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Grundzüge der schweizerischen Politik der achtziger Jahre | APuZ 51/1987 | bpb.de

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APuZ 51/1987 Artikel 1 Österreich — Modernisierungspolitik zwischen Kontinuität und Wandel Grundzüge der schweizerischen Politik der achtziger Jahre Der Wohlfahrtsstaat Schweden: Was bleibt vom Modell?

Grundzüge der schweizerischen Politik der achtziger Jahre

Leonhard Neidhart

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Politik ist im neutralen Kleinstaat Schweiz vor allem Innenpolitik. Sie verläuft eher im Stile eines Inkrementalismus, d. h. als schrittweises Ergebnis meist mühsam erzielter Kompromisse. Der Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigsten Entscheidungen der achtziger Jahre. Ohne Hinweise auf einige Verfahrensbesonderheiten des schweizerischen Regierungssystems können auch dessen materielle Politikergebnisse nicht verständlich gemacht werden. Stärker als in der Bundesrepublik Deutschland werden politische Streitfragen in der Schweiz auf der Ebene der Verfassungswillensbildung ausgetragen. Alle Bundesgesetze unterliegen in der Schweiz dem fakultativen Referendum, das bedeutet, daß sie zur Volksabstimmung gebracht werden müssen, wenn dies durch ein mit 50 000 Unterschriften beglaubigtes Referendumsbegehren verlangt wird. Dies hat zur Folge, daß alle referendumsfähigen Gruppen angehört werden müssen, was den Gesetzen von vornherein inhaltlich einen außerordentlich starken Kompromißcharakter verleiht. Im Ganzen ist die Gesetzgebungstätigkeit des schweizerischen Parlamentes durch Vorsicht, aber auch durch Kontinuität gekennzeichnet, was in zahlreichen Politikbereichen zwar langsame, aber durchaus stetige Wirkungen hervorgebracht hat.

I. Einleitung

Absicht dieses Beitrages ist es, einen Überblick über die schweizerische Politik zu geben und zu zeigen, in welche gesellschaftlichen Bereiche die eidgenössischen Zentralbehörden mit welchen Maßnahmen ordnend und regulierend eingegriffen haben und in welche nicht. Soll ein derartiges Bild auch nur einigermaßen zutreffend sein, dann kann man sich dabei nicht mit einem etwa auf ein Jahr bezogenen Querschnitt begnügen, weil die wichtigen Fragen der gegenwärtigen Politik — wie etwa die Umwelt-, die Verkehrs-, die Energie-und auch die Sozial-oder die Gesundheitspolitik — von ihrer verfassungsrechtlichen Konzeptualisierung über die gesetzgeberische Ausführung bis hin zum Vollzug und bis sie schließlich ihre Wirkungen zeigen, erst im Verlauf größerer Zeitabschnitte beantwortet werden können. Auf Grund von Eigenschaften des schweizerischen Regierungssystems sind die Gesetzgebungsverfahren in diesem Land meist besonders lang. Zur Beantwortung der hier gestellten Fragen soll deshalb die Zeitspanne der achtziger Jahre ins Auge gefaßt werden.

Eine solche Übersicht bringt es mit sich, daß zwar viele Fragen behandelt werden müssen, sie aber hier nur angeschnitten werden können. Detaillierte Literaturangaben zu allen Fragestellungen müßten dann zu einer unverhältnismäßigen Liste von Nachweisen auswachsen, was nicht zum Zweck dieses Beitrages gehört. Der an schweizerischen Gesetzgebungsfragen interessierte Leser sei auf das Schweizerische Bundesblatt, das amtliche Publikationsmedium der Bundesregierung, verwiesen, in welchem es im Gegensatz zum deutschen Bundesgesetzblatt ausführliche Begründungen und Erläuterungen der einzelnen Gesetzesvorhaben gibt. Einige weitere Notizen zum Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz finden sich bei: L. Neidhart. Regierungs-und Verwaltungssystem in der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland — ein Vergleich, in: Adrienne Windhoff-Heritier (Hrsg.), Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein, Opladen 1987. S. 170-192.

Die schweizerische Politik ist in allererster Linie Innenpolitik, und sie ist — wie in allen vergleichbaren Verhältnissen — auch vor allem Verwaltung, d. h. Umsetzung und Anwendung legislatorischer Programme. Dabei kann man davon ausgehen, daß die innenpolitische Agenda des politischen Problemlösungsbedarfes der Schweiz mit jener der Bundesrepublik Deutschland in weiten Teilen identisch ist. Beide Länder zählen bei aller größenmäßigen Verschiedenheit zu den hochentwickelten Industriestaaten mit sehr hohem Exportanteil und mit einer bedrohlich intensiven Nutzung ihrer knappen räumlichen und natürlichen Ressourcen, was einen entsprechenden politischen Interventionsbedarf nach sich zieht. Man kann sich die Gemeinsamkeiten dieses politischen Problemlösungsbedarfes mit einer Auflistung von A bis Z schnell verdeutlichen: Auch in der Schweiz existieren die Probleme der Abfallbeseitigung, der Agrarmarktsteuerung, der AIDS-Bekämpfung.der Altenpolitik, der Asyl-und Ausländerpolitik sowie der Regelung von Atomfragen. So hat man in den vergangenen Jahren bereits eine Viertelmilliarde Franken für Suchbohrungen nach Lagerstätten für radioaktive Abfälle ausgegeben. In der Schweizerischen Handels-zeitung war kürzlich von der Schweiz als einem „Luxushotel ohne WC“ die Rede. Auch in der Schweiz sind des weiteren die Fragen der Bahnen, des Bauens.des Bodens, auch solche des Datenschutzes, der Dienstverweigerung, der Energie, der Entsorgung.der Entwicklungspolitik, der Familien-und Frauenpolitik, der Gleichberechtigung, der Gesundheitspolitik.der Katastrophenvorsorge und der Krankenversicherung, der Lärmbekämpfung und der Lebensmittelkontrolle, des Landschaftsschutzes.des Lastwagenverkehrs und der Luftverschmutzung.der Medien, der Umwelt, des Verkehrs.des Waldsterbens oder des Wehrwesens usw. auf der politischen Tagesordnung ganz oben. Abweichend von den Verhältnissen in der Bundesrepublik befindet sich dieser zentraleuropäische Kleinstaat wirtschaftlich in einer komfortablen Lage, und er kennt seit langem weder das Problem der Arbeitslosigkeit noch jenes von Strukturkrisen oder gravierenden regionalen Entwicklungsunterschieden.

Für diese günstige wirtschaftliche Entwicklung gibt es verschiedene Gründe; einige davon seien in Stichworten erwähnt: Zunächst verfügt die Schweiz bekanntlich, von ihren Naturschönheiten und ihrem Wasser abgesehen, über keinerlei natürliche Rohstoffe, so daß weder starke Urbanisierungen noch jene klassischen Schwerindustrien entstehen konnten, deren Alterskrankheiten den Deutschen, den Belgiern, den Engländern und auch den Franzosen gegenwärtig so große Sorgen bereiten. Seit langem muß das Land deshalb versuchen, sein Rohstoffhandicap durch Produktspezialisierung und durch eine starke Beanspruchung des Faktors Arbeitskraft sowie durch eine Diversifizierung des Exportes zu kompensieren. Die Mehrsprachigkeit, die innere politische Stabilität, die äußere Neutralität und auch der Tourismus haben hier die Entwicklung des Dienstleistungsbereiches begünstigt. Anzufügen wäre noch, daß der Kleinstaat als großer internationaler Finanzplatz ausreichend über zins-günstiges Kapital verfügt und daß ein Schweizer Arbeiter auch heute noch im Durchschnitt pro Jahr 30 Tage länger arbeiten muß als ein Deutscher.

Gewiß hat diese wirtschaftliche Prosperität den Gang der schweizerischen Politik begünstigt und auch konfliktfreier gemacht. Die geringere Wahlbeteiligung in der Schweiz — bei den gesamt-schweizerischen Parlamentswahlen im Oktober dieses Jahres betrug sie 46. 5% im Landesdurchschnitt — erklärt sich nicht unerheblich auch aus der Tatsache, daß dem einzelnen die Notwendigkeit des Wählens für seine wirtschaftlichen Angelegenheiten offensichtlich weit weniger wichtig erscheint, als das in den Nachbarländern der Fall ist.

Zum Verständnis der nachfolgenden Skizze sind Kenntnisse über die Vor-und Nachteile der wirtschaftlichen Größenverhältnisse in der Schweiz von Bedeutung: Einerseits hat das Land aus seinen Nöten der Kleinheit und Knappheit immer schon Tugenden und Vorteile machen können, so daß das kleine Land heute zu einem großen Finanzplatz und zu einer mittleren Wirtschaftsmacht mit einer starken Währung geworden ist, die ihm partielle Autonomien gegenüber der Europäischen Gemeinschaft. aber auch der UNO möglich machen. So sind die schweizerische Neutralität und auch die ganz erheblichen Aufwendungen für die Landesverteidigung nur auf der Basis der wirtschaftlichen Prosperität möglich. Gleichwohl war die Tatsache der Kleinstaatlichkeit und die damit verbundenen Ressourcenknappheiten immer schon der dominante Imperativ der schweizerischen Politik. Er zwang zur Ausschöpfung aller verfügbaren Kräfte und ermöglichte auch eine nur selektive und zugleich sparsame Staatsintervention. Abgesehen von einigen Sektoren, wie vor allem von der Landwirtschaft. gehen die wirtschaftspolitischen Interventionen des Staates wesentlich weniger weit, als das in der Bundesrepublik der Fall ist. Zum einen deshalb. weil das liberale Paradigma der Politik in der Schweiz nach wie vor noch dominant ist; zum anderen. weil sich kleine Volkswirtschaften offensichtlich leichter steuern und verwalten lassen; schließlich. weil die staatliche Ressourcenknappheit, aber auch die Abwesenheit von großen inneren Krisen und äußeren Kriegen der Staatsintervention immer schon Grenzen gesetzt hat.

Der Sozialstaat Schweiz ist z. B. lange Zeit langsamer ausgebaut worden, weil sich der Staat zur Aufbringung der entsprechenden Mittel außerstande erklärt hat. Auch deshalb sind Staatsquote und Steuerlasten in der Schweiz geringer als in den Nachbarländern. Was die Landesverteidigung angeht, so ist dieses Thema für die schweizerische Politik weitgehend tabu, weil die diesbezüglichen Aufwendungen recht hoch sind. So beanspruchte sie vor der Zeit des großen Wachstums immerhin 37% der Gesamtausgaben des Bundes, und heute liegt die Zahl bei 20 %. Wie stark ein kleines Gemeinwesen seine Mitglieder in Anspruch nimmt, kann überdies an der Tatsache abgelesen werden, daß hier ziemlich ausnahmslos eine allgemeine Wehrpflicht für Männer gilt und daß jeder Schweizer bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr zivilschutzdienstpflichtig ist. Man hat errechnet, daß in der Schweiz von insgesamt rund 425 000 Wehrpflichtigen pro Jahr rund 13 Mio. Diensttage abgeleistet werden müssen, so daß pro Tag 36 000 Männer Militärdienst leisten, wobei die außerdienstlichen Aufwendungen des milizmäßigen Offizierskaders noch gar nicht mitberechnet sind. Dieser Sachverhalt gehört zu dem, was als selektive Staatsintervention des Kleinstaates bezeichnet worden ist. Nur am Rande sei vermerkt, daß mit solchen kleinstaatlichen Selektionszwängen besondere Konfliktquellen und Legitimationsbedürfnisse verbunden sind, obwohl die Politik dank der wirtschaftlichen Verhältnisse im Ganzen konkordanzmäßiger abläuft. Andererseits bedingen Größenwachstum und Erfolg der schweizerischen Wirtschaft für die Innenpolitik nicht nur Erleichterungen, sondern — je länger, desto mehr — auch eine ganze Menge von Folgeproblemen und Belastungen. Hierzu gehört die Tatsache, daß die Einwohnerzahl dieses Klein-staates, der im Gegensatz zur Bundesrepublik nur einen sehr begrenzten Teri seines kleinen, alpinen Territoriums nutzen kann, in der Zeit von 1950 bis 1980 um immerhin 35 % auf 6, 3 Millionen Einwohner zugenommen hat. Ein großer Teil der in der obigen Agenda aufgeführten Probleme hat ihre Wurzeln in den Disproportionen des kleinen Territoriums zur groß gewordenen Wirtschaft. So macht die überintensive Nutzung des Staatsgebietes mit ihren katastrophalen Folgen für Natur und Umwelt immer neue und dichtere staatliche Regulierungen notwendig. Hinzu kommt, daß Immissionen wie Lärm, aber auch etwa die landwirtschaftlich bedingten Geruchsimmissionen, in den engen Regionen spürbarer werden. So gibt es in der Schweiz keine Standortentscheide über größere Einrichtungen wie Autobahnen. Eisenbahnen. Kernkraftwerke, militärische Anlagen oder Entsorgungseinrichtun-B gen usw. mehr, die konfliktlos ablaufen. Die damit notwendig werdenden staatlichen Regulierungen erhöhen den Legitimationsbedarf in einem Land. das dem Freiheitswert in seiner politischen Kultur einen besonderen Rang zugewiesen hat. in außerordentlicher Weise.

II. Verfahrensweisen der politischen Willensbildung

Ohne einige Hinweise auf die Prozeduren der politischen Willensbildung können die materiellen Politikergebnisse nicht wirklichkeitsgerecht vermittelt werden. Die Dominanz des liberalen und interventionsscheuen Paradigmas ist schon erwähnt worden. Neben den USA und Japan zählt die Schweiz zu jenen Staaten, in denen die Politik vorwiegend von liberalen Kräften geführt und bestimmt wird. Unterstützt wird dieser Weg durch einen anti-etatistischen Reflex, der für die politische Kultur des Kleinstaates spezifisch ist und der sich daraus erklärt. daß in kleinen Verhältnissen die Handlungsspielräume enger sind und daß das Kollektiv den einzelnen stärker in Anspruch nimmt, was dann jene Bedürfnisse nach Freiräumen und nach der Abwehr von Staatseingriffen entstehen läßt. Das gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat, sondern auch für jenes zwischen den föderalistischen Gebietskörperschaften, vor allem aber für den Widerstand gegen die Bundesintervention.

Trotz der wirtschaftlichen Prosperität und trotz einer relativ ausgeprägten Homogenität der politischen Wertestruktur ist das Konfliktpotential und damit der Konsensbedarf der schweizerischen Politik auch verfahrensbedingt vergleichsweise hoch. Das hat zur Folge, daß die schweizerische Politik nicht im Duktus von großen Entwürfen und Wenden. sondern immer nur schrittweise, mühsam und auf dem Wege von Kompromissen erfolgt. Aber man wird sagen dürfen, daß sie in vielen Gebieten mit ihrem kontinuierlichen Inkrementalismus zu keinen schlechteren Ergebnissen gekommen ist. als in Ländern, wo der politische Prozeß in kompetitiver Weise abläuft. Von Natur aus konfliktiver und damit schwieriger ist die schweizerische Politik aus Gründen der Knappheit von Ressourcen, die den meist kleinen Kantonen den Vollzug neuer Bundespolitiken sehr schwer macht, aber auch deshalb, weil in kleinen Verhältnissen Privates und Öffentliches. Wirtschaftliches und Politisches stärker miteinander verflochten sind, was Konflikte leichter in andere Bereiche überspringen läßt. Solche Formen der kleinheitsbedingten Konflikteskalationen zeigen sich vor allem auch bei den zahlreichen Standortkonflikten; die sporadisch auftretenden Jugend-konflikte haben hierin ebenfalls eine ihrer Wurzeln. Andererseits gehören Hinweise auf die besonderen Vollzugsprobleme kleiner Verwaltungen auch in den Zusammenhang eines solchen Berichtes. So hatte beispielsweise die Bundesregierung im De-zember 1984 für 21 Kantone die Frist für die Einreichung von Richtplänen zur Raumordnung verlängert. eine Frist, die im Frühjahr 1987 von nicht weniger als 13 jener 21 Kantone gleichwohl nicht eingehalten worden ist.

Des weiteren sind jene Zwänge zu Konsens und Kompromiß in der Schweiz aus Gründen der strukturellen Eigenschaften des politischen Systems hoch. Da gilt es zunächst die Tatsache zu vermerken. daß der schweizerische Bundesstaat, trotz seiner Kleinheit, mit seinen 26 Kantonen und seinen Sprachverschiedenheiten stark pluralistisch ist. In der Schweiz haben die Kantone das historisch-politische Erstgeburtsrecht, außerdem sind sie aus geschichtlichen und größenmäßigen Bedingungen recht verschieden. So bedarf es zumeist langer Verfahren der Koordination und der Verständigung, bis sich in diesem föderalistischen Konzept bundesweit Mehrheiten finden lassen. Hinzu kommt dann vor allem das Element der direkten Demokratie, die ja grundsätzlich allen Stimmberechtigten Mittel der Einflußnahme, der Opposition und der Interessenartikulation an die Hand gibt. Je größer die Anzahl der Entscheidungsbeteiligten, desto größer ist auch der Bedarf an Konsens, an Kompromiß und an Verhandlungen, wenn es überhaupt zu mehrheitlichen Problemlösungen kommen soll. Es gibt in der direkten Demokratie ja auch keine Parlamentsmehrheit. die ihren Willen verbindlich durchsetzen kann, denn in der Schweiz unterliegen alle Gesetzesänderungen und Bundesbeschlüsse einer fakultativen nachträglichen Volksabstimmung. Wenn also Opponenten 50 000 Unterschriften zusammenbringen. kann jedes Bundesgesetz binnen 90 Tagen nach dem entsprechenden Parlamentsbeschluß zur Volksabstimmung gebracht werden.

Das hat zur Folge, daß die Parteien, die Verbände und Fraktionen so lange verhandeln müssen, bis mehrheitsfähige Kompromisse gefunden sind, die durch ein Referendum nicht mehr gefährdet werden können. Politik ist in einer direkten Demokratie deshalb nur schrittweise möglich — mit anderen Worten: So wie die Dinge in der Schweiz liegen, hat sich die direkte Demokratie bisher vorwiegend konservativ ausgewirkt. Hinzu kommt, daß es in der Schweiz ein voll ausdifferenziertes Zweikammersystem gibt — was die politischen Entscheidungsverfahren ebenfalls verlängert —. und daß das Verhältnis von Parlament und Regierung nach dem Muster der Verhältnisse in den USA ausgebildet ist. Das heißt, daß die Bundesregierung für ihre Politik und für ihre Gesetzesvorschläge im Parlament oft keine Mehrheit bekommt, was aber folgenlos bleibt, weil die schweizerische Regierung weder gestürzt, noch das Parlament aufgelöst werden kann. Zum Verständnis der schweizerischen Politik sind schließlich jene Eigenheiten zu erwähnen. die hierzulande mit dem Begriff der Konkordanzdemokratie erfaßt werden. Konkordanzdemokratie heißt verfahrensmäßig, daß alle großen Parteien auf Dauer gemeinsam regieren, ohne durch einen Koalitionsvertrag aufeinander verpflichtet zu sein. Die Beteiligungsrollen in diesem Konkordanzbündnis sind nur auf einem geringen Niveau institutionalisiert, so daß keine Partei die andere zu etwas zwingen kann, und daß auch Regierungsparteien partiell Opposition betreiben können. Das muß man wissen, wenn man verstehen will, daß die schweizerischen Parteistärkenverhältnisse stabil bleiben, obwohl die großen Parteien seit eh und je an der Macht sind.

So ist der Freisinn seit 1848 im Bund ununterbrochen an der Regierung, die Christlichdemokraten seit 1891 und die Sozialdemokraten im Rahmen dieses Prozesses der Machtteilhabe seit immerhin einem Vierteljahrhundert. Inhaltlich bedeutet Konkordanzdemokratie. daß man sich mehr im Wege von Verhandlungen. Kompromissen und Vereinbarungen verständigt, als daß man sich im Kampf um Mehrheiten auseinandersetzt. Aber auch diese inhaltliche Verständigung kann oftmals auf einem relativ niedrigen Niveau der Institutionalisierung erfolgen. wie sich an einem aktuellen Beispiel zeigen läßt: Am 6. Dezember 1987 fand eine eidgenössische Volksabstimmung über eine Revision des Krankenversicherungsgesetzes statt. Dabei ist der Ausbau der Mutterschaftsversicherung kontrovers und zum Anlaß des Referendums geworden. Immerhin hatte die Bundesverfassung seit 1945 die Einführung einer obligatorischen Mutterschaftsversicherung vorgesehen. Dieser Verfassungsauftrag wurde aber nicht erfüllt, so daß 1980 eine Volksinitiative zur Schaffung einer Mutterschaftsversicherung lanciert wurde. Der Bundesrat versprach den Initianten, ihrem Begehren bei der laufenden Revision des Krankenversicherungsgesetzes Rechnung zu tragen, worauf jene ihr Volksbegehren zurückzogen. was man auch als „indirekten Gegenvorschlag“ der Behörden gegen Volksinitiativen bezeichnet. Inzwischen hat das Parlament eine entsprechende Gesetzesvorlage verabschiedet, gegen welche dann aber der Gewerbeverband das Referendum ergriff, bzw. mit 50 000 gesammelten gültigen Unterschriften eine Volksabstimmung verlangte. In dem Referendum am 6. Dezember wurde die Mutterschaftsversicherung abgelehnt, weil sie durch Lohnabzüge finanziert werden sollte.

In Meinungsbildungskampagnen zu Sachplebisziten muß oft in grellen Farben gemalt werden, um die Stimmberechtigten für einen Umengang zu mobilisieren. So definierten die einen die Vorlage als wohltätige Versicherung, die anderen aber als schädliche Lohnsteuer. Bezeichnend für jene nur gering institutionalisierte „Verfassung“ der Konkordanzdemokratie ist aber einmal mehr das Verhalten einiger Parteien. Sollte man eigentlich annehmen. daß die regierenden Parteien ihren eigenen Mehrheitsbeschluß dann auch im Volksabstimmungskampf vertreten und verteidigen, um die Regierung zu unterstützen, so ist dies nicht stets der Fall. Wohl hat z. B. die Delegiertenversammlung der Freisinnigen Partei als Landespartei für die Volksabstimmung die Ja-Parole ausgegeben (die Parteien sollen vor jeder Volksabstimmung Abstimmungsempfehlungen verabschieden), dennoch hat die Mehrzahl der kantonalen freisinnigen Parteien später eine Nein-Parole beschlossen. Das bedeutet, daß dieselbe Partei im Parlament eine Gesetzesvorlage unterstützt, in der Abstimmungskampagne aber dann doch nicht zur Sache steht, wenn der Druck von Wirtschaft und Gesellschaft groß wird. Im übrigen spiegelt dieser Vorgang auch die starke Dezentralisierung bzw. Kantonalisierung der schweizerischen Parteien wider. Spricht man etwa in der Bundesrepublik von einer Etatisierung und Zentralisierung der Parteien, so ist in der Schweiz ziemlich exakt das Gegenteil der Fall: Hier sind die Parteien wegen des Prinzips der Nebenamtlichkeit und des Fehlens einer staatlichen Parteienfinanzierung hochgradig vergesellschaftet, . verwirtschaftlicht* und an die Verbände zurückgebunden. Je größer und stärker die Wirtschaft und ihre Verbände geworden sind, desto abhängiger sind die Parteien in der Schweiz geworden; dies gilt vor allem für die bürgerlichen Parteien. Wie das Beispiel zeigt, versagen sie dann oft in ihrer Aggregationsfunktion, welche in der Schweiz deshalb stärker auf die Bundesregierung und die Bundesverwaltung übergegangen ist. Fazit: Solche Eigenheiten des politischen Betriebes muß man kennen, wenn jetzt die materiellen Politikergebnisse skizziert werden sollen. Es handelt sich dabei selten um große Entwürfe. sondern in aller Regel um die Produkte mühsamer und langwieriger, aber dennoch kontinuierlicher Verfahren der Anpassung der Politik an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse bzw.der politischen Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme.

III. Politik auf der Verfassungsebene

Politik ist in der Schweiz in viel stärkerem Ausmaß Verfassungspolitik, als das etwa in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Das hängt auch mit der historischen Struktur der schweizerischen Bundesverfassung, mit ihrer etwas anderen politischen Funktion und auch mit den Einrichtungen der direkten Demokratie zusammen. Vorweg zur politische Funktion: In einer traditionell gefestigten Demokratie, die über ein hohes Maß an traditionalen Legitimationskräften verfügt, kommt der Verfassung weniger die Funktion einer gesellschaftlichen Klammer bzw. einer politischen „Geschäftsgrundlage“ zu, wie das in der Bundesrepublik der Fall ist. Weil die Bundesverfassung der Schweiz aus dem vergangenen Jahrhundert (1848/1874) stammt und eine Schöpfung des damals progressiven Liberalismus darstellt, kommt ihr stärker die Funktion einer Abgrenzung gegen Staatseingriffe in die Gesellschaft zu. Aus diesem Grund und auch wegen der „ewigen“ Kompetenzkonflikte zwischen Bund und Kantonen sind verschiedene Dinge in der Verfassung sehr restriktiv geregelt, was dann laufend Begehren nach Verfassungsrevisionen auslöst. Bekanntlich gibt es in der Schweiz die Volksinitiative für eine Verfassungsrevision, das heißt, daß 100 000 Stimmberechtigte per Unterschrift eine Verfassungsänderungsvorlage verlangen können. Davon hat es seit Bestehen der Bundesverfassung weit über hundert gegeben, doch blieben sie meist erfolglos, weil eine Mehrheit für oft recht partielle Revisionsforderungen nicht zu haben war.

Dies ist deshalb nicht unproblematisch, weil Erwartungen, welche die direkte Demokratie mit ihren besonderen Beteiligungsmöglichkeiten weckt, immer auch wieder enttäuscht werden. Zum anderen verzögert diese Doppelspurigkeit den Prozeß der politischen Willensbildung oft sehr stark, weil man meist jahrelang auf eine Verfassungsänderung warten muß. Schließlich gibt diese Doppelgleisigkeit von Verfassungsebene und Gesetz immer wieder auch Verzögerungsaktionen Raum. So kann man neu auftauchende politische Problemlösungsforderungen zunächst einmal auf den Verfassungsweg verweisen und dort einer . Abkühlungsphase'aussetzen. Oft bedarf es dann mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmende Anläufe, bis ein Verfassungsartikel zustande kommt. Ist es dann soweit, so kann man die gesetzgeberische Ausführung wiederum auf dem Referendumsweg bekämpfen. Es ist klar, daß solche Verfahrensumwege sowohl Legitimationskosten erzeugen wie auch in einem Zusammenhang mit der geringen Wahlbeteiligung stehen dürften. So ist in der Schweiz die Formel verbreitet, man gehe deshalb nicht an die Urnen, weil „die da oben ohnehin machen, was sie wollen“. Es würde zu weit führen, all die vielen Anläufe zu benennen, die es in der Schweiz braucht, bis die Verfassung in wichtigen Teilen verändert wird. So hat es 30 Jahre gedauert, bis ein Medien-Artikel der Verfassung zustandekam. Vor kurzem wurde ein Energie-Artikel abgelehnt, und nachdem die Kantone einer möglichen Neuauflage zugestimmt hatten, lehnten sie die Schaffung eines ausführenden Elektrizitätswirtschaftsgesetzes ab.

Ein aktuelles Beispiel vermag diesen Sachverhalt zu verdeutlichen: Am 6. Dezember dieses Jahres fand, nur wenige Wochen nach den nationalen Wahlen, ein eidgenössischer Urnengang statt, bei dem neben dem schon erwähnten Mutterschaftsversicherungsgesetz auch über eine plebiszitäre Verfassungsinitiative zum Schutz der Hochmoore (Moorlandschaften in Berggebieten) und Rothenthurms (Ortschaft im Kanton Schwyz) abgestimmt wurde. Dabei ging es um einen langen Streit über den Bau militärischer Anlagen am und teilweise im Moorgebiet jener Gemeinde. Nachdem alle anderen Widerspruchsmittel erschöpft waren, versuchten es die Umweltschützer und die betroffenen Bergbauem mit dem rückwirkenden Volksbegehren — mit Erfolg. Verfassungsplebiszite erhalten in der Schweiz anstelle der schwach ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit oft die Funktion der Streitschlichtung. Im Zusammenhang des soge-nannten Überfremdungsproblems ist dieses Mittel wiederholt eingesetzt worden, und gegenwärtig sind tatsächlich nicht weniger als 30 Volksbegehren auf Verfassungsrevision anhängig. Dabei geht es u. a. um die Herabsetzung des Rentenalters für Männer auf 62 und für Frauen auf 60 Jahre, um die Bekämpfung der Bodenspekulation, um die Verstärkung des Konsumentenschutzes, sogar um die Abschaffung der Armee, aber auch um die Wiedereinführung von Tempo 130 auf Autobahnen, um die Abschaffung der Autobahngebühren, um die Begrenzung der Einwanderung, um die Verhinderung von Autobahnbauten oder um die Reduzierung von Tierversuchen und vieles andere mehr: Alles Auseinandersetzungen, die erst auf der Verfassungsebene mit langen Wartefristen geführt werden müssen, ohne daß eine schnelle und direkte Wirkung erzielt werden kann.

Damit ist klar geworden, in welchem Ausmaß die politische Auseinandersetzung um neue politische Probleme und Interessenforderungen in der Schweiz auf die Verfassungsebene verlagert wird. In der folgenden Chronologie soll diese Entwicklung seit dem Jahre 1980 gezeigt werden. Zuvor erscheint aber noch eine Anmerkung zur politischen Wirksamkeit der Volksinitiative auf Verfassungsänderung als Instrument der Politikbeeinflussung erforderlich. Wirkungslos ist diese Einrichtung natürlich nicht, auch wenn sie praktisch in direkter Weise niemals zum Erfolg führt. Sie führt deshalb selten zu unmittelbaren Erfolgen, weil das politische System als Gegengewicht zu der leicht ergreifbaren Verfassungsänderungsinitiative eine hohe Mehrheitsschwelle eingebaut hat. So müssen einer Verfassungsänderung in der Schweiz neben der Mehrheit des Volkes („Volksmehr") auch die Mehrheit der Kantone („Ständemehr“) zustimmen, und beide Mehrheiten sind nur sehr schwer zu haben. Wenn eine Volksinitiative einen akzeptablen Teil enthält, so können die Behörden den Weg eines direkten oder indirekten Gegenvorschlages beschreiten. Direkter Gegenvorschlag heißt, daß das Parlament zusammen mit dem radikalen Volksbegehren eine moderierte Variante zur Abstimmung bringt, die oft auch Erfolg hat. Damit wird deutlich, daß solche Verfassungsabstimmungen nicht wirkungslos sind, sondern durchaus zu politischen Weichenstellungen führen, deren Auswirkungen aber nur langsam sichtbar werden. In vielen Fällen — wie etwa jenen der Gleichstellung von Mann und Frau, des Umweltschutzes oder der Raumplanung — kann es auch gar nicht anders sein.

Ein Blick auf die Politik durch Verfassungsänderungen seit 1980 zeigt, daß im Jahre 1980 Fragen der Landesversorgung und der Brotgetreideordnung (Getreidemonopol des Staates) sowie im Zuge von Sparmaßnahmen einige Bereiche der Aufgabenverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen neu geordnet wurden. Verfassungspolitisch von größerer Tragweite war das Jahr 1981. in welchem die Bundesverfassung (BV) durch einen Artikel über die Gleichstellung von Mann und Frau erweitert wurde. Diese Verfassungsänderung kam damals als Gegenvorschlag des Parlamentes zu einem Volksbegehren zustande, welches im Jahre 1976 eingereicht worden war. Hieß es in der alten, aus den Jahren 1848/1874 stammenden Verfassung noch, daß alle Schweizer vor dem Gesetz gleich seien und daß es in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse. keine Vorrechte des Ortes, der Geburt, der Familien oder der Personen gäbe, so sollte der neue Artikel 4 (BV) gemäß Volksbegehren die folgende Fassung erhalten: (1) Mann und Frau sind gleichberechtigt; (2) Mann und Frau haben die gleichen Rechte und Pflichten; (3) Mann und Frau haben Anspruch auf Gleichbehandlung und Chancen-gleichheit in Erziehung. Schul-und Berufsbildung sowie bei Anstellung und Berufsausübung. Außerdem sollte diesem Artikel die folgende Übergangsbestimmung beigegeben werden: „Innert 5 Jahren vom Inkrafttreten des Art. 4 an gerechnet sind die erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu erlassen. sowohl was die Beziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat als auch was die Beziehungen der einzelnen untereinander anbetrifft.“ Wie in der Schweiz üblich, eröffnete der Bundesrat (Bundesregierung) über dieses Volksbegehren ein Anhörungsverfahren. das viel Zustimmung erbrachte, in dieser massiven Form den Kantonen aber als undurchführbar erschien und von den Wirtschaftsverbänden ganz abgelehnt wurde. Bundesrat und Bundesparlament traten deshalb mit einem Gegenvorschlag vor das Volk, der in der Volksabstimmung des Jahres 1981 eine zustimmende Mehrheit fand. In diesem Gegenvorschlag heißt es: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für die Gleichstellung vor allem in Familie. Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.“

In bezug auf das Thema dieses Beitrages darf festgestellt werden, daß die wachsende Gleichberechtigung der Frauen in der schweizerischen Gesellschaft zu den wichtigen Entwicklungen der eidgenössischen Politik der letzten Jahre gehört. In allen schweizerischen Regierungen gibt es inzwischen Frauen, und da schweizerische Regierungskollegien durchwegs klein sind, ist der Anteil der Frauen größer, auch wenn sie nur ein Ressort besetzen können. Im siebenköpfigen schweizerischen Bundesrat sitzt inzwischen eine Frau als Justizministerin und somit ist der Regierungsanteil der Schweizer Frauen relativ durchaus größer als jener der Deutschen. Bei den vergangenen Parlamentswahlen konnten die Frauen 28 der 200 Sitze im Nationalrat besetzen, und derzeit sind 40% der Studierenden an der Universität Zürich weiblichen Geschlechtes. Im gleichen Jahre 1981 fand eine weitere Verfassungsabstimmung statt. Da es Bund und Kantone bisher nicht zu einer definitiven Finanzordnung (Finanzverfassung) gebracht haben und sich immer nur auf ein befristetes Provisorium einigen konnten. war in jenem Jahre wieder einmal eine Verlängerung des Provisoriums fällig. Hierbei kann angemerkt werden, daß das Schweizer Volk seit 1950 bereits über 30 Mal allein über eidgenössische Finanzfragen abgestimmt hat.

Im Jahre 1982 kam es als große Ausnahme und gegen den Willen der Behörden zur Annahme eines Volksbegehrens, durch welches die Schaffung eines eidgenössischen Preisüberwachers gefordert wurde. Im Rahmen der Konsumentenpolitik hat das Parlament inzwischen ein Konsumentenschutzgesetz verabschiedet, in welchem die Kompetenzen des vom Volk geforderten Preisüberwachers aber derart massiv beschnitten bzw. eng definiert wurden. daß die welschen Konsumentenverbände bereits ein neues Volksbegehren lanciert haben. Von größerer Tragweite war in jenem Jahr allerdings das Scheitern eines Energie-Artikels für die Bundesverfassung. mit welchem der Bundesrat zum einen einigen radikalen Energieinitiativen entgegenwirken, zum anderen ein Instrumentarium für Energiesparmaßnahmen und für entsprechende Forschungsförderungen schaffen wollte. Die Verfassungsvorlage scheiterte in der Volksabstimmung, weil trotz der Mehrheit des Volkes keine Mehrheit der Kantone zustande kam. Im gleichen Jahr kam es außerdem zu einer verfassungsrechtlichen Modifikation des Einbürgerungsrechtes.

War das Jahre 1983 verfassungspolitisch vergleichsweise ruhig, so sah es 1984 wiederum ganz anders aus. An insgesamt vier Abstimmungssonntagen im Februar, Mai. September und im Dezember wurde über zehn Verfassungsänderungsbegehren entschieden: Im Februar 1984 wurde über eine Kompetenz des Bundes zur Erhebung einer Schwerverkehrssteuer und einer Autobahngebühr abgestimmt. Beide Vorlagen wurden angenommen, wogegen eine Volksinitiative (genau genommen müßte man Gruppeninitiative sagen) zur Schaffung eines Zivildienstes für Militärdienstverweigerer erneut abgelehnt wurde. Im Mai 1984 wurde dann eine sozialdemokratische Bankeninitiative und eine Initiative gegen den Ausverkauf der Heimat (Verbot des Grundstücksverkaufes an Ausländer) verworfen. Im September standen zwei energiepolitische Vorlagen, nämlich ein Verbot für den weiteren Bau von Atomkraftwerken und ein Verbot zur Erneuerung bestehender AKWs (beide erfolglos) zur Entscheidung an. Im Dezember schließlich ging es um die Schaffung eines Medien-Artikels in der Bundesverfassung, um eine Mutterschaftsversicherungs-Initiative und um ein Volksbegehren, das eine staatliche Entschädigung für Opfer von Gewaltverbrechen verlangte.

Auch im Jahre 1985 kam es zu vier Abstimmungsterminen. an denen Bundesverfassungsfragen zur Entscheidung anstanden. Das große Thema war dabei die negativ entschiedene Frage eines Beitrittes der Schweiz zur UNO. auf die im anschließenden Kapitel etwas näher eingegangen werden soll. Darüber hinaus ging es um kleinere Vorlagen im Zusammenhang einer teilweisen Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen, um eine bundesrechtliche Vereinheitlichung des Schuljahresbeginns. über den sich die Kantone schon jahrzehntelang gestritten hatten. Mit einer Volksinitiative für ein Recht auf Leben wurde die höchst kontroverse Frage der Schwangerschaftsunterbrechung erneut zum Gegenstand eines Volksentscheides.

Die Initianten wollten mit ihrem Vorstoß eine Fristenlösung verhindern; sie scheiterten aber damit, weil es weder für die eine noch für die andere Lösung Mehrheiten gab.

An Volksabstimmungen über Verfassungsfragen ragte im Jahre 1986 die Auseinandersetzung über die Schaffung eines Kultur-Artikels der Bundesverfassung heraus. Kulturfragen sind im Rahmen des schweizerischen Föderalismus — ähnlich wie in der Bundesrepublik — Angelegenheiten der Kantone. Da aber die meisten Kantone sehr klein sind, kommen speziellere Kulturbedürfnisse dort oft zu kurz. Aus dieser Erfahrung heraus lancierten Künstler-kreise ein Volksbegehren, mit dem verlangt wurde, daß der Bund mehr Verantwortung für die Kultur zu übernehmen und jährlich ein Prozent seiner Ausgaben für Kulturzwecke zur Verfügung zu stellen habe. Das Parlament stand einem Kompetenzartikel positiv, der verfassungsrechtlichen Festschreibung eines Kulturprozentes aber negativ gegenüber. Aus diesem Grund legte es einen sogenannten Gegenentwurfvor. Da die wenig kompromißfähigen Initianten ihr Begehren zugunsten des Gegenvorschlages jedoch nicht zurückziehen wollten, kam es zu einer Doppelabstimmung, in der dann sogar beide Vorlagen verworfen wurden. Damals konnte man zweimal mit Nein, aber noch nicht wie heute auch zweimal mit Ja stimmen. Durch eine Verfassungsänderung im Jahre 1987 wurde jener Zustand so verändert, daß heute sowohl der Initiative wie dem allfälligen Gegenentwurf der Behörden zugestimmt werden kann.

Mit diesen Beispielen aus den Jahren 1980 bis 1987 ist deutlich geworden, wie stark sich die Politikgestaltung in der Schweiz auf der Ebene der Verfassungswillensbildung abspielt. In den sieben Jahren des genannten Zeitraums hat der schweizerische Souverän, das Volk, in rund 20 Urnengängen über 43 Verfassungsfragen abgestimmt. Die meisten Abstimmungen resultierten aus Volksbegehren und sie gingen negativ aus.dennoch kam es in manchen Fragen zu bedeutenden indirekten Weichenstellungen.

IV. Staatspolitische Entwicklungen seit 1980

Unter staatspolitischen Entwicklungen sollen Veränderungen verstanden werden, welche die politische Ordnung im engeren Sinne zum Gegenstand haben. Hier standen drei Fragenkomplexe im Vordergrund. nämlich erstens die Frage einer Totalrevision der Bundesverfassung, zweitens der schon erwähnte UNO-Beitritt und neuerdings die Frage der zukünftigen Ausgestaltung des Verhältnisses der Schweiz zur EG sowie drittens Auseinandersetzungen über den Ausbau der direkten Demokratie.

Darüber hinaus hat es auch einen Versuch zu einer Parlamentsreform gegeben, weil das traditionelle schweizerische Nebenamtsparlament immer mehr Mühe hat. mit seiner Aufgabenlast fertig zu werden. Doch hier ist der Reformspielraum sehr gering. weil niemand zu einem Berufsparlament übergehen will.

Obwohl oder gerade weil, wie eben gezeigt, die schweizerische Bundesverfassung sehr häufig geän17 dert wird, steht seit bald 25 Jahren die Frage einer Totalrevision der Bundesverfassung auf der politischen Tagesordnung. An der Vorbereitung dieser Revision arbeiteten zwei Expertenkommissionen, woraus schließlich ein Verfassungsentwurf hervorging.der den liberalen und konservativen Kräften dann aber als zu etatistisch und zu zentralistisch erschien. Da das Parlament in den sechziger Jahren einen entsprechenden Auftrag erteilt hatte, war der Bundesrat mehr nolens als volens zur Vorbereitung einer entsprechenden Vorlage gezwungen. Nun liegt der Ball wieder beim Parlament, das sich insofern in einer Zwangslage befindet, als man zum einen das Verfahren nach den zahlreichen Versprechungen ohne Legitimitätsverlust nicht mehr abbrechen kann, zum anderen aber auch niemand so recht weiß, was man an der Verfassung in Hinsicht auf eine Totalrevision verändern soll und kann. Die Behördenorganisation des Bundes stellt heute als geschichtlich gewachsene Struktur und als ein aus verschiedenen Organisationsprinzipien zusammengesetztes Gefüge eine sehr komplexe Einheit dar, die kaum größere Eingriffe verträgt, weil natürlich der Ausbau des direktdemokratischen Elementes zwangsläufig auf Kosten des Föderalismus und des schweizerischen Halbparlamentarismus gehen würde. Eine Ausweitung der Bundeskompetenzen bzw.des Staates will derzeit auch niemand, zumal diesbezüglich ja ohnehin etwa dreißig Verfassungsinitiativen ins Haus stehen. Somit stellt man sich jetzt eine „sanfte Totalrevision“ vor. durch die der Verfassungstext ergänzt, „nachgeführt“, systematisiert und besser lesbar gemacht werden soll.

Größere Aktualität gewinnen in der Schweiz ganz offensichtlich die Außenbeziehungen. Vor allem in verkehrspolitischen Fragen hat es Schwierigkeiten mit den Nachbarstaaten — der Bundesrepublik, mit Italien und mit Frankreich — gegeben („Lastwagenkrieg“). weil auf schweizerischen Straßen Lastwagen nicht mehr mit 38 sondern nur noch mit 28 Tonnen Gesamtgewicht befahren werden dürfen. So fragt man sich heute, wie die Beziehungen zur EG in nicht allzu ferner Zukunft ausgestaltet werden sollen. Bekanntlich hat das Schweizer Volk am 16. März 1986 einen Beitritt bzw. einen Vollbeitritt der Schweiz zur UNO massiv, nämlich mit 1. 5 Millionen Nein-Stimmen gegen nur 0. 5 Millionen Ja-Stimmen abgelehnt. Kein einziger Kanton, auch kein welscher, stimmte einem Beitritt zu. Sogar der Kanton Genf, der selbst zahlreiche UN-Organisationen beherbergt, lehnte einen Vollbeitritt mit 60 666 Nein-Stimmen gegen 26 464 Ja-Stimmen ab. Zur Deutung dieses Ergebnisses muß man wissen, daß die Schweiz, obgleich ein neutrales Land, in außerordentlich intensiver Weise in das internationale System integriert ist. So ist die Schweiz Mitglied praktisch aller Unterorganisationen der UNO. die ja mit wichtigen Teilen in der Verhandlungsstadt Genf ansässig ist. Darüber hinaus sind die schweizerische Wirtschaft, ihr Dienstleistungsangebot und auch der Tourismus außerordentlich stark internationalisiert. Schließlich sind rund eine Million der 6, 3 Millionen Einwohner Ausländer, pro Jahr überqueren 50 Millionen Autos mit ausländischen Kennzeichen die Landesgrenzen. und das gesamte Staatsgebiet wird von zahlreichen ausländischen elektronischen Medien überstrahlt. Wahrscheinlich führen derart intensive Außenverflechtungen im Kleinstaat zu Befürchtungen um die eigene Identität, zu einer „Igelmentalität“ und zu Bedrohungsängsten gegenüber der gewiß erfolgreichen, dennoch aber stark mythologisierten Neutralität; zu einem politischen Stimmungsgemisch. welches dann, von einer nicht gerade wählerischen Abstimmungspropaganda angetrieben, zu jenem Verdikt gegen den UNO-Vollbeitritt führte.

Obwohl die Stimm-und Wahlbeteiligungen in der Schweiz vergleichsweise niedrig sind (bei den vergangenen Parlamentswahlen gingen nur durchschnittlich 46. 5 % der Berechtigten an die Urnen), zählt die Frage eines weiteren Ausbaues der direkten Demokratie zu einem der Kemthemen der staatspolitischen Diskussion: Mit der Durchsetzung des schon erwähnten doppelten Ja bei Verfassungsänderungen wurde hierzu 1986 wiederum ein Schritt getan. Offen ist die Frage der Einführung der Gesetzesinitiative im Bund, welche von sozialdemokratischer Seite gewünscht wird, obwohl die Linke bei Plebisziten wegen der geringeren Mobilisierbarkeit der Arbeiterschaft und wegen ihres Defizites an publizistischem Potential fast regelmäßig unterliegt. Während der vergangenen Jahre ist außerdem immer wieder der Versuch gemacht worden. hoch kontroverse Fragen — wie jene des Baues von Atomkraftwerken, der Linienführung von Autobahnen und Ausländerprobleme — dem Referendum zu unterstellen. Im Frühjahr 1987 fand eine eidgenössische Volksabstimmung über ein so-genanntes Rüstungskreditreferendum statt. Während in den Gemeinden und Kantonen das Kreditbeschlußreferendum von großem Gewicht ist. existiert ein solches Finanzreferendum auf der Bundesebene nicht. Jene von linken Kräften lancierte und später als Anschlag auf die Armee umetikettierte Vorlage über ein Rüstungsreferendum wurde indessen mit 713 900 Ja-(40. 6%) gegen 1 045 995 Nein-Stimmen (59. 4%) abgelehnt. Bei der laufenden Debatte über eine Revision des Atomgesetzes ist immerhin ein fakultatives Referendum für Kemkraftwerksbewilligungen im Gespräch. Hinter solchen Versuchen für eine Ausweitung der direkten Demokratie stehen zumeist die politischen Einflußerwartungen von außerparlamentarischen Gruppen, die sich aber nur selten erfüllen. weil die hohen Meinungsbildungskosten der wachsenden Anzahl immer komplizierter werdender Volksabstimmungen letztlich nur noch von den finanzstarken Wirtschaftsverbänden aufgebracht werden können. Des öfteren unterstützen auch die Sozialdemokraten solche Ausbauvorstöße, was insofern inkonsequent ist, als sie eher über den reprä-sentativen Weg der Konkordanzdemokratie als über plebiszitäre Aktionen zu ihrem Regierungsanteil kommen und gekommen sind.

V. Politik durch Gesetze und Verordnungen

Im nächsten und abschließenden Schritt dieses Berichtes geht es darum, auf der Grundlage von Gesetzen und Verordnungen genauer aufzuzeigen, welche Politik der Bund etwa seit dem Jahre 1980 betrieben hat. Dabei muß klar bleiben, daß auch Gesetze und Verordnungen keine zuverlässigen oder ausreichenden Indikatoren darstellen, da ja auch durch verweigerte oder nicht zustande gekommene Gesetze, die in der hier verwendeten Daten-grundlage gar nicht erfaßt sind. Politik gemacht wird. Die folgende Darstellung kann angesichts des Umfanges und der Kompliziertheit der Sachverhalte wiederum nur eine grobe chronologische Skizze sein, welcher die amtliche Sammlung schweizerischer Gesetze und Verordnungen zugrunde liegt. Obwohl rein quantitative Angaben nicht viel aussagen können, sei immerhin bemerkt, daß es sich bei dieser amtlichen Sammlung um einen Normenoutput handelt, der im Jahre 1980 477 laufende Nummern (Gesetze. Verordnungen. Bundesratsbeschlüsse. Departementsverordnungen. Reglemente, internationale Verträge und Vereinbarungen usw.) mit insgesamt 2 121 Druckseiten umfaßte. Im Jahre 1986 waren es 401 laufende Nummern von Beschlüssen im Umfang von 2 534 Druckseiten. Dabei nehmen die Fragen der Außenbeziehungen (Verträge. Abkommen. Briefwechsel. Außenwirtschaftsregelungen) den zahlenmäßig größten Anteil an. Es folgt die Landwirtschaft. welche in der Schweiz eine hochintensive Regelung durch den Staat erfährt.

Schaut man sich die wichtigsten Gesetze dieser ersten Hälfte der achtziger Jahre an, so ergibt sich daraus folgendes Bild über die Politik des Bundes: Im Jahre 1980 standen Sparanstrengungen auf der politischen Tagesordnung; das Parlament setzte einen Beschluß durch, mit welchem alle Bundessubventionen. wichtige Ausnahmen ausgenommen, um 10% gekürzt wurden. Um Vergleiche zu erleichtern, sei noch angefügt, daß der Bund bzw.der Zentralstaat für das Jahr 1981 einen Haushaltsvoranschlag beschloß, der mit 17. 2 Mrd. Franken Ausgaben und 16, 1 Mrd. Einnahmen rechnete. Inzwischen hat die gute Wirtschaftslage dazu geführt, daß die Eidgenossenschaft im vergangenen und im laufenden Jahr sogar mit erheblichen Überschüssen abschloß. Unterverkehrspolitischen Gesichtspunkten ist für das Jahr 1980 erwähnenswert, daß damals die Anschnallpflicht verabschiedet und die Schwerverkehrsabgabe ins Parlament eingebracht wurde.

Im Jahre 1981 stand mit der Novellierung des Ausländergesetzes eine der großen Streitfragen der schweizerischen Innenpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte zur Entscheidung an. Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung war in der Schweiz schon immer recht hoch; er betrug beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges beispielsweise 15, 4%. Im Gefolge der Nachkriegskonjunktur nach 1945 stieg die Ausländerzahl von 6. 1% im Jahre 1950 auf 16, 8 (1065000) im Jahre 1974. Der vorübergehend auch in der Bundesrepublik Deutschland als Journalist wirkende Schweizer James Schwarzenbach setzte sich während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an die Spitze jener politischen Protestbewegung, welche die sogenannten Überfremdungsprobleme thematisierte. Diese führte auch zu einer ganzen Reihe dramatischer Sachplebiszite (Verfassungsänderungsinitiativen), mit welchen ausländerprohibitive Bestimmungen in die Bundesverfassung aufgenommen werden sollten. Außerdem gründete Schwarzenbach eine rechtskonservative Republikanische Partei, deren rechter Flügel heute noch als Partei der Nationalen Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat das rechte Ende des schweizerischen Parteien-systems besetzt hält. Als Bewegungspartei hat diese Rechte in einzelnen dicht besiedelten Kantonen (Genf, Zürich, Basel Stadt) immer wieder einmal respektable Wähleranteile von etwa zehn Prozent der Stimmen erreichen können. Neuerdings hat diese rechtskonservative Partei auch Umweltthemen aufgegriffen. Bei den Wahlen im Oktober 1987 blieb sie mit nur drei (— 1) Sitzen im Nationalrat allerdings erfolglos. Gleichwohl hat sie mit Plebiszitdrohungen (Volksinitiativen und Referendums-begehren) nicht unerhebliche Erfolge erzielen können.

Im Zusammenhang mit der dritten Überfremdungsinitiative dieser Bewegung hatte 1974 das Parlament beschlossen, das Ausländergesetz von 1934 zu novellieren. Ziele dieser Gesetzesrevision waren erstens die Modernisierung des geltenden Rechtes, zweitens die Schaffung eines Instrumentariums für eine Ausländerpolitik, die ein „ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Bestand der schweizerischen und dem der ausländischen Wohnbevölkerung ermöglicht“ (Formulierung der Bundesregierung) und drittens eine Novellierung der Rechtsstellung der Ausländer. Jene dritte Überfremdungsinitiative aus dem Jahre 1972 verlangte eine Begrenzung des Anteiles der ausländischen Bevölkerung auf 500000, so daß ihre Zahl innerhalb von drei Jahren um 540000 hätte herabgesetzt werden müssen. Daraufreagierten die Behörden mit einer Verschärfung des Ausländerrechtes, was aber der Nationalen Aktion zu wenig weit ging und was andererseits der Wirtschaft (Arbeitskräftemangel) nicht paßte. So bedurfte es in der Schweizerischen Gewerbekammer (Verbandsparlament) sogar des Stichentscheides des Präsidenten, um ein Referendum zu verhindern. Trotz dieses ambivalenten Referendumswiderstandes — der immer wieder aus der Tatsache resultiert, daß Kompromisse den einen zu wenig weit, anderen aber viel zu weit gehen — wurde das Ausländergesetz in der Volksabstimmung angenommen.

Obwohl die Umweltthematik das Ausländerproblem allmählich auf die hinteren Positionen der politischen Tagesordnung verschob, kam es in den Jahren 1986 und 1987 wiederum zu erheblichen politischen Emotionen in der Ausländer-und Asylanten-Frage. Schon 1985 ging der Bundesrat wieder an eine Teilrevision des Asyl-und des Ausländergesetzes heran, mit welcher unter anderem das Instrument der Abschiebehaft für abgewiesene Asylanten gesetzlich festgeschrieben wurde. Gegen diese Verschärfung ergriffen dann Sozialdemokraten zusammen mit kirchlich und humanitär gestimmten Kreisen ein allerdings erfolgloses Referendum.

Das Bundesgesetz über die berufliche Alters-. Hinterlassenen-und Invalidenversicherung, die soge-nannte Zweite Säule, mit der die letzte große Lücke in der schweizerischen Sozialversicherung geschlossen wurde, markiert den großen sozialpolitischen Schritt des Jahres 1982. Die schweizerische Rentenversicherung beruht auf den sogenannten drei Säulen. nämlich auf der staatlichen Alters-und Hinterlassenenversicherung (AHV). die im Alter nur einen Teil der gewohnten Lebensweise deckt und für die die Arbeitnehmer und Arbeitgeber je rund 6 % der Lohnsumme aufbringen müssen; sodann aus der zweiten Säule, einer Zusatzversicherung aufder betrieblichen Ebene und schließlich auf dem individuellen Sparen. Im Vergleich zu Deutschland kam es in der Schweiz vergleichsweise spät zu einer allgemeinen Rentenversicherung, nämlich erst im Laufe der sechziger Jahre. Dann aber wurde dieses Sozialwerk sehr populär, so daß jetzt bereits über die 10. AHV-Revision beraten wird. Inzwischen ist es im Zusammenhang mit der Zweiten Säule zu erheblichen Implementationsschwierigkeiten gekommen. Weiterhin befürchtet man. daß das anwachsende Versicherungskapital immer stärker preistreibend auf dem schweizerischen Immobilienmarkt auftreten werde. Sozialpolitische Verbesserungen brachte das Jahr 1982 auch im Bereich der Arbeitslosenversicherung. Zur Beratung stand auch das in der Schweiz höchst komplexe Krankenversicherungsgesetz (KUVG) an. Da man sich aber nicht einigen konnte, beschloß man ein Sofortprogramm. worüber im Dezember 1987 in einer Volksabstimmung entschieden wurde. Dabei ging es einerseits um eine Kosteneindämmung und andererseits um einen Ausbau der Mutterschaftsversicherung. Eine Kosteneindämmung sollte durch eine Erhöhung des Eigenbeitrags der Versicherten von 10 auf 20% gefördert werden. Diese Doppelvorlage wurde insgesamt im Referendum abgelehnt, da die Kosten der Reform ausschließlich von den Arbeitnehmern bzw.den Versichterten hätten getragen werden müssen.

Neben diesen sozialpolitischen Themen standen im Jahre 1982 auch Verkehrsfragen an. welche inzwischen an politischer Priorität gewonnen haben. Obwohl der Eigenwirtschaftlichkeitsgrad der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) höher ist als jener der Deutschen Bundesbahn, fährt auch die SBB hohe Defizite ein. Mit einer gesetzlichen Präzisierung ihres Leistungsauftrages wurde 1982 ein erster Sanierungsschritt unternommen. Dieser für das Jahr 1987 vorgesehene Leistungsauftrag der SBB sah vor. daß der Bund den Aufwand für die Infrastruktur trägt, die Bahn aber zu einem marktwirtschaftlichen Leistungsangebot verpflichtet wird, mit dem sie ihre Betriebsaufwendungen selbst zu erwirtschaften vermag. Inzwischen haben die starken Umweltschäden, insbesondere auch das Waldsterben. das in den alpinen Gebieten besonders gefürchtet wird, die Postulate nach einer Förderung des öffentlichen Verkehrs weiter nach vorne gebracht. Ursprünglich gab es auch in der Schweiz Pläne, eine transhelvetische Schnellbahn nach dem Vorbild des französischen TGV zu bauen, die aber verworfen wurden. Inzwischen gibt es das Bahnprojekt 2000. das am 6. Dezember 1987 ebenfalls zur Volksabstimmung anstand und dem zugestimmt wurde. Dabei handelt es sich um ein Projekt der Eisenbahnen, diese bis zum Jahre 2000 mit rund 5. 4 Mrd. Franken so auszubauen, daß alle wichtigen Verkehrsknoten der Schweiz innerhalb einer Stunde erreicht werden und daß dort jeweils optimale Anschlüsse zur Verfügung stehen. Nicht einbezogen in dieses Projekt ist die ebenfalls zur Entscheidung anstehende Frage nach dem Bau einer neuen Alpentransversale, etwa in Form eines Basis-tunnels durch den Gotthard, der den ständig anwachsenden Straßengüterverkehr aufnehmen soll. Ins Bild dieser Verkehrspolitik gehört auch, daß die Schweiz auf Autobahnen eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km pro Stunde kennt, daß gegenwärtig im Großraum Zürich eine Art S-Bahnsystem im Bau ist und daß die SBB mit ihrem „Halbtaxeabonnement“ gute Erfolge erzielt haben. Mit diesem Abonnement kann sich jeder zum Preise von 100 Franken die Berechtigung erkaufen, das ganze Jahr über zur halben Taxe Eisenbahn zu fahren. Das wichtigste Gesetz des Jahres 1983 war das Umweltschutzgesetz. Mit großer Mehrheit hatten Volk und Stände schon 1971 beschlossen, der Verfassung einen Umweltschutz-Artikel hinzuzufügen. Die gesetzgeberische Ausführung dieser neuen Verfassungsbestimmung gestaltete sich dann aber äußerst langwierig und mühsam, zumal in den siebziger Jahren das Wald-und Bodensterben noch nicht publik war. Im Jahre 1979 leitete der Bundesrat dem Parlament dann einen Gesetzesentwurf zu. welches daraus ein abgeschwächtes Rahmengesetz formte, das 1983 fertiggestellt war und 1985 in Kraft treten konnte. Allerdings bedarf es zu dessen Vollzug rund eines Dutzends von Spezialverordnungen. Eine Lärmschutzverordnung und die Stoffverordnung sind im Jahre 1986 wirksam geworden. Auch in der Frage der Autoabgase hat sich die Schweiz inzwischen weitgehend den strengen US-Normen angeschlossen. Seit 1987 ist für die Neuzulassung von PKWs ein Katalysator obligatorisch. 1983 stand auch die Neuregelung der Haftpflicht im Atomrecht zur Entscheidung an. Medienpolitisch erwähnenswert ist für dieses Jahr die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen. welche Beanstandungen von Sendungen zu überprüfen hat. Ein Fernmeldegesetz, durch welches eine gewisse Liberalisierung des Medienbetriebes mit gleichzeitiger Schaffung eines geordneten Wettbewerbes erreicht werden soll, ist als Gesetz-entwurf mit einer Erläuterung des Bundesrates im Schweizerischen Bundesblatt vom 1. 12. 1987 veröffentlicht worden.

Zu den größeren gesetzgeberischen Maßnahmen des Jahres 1984 zählt eine das Ehegüterrecht und das Erbrecht betreffende Novellierung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, mit welcher auch dem Gebot der Gleichstellung der Frauen größerer Nachdruck verschafft werden sollte. Gegen diese Neuerung wurde schließlich von gewerblich-bäuerlicher Seite ein Referendum ergriffen, was zwar zu einer heftigen Auseinandersetzung, nicht aber zu einer Niederlage des Gesetzes führte. Von den insgesamt 22 Gesetzesrevisionen dieses Jahres sollen lediglich deren zwei näher erwähnt werden, weil sie für Gang und Stil der schweizerischen Politik in nicht geringem Maße bezeichnend sind: Da gab es eine Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes des Bundesparlamentes, mit welcher die zweijährige Berichterstattungspflicht des Bundesrates über den Verwirklichungsgrad der Richtlinien für die Regierungspolitik wieder abgeschafft wurde, weil sich die Mehrheit der Milizparlamentarier keine Zeit für eine derartige Aussprache mehr nehmen wollte. Die andere Vorlage, die sogenannte Innovationsrisikogarantie. stellte eine Novität dar. mit welcher die Bundesregierung kleineren und mittleren Unternehmen bei der Beschaffung von Krediten für die Herstellung innovativer Produkte und Dienstleistungen behilflich sein wollte. Überraschenderweise gelang es dann dem Wirtschaftsredakteur einer großen schweizerischen Zeitung, den Widerstand der konservativen Ordnungspolitiker gegen diesen „überflüssigen Staatseingriff“ zu mobilisieren und das Gesetz in einer Referendumsabstimmung zu Fall zu bringen. Politica helvetica non facit saltus — wie sich auch aus diesem Beispiel ersehen läßt.

Interessant und ebenfalls typisch für die Schweiz ist für 1985 die Novellierung des Bundesgesetzes über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte: Da die Wasserhoheit bei den Kantonen liegt, muß der Bund den Kantonen einen Wasserzins für die Herstellung jener elektrischen Energie bezahlen, die er für den Betrieb seiner Eisenbahnen benötigt. Solcher Wasserzins muß von Zeit zu Zeit angepaßt werden, und so heißt es im Art. 49 dieses Gesetzes, daß der Wasserzins des Bundes 1987 40 Franken, bis 1989 47 Franken und 54 Franken ab 1990 pro Kilowatt Bruttoleistung betrage. Gegenwärtig ist über die sogenannten Restwassermengen von Stauseen ein heftiger Konflikt entstanden, weil der Bund diesbezügliche Minimalregelungen aufstellen will, was die Kantone zu verhindern versuchen. Die Landwirtschaftspolitik führte in diesem Jahr zu zwei Gesetzen; zum einen zu einer Revision des Pachtrechtes, was bei der Knappheit an landwirtschaftlichem Boden in der Schweiz schwierig ist. und zum anderen zu einem sogenannten Milchbeschluß. Darin wurde die Strafabgabe für jene Bauern erhöht, welche mit ihrer Milchproduktion das ihnen zustehende Kontingent überschreiten. Diese Strafabgabe wurde mit diesem Beschluß auf 80 bis 85% des Milchgrundpreises erhöht. Schließlich brachte das Jahr 1985 eine weitere gesetzgeberische „Neuheit“, indem der Bund als Antwort auf ein Volksbegehren ein Gesetz über die Fuß-und Wanderwege erlassen mußte, mit welchem er den Kantonen die Planung und den Ausbau solcher Verkehrswege zur Pflicht machte.

Das Jahr 1986 brachte bereits wieder eine erneute Revision des Asylgesetzes, weil die Anzahl der Asylanten in den ersten zehn Monaten des Jahres auf über 8 000 angeschwollen war. weil als Folge von Vollzugsschwierigkeiten die Zahl der unerledigten Asylgesuche immer größer geworden war. und nicht zuletzt, weil man angesichts der Lage mit einem für das Ansehen der Schweiz möglicherweise peinlichen Volksbegehren rechnen mußte. Die Asylpolitik zählt ohnehin zu den wichtigen und heiklen Fragen der schweizerischen Innenpolitik, weil sich das neutrale Land seiner besonderen Verpflichtungen bewußt ist. weil es — wie die Bundesrepublik — offene Grenzen hat und zu den gefragten Zielländern gehört, aber auch, weil es wegen der Kleinheit der Verhältnisse besondere, politisch artikulierbare Überfremdungsängste gibt. So kam es zu einer gewissen Verschärfung des Gesetzes, gegen welche ein von vornherein erfolgloses Refe21 rendum ergriffen wurde. Des weiteren mußte in diesem Jahr das Atomgesetz erneut revidiert werden. um damit die Kontrollen über den Import, den Export sowie über den Transit entsprechender Technologien und Stoffe verschärfen zu können.

Erwähnenswert ist auch die Totalrevision des Bundesgesetzes über die Jagd und den Vogelschutz, durch welche das Jagdrecht den ökologischen Erfordernissen und den neuen internationalen Bestimmungen angepaßt wurde. Politisch äußerst hart umkämpft war die Revision des Kartellgesetzes, und dies deshalb, weil der schweizerische Binnenmarkt aus Gründen der großen Schutz-und Selbsterhaltungsbedürfnisse der kleinen Unternehmungen einerseits vergleichsweise stark kartellisiert ist und weil in der Schweiz andererseits aber das Prinzip der Handels-und Gewerbefreiheit hochgehalten wird. Für ein Referendum taugte eine derart komplexe Materie indessen nicht.

Das laufende Jahr 1987 war in der Schweiz ein Wahljahr, in welchem sich die Gesetzesproduktion eher verlangsamte. Da die Schweiz ja nicht nach dem Muster des Parteienwettbewerbs regiert wird, ist die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlamentes auch weniger stark auf die Zeiträume von Legislaturperioden hin ausgerichtet. Die Parlamentswahlen selbst haben, zwar auf einem geringerem Beteiligungsniveau. zu ähnlichen Ergebnissen geführt, wie die Bundestagswahlen vom Januar dieses Jahres. Auch in der Schweiz haben die grünen Parteien mit rund 2, 5% Stimmenzuwachs unter ihren Erwartungen abgeschnitten, und auch in der Schweiz hat die Streitfrage der Ökologie die bestehenden Stärkeverhältnisse des Parteiensystems nicht verändern können.

Im Nationalrat (analog dem Deutschen Bundestag) sieht die Sitzverteilung unter den Parteien wie folgt aus: Die Freisinnig Demokratische Partei (FDP) erreichte 50 (— 4) der insgesamt 200 Sitze, die CVP (Christlich Demokratische Volkspartei) 41 (-1), die SPS 41 (-6), die Schweiz. Volkspartei (ehemals Bauern-, Gewerbe-und Bürgerpartei) 27 (+ 4). die Migrospartei (Landesring der Unabhängigen) 8. die Grüne Partei der Schweiz 9 (+ 7), die neomarxistischen Progressiven (POCH) zusammen mit den linken Grünen 4 (+ 1). die Partei der Arbeit (Altkommunisten) 1. Demgegenüber sehen die Zahlenverhältnisse in der Zweiten Kammer (Ständerat. analog dem Deutschen Bundesrat) ganz anders aus: Dort delegiert jeder Kanton nur zwei Vertreter, so daß die CVP 19 Sitze (zahlreiche kleine innerschweizerische katholische Kantone) gewann, die SPS nur 5.der LdU 1 und der Rest von 21 ging an die FDP und die SVP. Auffallend ist. daß 23 der insgesamt 46 Mitglieder des Ständerates Juristen sind und diese Kammer (im Volksmund das „Stöckli“ genannt) als die vornehmere und konservativere Kammer gilt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Leonhard Neidhart. Dr. rer. pol., geb. 1934 in Ramsen (Kanton Schaffhausen); Studium der Soziologie und der Politischen Wissenschaft an der FU Berlin; Habilitation an der Universität Zürich. Professor für Politik-und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz; Privatdozent an der Universität Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des schweizerischen Regierungssystems, vor allem über die Einrichtungen der direkten Demokratie, der Parteien, des Föderalismus und der politischen Kommunikation. Gesamtdarstellung des schweizerischen Regierungssystems (im Erscheinen).