnung, einen Überschuß von 442 Millionen Pfund bei Landwirtschafts-und Produktionsgütern und 2 507 Millionen Pfund auf dem Dienstleistungssektor, d. h. einen Nettoüberschuß von 965 Millionen Pfund. Im Jahre 1986 wies die Ölrechnung einen Überschuß von 4 153 Millionen Pfund aus und die Dienstleistungen schlossen mit einem Plus von 7 154 Millionen Pfund ab. Aber bei Konsum-und Investitionsgütern bestand ein Defizit von 12 407 Millionen Pfund, so daß das Gesamtdefizit sich auf 1 100 Millionen Pfund belief. Im Jahre 1979 produzierte Großbritannien z. B. 890 200 Pkw und 340 000 Nutzfahrzeuge; davon gingen 320 700 bzw. 130 500 in den Export. Im Jahre 1986 wurden 840 900 Pkw und 190 100 Nutzfahrzeuge produziert, wovon lediglich 150 600 bzw. 40 200 . exportiert wurden. Die Stahlproduktion betrug 1979 21 464 000 Tonnen und die der Eisenfertiggüter 15 480 000 Tonnen. Im Jahre 1986 war die Produktion dieser beiden Güter auf 15 722 000 bzw. 11 560 000 Tonnen gesunken. Die Industrieproduktion erzielte im Jahre 1986 ein nur um 4% besseres Ergebnis als 1980

Wenn der Ölreichtum im 21. Jahrhundert zu schrumpfen beginnen wird, kommt es hier zu größeren Problemen., Sind die Kräfte des Marktes imstande, sie allein zu lösen? Wird Großbritannien die erste größere Nation sein, die den Dienstleistungssektor ausbauen muß, um die Defizite im Agrarsektor und in der Industrieproduktion auszu-gleichen? In gewisser Hinsicht stellen diese Fragen für die britische Gesellschaft eine größere Herausforderung dar als jede andere der mehr unmittelbar politischen Neuerungen der Regierung.

Es mag befremdlich erscheinen, daß selbst eine Regierung der neuen Rechten unter solchen Umständen sich der „Nichteinmischung“ verschreibt, während andere europäische konservative Regierungen eine aktivere Industriepolitik betreiben. Hierfür gibt es folgende Gründe: Die Bilanz wirtschaftspolitischer Interventionen war nicht sehr erfolgreich. Unter der Labour-Regierung wurden hoffnungslos abgewirtschaftete Industriezweige am Leben erhalten. Kleine, gelegentliche Erfolge fielen dabei kaum ins Auge. Das von der letzten Labour-Regierung ins Leben gerufene „National Enterprise Board“ (Nationaler Ausschuß für Unternehmertum) förderte insbesondere dahinsiechende Firmen wie British Leyland und Rolls Royce, obwohl es auch einige bedeutende Unternehmen in neuer Technologie unterstützte. Das Board wurde von den Konservativen abgeschafft. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß die besonders unter dem Rückgang der Industrie leidenden Regionen nicht zu den Wählerhochburgen der Konservativen zu rechnen sind, vielmehr haben die Hauptwidersacher der Regierung, die Gewerkschaften, in jenen Industriezweigen und Regionen ihre Schwerpunkte. 3. Privatisierung und Aufhebung von Bindungen Ein äußerst erfolgreiches Programm ist der Verkauf staatseigener Unternehmen. Die Aktienpreise wurden niedrig gehalten, was den Käufern zu einem raschen Gewinn verhalf. Unterstützt wurden die Aktienausgaben von einer massiven, staatlich finanzierten Werbekampagne, in der zum Aktienkauf und damit zum Eintritt in den „Unternehmerkreis“ ermuntert wurde, was der Regierung zu einem nicht unwesentlichen ideologischen Vorteil verhalf. Die Zahl der Aktionäre verdoppelte sich auf zwei Millionen, wobei die höheren Einkommensschichten überwiegen. Doch gibt es auch unter den Arbeitern Aktionäre, wenn auch in geringem Ausmaß

Eine weitaus bedeutendere Privatisierung stellte die Politik der Regierung dar, die Mieter von Wohneigentum der Öffentlichen Hand zum Kauf dieser Wohnungen zu ermuntern. Diese Politik nahm Ende der sechziger Jahre ihren Anfang und findet nach wie vor starken Anklang in einem Land, in dem 55 % der Haushalte durch privates Wohneigentum in den Genuß erheblicher Steuererleichterungen gelangen.

Ein weiterer und noch mehr ins Gewicht fallender Gewinn erzielte die Regierung aus dem Verkauf nationaler Industrien, der sie trotz der hohen Last der Arbeitslosenzuschüsse vor einer Haushaltskrise bewahrte. 10

Doch in gewisser Weise hat die Privatisierung den Zielen der Regierung, die Rolle von Regularisierungsmechanismen zu reduzieren, auch Grenzen gesetzt. Fast alle privatisierten Unternehmen sind Monopole oder Fast-Monopole geblieben. (Im Fall der British Airways stand die Regierung vor der Wahl, entweder die Gesellschaftsform vor dem Verkauf aufzulösen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, oder sie beizubehalten und durch ein Fast-Monopol einen höheren Erlös aus dem Aktienverkauf zu erzielen; sie entschloß sich für letzteres.) Die Regierung hat dabei zugestanden, daß solche privaten Monopole irgendeiner Art Steuerung bedürfen und Organe wie OFIEL geschaffen, welche die privatisierte Telecommunications Corporation, TELCOM, beaufsichtigt.

Das beste Beispiel einer Zunahme von Regulierung — paradoxerweise für das Gegenteil ausgegeben — betrifft jedoch die „City of London“, das Zentrum der ständig wachsenden Geldwirtschaft des Landes. Traditionell von nichtoffiziellen Kreisen und deren Maßgaben kontrolliert, brach dieses Geflecht unter dem Druck der Internationalisierung der Finanzmärkte Ende der siebziger Jahre auseinander. Es gab eine große Anzahl von Skandalen und Fällen krimineller Betrügereien. Im Jahre 1986 war die „City“ für die internationalen Märkte wieder voll geöffnet; die alten Strukturen erschienen in neuer Gestalt. Parallel dazu handelte die Regierung mit führenden City-Organisationen einen neuen Maßnahmenkatalog aus, dem man zwar den Namen „Selbstregulierung“ gab, der jedoch letzten Endes vom Gesetz gestützt war In diesem Zusammenhang nehmen sich die Maßnahmen zur Bindungslockerung (de-regulation) eher bescheiden aus. Augenoptiker haben ihr Monopol auf den Brillenverkauf verloren; diese sind nun in beliebigen Läden erhältlich. Die Bestimmungen über den Personenverkehr auf Landstraßen werden zur Zeit gelockert und führen zu mehr Wettbewerb aufverkehrsreichen Busstrekken. In den Zentren einiger Städte wurden „Unternehmenszonen“ geschaffen, in denen die sonst üblichen Einschränkungen außer Kraft gesetzt wurden, um Anreize für Investitionen zu bieten. Ganz allgemein sind die Möglichkeiten lokaler Behörden, industrielle und kommerzielle Entwicklungsprojekte zum Schutz der Umgebung, der Bauaufsicht und der Nutzung zu kontrollieren, leicht eingeschränkt worden. Diese beiden letzteren Maßnahmen sind Teil des Angriffs auf die Macht lokaler Regierungen. 4. Besteuerung und Einkommen Ein zentrales Anliegen konservativer Strategie war es, die allgegenwärtige Steuerlast und ihre Ausweitung einzudämmen. Trotz Kürzungen öffentlicher Gelder, trotz Unterstützung durch den Verkauf von Vermögenswerten und Einnahmen aus dem Ölgeschäft hat die Besteuerung in der Amtszeit dieser Regierungjedoch zugenommen. Die Kosten für die steigende Arbeitslosigkeit und — in geringerem Maße — die wachsenden Verteidigungsausgaben zusammen mit den von der Regierung übernommenen Leitlinien des Sozialstaates haben ihren Handlungsspielraum erheblich eingeengt.

Durch Steuersenkung wurde der Versuch gemacht, die höheren Einkommensschichten zu entlasten und von direkter auf indirekte Besteuerung überzugehen. Dem wirkte allerdings die Entscheidung entgegen, die Rolle der Beiträge zur Sozialversicherung innerhalb des Steuersystems zu stärken, und diese noch auszuweiten. Im Endeffekt ist die Steuerlast für alle leicht angestiegen, mit Ausnahme vielleicht der oberen 5 % der Einkommenshierarchie Bis zur Stunde hat es keinen ernsthaften Widerstand gegen die Umverteilung der Steuern gegeben. Die Regierung hat weder das getan, was sie zu tun vorgab, noch das, wessen ihre Gegner sie beschuldigten.

Im Lauf der achtziger Jahre wurde die britische Gesellschaft Gleichgewichtsverschiebungen ausgesetzt, denn die Marktkräfte haben die Unterschiede in den Einkommen vergrößert. Arbeitslosigkeit hat nicht nur die Einkommen der Beschäftigungslosen reduziert, sondern auch derjenigen, deren Marktposition durch Arbeitslosigkeit und die steigende Unsicherheit der Arbeitsplätze in der Industrie geschwächt wurde. Am anderen Ende der Skala findet man einen beträchtlichen Einkommensanstieg bei Gutverdienenden, insbesondere auf dem Finanzsektor. Wie Tabelle 1 zeigt, haben die oberen 40% (und besonders die oberen 20%) gegenüber den anderen zugenommen, was jedoch durch den Steuereffekt wieder ausgeglichen wird.

Die „Opfer“ der Verlagerung auf die Prinzipien des freien Marktes und der Rezession finden sich vorwiegend am unteren Ende der sozialen Leiter; sie stellen eine zunehmend abgegrenzte und isolierte Minderheit dar, die jedoch zahlenmäßig anwächst. Aus Tabelle 2 wird ersichtlich, daß die Anzahl der relativ „Armen“ mit Anspruch oder Fast-Anspruch auf Sozialhilfe steigt. Zwischen 1979 und 1983 stieg die Sozialhilfe um 60 % gegenüber einer allgemeinen Einkommenssteigerung von 52% Ein geringer Teil des Anstiegs ist somit durch eine etwas großzügigere Definition von „Armut“ verursacht. Bemerkenswert ist, daß die Zahl der in Armut lebenden älteren Menschen abgenommen hat

Der Anstieg der Armut bei Familien mit Haushalts-vorstand in arbeitsfähigem Alter war beträchtlich. Ein großer Teil des Anstiegs geht zu Lasten der Beschäftigungslosen, doch gab es auch ein Anwachsen der Armut bei den Beschäftigten. Die große Mehrheit der Armen lebt in den soge-nannten „innercities" (Innenzonen der Städte): In Vierteln mit kaum vorhandenem natürlichem Umfeld, unzureichender Schul-und Gesundheitsversorgung und geringen Arbeitsmöglichkeiten In solchen Gebieten wohnen vorwiegend Angehörige ethnischer Minderheiten. In diesen „innercities“ von London, Birmingham und Bristol kam es in den Jahren 1981 und 1985 zu Ausschreitungen. An diesen Zwischenfällen waren in erster Linie, doch keineswegs ausschließlich, Angehörige ethnischer Minderheiten, überwiegend Jugendliche, beteiligt. Im Falle der ethnischen Minderheiten kam noch deren problematisches Verhältnis zu den lokalen Polizeibehörden hinzu

Rassismus als solcher schwelt unter der Oberfläche britischer Politik. Die „National Front“, eine politische Partei, die sich ganz offen zum Rassismus bekennt, ist zu einer Randerscheinung geworden — möglicherweise, weil die konservative Regierung ihren eigenen Forderungen nach schärferer Kontrolle bei der Einwanderung von Schwarzen nachgekommen ist. Nur wenige Politiker großer Parteien nehmen es heute auf sich, die spannungsgeladene Rassenfrage anzutasten. Auf der subpolitischen Ebene jedoch kommt es immer wieder zu rassisch bedingter Kriminalität in bezug auf Personen und Eigentum der ethnischen Minderheiten, in erster Linie gegen Asiaten. Es gibt auch Anzeichen für Spannungen unter Angehörigen einzelner Minderheiten wie Einwanderern aus der Karibik und aus Pakistan.

Der Alltag der großen Mehrheit des britischen Volkes istjedoch unberührt von den Daseinsproblemen der städtischen Innenzonen, es sei denn, Ausschreitungen auf lokaler Ebene stören die soziale Ordnung. Läßt man einmal die Fälle von echten Einkommensverschlechterungen auf dem Tiefpunkt der Rezession beiseite, dann erfreut sich die Bevölkerung eines steigenden Lebensstandards und immer weiter verbesserten Zugangs zu modernen Konsumgütern und Dienstleistungen! Eine zunehmende Anzahl von verheirateten Frauen geht zumindest einer Teilzeitbeschäftigung nach In Großbritannien wie auch anderswo hat die schwierige Arbeitsmarktlage paradoxerweise eine Zunahme weiblicher Arbeitsplätze zur Folge. Die Frauen ermöglichen den Arbeitgebern mehr Flexibilität und sind eher bereit als Männer, vorübergehende oder unsichere Arbeitsplätze einzunehmen. Und für viele Familien bedeutet das einen Einkommenszuwachs.

In der britischen Gesellschaft haben einerseits viele Menschen Zugang zur Wohlstandsgesellschaft gefunden, andererseits ist für andere das Leben schwieriger geworden Diesen Aspekt spiegeln kürzliche Untersuchungen über die soziale Mobilität in England und Wales wider Die neuesten Untersuchungen zeigen, daß mehr Menschen aus der Arbeiterschicht die Chance zu sozialem Aufstieg wahrnehmen; auf der anderen Seite sehen sich aber auch mehr Arbeitssuchende langanhaltender Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Es gibt eine wachsende Kluft zwischen den „inner cities“ und der übrigen Gesellschaft, die Unterschiede zwischen dem primären und dem sekundären Arbeitsmarkt nehmen zu, und die Unausgeglichenheit der Regionen des Landes ist erheblich 5. Der Wohlfahrtsstaat Es liegt in der Logik des neuen Konservatismus, auf dem Sozialsektor Kürzungen vorzunehmen und von öffentlichen Leistungsträgern auf private überzugehen. Bemühungen der Regierung in dieser Richtung wurden jedoch durch die große Anzahl der Nutznießer von Sozialleistungen unterlaufen Das galt insbesondere auf dem Gebiet der Krankenversorgung und der staatlichen Erziehung. Sowohl 1983 als auch 1987 wurden bei den Wahl-kampagnen Minister dazu gedrängt, Garantien für eine Beibehaltung der Grundlagen des Sozialstaates abzugeben.

Wie aus Tabelle 3 hervorgeht, hat es Kürzungen besonders im Verhältnis zum Anstieg der Ausgaben für den Privatkonsum gegeben, doch können sie kaum als einschneidend bezeichnet werden. Bei den Haushaltsproblemen Ende der siebziger Jahre hätte jede Regierung — welche auch immer — Kürzungen vornehmen müssen. Tabelle 3 zeigt ebenfalls die enormen Kosten für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit (darin eingeschlossen die Ziffern für soziale Sicherheit).

Die vorgenommenen Kürzungen waren unpopulär und stießen auf Ablehnung; ihre Wirkungen waren tiefgreifender, als die nackten Zahlen vermuten lassen. Im Laufe dieser Jahre ist der Anteil der älteren Menschen an der Bevölkerung erheblich angestie-gen, was nicht nur zu höheren Ausgaben in der Altersversorgung führte, sondern auch zu erhöhten Forderungen an Krankenversorgung und andere Sozialleistungen. Auch stellt der Fortschritt in der Medizin neue, teure Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, auf die die Menschen Anspruch erheben. Um diesem Bedarf nachzukommen, sind bei bestimmten Grundleistungen Kürzungen unerläßlich. Es kommt zum Beispiel zu verlängerten Wartezeiten für stationäre Behandlungen. So mußten beim Anstieg der Ausgaben auf dem Gesundheitssektor bei vielen Leistungen Abstriche in Kauf genommen werden.

Die Kürzungen im Ausbildungssektor waren einschneidender. Teilweise sind sie auch durch den Rückgang der Schülerzahlen begründet. Doch dürfen Kürzungen nicht nach Pro-Kopf-Zahlen in einem Bildungsbudget vorgenommen werden, das sich nur eingeschränkt nach wechselnden Schüler-zahlen richten kann. Als Ergebnis stellen Lehrer, Schüler und Eltern einen Rückgang des Schulniveaus fest, ein schwerwiegendes Problem in einer Gesellschaft, in der die Chancen auf dem Arbeitsmarkt offensichtlich mehr und mehr vom Ausbil-dungserfolg abhängen und wo die Kluft zwischen denen, die es schaffen und denen, die auf der Strecke bleiben, größer wird. Daher ist Bildung zu einer zentralen politischen Streitfrage geworden.

Hier jedoch steht die Regierung nicht ganz und gar mit dem Rücken an der Wand. Für die konservative Regierung ist die Beschäftigung mit Fragen des Leistungsniveaus, des Ausbildungsstandards und unterschiedlichen Chancen von Erfolgreichen und Versagern leichter als für die egalitär eingestellte Opposition, auch wenn die Lehrer an den Schulen weitgehend gewerkschaftlich organisiert sind. Ein Teil der Reaktion der Regierung bestand darin, stärkeren Nachdruck auf traditionelle Prinzipien gegenüber progressiven zu legen, wie oben bereits ausgeführt wurde. Eine weitere Reaktion galt der Kritik an Schullehrern und lokalen Schulbehörden. Das wirft die mehr allgemeine Frage nach der Zukunft der Wohlfahrtsstaatpolitik auf. Die Vorstellungen der konservativen Regierung auf gesellschaftspolitischen Gebieten können sich nur dann durchsetzen, wenn eine wachsende Zahl von Menschen realistische Chancen sieht, private Alternativen zu entwickeln. Das war auch auf dem Wohnungssektor bereits der Fall. Für Millionen britischer Familien ist Wohneigentum seit langem ein erreichbares Ziel, so daß die Attacken auf die Bau-politik lokaler Behörden ausgesprochenen Beifall fanden. Ein schwierigeres Problem ist die Altersversorgung. Viele Angehörige der mittleren und oberen Einkommensschichten sind in der betrieblichen privaten Altersversorgung, aber der Großteil der Bevölkerung ist über die „State Eamings Related Pension Scheme (SERPS)“ (staatliches einkommenbezogenes Rentensystem) altersversichert. Die Regierung plant deshalb einen allmählichen Ausstieg aus der SERPS über eine Reihe von Jahren hinweg, wobei bestehende Versorgungsansprüche keine Einbußen erleiden sollen. Die Hoffnung ist, daß Privatversicherungen in Zukunft zunehmen werden, damit die Unpopularität geschmälert wird, die eine Reduzierung der staatlichen Altersversorgung auf die Rolle eines rudimentären Systems der Sozialhilfe mit sich bringen würde

Ein größeres Problem stellt das Gesundheitswesen dar. Der privaten Krankenversicherung gehören vorwiegend Akademiker und höhere Angestellte aus der Wirtschaft an, und das private Versicherungswesen wäre der Leidtragende, wenn die Gesellschaften die Risiken der gesundheitlich wesentlich schwächeren Arbeiterklasse mitzutragen hätten. Die Regierung unterstützt Versicherungen auf privater Basis. Verschiedene größere US-Versicherungsgesellschaften investieren bereits in Großbritannien in der Erwartung eines wenigstens teilweisen Abbaus staatlicher Leistungen. Die Regierung wird wahrscheinlich einen differenzierten Weg einschlagen und private Vorsorge für teure Spezialbehandlungen vorschlagen, während Grundleistungen durch den Staat beibehalten werden. Für die konservative Regierung stellt sich der Schulbereich als der am schwierigsten zu privatisierende Sektor dar. Gegenwärtig besuchen nur 7 % der Jugendlichen Privatschulen. Vereinzelt sind Versuche gemacht worden, unter dem neuen „Assisted Places Scheme“ mittels staatlicher Beihilfe für Schüler privater Schulen zu besseren Ergebnissen zu kommen. Man beabsichtigt — sollte eine Mehrheit von Eltern die Politik lokaler Schulbehörden mißbilligen — die einzelnen Schulen in die Lage zu versetzen, „unabhängig“ zu werden, d. h. sich unter die Aufsicht der Regierung statt der lokalen Schulbehörden zu begeben. Schulgebühren würden nicht erhoben werden. Das ist in erster Linie ein Teil der Regierungskampagne gegen die Labourkontrollierten Schulbehörden, doch könnte es später zu einem Instrument für die Privatisierung werden. Solche „Fluchtmaßnahmen“ werden allerdings auf dem Schul-und Gesundheitssektor ihre Wirksamkeit erst unter Beweis stellen müssen, bevor sie von breiteren Schichten angenommen werden. Schul-und Gesundheitswesen sind bis heute jene Bereiche, in denen die Politik der konservativen Regierung am wenigsten wirkungsvoll geblieben ist. 6. Gewerkschaften Zu den am meisten verkündeten Aspekten des Regierungsprogrammes gehört die Auseinandersetzung mit der Macht der Gewerkschaften, nachdem diese während der sechziger und siebziger Jahre eine ebenso erhebliche wie umstrittene Rolle in der britischen Politik gespielt hatten. Wiederholt hat die Regierung 1980, 1982, 1984 und 1987 Gesetze erlassen, um die Macht der Gewerkschaften einzuschränken. Dem Recht auf Streikposten wurden Schranken gesetzt, flankierende Maßnahmen wurden begrenzt und die Organisation bestreikter Betriebe reduziert. Auflagen zur Sicherstellung größerer Geheimhaltung bei Abstimmungen über die Wahl von Gewerkschaftsfunktionären und Streikentscheidungen wurden erlassen

Bei dem Versuch, die Macht der Gewerkschaftsführer innerhalb ihrer Gewerkschaften zu begrenzen, hat der Gesetzgeber ein bemerkenswertes Verhalten an den Tag gelegt. Dies steht im Gegensatz zu einer über ein Jahrhundert lang in Großbritannien gepflegten Tradition, nach der Regierungen davon ausgingen, daß Gewerkschaftsführer einen mäßigenden Einfluß auf ihre Anhängerschaft auszuüben hatten. Die jetzige Regierung vertritt den gegenteiligen Standpunkt, indem sie in Gewerkschaftsführern Anstifter zu mehr Kampfbereitschaft sieht. Die „Trade Unions“ werden als Organisationen angesehen, die sich zwischen Regierung, Markt und Bürger stellen. Von dieser neuen Entwicklung abgesehen, hat sich die konservative Regierung bei Auseinandersetzungen zwischen den Tarifpartnern Zurückhaltung auferlegt. Seit Ende der sechziger Jahre hatte sich der Trend sowohl unter konservativen wie Labourregierungen gegenläufig entwikkelt. Es bleiben Zweifel, ob die Gesetzgebung den Industriebereich nachhaltig beeinflußt hat.

Eine große Ausnahme sind die Bestimmungen eines Gesetzes von 1982, welche es als schadensersatzbegründend ansehen, wenn Arbeiter Streikposten vor Betrieben aufstellen, in denen sie nicht beschäftigt sind und dort „Sekundärstreiks“ organisieren. Dieses Verbot stellt Arbeiter und Gewerkschaften von verzweigten Großbetrieben vor ein beträchtliches Problem, weil diese Betriebe in der Lage sind, jeden Teilbereich mit seinen Möglichkeiten in der Auseinandersetzung einzusetzen, wohingegen jetzt die Arbeiter nicht außerhalb des eigenen unmittelbaren Arbeitsplatzes in Erscheinung treten dürfen Sekundärstreiks hatten in der Vergangenheit eine besondere Bedeutung für die Arbeiter, die die Unterstützung der Gewerkschaften gegen solche Arbeitgeber suchten, welche das Recht auf Gewerkschaftszugehörigkeit nicht anerkannten Das ist besonders bedeutungsvoll in einem Land, das kein geschriebenes Recht auf Gewerkschaftsangehörigkeit oder auf Anerkennung von Gewerkschaften kennt.

Die britische Arbeitswelt hat sich verändert, doch nicht in erster Linie aufgrund von Gesetzen. Zwei Faktoren waren ausschlaggebend: Erstens, die hohe Zahl von Beschäftigungslosen hat die Macht der Gewerkschaften und den Willen der Arbeiterschaft zum Widerstand vermindert. Das trat ganz deutlich in den frühen achtziger Jahren zutage, als Arbeiter aus Furcht vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze sich weigerten, den Streikaufrufen Folge zu leisten. Zweitens die Tatsache, daß die rückläufige Wirtschaftsentwicklung in erster Linie die Produktionsbetriebe erfaßte, in denen die Position der Gewerkschaften traditionell stark war. Auf dem Dienstleistungssektor hingegen war Beschäftigungswachstum zu verzeichnen; hier sind die Gewerkschaften allerdings nur schwach vertreten. Bei den Frauen, die weniger Neigung zur Mitgliedschaft in Gewerkschaften zeigen, ist die Beschäftigtenzahl gestiegen, bei Männern hingegen gesunken.

Aufgrund dieser Trends ist der Anteil gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer (einschl. Beschäftigungslosen) von 54% im Jahre 1979 auf 44% im Jahre 1985 gesunken (das letzte Jahr mit verfügbaren Zahlen) und von 58 % auf 50 % aller Beschäftigten, d. h. Inhaber von Arbeitsplätzen Es gibt aber auch Faktoren, die diesen Rückgang ausgeglichen haben. Bis Mitte der achtziger Jahre hat die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zugenommen — hier sind die Gewerkschaften stark vertreten — und die Gewerkschaftszugehörigkeit ist bei weiblichen Arbeitnehmern sowie auf dem Dienstleistungssektor gestiegen. (Die einzige Gewerkschaft mit steigenden Mitgliederzahlen ist die Gewerkschaft „Banken, Versicherung, Geld-wesen“ — BIFU.) Es gibt Belege dafür, daß betriebsnahe Belegschaftsvertretungen zwar weniger militant in Erscheinung treten, dennoch weiter existieren, und die meisten Betriebsleitungen unterhalten enge Beziehungen zu ihnen Der Umstand, daß die Löhne in Produktionsbetrieben in letzter Zeit schneller angestiegen sind als die Produktivität und die Preise dies rechtfertigen, ist ein Beweis für neu entstehende Verhandlungsstärke.

Außerdem hat die Regierung die Gewerkschaften politisch in eine Nebenrolle gedrängt, indem sie sie von aller Beratungstätigkeit ausschloß. Die Regierung verwirft ganz offen frühere Vorstellungen, nach denen die Gewerkschaften auf wichtigen Entscheidungsfeldem konsultiert werden sollen, und hat ganz formell den Grundsatz aufgegeben, daß Gewerkschaften normalerweise in wichtigen Regierungs-und Untersuchungsausschüssen vertreten sein sollten

Zwei zentrale wirtschaftspolitische Institutionen, der „Nationale Rat für Wirtschaftsentwicklung“ (NEDC) und die „Kommission für Arbeitseinsatz“ (MSC), bilden davon eine Ausnahme. Doch verhärtet sich die Haltung der Regierung im Gefolge der Parlamentswahlen von 1987 auch hier. Der von den Konservativen im Jahre 1962 ins Leben gerufene NEDC hat zwar keine Entscheidungsgewalt, ist aber als Gesprächspartner auf höchster Ebene bei Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften geschätzt — in den letzten Jahren die einzige Form der Begegnung. Die Regierung hat nun angekündigt, daß der Rat nur noch gelegentlich zusammentritt und daß die wichtigen Ministerien gewöhnlich nicht mehr in ihm vertreten sein werden.

Die MSC ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument der konservativen Regierung aus dem Jahre 1973. Auch ihr gehören die drei Parteien an. Unter der jetzigen Regierung ist sie zu einem zunehmend wichtigen Instrument für Regierungseingriffe in die Erziehungs-und Ausbildungspolitik lokaler Behörden geworden In der Hoffnung, den Nationalen Rat für Wirtschaftsentwicklung etwa als Instrument für eine „aktive Arbeitsmarktpolitik“ nach schwedischem Muster umformen zu können, haben die Gewerkschaften mitgemacht. Die MSC kommt dieser Modellvorstellung jedoch nicht nahe, da sie ihre Grundsätze für Ausbildungserfordernisse gemäß den jeweiligen Erwartungen der Arbeitgeber ausrichtet. Die Gewerkschaften tun sich auch mit der anderen Aufgabe der MSC schwer, nämlich die Arbeitslosenquote dadurch zu senken, daß junge Leute auf Zeitarbeitsplätzen eingesetzt werden. Sie haben ihre Zweifel, ob solche Formen echte Ausbildung ermöglichen oder die Aussicht auf längere Beschäftigung fördern.

Zwei Vorkommnisse der letzten Zeit erschweren den Verbleib der Gewerkschaften in der MSC. Erstens plant die Regierung die Macht der Arbeitgeber, jedoch nicht die der Gewerkschaften in der MSC zu stärken. Zweitens will sie sie zu einem Instrument für praktisch obligatorische Arbeitsaufnahme von Jugendlichen machen. (Schulabgänger, die nicht bereit sind, an einem ihnen zugewiesenen Arbeitsplatz für einen befristeten Zeitraum für ein Fixum zu arbeiten, verlieren ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld und gelten nicht länger als arbeitslos.) Der „Trade Union Congress“ (Gewerkschaftskongreß) sieht daher große Schwierigkeiten in einer Mitwirkung bei dem, was er als systemobligatorische Arbeit bei niedrigen Löhnen bezeichnet.

III. Aussichten auf eine künftige Stabilität

Soziale Sicherheit Gesundheit und Individual-Sozialleistungen Verteidigung Erziehung und Wissenschaft Gesetz und Ordnung Industrie, Handel usw.

Verkehr Umwelt Wohnungsbau Zusammen einschließlich hier nicht aufgeführter Posten 31 086 18 194 14 388 17 099 4 894 7 440 6 115 4 974 7 308 119 196 40 365 20 065 16 883 15 955 6 132 6 037 5 306 4 266 3 558 126 735 Tabelle 3: Öffentliche Ausgaben des Vereinigten Königreiches 1980— 1981 und 1986— 1987 (nur Hauptkategorien) Quelle: HM Government, Social Trends. L挐٦?

In Großbritannien wie in fast allen anderen westlichen Industriestaaten ging man bisher von der Annahme aus, daß es zu einem sozialen Chaos oder wenigstens zu Unruhen kommen würde, wenn es zu einem Rückgang der Vollbeschäftigung und zur Aufkündigung des sozialen Konsenses käme. Diese Situation ist in Großbritannien eingetreten. Soziale Unruhen gab es jedoch nur vereinzelt, und sie konnten in Grenzen gehalten werden. In den „inner cities“ kam es zu Auseinandersetzungen zwischen schwarzen und weißen Jugendlichen mit der Polizei. Die Kohlenarbeiter kämpften und verloren in einem einjährigen Streik, der von gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei begleitet war. Die an diesen Aktionen Beteiligten sind Angehörige von Problemgruppen, die nicht die Mehrheit darstellen. Die Regierung ist eindeutig darauf bedacht, solche Zwischenfälle zu vermeiden. Indem sie deutlich macht, wie vereinzelt und isoliert solche opponierenden Gruppen sind, trägt sie dazu bei, daß sich eine Mehrheit der Bevölkerung auf die Seite der Regierung mit ihrer „law and order“ -Politik stellt.

Besonders deutlich wurde dies im Bergarbeiterstreik. In den Jahren 1972 und 1974 waren die konservativen Regierungen außerstande, solche Streiks durchzustehen, und noch 1981 gab die jetzige Regierung bei den ersten Anzeichen von Unruhen im Kohlebergbau nach. Doch 1984, als infolge der Rezession ein gewaltiger Kohleüberhang entstanden war, war die Regierung unter allen Umständen entschlossen, den Gewerkschaftsforderungen nicht nachzugeben. Es war bekannt, daß die Bergleute selbst in der Streikfrage gespalten waren, und so ging die Regierung das Risiko ein, den sozialen Frieden in Frage zu stellen. Nach Jahrzehnten festgeschriebener Verhaltensnormen und bewährter Methoden der Vermittlung und Aussöhnung wurde eine hohe Zahl von Arbeitern . ausgehungert* und an den Arbeitsplatz zurückgezwungen — und das nach einem Konflikt, bei dem es einige Tote unter Streikenden wie Nichtstreikenden gegeben hat und bei dem Polizei wie Bergarbeiter gleichermaßen zu Gewaltmaßnahmen griffen.

Uber ein Jahrhundert lang haben britische Konservative oft mehr als ihre kontinentalen Kollegen ein Gespür für die Aufdeckung ambivalenter Stimmungen und Bewegungen innerhalb der Arbeiterklasse entwickelt. Die Politik, die Rolle von Vermittler-gruppen einzuschränken, ist nicht Teil britischer konservativer Tradition; früher sah man in solchen Gruppen ein Mittel zur Stärkung der Loyalität. Der Konservatismus früherer Jahre beherrschte die Kunst der Machtausübung und Privileggewährung mit Hilfe der typisch englischen Form von Zurückhaltung, die sich auch allmählich unter den meisten Gruppen der Gesellschaft durchsetzte. Das versetzte das Vereinigte Königreich in die Lage, in das komplexe Industriezeitalter einzutreten und mit weniger Regulierungsmechanismen und polizeilicher Kontrolle als die meisten anderen Nationen auszukommen. Diese Normen sind heute weitgehend abgenutzt.

Diese Tatsache ist eher die Konsequenz eines langwährenden historischen Prozesses, als das Ergebnis der Politik einer einzelnen Regierung. In einigen Fällen — den Städten, den Beziehungen zwischen den Tarifpartnem — hat die jetzige Regierung zwar versucht, die zerfallenden informellen Traditionen durch formelle Regulierungen zu ersetzen; aber ein Rückgang der herkömmlichen Regulierungsmechanismen ist durchaus vereinbar mit der von der Regierung unterstützten Tendenz zur uneingeschränkten Ausnutzung der Möglichkeiten, die der Markt bietet.

Drei Beispiele für die Zurückhaltung sollen diesen Punkt verdeutlichen. Es war in Großbritannien üblich, das Monopol der politischen Macht, das sich in einem zentralisierten Staat und vorwiegend Ein-parteien-Regierungen verkörpert, dadurch abzuschwächen, daß Untersuchungsausschüsse, Beratungsgremien usw. eine breite Meinungsvielfalt widerspiegeln. Das war allerdings nur guter, nirgends festgeschriebener Brauch gewesen, so daß die Regierung sich in der Lage sah, davon abzugehen und bei Ernennungen einen eigennützigen Weg einzuschlagen.

Zweitens gab es etliche Vorkommnisse, bei denen die Regierung übliche gute Verhaltensformen nicht beachtete. Der aufsehenerregendste Fall war die sogenannte Westland-Affäre Anfang 1986 Im Kabinett bestand Uneinigkeit in der Frage, ob der Übernahme der dahinsiechenden Westland-Helikopterwerke durch Amerikaner oder durch Euro-päer der Vorzug gegeben werden solle. Verteidigungsminister Heseltine sprach sich für erstere Lösung aus, Premierministerin Margaret Thatcher und Industrieminister Brittan befürworteten die zweite, wollten sich aber öffentlich nicht dazu bekennen. Dann entschloß man sich in der Regierung, von Heseltine abzurücken. Vertrauliche, von einem dritten Minister verfaßte Schriftstücke wurden ohne dessen Kenntnis gezielt auf geheimem Weg der Presse zugänglich gemacht, um den Eindruck zu vermitteln, daß Heseltines Auffassungen einer soliden Grundlage entbehrten. Daraufhin traten sowohl Heseltine als auch Brittan zurück. Das Parlament war nicht in der Lage, herauszufinden, wie und durch wen der Beschluß, einen Kollegen derart zu brüskieren, zustande gekommen war. Parlamentsausschüsse machten sich auf die Suche nach Fakten Die Premierministerin verweigerte jedoch die Erlaubnis, jene Beamten zu befragen, die die Wahrheit hätten ans Licht bringen können. Drittens wurden Anfang 1987 Anschuldigungen eines ehemaligen höheren Beamten des britischen Nachrichtendienstes MI 5 bekannt, Kreise des Geheimdienstes hätten Mitte der siebziger Jahre versucht, die Labour-Regierung zu destabilisieren. Im Parlament wurde die Forderung nach einer Untersuchung in dieser Angelegenheit gestellt. Trotz solch schwerwiegender Anklage beharrte die Premierministerin darauf, daß sie keine Notwendigkeit für eine Untersuchung sehe. Darüber hinaus hat die Regierung gerichtliche Schritte gegen Zeitungen unternommen, die den wesentlichen Gehalt dieser Anschuldigungen veröffentlichen wollten.

Mit dem Verfall politischer Verhaltensnormen und der Statistenrolle von Vermittlerorganen ist ein neues . Modell* britischer Politik entstanden. Es unterscheidet sich erheblich vom amerikanischen Muster — dem es auf andere Weise jedoch ähnlich ist — insofern, als letzteres in hohem Maße pluralistisch ist, mit einer von der Exekutive unabhängigen Legislative, die die Macht zu Untersuchungen hat, mit starken regionalen und lokalen Machtfaktoren und mächtigen Interessengruppen. In Großbritannien fehlen diese Elemente oder sind im Begriff zu verschwinden. In diesem neuentstehenden Modell werden die Bürger von einem zentralisierten Staat angeleitet, die jeweiligen Chancen des Marktes für ihr persönliches Fortkommen zu nutzen, während Institutionen geschwächt werden.

Frühere konservative Generationen hätten das als eine riskante, brüchige Basis für den sozialen Konsens angesehen, aber bis zur Stunde trägt die Basis. Die Abschaffung ganzer lokaler Regierungsebenen war nicht populär, aber da sich die Regierung kompromißlos zeigte, vermochte die Opposition nichts auszurichten. Nur wenige betreiben ernsthafte Gegenmaßnahmen. Gleiches gilt für den Fall, daß weitere Teilbereiche lokaler Regierungsautonomie abgebaut werden. So gibt es eine ausgeprägte politische Trennlinie zwischen dem Norden und dem Süden des Landes; in Schottland ist die Konservative Partei kaum vertreten, was aber keine praktischen Auswirkungen hat. Die Regierung läßt sich nicht davon abhalten, auch über Schottland zu regieren, sie braucht dem Problem ganz einfach keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ihre Position im Lande wird ebenso wie beim Westland-Skandal keinen langanhaltenden Schaden erleiden.

Die Labour-Partei kann Stimmen der Notleidenden mobilisieren, jener, die zu kurz gekommen sind, aber sie ist kaum in der Lage, Unterstützung von anderen Gruppen zu erhalten, welche zwar die Regierung ablehnen, sie jedoch nicht gegen eine Partei eintauschen möchten, die sich mit Gewerkschaften und Randgruppen verbindet. Es ist absehbar, daß die kommende Entwicklung die Ursachen für den Niedergang der Labour-Partei noch verstärken wird. Mit Recht kann bezweifelt werden, ob diese Partei noch die Möglichkeit hat, sich zu erholen. Die liberale und die sozialdemokratische Partei können Stimmen sammeln, die Labour nicht für sich gewinnen kann, aber sie können nicht die Stammwählerschaft der Labour-Party auf ihre Seite ziehen oder sich mit ihr zusammentun. Das britische Wahlsystem weist ihnen, mit über 20 % der Wählerstimmen, nur eine bescheidene parlamentarische Rolle zu.

Unter der Voraussetzung, daß sich die Stimmung der Bevölkerung in dieser Form nicht verändert, kann der neue Konservatismus unbehindert weiter-regieren. Seinen schwierigsten Augenblick erlebte er wohl während der Wahlen 1983. Diese fanden kurz nach dem außerordentlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und vor der konjunkturellen Belebung statt. Allein im Jahr 1981 wurden eine halbe Million Briten arbeitslos. Zwei Glücksumstände traten jedoch auf: Die Labour-Opposition hatte sich gespalten und tendierte weit nach links, und die Regierung hatte einen erfolgreichen Krieg gegen Argentinien im Südatlantik ausgefochten. Was eine Wahl voller Risiken hätte sein können, wurde zu einem Erdrutsch-Sieg.

Der Abbau des Sozialstaates ist auch künftig ein verfängliches Unternehmen zur Durchsetzung der Vorstellungen der konservativen Regierung; aber die Regierung hat deutlich gemacht, daß sie das Problem allmählich und behutsam angeht. Für die fernere Zukunft stellt sich die Umstrukturierung der Wirtschaft nach dem Versiegen des Ölreichtums als eine unausweichliche Herausforderung dar. Aber diese Frage wird kaum in der Öffentlichkeit diskutiert. Bis dahin gibt es wenig, was die Politik einer allmählichen Neuorientierung der britischen Gesellschaft um das freie Spiel der Marktkräfte und eine starke, wenn auch begrenzte Staatsgewalt stören könnte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für weitere Einzelheiten zu diesem Thema siehe D. Kavanagh, Thatcherism and British Politics: The End of Consensus?, Oxford 1986.

  2. Vgl. D. Green, The New Right: The Counter Revolution in Political, Economic and Social Thought, Brighton 1986.

  3. Während der Parlamentswahlen 1987 zeigte die Tageszeitung „The Sun“ Fotos eines spärlich bekleideten Mädchens, das sich für die Wiederwahl eines konservativen, wenig bekannten Abgeordneten einsetzte. Diese Bilder sollten seiner Wahlkampagne „Schützenhilfe“ leisten.

  4. S. Duncan/M. Goodwin. The Local State and Uneven Development: behind the Local Government Crisis, Oxford 1987.

  5. Vgl. A. Gamble, The Free Economy and the Strong State: Thatcherism and the Future of British Conservatism, London 1987.

  6. N. Kaldor, The Scourge of Monetarism, Oxford 1982.

  7. K. Williams u. a. Why are the British Bad at Manufacturing?, London 1983; F. T. Blackaby (Ed.), Deindustrialisa-tion, London 1979; A. P. Thirlwall, De-industrialisation in the UK, in: Lloyds Bank Review, 144. April 1982.

  8. M. Ince. The Politics of British Science. Oxford 1986.

  9. Vgl. HM Government, Economic Trends, London (monthly).

  10. HM Government. Social Trends, London 1987. S. 99.

  11. M. Moran, Thatcherism and financial regulation, in: The Political Quarterly, January 1988 (forthcoming).

  12. J. Kay, Changes in tax progressivity 1951 — 1985, in: ders. (Ed), The Economy and the 1985 Budget, London 1985.

  13. Social Trends (Anm. 10), S. 96.

  14. Ebd.

  15. Archbishop of Canterbury’s Commission on Urban Priority Areas, Faith in the City. London 1985, S. 9— 25.

  16. Ebd.. vgl. auch Lord Scarman, The Brixton Disorders, 10— 12 April 1981, London 1981.

  17. Zwischen 1979 und 1985 stieg der Anteil der britischen Haushalte, die ein Auto besaßen, von 57% auf 62% an; derjenigen mit Zentralheizung von 55% auf 69%. Der Anteil der Haushalte, die im Besitz eines Farbfemsehgerätes bzw. einer Tiefkühltruhe waren, erhöhte sich von 66 % auf 86% bzw. von 40% auf 66%. (Social Trends [Anm. 10], S. 111). Nimmt man das Niveau von 1980 als 100, sank das real verfügbare Haushaltseinkommen 1981 auf 98. stieg aber bis 1985 auf 111 ah (Anm. 10. S. 85). Renten und Arbeitslosenunterstützungen jedoch behielten kaum ihren Realwert (Anm. 10, S. 91).

  18. Verglichen mit 59. 6 % der Männer und 48, 7 % der Männer und Frauen zusammengenommen, hatten in Großbritannien bis 1985 38, 3 % der Frauen, die 16 Jahre und älter waren, entweder eine Arbeit oder waren als arbeitslos registriert. Entsprechende Zahlen für die Bundesrepublik Deutschland lauteten 33, 8 % für Frauen, 58, 5 % für Männer und 45, 6% für beide Gruppen zusammen (Anm. 10, S. 72).

  19. A. H. Halsey, Social trends since World War II, in: Social Trends (Anm. 10).

  20. J. H. Goldthorpe/C. Payne, Trends in intergenerational mobility 1972— 1983 in: Sociology, 1985.

  21. Amtlich wurde 1986 die Arbeitslosigkeit in Südostengland mit 8. 7 %. im Osten mit 9, 1 % und im Südwesten mit 10. 1% gemeldet. In den West-Midlands betrug sie 14%, in Schottland 14. 3 %, in Wales und im Nordwesten 14, 5 %. im Norden 17, 1 % und in Nordirland 18, 8% (HM Government, Department of Employment Gazette, London, monatlich). Für eine ausführliche Diskussion der regionalen Ausdehnung des britischen Wirtschaftsproblems vgl. R. Martin/B. Rowthorn, The Geography of De-industrialisation, London 1986.

  22. Eine regelmäßig durchgeführte Meinungsumfrage unter der Bevölkerung stellt die Frage, ob sie Steuerermäßigungen oder vermehrte öffentliche Ausgaben für Gesundheit, Erziehung und Sozialleistungen vorzöge. In der jüngsten Umfrage (1985) bevorzugten nur 6 % Steuerstreichungen auf Kosten reduzierter Sozialausgaben; 43 % waren gegen eine Änderung der Ausgabenstruktur; 45 % befürworteten vermehrte Sozialausgaben auf Kosten höherer Steuern. Entsprechende Zahlen für 1983 lauteten 9% bzw. 54% und 32%. (N. Bosanguet. Interim Report: Public spending and the welfare state, in: R. Jowell u. a. (Eds.), British Social Attitudes: the 1986 Report. London 1986.

  23. HM Government, The Reform of Social Security, Cmnd. 9517-9, London 1985.

  24. C. J. Crouch. Ausgrenzung der Gewerkschaften? Zur Politik der Konservativen, in: O. Jacobi/H. Kastendiek (Hrsg.). Staat und industrielle Beziehungen in Großbritannien. Frankfurt am Main 1985.

  25. Lord Wedderburn. The Worker and the Law, Harmondsworth 19863, S. 597-606.

  26. Ebd., S. 278-289 und 606-611.

  27. Die Kalkulationen beruhen auf Daten, die publiziert wurden in: Department of Employment Gazette (Anm. 21).

  28. E. Batstone, Working Order, Oxford 1984; N.

  29. C. J. Crouch (Anm. 24).

  30. Vgl. The Political Quarterly, 57 (1986) 3.

  31. M. Linklater/D. Ligh. Not with Honour: the Inside Story of the Westland Scandal, London 1986.

  32. Vgl. House of Commons Select Committee on Defence, The Defence Implications of the Future of Westland plc: the Government’s Decision-Making, 3rd and 4th Reports from

Weitere Inhalte

Colin Crouch, Fellow und Tutor für Politikwissenschaft am Trinity College in Oxford. Veröffentlichungen u. a.: Oass Conflict and the Industrial Relations Crisis, 1977; The Politics of Industrial Relations, 1979 und 1982; Trade Unions: the Logic of Collective Action, 1982; (Hrsg. zus. mit A. Pizzorno) The Resurgance of Class Conflict in Western Europe since 1968, 2 Bde., 1978.