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Staatsversagen: Schicksal oder Herausforderung? | APuZ 48/1987 | bpb.de

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APuZ 48/1987 Artikel 1 Parlamentsreform: Meilenstein oder Sackgasse? Zur Interpretation der Artikel 38 und 20 des Grundgesetzes Staatsversagen: Schicksal oder Herausforderung? Politisch motivierte Gewalt in der modernen Gesellschaft

Staatsversagen: Schicksal oder Herausforderung?

Hans Herbert von Arnim

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Begriff „Staatsversagen“ hat seinen Ursprung in der modernen politischen Ökonomie und ist in Analogie zum Begriff „Marktversagen“ entstanden. Daß die marktwirtschaftliche Steuerung trotz ihrer unbestreitbar großen Leistungsfähigkeit nicht unter allen Aspekten und im übrigen nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert, ist heute anerkannt. Die jüngeren Erfahrungen zeigen darüber hinaus, daß auch „der Staat“ in mehr oder weniger starkem Ausmaß versagen kann. Dies hängt zu einem guten Teil damit zusammen, daß die eigentlichen Staatsorgane unter dem massiven Einfluß von politischen Parteien und Interessenverbänden stehen und deren Wirken bestimmte Defizite aufweist. Den politischen Parteien fällt es wegen der Konzentration auf den kurzfristigen Rhythmus der Wahlen schwer, langfristige Probleme anzupacken. Sie versuchen ferner, die Personalauswahl auch in parteifrei konzipierten Bereichen unter ihre Kontrolle zu bringen. Interessenverbände stärken Partikularinteressen. Da allgemeine und Zukunftsinteressen sich kaum wirksam organisieren lassen, kommen sie im Parallelogramm der organisierten Kräfte leicht zu kurz. Der Neoliberalismus zieht daraus die politische Folgerung, die Kompetenzen des Staates müßten zugunsten des Marktes möglichst eingeengt werden. Wichtiger noch erscheint es. das System der politischen Willensbildung nicht zuletzt durch verfassungspolitische Innovationen so zu ergänzen, daß es den politischen Akteuren erleichtert wird. Gemeinwohlkonformes durchzusetzen. Davon würden letztlich alle profitieren. Die Bewältigung dieser Herausforderung könnte vielleicht sogar zu einer Überlebensfrage für die sozial-und rechtsstaatliche Demokratie werden.

I. Einleitung

Das Thema „Staatsversagen“ betrifft Grundfragen von Staat und Gesellschaft, mit denen sich bisher im akademischen Bereich vornehmlich die Wirtschaftswissenschaften befaßt haben. Der Begriff .. Staatsversagen“ ist in Analogie zum Begriff „Marktversagen" entstanden und gehört der modernen politischen Ökonomie an.

Diesem Beitrag liegen drei Prämissen und eine Einschränkung zugrunde: Erstens wird mit dem Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter unterstellt, daß sich allgemeine politische Entwicklungen — und Fehlentwicklungen — in der Finanzpolitik besonders intensiv zu zeigen pflegen, sozusagen wie durch eine Lupe vergrößert; Geld ist eben exakt meßbar. Zweitens wird davon ausgegangen, daß Wirtschafts-und Finanzpolitik wie alle Politik erst ganz verständlich wird, wenn man den Zusammenhang zu den (auch rechtlich determinierten) Institutionen herstellt. Das verlangt eine Verbindung von wirtschafts-und rechts-wissenschaftlicher Betrachtung, wie sie für die klassische politische Ökonomie, aber auch für die Verwaltungswissenschaft etwa eines Lorenz von Stein noch selbstverständlich war. Drittens wird die These vertreten, daß gewisse Charakteristika des heutigen demokratischen Sozialstaats erst hervortreten. wenn man ihn in Kontrast stellt zu seinem Vorgänger, dem bürgerlich-liberalen Staat des 19. Jahrhunderts. Schließlich ist eine Einschränkung zu machen: Staatsversagen zeigt sich nicht nur im nationalen Bereich, sondern auch im internationalen. Einige höchst existentielle Probleme — Frieden, Ressourcensicherung. Umweltschutz. Welternährung — sind nur (im Weltmaßstab) durch internationale Zusammenarbeit zu lösen. Und es fragt sich, ob der überkommene Nationalstaat hierfür noch die adäquate politische Organisationsform ist. Diese Frage wird hier ausgeklammert, um den Rahmen des Beitrages nicht zu sehr auszuweiten. Es kann aber davon ausgegangen werden, so die These, daß eine Eindämmung der Ursachen für inneres Staatsversagen auch die Lösung internationaler Probleme erleichtert.

Der Begriff „Staatsversagen“ ist wissenschaftsgeschichtlich aus dem Terminus „Marktversagen“ hervorgegangen und nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Man kann das Wirken des Staates generell nur richtig verstehen, wenn auch die gesellschaftlichen Selbststeuerungsmechanismen, besonders die marktwirtschaftliche Steuerung, und ihre Grenzen in die Betrachtung einbezogen werden; von dorther kann man dann versuchen, bestimmte Staatsaufgaben und den Begriff des „Staatsversagens“ zu erschließen.

Das Thema würde also an sich eine sorgfältige Analyse der Marktwirtschaft und der staatlichen Willensbildung verlangen; auf dieser Grundlage wären dann die Mängel und Schwachstellen beider Steuerungsverfahren zu ermitteln. Dieses Programm wäre in einem knappen Beitrag wie dem vorliegenden allerdings nicht zu bewältigen. Stattdessen soll an die Geschichte angeknüpft werden. Marktwirtschaft und Staat, so wie wir sie heute vorfinden, sind das Ergebnis geschichtlicher Entwicklung, und man kann sie nicht anders verstehen als vor diesem Hintergrund. Dabei bedient sich der Verfasser einer vereinfachenden Stilisierung der Entwicklung — in der Hoffnung allerdings, daß dadurch das Wesentliche um so deutlicher hervortritt. Es wird sich zeigen. daß die Entwicklung von Staat und Recht im großen und ganzen einem bestimmten Muster folgt: Herausforderung und Antwort, „challenge and response“ sind der Takt der geschichtlichen Entwicklung vor allem der vergangenen zwei Jahrhunderte (in einem optimistischeren Zeitalter hätte man vielleicht vom „Takt des geschichtlichen Fortschritts“ gesprochen). Jedenfalls vollzieht sich die geschichtliche Entwicklung in einer Art rhythmischem Dreischritt von Erkenntnis eines Mißstandes (Diagnose des Mißstandes), Konzeption von Abhilfe-maßnahmen (Ausdenken von Therapien) und dem Versuch, die Therapie politisch zu verwirklichen.

II. Der bürgerlich-liberale Staat als Vorgänger des heutigen demokratischen Sozialstaats

Die Vorstellungen über die Leistungsfähigkeit von Markt und Staat waren im Laufe der Zeit beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Seit dem Mer-kantilismus hat es immer wieder ein Hin-und Her-pendeln zwischen einseitiger Überhöhung entweder der Marktsteuerung oder der staatlichen Steue17 rung gegeben. Unsere heutige Vorstellung von der Funktionsweise der Marktwirtschaft geht auf das bahnbrechende Werk des englischen Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith mit dem Titel „Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Reichtums der Nationen“ aus dem Jahre 1776 zurück. Das Werk war eine Antwort auf Feudalismus und Merkantilismus 1 im 18. Jahrhundert, die die Wirtschaft überall reglementiert und bevormundet und die Entfaltung der Produktivkräfte behindert hatten. Man hatte geglaubt, der Staat müsse den Wirtschaftsprozeß selbst steuern, damit sinnvolle Resultate zustande kämen. Für eine solche staats-wirtschaftliche Auffassung hatte es wie eine gedankliche Revolution erscheinen müssen, wenn Smith nunmehr nachwies, daß eine sinnvolle wirtschaftliche Ordnung sich auch ohne staatliche Lenkung ergeben könne. Vergröbern wir die Botschaft Adam Smiths, wie dies in der wirtschaftspolitischen Diskussion meist geschah, so mündet sie in die Empfehlung, die wirtschaftlichen Kräfte nur sich selbst zu überlassen, um sie zur Entfaltung zu bringen und — im Wege der Selbststeuerung — den bestmöglichen Ablauf des Wirtschaftsprozesses zu gewährleisten. Die wirtschaftspolitische Leitregel lautete dementsprechend: „Laissez faire, laissez passer. le monde va de lui-meme“ (Laissez-fairePolitik). Ausgangspunkt und Basis dieser Konzeption lieferte die Annahme, die zuverlässigste Motivation für Initiative und Leistung im wirtschaftlichen Alltag sei das Bestreben der Menschen, den eigenen Vorteil zu mehren. Das Menschenbild des homo oeconomicus. jenes eigennützigen Wesens mit gutem Überblick über die Marktdaten, ist seitdem zur Prämisse der Volkswirtschaftslehre geworden. Smith erbrachte den Nachweis, daß der Eigennutz der Menschen durchaus nicht zum Nachteil der Mitmenschen auszuschlagen braucht. Das Gewinnmotiv der Unternehmen kann vielmehr — wenn Wettbewerb besteht — für die Masse der Verbraucher durchaus förderlich sein. Die Erkenntnis, daß das Eigeninteresse der Menschen durch den Wettbewerb kontrolliert und die Aktivität auf diese Weise in eine Richtung gelenkt werden kann, die der Gesamtheit dient, bildet den Kern der ganzen liberalen Wirtschaftstheorie.

Das durch Freiheit und Privatinitiative wie durch einen machtvollen Motor angetriebene marktwirtschaftliche Konkurrenzmodell tendiert zur bestmöglichen Ausnutzung der volkswirtschaftlichen Produktivkräfte an Boden. Kapital und Arbeit und dient damit der Wohlstandsmehrung. Die Fähigkeit der Marktwirtschaft, unerhörte Wachstumskräfte freizusetzen, zeigte sich nicht nur im klassischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als 1948 im Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland die Bewirtschaftung in vielen Bereichen mit einem Schlag aufgehoben, die Preise und die meisten sonstigen Wirtschaftsdaten dem Spiel der marktwirtschaftlichen Selbststeuerung überantwortet wurden und dadurch das „deutsche Wirtschaftswunder“ ermöglicht wurde. Die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft wird im übrigen bei einem Vergleich mit der Zentralverwaltungswirtschaft der Ostblockstaaten besonders deutlich.

Auch nach der Laissez-faire-Doktrin war der Staat allerdings nicht ganz aus dem Spiel. Ihm blieb die Aufgabe, gewisse öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen, die der Markt nicht selbst bereitstellen kann, insbesondere die rechtliche Rahmenordnung zu schaffen und ihre Einhaltung durch die Staatsmacht zu sichern. Sache des Staates sei es.den äußeren und inneren Frieden durch Heer. Polizei. Rechtsprechung und Zwangsvollstreckung zu schützen. Eigentum. Verträge und Währung zu sichern. kurz: das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte vor Störungen zu bewahren.

Man hat die Unfähigkeit des Marktes, solche öffentlichen Güter selbst hervorzubringen, bisweilen bereits als .. Marktversagen“ bezeichnet. Das mag hier dahinstehen. Klar ist jedenfalls, daß der Markt, um zu funktionieren, auf die Bereitstellung solcher öffentlichen Leistungen durch den Staat angewiesen ist.

III. Marktversagen

Die trefflichen Qualitäten des marktwirtschaftlichen Steuerungssystems drängten sich so sehr in den Vordergrund, daß bestimmte Schwächen des Marktes lange Zeit wenig beachtet blieben. Die Feststellung der Leistungsfähigkeit des Marktes gilt nämlich nicht für alle Bereiche und nur unter bestimmten Voraussetzungen. Analyse und Erfahrung zeigen, daß die Marktwirtschaft eine Reihe von Funktionen nicht erfüllen kann. Die Schwachstellen der Marktwirtschaft („Marktversagen") lassen sich stichwortartig mit fünf Begriffen kennzeichnen: Soziale Frage. Vermögenskonzentration. Monopolproblem. Wirtschaftskrisen. Externalitäten.

Die soziale Frage entstand als Folge des Elends der Arbeiter im 19. Jahrhundert. Ein Lohn, der zum Sterben zu hoch und zum Leben zu gering war. ein Arbeitstag von 16 Stunden, unmenschliche sonstige Arbeits-und Wohnverhältnisse. Kinderarbeit etc. waren die Merkmale. Die Marktwirtschaft erwies sich auch als unfähig, für eine gerechte Vermögensverteilung zu sorgen. Die Marktwirtschaft geht von der geschichtlich gewordenen und durch Erbgang akkumulierten Besitzverteilung als Datum aus. Ökonomische Ungleichheiten werden vom Markt nicht korrigiert, sondern eher noch verstärkt.

Das Monopolproblem resultiert aus der Neigung der Unternehmer, den Wettbewerb durch Absprachen über Produktionsmengen und Preise ihrer Güter. also durch Kartelle oder auch durch Fusionen oder „abgestimmtes Verhalten“, auszuschalten. Konkurrenz unter möglichst vielen Unternehmen um die Gunst der Kunden ist jedoch Voraussetzung für ein gutes Funktionieren der Marktwirtschaft.

Als folgenschwerstes Versagen der Marktwirtschaft aber wurden die periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen empfunden, die in der 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise gipfelten. Sie machte allein in Deutschland sechs Millionen Menschen arbeitslos. begünstigte eine politische Radikalisierung und die Machtergreifung Hitlers. Dadurch wurde der Glaube an die uneingeschränkte Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft endgültig erschüttert. Schließlich kann der Markt bestimmte Vorteile oder Nachteile für Dritte oder die Allgemeinheit, die im Wege der Bereitstellung von Gütern entstehen. nicht abgelten. Zu welchen Verzerrungen diese sogenannten externen Kosten oder Nutzen führen können, wird besonders im Zusammenhang mit Umweltbelastungen und Umweltschutz deutlich.

IV. Die Antwort von Karl Marx: Revolution

Derartige Formen des Marktversagens sind schon früh beobachtet worden. Es stimmt vielleicht nachdenklich. daß schon Karl Marx vor fast eineinhalb Jahrhunderten den Ausgangspunkt für die Entwicklung seines theoretischen Baus von eben diesen Mißständen nahm: dem Arbeiterelend (Verelendungsthese).der zunehmenden Monopolisierung und Vermögenskonzentration (Konzentrationsthese) und der Krisenanfälligkeit der selbstgesteuerten Wirtschaft (These von den zunehmend schwerer werdenden Konjunkturkrisen). Während aber andere, etwa Lorenz von Stein und die sogenannten .. Kathedersozialisten“, eine soziale Reform zur Bekämpfung dieser Mißstände befürworteten, ging Marx davon aus. die wirtschaftliche Entwicklung nehme unabänderlich den von ihm vorausgesagten Verlauf, die Mißstände würden immer unerträglicher und müßten schließlich zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führen. Diese Erkenntnis spiegelt sich in den Worten des Kommunistischen Manifests von 1848 wider: „Die Stunde des kapitalistischen Eigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ Das ist der Tag der Revolution und der Machtergreifung des Proletariats.

Marx unterstellte also. Markt und Staat versagten beide, und zwar so vollständig, daß ganz andere — von Marx allerdings nicht näher beschriebene — Formen des Gemeinschaftshandelns an ihre Stelle treten müßten, was aber nur durch einen revolutionären Akt geschehen könne. Versetzt man sich in die Lage vor 140 Jahren, so kann Marx’ Skepsis gegenüber staatlichen Reformen die innere Logik nicht abgesprochen werden, war doch die damalige Lage durch den Gesetzgeber selbst mitgeschaffen: Gewerkschaften. Tarifverträge und erst recht Streiks waren damals gesetzlich verboten. Den Arbeitern war die Möglichkeit genommen. Gegengewichte zur Macht der Unternehmer zu schaffen und so ihre „Vogelfreiheit“ am Arbeitsmarkt auszugleichen. Einfluß auf den Gesetzgeber, der die Verbote hätte aufheben und die Interessen der Arbeiter durch Arbeiterschutz-und Sozialgesetze hätte fördern können, hatten die Arbeitnehmer schon gar nicht. Das Wahlrecht war vielmehr auf Besitzbürger beschränkt. Arbeiter waren ausgeschlossen. Sie waren nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch macht-und wehrlos. Die Marxsche These, das Los der Arbeiterklasse könne allein durch physische Gewalt, also durch Revolution, gebessert werden. schien plausibel.

V. Die Antwort der westlichen Demokratien: Entwicklung des demokratischen Sozialstaats durch Reformen

Die Geschichte ging in den westlichen Demokratien gleichwohl einen anderen Weg und folgte den Befürwortern von Reformen. Die Bismarckschen Reformen brachten in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Sozialversicherungen. Vereinigungsfreiheit. Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit wurden allmählich durchgesetzt und das allgemeine, gleiche Wahlrecht auch auf Arbeiter erstreckt, ein Prozeß, der mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 abgeschlossen'war. Nach einem Volkskrieg wie dem Ersten Weltkrieg, der von allen — gleichgültig ob „Besitzbürger“ oder Arbeiter — den totalen Einsatz verlangt hatte, war offensichtlich geworden, daß das Wahlrecht nicht mehr auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt werden konnte. Die Ausdehnung des Wahlrechts auch auf Lohnabhängige und die Zulassung von Gewerkschaften und Arbeitskampf haben die Kräfte freigesetzt, die das Sozial-und das Arbeitsrecht. also das Sonderrecht zum Schutze sozial Schwacher, in ihrer heutigen Form entstehen ließen — und zugleich den Marxschen Thesen die Grundlage entzogen. Es bleibt aber das Verdienst von Marx, die Probleme der Durchsetzbarkeit staatlicher Politik gegenüber wirtschaftlichen Interessen ins Bewußtsein gehoben und die Gefahr des „Staatsversagens“ — wenn auch ohne Verwendung dieses Wortes — zum Thema gemacht zu haben.

Der heutige demokratisch-soziale (Rechts-) Staat der Bundesrepublik Deutschland stellt sich in weiten Bereichen als Antwort auf Fehlentwicklungen der Weimarer Republik dar: Der heutige Staat ist — im Gegensatz zum früheren Neutralitätsprinzip des bürgerlich-liberalen Staats — zur aktiven Bekämpfung von Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft aufgerufen (Art. 20 I. 28 I GG: Sozialstaatsprinzip). Er hat die frühere „soziale Frage“ durch Entwicklung des Sozial-und des Arbeitsrechts weitgehend gelöst. Er versucht, etwa mittels Wettbewerbspolitik, des Monopolproblems Herr zu werden. Wichtigstes Instrument ist die Gesetzgebung gegen Wettbewerbsbeschränkungen. In der Bundesrepublik Deutschland gilt heute das — inzwischen mehrfach novellierte — Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957. Seine theoretischen Väter, der Wirtschaftswissenschaftler Walter Eucken und der Jurist Franz Böhm, hatten aus geschichtlicher Erfahrung und theoretischer Analyse die Erkenntnis gewonnen, daß Wettbewerb sich nicht stets von selbst ereignet, sondern durch bewußte staatliche Veranstaltung gesichert werden muß.

Der Staat versucht, mittels Globalsteuerung Wirtschaftskrisen zu verhindern oder einzudämmen. Der Engländer John Maynard Keynes hatte — die Weltwirtschaftskrise vor Augen — 1936 ein bahnbrechendes Werk veröffentlicht mit dem Titel „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ und darin die These vertreten, daß — entgegen der Annahme der klassischen Nationalökonomie — keine automatische Tendenz zur Vollbeschäftigung in der Marktwirtschaft bestehe. Zugleich hatte er einen Weg gewiesen, wie der Staat aktiv die Vollbeschäftigung sichern könne, nämlich durch fallweise kreditfinanzierte Ausweitung der Staatsausgaben, also durch sogenanntes Deficit-Spending. Weiter versucht der Staat, etwa durch progressive Besteuerung und andere Maßnahmen.der Vermögenskonzentration entgegenzuwirken und durch Umweltpolitik die Belastung der Umwelt in Grenzen zu halten.

In der Bundesrepublik Deutschland war man in der Anfangsphase allerdings zunächst nicht bereit, die Gedanken von Keynes aufzunehmen. In den ersten eineinhalb Jahrzehnten hatte man — in Reaktion auf den Nationalsozialismus — noch jeder Form staatlicher Wirtschaftslenkung ablehnend gegenübergestanden. Erst nach der wirtschaftlichen Rezession von 1966/67.der ersten in der Geschichte der Bundesrepublik, kam es zu einer Übernahme des Konzepts der staatlichen Konjunktursteuerung. Art. 109 GG wurde neu gefaßt und gleichzeitig das Stabilitäts-und Wachstumsgesetz von 1967 erlassen. Die Finanz-und Wirtschaftspolitik wurde auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht verpflichtet; zugleich stellte man ihr das Instrumentarium für eine antizyklische Finanzpolitik zur Verfügung. Die einjährige Haushaltsplanung wurde durch die mittelfristige Finanzplanung ergänzt.

VI. „Politische Machbarkeit“: Vom Optimismus zur Skepsis

Die Rezession von 1967 wurde rasch überwunden, was der sich ausbreitenden Vorstellung, die moderne Wirtschafts-und Finanzpolitik habe nun den Stein der Weisen gefunden. Vorschub leistete. In den USA war nach wirtschaftspolitischen Erfolgen in den Jahren 1960 bis 1965 ein überschäumender Optimismus in der Nationalökonomie entstanden; man sprach vom „Zeitalter der Ökonomen“ — so der amerikanische Präsidentenberater Walter Heller — und meinte, die staatliche Wirtschaftspolitik könne aufgrund der Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften mit allen Fällen von Marktversagen fertig werden. Auch in der Bundesrepublik Deutschland breitete sich eine Aufbruchstimmung aus. die von der Vorstellung der politischen Machbarkeit durchdrungen war und die schließlich zu dem Postulat führte, den staatlichen Sektor auf Kosten des marktwirtschaftlichen stark auszudehnen. „Öffentliche Armut“ bei gleichzeitigem „pnvaten Reichtum“ war die Diagnose des amerikanischen Nationalökonomen Galbraith, die unbesehen auch auf die Bundesrepublik übertragen wurde. Ausdehnung des Staatskorridors war die empfohlene Therapie. Tatsächlich hat eine gewaltige Ausweitung des Staatsanteils stattgefunden. Die Quote der Staatsausgaben (einschließlich der Ausgaben der gesetzlichen Sozialversicherungen) stieg in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis 1975 um etwa ein Viertel von knapp 40 auf knapp 50 Prozent. Dies war die größte Steigerung der Staatsausgaben-quote. die jemals in so kurzer Zeit stattgefunden hat, wenn man einmal von Kriegszeiten und Kriegsvorbereitungszeiten absieht. Die Probleme sind dennoch keinesfalls geringer geworden. Im Gegenteil: Es sind andere Probleme in den Vordergrund getreten, die dem Vertrauen in den Staat und sein Steuerungspotential empfindliche Dämpfer versetzt haben. Deutlich wurde dies etwa im Versagen der staatlichen Planung, dem Scheitern der Finanzplanung und der Subventionsabbauplanung; dem Unvermögen der Konjunktursteuerung, zunächst hohe Preissteigerungen und dann hohe Arbeitslosenquoten zu unterbinden; in Kostenexplosionen, etwa im Gesundheitsbereich; im Ansteigen der Abgabenbelastung; im Hochschnellen der Staatsverschuldung; in „Gesetzesflut“. Bürokratismusausweitung etc. Diese Erfahrungen bewirkten einen Rückschlag des Pendels: Aus der Euphorie der sechziger und der beginnenden siebziger Jahre hinsichtlich der staatlichen Steuerungsfähigkeit wurde eine ausgesprochene Skepsis — und das eben nicht ohne Grund.

Besonders plastisch ist wieder ein Beispiel aus dem Bereich der staatlichen Finanzen: Erklärtes Ziel der Ausdehnung des Staatsanteils in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der siebziger Jahre war es. unter anderem den Anteil der staatlichen Investitionsausgaben auszuweiten. In Wahrheit kam es zu einer rasanten Ausdehnung der staatlichen Personalausgaben. Noch Anfang 1974. als die Ölkrise sich schon abzeichnete, setzte die Gewerkschaft „Öffentliche Dienste. Transport und Verkehr“ (ÖTV) mittels eines Streiks, der die damalige Regierung Brandt rasch zu Zugeständnissen zwang. Einkommenserhöhungen im öffentlichen Dienst in einer Größenordnung durch (zwischen 11 und 18 Prozent), die vorher vom Bundeskanzler und vom Bundeswirtschaftsminister ausdrücklich als gesamtwirtschaftlich unverantwortlich bezeichnet worden waren. Dadurch setzte die öffentliche Hand auch für die Privatwirtschaft Zeichen und wurde insgesamt zum Vorreiter einer stabilitäts-und schließlich auch wachstumswidrigen Lohnpolitik. Die folgende wirtschaftliche Entwicklung mit ihren zunächst enormen Preissteigerungen und den später zunehmenden Arbeitslosenzahlen hat, wie heute weitgehend anerkannt, eine wesentliche Ursache auch in der Lohnpolitik jener Jahre. Für die Finanzierung von staatlichen Investitionen blieb immer weniger Raum. Die staatliche Investitionsquote ging — entgegen den politischen Absichtserklärungen — stark zurück.

Die Ernüchterung über die beschränkte Fähigkeit des Staates. Reformen zum Besseren durchzuführen. hat einen neuen Aspekt in den Blickpunkt gerückt, der in der Ära des Keynesianismus kaum thematisiert worden war. Lange war man davon ausgegangen, der Staat sei autonom und könne erkannte Mißstände in Wirtschaft und Gesellschaft ohne weiteres beheben. Der Staat habe das Interesse des Volkes sozusagen verinnerlicht und werde alles für das Volk als richtig Erkannte ohne weiteres auch in die Tat umsetzen. Aber wie realistisch ist diese Vorstellung wirklich?

VII. Der Staat als polyzentrische Vielheit von Akteuren

Diese Frage legt es nahe, „den Staat“ etwas näher zu betrachten und zu prüfen, was unter diesem Begriff eigentlich zu verstehen ist. Dabei zeigt sich: „Der Staat“ ist kein monolithischer Block, keine kompakte Entscheidungseinheit, sondern definiert sich als das Zusammenwirken vielfältiger politischer Kräfte und Akteure, die nur zum Teil verfassungsrechtlich organisiert und geregelt sind, zum anderen Teil aber von der Staatsverfassung eher stiefmütterlich behandelt oder gänzlich ignoriert werden. Fassen wir nur die Ebene des Bundes ins Auge, so sind zuerst der nach Fraktionen gegliederte Bundestag, der von ihm gewählte Bundeskanzler zusammen mit der gesamten Bundesregierung, der Bundesrat und der Bundespräsident zu nennen. Neben diesen Staatsorganen und der Verwaltung, die in staatsrechtlicher Sicht allein den Staat bilden, und den Sozialversicherungen, die in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gleichfalls zum Staat gezählt werden, müssen aber auch mächtige vorparlamentarische Gruppierungen, vor allem die Parteien und die Interessenverbände, mit in den Blick genommen werden. Alle zusammen bilden in ihrem Wechselspiel ein kompliziertes, vielschichtiges und verschachteltes System der politischen Willensbildung und Entscheidung; die Politikwissenschaft spricht vom „politischen System“. Dieses ist nun gegenüber der bürgerlich-liberalen Zeit völlig gewandelt.

Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Garantie der Vereinigungsfreiheit haben erst den Boden für die Entstehung der Volksparteien und Interessenverbände, besonders der Gewerkschaften, bereitet. Diese als Vehikel der sozialen Emanzipation der abhängigen Arbeit entstandenen Gruppierungen haben mit der Zeit aber auch ein ganz neues Koordinatensystem der politischen Willensbildung geschaffen: Aus der atomistischen Demokratie der bürgerlich-liberalen Konzeption, in der Gruppierungen aller Art noch zurückgedrängt, ja rechtlich verboten waren, entwickelte sich die moderne pluralistische Demokratie, in der mehrere Parteien und eine Vielzahl von Interessenverbänden zu beherrschenden Organisationen des politischen Prozesses aufgestiegen sind. Regierung. Parlament und Verwaltung sind nur noch vor dem Hintergrund des Wirkens der Parteien und Verbände zu verstehen, die — gleich einem mächtigen Über-bau — die staatlichen Institutionen in ihr Kräftefeld zwingen. Damit wird zur zentralen Frage, zu welchen Ergebnissen das Wirken der Parteien und Verbände voraussichtlich tendiert und — da es hier um Staatsversagen geht — welche typischen Schwachstellen im Spiel der Parteien und Verbände zu erwarten sind. Hierbei muß man sich von zwei Extremen fernhalten: Weder darf man die Notwendigkeit der Parteien und Verbände in der Demokratie verkennen noch sie andererseits Überhöhen und ihr Wirken gegen Kritik immunisieren.

VIII. Das Gemeinwohlproblem

Für wissenschaftliche Analyse und praktisches Urteil ist es besonders wichtig. Strukturmerkmale des politischen Systems zu ermitteln, insbesondere typische Gleichgewichte und Ungleichgewichte. Die Konzentration auf Ungleichgewichte und ihre Beseitigung befreit uns zugleich aus einem scheinbaren Dilemma. Die Meinungen darüber, was richtig, was Inhalt der „Gerechtigkeit“ oder des „Gemeinwohls“ ist. können im konkreten Fall beträchtlich voneinander abweichen, ohne daß man eine der Meinungen allgemein überzeugend als allein zutreffend nachweisen könnte. Die Sozialphilosophie des Pluralismus scheint geradezu auf dem Kernsatz zu beruhen, niemand könne im vorhinein mit Sicherheit sagen, was für die Gemeinschaft richtig sei. Ernst Fraenkel, der als theoretischer Vater des Pluralismus gilt, hat dies auf die Formel gebracht, es gebe kein a priori-Gemeinwohl „Richtig“ scheint dann allein das zu sein, was sich im Kampf der Gruppen, Akteure und Meinungen im nachhinein. a posteriori, ergibt. Daraus wird dann in der Praxis leicht ein unbegrenztes Toleranzgebot abgeleitet. das uns unfähig zu machen droht, effektive Mißstände und Fehlentwicklungen, wenn sie nur unter Mitwirkung und in Verantwortung etablierter politischer Kräfte zustande kommen, überhaupt noch als solche zu erkennen und beim Namen zu nennen.

In Wahrheit hat Fraenkel diese Konsequenz selbst gar nicht gezogen. Er hat vielmehr immer wieder hervorgehoben, daß es neben dem „streitigen Sektor“. auf den der pluralistische Kampf sich bezieht, auch einen „unstreitigen Sektor“ geben müsse, über dessen Geltung auch in einer pluralistischen Gemeinschaft Einigkeit bestehen müsse, wenn sie lebensfähig bleiben solle Auf dieser Grundlage ergeben sich zwei Thesen. Die eine lautet: Was im politisch-sozialen Bereich „richtig“ ist. läßt sich zwar oft nicht positiv bestimmen. Andererseits kann man doch oft eindeutig negativ sagen, daß etwas „unrichtig“ ist. Diese Feststellung ist entgegen dem ersten Schein keine verbale Spielerei. Zugrunde liegt die Vorstellung, daß trotz des Vorliegens eines ganzen Bündels von unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten, die alle als „auch noch richtig“ zu akzeptieren sind, doch andererseits bestimmte, diese Bandbreite überschreitende alternative Entscheidungsmöglichkeiten eindeutig als unrichtig festgestellt werden können. Ein derartiger Ansatz ist der Philosophie von alters her vertraut. Schon Aristoteles antwortete auf die Frage, was gerecht sei. Gerechtigkeit sei die Vermeidung von Ungerechtigkeit.

IX. Systemische Steuerung

Die andere These lautet: Man darf nicht nur auf die Inhalte, die Ergebnisse der Willensbildung sehen, sondern muß auch den Prozeß der Willensbildung und die Ordnung und Organisation dieses Prozesses ins Auge fassen, kurz: den organisatorischen Rahmen und die Spielregeln, nach denen die Willensbildungsprozesse ablaufen. In dieser Sicht wird das System der Willensbildung zum zentralen Ansatz für die Beurteilung. „System“ ist ja nichts anderes als eine Bezeichnung für den organisatorischen Rahmen und die Summe der Spielregeln, nach denen Willensbildungsprozesse ablaufen. Die Ten-denzen in Staat und Gesellschaft und die Ergebnisse. die die Akteure in ihrem vielfältigen Zusammenwirken hervorbringen, hängen wesentlich von der Organisation und den Spielregeln ab.denen die Akteure unterworfen sind und die sie einhalten müssen, wenn sie .. gewinnen“, das heißt Anerkennung. Macht und Einfluß erlangen wollen Ist das System der Willensbildung mangelhaft ausgestaltet, so werden auch die daraus resultierenden einzelnen Entscheidungen in der Regel unausgewogen und fehlerhaft sein, so daß ein entsprechendes Gegen-halten und möglichst eine Änderung der Systemdeterminanten geboten ist. Diese Feststellungen gelten auch für den Bereich der Politik. Der organisatorische Rahmen und die Spielregeln werden zu einem guten Teil von der Rechtsordnung und den von ihr geschaffenen Institutionen gesetzt. Sind die institutioneilen Weichen falsch gestellt, so muß aus individueller Rationalität fast notwendig kollektive Irrationalität erwachsen. Im Ansetzen am System liegt ein Weg, der in der pluralistischen Welt den Zugang zu den Problemen auch dann erleichtert, wenn es sich um solche Systembestandteile handelt, die das Grundgesetz nicht ausdrücklich nennt. Eventuelle Systemmängel lassen sich in der Regel auch viel leichter feststellen als die Unrichtigkeit einer konkreten Entscheidung. Es kommt also nicht so sehr darauf an. einzelne Entscheidungen zu beurteilen und eventuell zu kritisieren; wichtiger erscheint zu prüfen, inwieweit die derzeit herrschenden Spielregeln und die bestehende Organisation für die politische Willensbildung von heute noch passen und wie sie gegebenenfalls geändert werden können. Das ist das Kernproblem. Es geht um die Entwicklung adäquater systemischer Steuerungen.

X. Politische Parteien und Verbände

Im folgenden sollen vor allem die zentralen politischen Akteure, die politischen Parteien und die Interessenverbände, behandelt und das von ihnen wesentlich geprägte Spiel der politischen Kräfte auf Ungleichgewichte untersucht werden

Zunächst zu den politischen Parteien: Da ihre Unverzichtbarkeit in der modernen Demokratie unbestreitbar ist. beschränkt sich dieser Beitrag auf die Darstellung bestimmter charakteristischer Schwächen. Ein Mangel besteht in der Gefahr, daß Parteien dazu tendieren, primär kurzfristorientiert zu agieren. Die typische Folge ist — mit den Worten Ulrich Scheuners — „eine Kurzatmigkeit des Handelns. die den nächsten Wahltermin nicht aus dem Auge verliert, langfristige strukturelle Probleme dagegen hinauszuschieben geneigt ist“ Das Problem wird dadurch noch weiter verstärkt, „daß die Termine der Landtagswahlen, die vielfach als kleine Bundestagswahlen verstanden werden, über die vierjährige Legislaturperiode des Bundestags verstreut liegen“ Darüber hinaus betätigen sich* die Parteien nicht nur in den Bereichen, in denen dies legitim und durch Art. 21 GG verfassungsrechtlich vorgesehen ist. also im Prozeß der politischen Willensbildung des Volkes und bei politischen Wahlen; sie suchen nicht nur Einfluß auf Parlament und Regierung, sondern sie versuchen, auch die Verwaltung, die Rundfunkanstalten, die Rechtsprechung, die Wissenschaft und andere als partei-frei konzipierte Einrichtungen zu beeinflussen und ihrem direkten Einfluß zu unterwerfen. Hauptinstrument ist dabei die Beeinflussung der Personalauswahl. Dies aber ist nicht nur grundsätzlich rechtswidrig, sondern auch gemeinschaftsschädlich.

Parteipolitische Ämterpatronage führt zu einer allmählichen Zersetzung der Verwaltung, der Rechtsprechung und der Wissenschaft, und — wegen der Dominanz des parteipolitischen Machtkalküls — allmählich auch zu einer Zurückdrängung sach-und richtigkeitsorientierten, kreativen und innovativen Denkens in diesen Bereichen.

Legt man den gleichen kritischen Maßstab an die Interessenverbände an. so ist zunächst auch hier festzustellen: An sich ist nichts dagegen einzuwenden. daß sich Verbände konstituieren, um gleichgerichtete Interessen ihrer Mitglieder in den wirtschaftlichen und politischen Prozeß einzubringen. Interessenverbände sind nicht selten das einzige Medium, mittels dessen der Bürger in der Massen-demokratie seinen Interessen überhaupt Gehör verschaffen kann. Was unorganisiert ist, bleibt unberücksichtigt. Problematisch wird der Einfluß organisierter Interessen aber dann, wenn es am Gleichgewicht der Kräfte fehlt. Hier setzt die Kritik der „Neuen Politischen Ökonomie“ ein; sie kann sich auf Mancur Olsons stringente politik-ökonomische Analyse stützen. Olson hat 1967 in seinem Buch „Logik des kollektiven Handelns“ nachgewiesen, daß sich zwar enge Partikularinteressen, nicht aber allgemeine, weite Bevölkerungskreise umfassende Interessen in ausreichender Stärke verbandlich organisieren lassen. Olsons Thesen verbinden sich mit der Analyse von Anthony Downs, der — auf Vorarbeiten Schumpeters aufbauend — schon 1957 in seinem Buch „Ökonomische Theorie der Demokratie" dargelegt hatte, daß die Verfolgung allgemeiner Interessen auch für Parteien oft nicht lohnend erscheint.

Schaut man genauer hin, so ergibt sich allerdings ein differenzierteres Bild: Sonderinteressen lassen sich in der Regel schlagkräftiger organisieren als allgemeine Interessen, Gegenwartsinteressen sind politisch virulenter als Zukunftsinteressen, wirtschaftliche sind stärker als ideelle, Einkommenserwerbsinteressen werden nachdrücklicher vertreten als Ausgabeninteressen. Da aber auch die wichtigsten Ausgabeninteressen solche der Allgemeinheit (der Konsumenten und der Steuerzahler) sind und man auch Zukunftsinteressen in einem weiteren Sinn als allgemeine Interessen ansehen kann, bleibt die Feststellung von der Schwäche der Allgemeininteressen typischerweise richtig.

XL Staatsversagen

Mängel im Spiel der Parteien und Verbände schlagen leicht auf die staatliche Willensbildung durch. Daraus ergibt sich nun eine besonders einschneidende These der Neuen Politischen Ökonomie. Sie geht nämlich davon aus. es gebe nicht nur Markt-versagen. sondern man müsse realistischerweise auch ein (teilweises) Versagen „des Staates“ als durchaus denkbar in Rechnung stellen. Die Politikwissenschaft thematisiert die Problematik unter dem Stichwort „Pluralismusdefizite", die Wirtschaftswissenschaft unter dem Stichwort „Staatsversagen“. Damit kommt zu der oben genannten Voraussetzung für ein Eingreifen des Staates (Versagen der Selbststeuerung) noch eine weitere hinzu. Mängel der marktwirtschaftlichen Selbststeuerung sind nunmehr eine (notwendige) Voraussetzung für staatliches Eingreifen. Zusätzlich muß noch die weitere (hinreichende) Voraussetzung hinzukommen. daß die Steuerung durch „den Staat“ insgesamt befriedigend funktioniert, jedenfalls befriedigender als die Selbststeuerung.

Inwieweit die These vom Staatsversagen wirklich berechtigt ist. sollte man vielleicht an einigen Reformprojekten überprüfen, deren Dringlichkeit heute unübersehbar ist. Dazu drei Beispiele:

1. Die Änderung der Altersstruktur der Bevölkerung. die in der Bundesrepublik Deutschland als Folge der drastischen Verringerung der Geburtenrate zu erwarten ist. verlangt eine für manche gesellschaftliche Gruppen schmerzhafte Anpassung der Alters-und Krankenversicherungssysteme. 2. Der Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen würde eine Senkung der Steuertarife ermöglichen und Ungerechtigkeiten. Undurchsichtigkeiten und Wachstumshemmungen beseitigen. Dies ist eine zentrale Aufgabe einer durchgreifenden Steuerreform.

3. Die Errichtung wirksamer Vorkehrungen gegen die zunehmende Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, der Rechtsprechung, der Rundfunkanstalten und der Wissenschaft ist ebenfalls dringlich, wenn die Entwicklung nicht schließlich irreversibel werden soll.

XII. Neoliberalismus: Mehr Markt und Begrenzung des Staates

Die Skepsis bezüglich der Fähigkeit des Staates, die nötigen Reformen durchzusetzen, hat ihre wirtschaftspolitische Verkörperung in einer neuen wirtschaftspolitischen Richtung, dem Neoliberalismus, gefunden. Während die Keynessche Ära den Staat verherrlicht. Richtigkeitsprobleme auf politischer Ebene übersehen und eine Art Neomerkantilismus begründet hatte, geht nun — im Zuge eines Pendel-Rückschlags — die neoliberale Richtung von der Annahme aus.der politische Prozeß sei gegen Fehlentwicklungen nicht mehr gefeit als der wirtschaftlich-gesellschaftliche. so daß der Staat die Mißstände. die er bekämpfen will, mit seinen Maßnahmen meist eher noch vergrößere. Bekannte Vertreter des Neoliberalismus sind die drei Nobelpreisträger von Hayek. Milton Friedman und Buchanan: in der Bundesrepublik haben sich Vertreter dieser wirtschaftspolitischen Richtung im „Kronberger Kreis“ zusammengefunden (Engels, Fels, Gutowski, Stützel. Carl Christian von Weizsäcker, Willgerodt). Der Neoliberalismus tritt dafür ein, den Bereich des Marktes zu erweitern. Die Haupt-losung des Kronberger Kreises lautet: „Mehr Mut zum Markt“. Auch das wirtschaftspolitische Hauptproblem des letzten Jahrzehnts, die Arbeitslosigkeit. wird auf eine unzureichende Anpassung der Löhne an die Marktgesetze zurückgeführt: Die Wurzel der Arbeitslosigkeit sei die Überhöhung der Löhne. Sie habe die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften gedrosselt. Deshalb sei auch Abhilfe nur von einer relativen Senkung der Löhne (bzw.des Wachstums der Löhne) zu erwarten. Im übrigen tritt der Neoliberalismus für eine Verstetigung der staatlichen Politik ein. Schon Friedman hatte vor aktiver Konjunkturpolitik gewarnt, mit der man. auch wenn man das Richtige wolle, erfahrungsgemäß nur das Falsche tue. Der Politik wird vorgehalten, sie greife viel zu unüberlegt in die Marktwirtschaft ein und schaffe dadurch oft erst Probleme.

Wozu es führt, wenn die Politiker glauben, marktwirtschaftliche Zusammenhänge ignorieren zu können. zeigt sich beispielhaft an den Regelungen des gemeinsamen Agrarmarkts der Europäischen Gemeinschaft. In einem funktionierenden Markt bringt der Preis Angebot und Nachfrage zur Dekkung. Schon der Student der Volkswirtschaftslehre im ersten Semester weiß, daß die Festsetzung von Mindestpreisen — wenn diese überhöht sind, wie im Regelfall — zu einem Überangebot führen muß. Eben diesem ökonomischen Kardinalfehler ist man bei der Konstruktion der EG-Agrarmärkte aufgesessen. Die garantierten und im Durchschnitt weit über dem Preisniveau des Weltmarktes liegenden Erzeugerpreise haben zu erheblichen, zum Teil phantastischen Produktionsüberschüssen geführt und Weizen-, Zucker-und Milchpulverberge, kurz eine ganze alpine Überschußlandschaft erzeugt. Der Bürger und Steuerzahler wird auf diese Weise gleich mehrmals zur Kasse gebeten: einmal als Konsument, wenn er die überhöhten Agrarpreise bezahlen muß, zum zweiten als Steuerzahler, wenn er nicht nur die hohen Kosten für die wachsende Bürokratie. sondern auch die Kosten für den Ankauf der überschüssigen Produkte und dann wieder für ihre Lagerung und Vernichtung tragen muß.

Die Durchsetzung von mehr Markt bedarf aber wiederum der politischen Entscheidungen. Die Frage nach der Fähigkeit, solche Entscheidungen im politischen Prozeß durchzusetzen, stellt sich also auch hier. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Der Neoliberalismus plädiert weiter für eine Beschränkung der Aufgaben und Kompetenzen des Staates. Im finanzpolitischen Bereich geht es darum, den finanziellen Staatsanteil zu drosseln. Als Hauptinstrumente werden spezifische Verfassungsbestimmungen empfohlen, die das staatliche Ausgabenvolumen entweder direkt oder indirekt — etwa durch Unterbindung der Zulässigkeit bestimmter staatlicher Einnahmearten (zum Beispiel aus Kreditaufnahmen oder „heimlichen Steuererhöhungen“) — begrenzen In vielen Einzelstaaten der USA sind im Laufe der letzten Jahre derartige Verfassungsbestimmungen eingeführt worden.

XIII. Verbesserung der Rationalität des politischen Prozesses

Pauschale Ausgabenbegrenzungen erscheinen aber ihrerseits problematisch. Es ist ja nicht von vornherein ausgemacht, daß öffentliche Ausgaben überall zu hoch sind. Möglich ist es ja auch, daß der Staat gleichzeitig zuviel und zuwenig tut, nur jeweils an der falschen Stelle; daß er zum Beispiel wegen der politischen Dominanz von Interessen mit Verbands-und Parteinähe für diese zu viel, für andere dagegen zu wenig ausgibt. Eine globale „Austerity-

bewirkt noch keine Prioritätensetzung. Es Politik"

wäre im Gegenteil denkbar, daß gerade die wichtigsten Aufgaben unter globalen Beschränkungen am meisten zu leiden haben, während weniger wichtige oder gar überflüssige fortbestehen. Schon diese Erörterung deutet darauf hin, daß auch sinnvolle Ausgabenbegrenzungen am politischen Prozeß insgesamt ansetzen müssen. Damit erhält wiederum die Aufgabe Vorrang, die Ordnung der staatlichen Willensbildung zu verbessern und möglichst so zu verfassen, daß die resultierenden Ergebnisse eine erhöhte Richtigkeitschance erhalten. Hier liegt der strategische Punkt. Wie staatliche Willensbildung organisiert sein muß, um die Chance für gemeinwohladäquate Entscheidungen möglichst groß zu halten, also die Frage nach dem „due process“ der Politik, ist die Fundamentalfrage des heutigen Staats-und Verfassungsdenkens.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Erörterungen sollen vier weitere Thesen formuliert werden: Die Hauptthese geht dahin — und ich formuliere sie bewußt mit jener holzschnittartigen Grobheit, die alle Mißverständnisse ausschließt: Heute stellen sich die Aufgaben der verfaßten Gemeinschaft anders dar als früher. Es geht nicht mehr um die För-derung der abhängigen Arbeit gegenüber dem Kapital. Was man früher „soziale Frage“ nannte, ist gelöst. Die Herausforderungen haben sich verlagert. Heute geht es vornehmlich um die Durchsetzung einer Kategorie von Belangen, die dadurch gekennzeichnet ist. daß sie keine schlagkräftigen Organisationen, hinter sich haben: um bestimmte querschnittsartige Interessen aller, vor allem auch um die Bewältigung von Zukunftsproblemen. Und hierbei erweisen sich nun diejenigen Akteure, die zur Überwindung der (alten) sozialen Frage angetreten sind, nicht nur als wenig förderlich, nein, sie scheinen — jedenfalls in der derzeitigen Verfassung — der Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit bisweilen sogar im Wege zu stehen.

Daraus folgt die zweite These: Die Rolle der Parteien und der Interessenverbände markiert heute die zentrale Verfassungsfrage. Letztlich geht es um die uralte Frage, wie die Mächtigen daran gehindert werden können, ihre Macht zu mißbrauchen, und wie sie dazu veranlaßt werden können, ihre Macht möglichst im Interesse der Gemeinschaft einzusetzen. Es geht um die Lenkung und Kontrolle der Macht. Wenn der Satz stimmt, daß Macht, soll sie nicht korrumpieren, der Kontrolle bedarf, so ist von vornherein zu vermuten, daß hinsichtlich der Parteien und Verbände ein besonders ausgeprägter Kontrollbedarf besteht. Das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland beruht wesentlich noch auf einer Tradition, welche Parteien und Interessenverbände in der heutigen Form noch nicht kannte und deshalb auch nicht auf ihr Wirken zugeschnitten ist. Inzwischen ist die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien und Verbände zwar erfolgt. Ihre wirksame Begrenzung durch Erfassung und Kanalisierung des Willensbildungsprozesses insgesamt steht aber noch aus. Erforderlich sind verfassungsrechtliche Innovationen, die die Macht von Parteien und Verbänden so regulieren und kanalisieren. daß sie möglichst zum Besten für die Gemeinschaft ausschlägt; es geht um die Essenz des Verfassungsgedankens überhaupt.

Hier liegt auch der allein erfolgversprechende Ansatz für die Zähmung des Wohlfahrtsstaats, so die dritte These. Der Wohlfahrtsstaat ist ja nichts anderes als das Produkt des spezifischen Wirkens der Parteien und Verbände. Heute wächst die Überzeugung.der Wohlfahrtsstaat müsse eingegrenzt und Mißbräuche und Fehlentwicklungen müßten beschnitten werden. Erfolg können diese Versuche aber nur haben. wenn sie an den treibenden Kräften als der eigentlichen Wurzel der Entwicklung ansetzen.

Die Vorstellung. Parteien und Verbände könnten wirkungsvoll diszipliniert und ihre Macht so reguliert werden, daß sie möglichst zum Besten für die Gemeinschaft ausschlägt, mag zwar auf den ersten Blick ziemlich weltfremd erscheinen, sind es die Parteien und Verbände doch selbst, die in den Schaltzentralen der staatlichen Macht die Hebel bedienen und die Gesetzgebung, auch die verfassungsändernde Gesetzgebung, beherrschen. Laufen die Empfehlungen deshalb nicht darauf hinaus, sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen?

Hierzu lautet die vierte These: Fast alle Beteiligten (einschließlich der Parteipolitiker) fühlen sich als Opfer der Gesamtentwicklung, führen diese also nicht zielstrebig herbei, sondern erleiden sie sozusagen. Angemessene verfassungsrechtliche Spielregeln würden fast alle Mitglieder der Gemeinschaft besserstellen als vorher. Die Chance, ein politisches Klima herzustellen, das ihrer Einführung günstig ist. wird um so größer je umfassender es gelingt, ihren für alle förderlichen Effekt zu verdeutlichen. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als die Aufgabe, das Volk über seine Interessen aufzuklären. Das aber verlangt Information über die Zusammenhänge. Wer etwas zum Besseren wenden will, muß versuchen, den Bürger als den eigentlichen demokratischen Souverän zu überzeugen. Aufklärung über Mißstände und Wege zur Abhilfe ist geboten. Schule und Hochschule sind gefordert.

Die wichtigsten Adressaten aber sind die Parteien selbst und die in ihnen Tätigen, aber auch Verwaltungsleute als ihre wichtigsten Ratgeber. Hier sammeln sich viele an Staat und Politik interessierte und für die Gemeinschaft engagierte Bürger. Ohne Unterstützung der Parteien geht vermutlich gar nichts. Es wäre verkehrt, wollte man die Parteien und Verbände zu Sündenböcken stempeln. „Schuld“ an Fehlentwicklungen sind nicht die Parteien und Verbände. Sie sind — gerade in der Bundesrepublik Deutschland — in Wahrheit besser als ihr Ruf. Nichts wäre abwegiger (und vermessener) als moralische Verdammung. Die Parteien können bei der gegebenen institutionellen Ordnung oft gar nicht anders handeln, als sie es tun. „Schuld“ sind — neben der generellen Ambiance — die unzureichenden Regelungen, die falsche Anreize setzen und unter denen die Parteien selbst am meisten leiden.

Die Neue Politische Ökonomie hat die Augen dafür geöffnet, daß zwischen dem ökonomisch Rationalen und dem politisch Rationalen eine — bisweilen sehr erhebliche — Diskrepanz bestehen kann. In der Erklärung für die Gründe dieser Diskrepanz durch die Neue Politische Ökonomie liegt allerdings auch eine große Gefahr, nämlich die. daß man die Ergebnisse ihrer Analyse als unabänderliche Gegebenheiten, ja als eine Art auf die Politik übertragene ökonomische Gesetzmäßigkeit hinnimmt. Die Neue Politische Ökonomie geht vom Menschenbild des homo oeconomicus aus.dem es nur auf die Wahrung seiner individuellen Interessen ankommt, und überträgt dieses Menschenbild ohne weiteres auch auf den politischen Bereich (homo politicus). Die Erklärung führt dann aber leicht zur Rechtfertigung oder doch dazu, sich damit abzufinden. Denn wer kann sich schon zutrauen, den Menschen zu ändern?

Diese gedankliche Sackgasse kann nur vermieden werden, wenn man sich vor Augen führt, daß das Menschenbild der Neuen Politischen Ökonomie selbst nicht voll realistisch ist. Es repräsentiert nur eine Seite der Medaille. Der Mensch ist nicht nur homo oeconomicus. Er läßt sich nicht nur von seinen eigenen individuellen Interessen leiten. Er ist vielmehr auch bereit, sich gemeinschaftskonform und solidarisch zu verhalten, kurz: Gemeinsinn zu entwickeln. Er ist — mit dem berühmten Wort von Heinrich Triepel — keineswegs nur „Bourgeois“, sondern auch „Citoyen“. Es gilt, den Gemeinschaftssinn nur zu wecken, zu entfalten und zu fördern. Das ist allerdings nicht nur und wohl nicht einmal in erster Linie eine Sache von Appellen und Ermahnungen, von Aufklärung und Erziehung. Vielmehr müssen auch die Ordnungen, die Organisation und das Verfahren so ausgestaltet werden, daß solidarisches, gemeinschaftsorientiertes Verhalten sich mehr lohnt als bisher. Es gilt, das Anreizsystem so zu konstruieren, daß nicht Anreize gerade in die falsche Richtung geschaffen werden. Belohnt werden muß vielmehr richtiges Verhalten. Das gilt im gesellschaftlichen ebenso wie im staatlichen Bereich und auch in Zwischenbereichen. Da die Regeln, die Anreizsysteme etc. zu einem guten Teil durch das Recht gesetzt werden, gilt es. die Rechtsordnung so zu gestalten, daß sinnvolle Effekte hervorgerufen werden. Der Gedanke, den Walter Eucken für den Bereich der Wirtschaftsordnung bis zur Perfektion durchdacht hat. ist auch auf den Bereich der politischen Willensbildung zu beziehen. Die politische Willensbildung wird wesentlich durch das Verfassungsrecht bestimmt. Es kommt also nicht zuletzt auch darauf an, im Wege der Verfassungspolitik die Staatsverfassung so fortzuentwickeln, daß es leichter wird als bisher, ökonomisch Richtiges politisch auch durchzusetzen.

Die überkommenen konstitutionellen Regelungen müssen deshalb überdacht und auf die völlig gewandelten modernen Gegebenheiten ausgerichtet werden. Als Initiatoren und Exekutoren für eine solche Fortentwicklung kommen primär wieder die politischen Parteien und ihre Ratgeber in Betracht. Die Übernahme einer solchen Rolle erscheint auch durchaus nicht unmöglich und liegt letztlich im eigenen weitsichtigen Interesse der Parteien selbst.

Diese etwas abstrakten Überlegungen sollen an einem Beispiel verdeutlicht werden. Das Beispiel betrifft die schon erwähnte Ämterpatronage durch politische Parteien, die auch im kommunalen Bereich verbreitet ist — dort teilweise besonders ausgeprägt. Betrachtet man die Städte und Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland unter diesem Aspekt, so fällt der Unterschied zwischen Nord-und Süddeutschland ins Auge. In bayerischen und besonders in baden-württembergischen Städten und Gemeinden ist. wie Untersuchungen ergeben habenl parteipolitische Ämterpatronage deutlich geringer als in Norddeutschland. Das beruht unter anderem auf den unterschiedlichen Kommunalverfassungen. In Süddeutschland wird der Bürgermeister.der dort Verwaltungschef und Ratsvorsitzender zugleich ist. in Urwahl direkt durch das Gemeindevolk gewählt. Dadurch erhält er eine starke Stellung, auch gegenüber den politischen Parteien. In bezug auf die Personalpolitik bedeutet dies: Der Bürgermeister ist im eigenen Interesse gehalten, keine Parteibuchwirtschaft zu treiben. Sie sickert ja doch meist in die Öffentlichkeit durch, wird ihm dann übel angekreidet, und er muß befürchten, vom Bürger die Quittung zu erhalten, wenn es am Wahltag um seine Wiederwahl geht. Ämterpatronage ist deshalb in Süddeutschland weniger verbreitet. In Norddeutschland dagegen wird der Gemeindevorsteher nicht direkt vom Volk. sondern vom Rat gewählt. Will er seine Chance auf Wiederwahl nicht gefährden, so bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als auf die personalpolitischen Wünsche seiner Partei und ihrer Ratsfraktion einzugehen. wenn er sie nicht verärgern will. Die von der Süddeutschen Ratsverfassung gesetzten Spielregeln sind also so beschaffen, daß sie parteipolitische Ämterpatronage tendenziell abblocken und bestrafen. Nach der Norddeutschen Ratsverfassung kann ein Stadtdirektor es sich dagegen umgekehrt kaum leisten, sich den Personalwünschen seiner Partei und Fraktion zu widersetzen.

XIV. Historische Herausforderung

Dieses Beispiel kann man verallgemeinern: Es kommt darauf an, die politischen Spielregeln so zu gestalten. daß es sich für die Akteure lohnt oder daß sie es sich zumindest leisten können, sich gemein-wohlkonform zu verhalten. Unter diesem Aspekt Wäre es vielleicht auch aufschlußreich, sich die kon-stitutionellen Bedingungen anzusehen, die es in den Vereinigten Staaten möglich gemacht haben — trotz des immensen Querfeuers der Interessenverbände — eine radikale Steuersenkung bei gleichzeitigem radikalen Abbau der Steuervergün-stigungen. also eine echte Steuerreform, durchzusetzen. Daß es nicht nur darauf ankommt, die Einstellungen der Menschen zu verändern, sondern auch darauf. die institutioneile Ordnung zu reformieren, hat der Staatsphilosoph Karl Raimund Popper folgendermaßen formuliert: „Die Rechtsordnung kann zu einem mächtigen Instrument für ihre eigene Verteidigung werden. Zudem können wir die öffentliche Meinung beeinflussen und auf einem viel strengeren moralischen Kodex bestehen. All dies können wir tun; es setzt aber die Erkenntnis voraus, daß es . . . unsere Aufgabe ist und wir nicht darauf warten dürfen, daß auf wunderbare Weise von selbst eine neue Welt geschaffen werde.“

Mitte der siebziger Jahre gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine Enquete-Kommission Verfassungsreform. Sie drang jedoch nicht zum Kern der Problematik vor. Die zentralen, hier angesprochenen Fragestellungen wurden von der Kommission noch nicht in den Blick genommen. Heute ist es an der Zeit, diese Probleme gezielt zu thematisieren. Ihr energisches Anpacken könnte sich sogar als Überlebensfrage für unsere rechts-und sozialstaatliehe Demokratie erweisen. Der jetzige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat 1982 die Problematik in bezug auf die Parteien in einer ebenso grundlegenden wie schonungslosen Studie mit dem Titel „Krise und Chance unserer Parteiendemokratie“ herausgestellt. Der Bundespräsident sollte sich nun vielleicht selbst beim Wort nehmen lassen und ein Gremium von unabhängigen und erfahrenen Persönlichkeiten berufen mit dem Auftrag. — ganz im Sinne von Popper — über eine mögliche Neuordnung nachzudenken.

Eine staatliche Ordnung, die es den politischen Akteuren nicht ermöglicht, das Gemeinwohl durchzusetzen. hat auf Dauer keine Zukunft. Mancur Olson hat die Gültigkeit dieser ehernen Wahrheit in seinem 1982 veröffentlichten Buch „Aufstieg und Untergang von Nationen“ über die geschichtlichen Epochen hinweg verfolgt. Hier liegt eine große Herausforderung für die Bundesrepublik Deutschland. Wenn es zutrifft, daß „challenge and response“. Herausforderung und Antwort den Takt der geschichtlichen Entwicklung bestimmen, dürfen wir vielleicht nicht mehr viel länger mit der Entwicklung von Antworten auf diese heutige Herausforderung warten, wenn wir in Freiheit überleben wollen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. E. Fraenkel. Deutschland und die westlichen Demokratien. Stuttgart 19797.

  2. E. Fraenkel, in: F. Nuscheler/W. Steffani (Hrsg.). Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen. München 1976). S. 150. 156.

  3. Dazu ausführlich Crozier/Friedberg. Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Frankfurt 1979.

  4. H. H. v. Arnim. Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Frankfurt 1977; ders.. Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland. München 1984.

  5. Die mit der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft zusammenhängenden weiteren Probleme der „Politikverflechtung“ (Scharpf).der »vertikalen Fachbruderschaften“ (Wagener) etc. können im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden.

  6. U. Scheuner. Die Funktion der Verfassung für den Stand der politischen Ordnung, in: Hennis u. a. (Hrsg.). Regier-19795 S Studien zu ihrer Problematisierung. Bd. 2. Stuttgart

  7. Gutachten der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel. 1976. Kap. I. RN 36.

  8. Dazu zuletzt W. Berg. Politisierung der Verwaltung: Instrument der Steuerung oder Fehlsteuerung?, in: H. H. v. Arnim/H. Klages (Hrsg.). Probleme der Staatlichen Steuerung und Fehlsteuerung in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1986. S. 141; M. Wichmann. Parteipolitische Ämterpatronage. Vorschläge zur Beseitigung eines Verfassungsverstoßes im Bereich des öffentlichen Dienstes. Frankfurt 1986.

  9. J. M. Buchanan/R. W. Wagner, Democracy in Deficit. 1977. aus dem deutschsprachigen Schrifttum K. Vogel. Verfassungsgrenzen für Steuern und Staatsausgaben. Festschrift für Maunz. 1981. S. 415; C. Folkers. Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA. Baden-Baden 1983; P. Pernthaler. Österreichische . Finanzverfassung. Theorie — Praxis — Reform. Wien 1984. S. 217ff.

  10. G. Banner. Kommunale Steuerung zwischen Gemeinde-ordnung und Parteipolitik, in: Die Öffentliche Verwaltung. 1984. S. 364. (369); H. -G. Wehling. Der Bürgermeister und „sein“ Rat. in: Politische Studien. 1984, S. 27 (33).

  11. K. R. Popper. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. 19806. S. 159f.

  12. Aus Politik und Zeitgeschichte. B 42/82. S. 3.

Weitere Inhalte

Hans Herbert von Arnim. Dr. jur.. Dipl. -Volkswirt, geb. 1939; o. Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunal-und Haushaltsrecht, und Verfassungslehre an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; Studium der Rechts-und Wirtschaftswissenschaften, juristische Staatsexamen und Promotion in Heidelberg; 1968— 1978 Leiter des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler; 1976 Habilitation für Staats-und Verwaltungsrecht. Finanz-und Steuerrecht an der Universität Regensburg; 1978 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Marburg; seit 1981 in Speyer. Veröffentlichungen u. a.: Volkswirtschaftspolitik. Eine Einführung. Frankfurt 19855; Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Frankfurt 1977; Ämterpatronage durch politische Parteien. Wiesbaden 1980; Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland. München 1984; Normative Politikwissenschaft. Speyer 1985; Volkszählungsurteil und Städtestatistik. Köln 1987; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.