Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1945 bis 1987 | APuZ 3/1988 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 3/1988 Traditionen und Stationen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1987 Die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1945 bis 1987 Deutsch-sowjetische Beziehungen: Kontinuität und Wandel 1945 bis 1987 Deutschlandbilder — Akzentverlagerungen der deutschen Frage seit den siebziger Jahren

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1945 bis 1987

David R. Gress

/ 33 Minuten zu lesen

I. Einige Anmerkungen zur Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen haben schon seit 1945 zwischen zwei Polen geschwankt, die man durch die Begriffe Übereinstimmung und Entfremdung kennzeichnen kann. Vom Kriegsende 1945, dem Zustand totaler Entfremdung, entwikkelte sich das Verhältnis zu einer nahezu perfekten Harmonie in der Mitte der fünfziger Jahre. Die zweite Berlinkrise von 1958 bis 1961 verstärkte wieder etwas die Entfremdung, aber nach der Mitte der sechziger Jahre überwog wieder die Übereinstimmung. Den wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen. ausgelöst durch den Nahostkrieg 1973 und die erste Ölkrise, folgte wiederum eine Phase stärkerer Entfremdung, die in den späten siebziger Jahren bis zum NATO-Doppelbe-Schluß nur teilweise ausgeglichen werden konnte. Auch die achtziger Jahre sind durch das Pendeln zwischen Entfremdung und Übereinstimmung gekennzeichnet. Entfremdung bedeutet dabei nicht dasselbe wie Anti-Amerikanismus. Der Terminus drückt vielmehr die Auffassung aus. daß die deutschen (oder genauer: bundesdeutschen) Interessen nicht mit den Interessen und Zielvorstellungen der amerikanischen Politik übereinstimmen, daß die Bundesrepublik Deutschland Frieden und Sicherheit in anderen Richtungen suchen kann und muß als den von Washington vorgeschlagenen. Nach den Ursachen zu suchen, die die Schwankungen zwischen Übereinstimmung und Entfremdung bewirken, ist Thema der folgenden Ausführungen. 2. Die Schwankungen in den deutsch-amerikanischen Beziehungen änderten sich im Verlaufe der Zeit in dem Maße, wie sich die politische Kultur der Bundesrepublik ausdifferenzierte. Diese Ausdifferenzierung erfolgte auf der Ebene der Regierung und Verwaltung, in den Parteien und Verbänden, den Hochschulen, der „literarischen Republik“, den Medien, den Kirchen, den Gewerkschaften — kurz, in allen Bereichen der politischen Öffentlichkeit. 3. Die Bundesrepublik Deutschland wurde seit der Mitte der sechziger Jahre durch die mit den Studentenunruhen einhergehenden, beschleunigten kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt. die auch die Beziehungen und Einstellungen zu den Vereinigten Staaten beeinflußten ') Die bisherige Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland läßt sich in zwei beinahe gleichwertige Abschnitte einteilen: zwanzig Jahre Restauration und Neubeginn von 1945 bis ungefähr 1965 sowie zwanzig Jahre Pluralismus und weitverbreitete Ablehnung übernommener Werte, Tendenzen zu Anarchie, Radikalismus und sogar Terrorismus in der Zeit nach 1965. Dieser Umschwung auf zunächst kultureller Ebene bewirkte auch eine Ausdifferenzierung der sozialen und politischen Landschaft, die es ihrerseits immer schwieriger machte, von den deutsch-amerikanischen Beziehungen im allgemeinen zu sprechen.

Wie sieht die bundesdeutsche Öffentlichkeit die Ost-West-Beziehungen heute? Einer Meinungsumfrage vom Frühjahr 1987 zufolge glaubten 58 Prozent der Bundesbürger, daß die Bundesrepublik Deutschland gleich eng mit den Vereinigten Staaten wie mit der UdSSR zusammenarbeiten sollte. Nur 31 Prozent der Befragten meinten, daß sie sich enger mit den USA als mit der UdSSR verbinden sollte. Diese Frage nannten die Meinungsforscher die „Äquidistanzfrage“ — wobei Äquidistanz für die meisten keine Folge von Anti-Amerikanismus oder einer prosowjetischen Haltung war; großenteils aber ist sie gleichwohl eine Folge des gegenwärtigen Zustandes der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Außerdem meinten 74 Prozent, daß Michail Gorbatschow, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR, an einer durchgreifenden Reform der sowjetischen Wirtschaft und des politischen Systems „ernsthaft interessiert“ sei, während nur zehn Prozent an seiner Ernsthaftigkeit zweifelten. Die Befragten nahmen eindeutig an, daß eine solche Reform im westlichen Interesse liege und daß Gorbatschow eine Straffung des internen sowjetischen Machtsystems nicht primär im Hinblick auf eine wirksamere Außenpolitik beabsichtige. Schließlich glaubten 49 Prozent, daß Gorbatschow seine Friedensbeteuerungen ernst meine, während nur 46 Prozent dies von Ronald Reagan annahmen. Der sowjetische Partei-und Regierungschef erscheint einer Mehrheit der sich frei ausdrückenden Deutschen als eindeutig friedfertiger als der demokratisch gewählte amerikanische Präsident. Diese Meinung entbehrt nach meiner Auffassung jeder objektiven Grundlage; sie kann und muß Gründe haben, die mit dem Zustand der deutsch-amerikanischen Beziehungen, so, wie sie in der Öffentlichkeit gesehen werden, Zusammenhängen.

II. Vom Krieg zum Frieden: die Jahre 1945 bis 1955

Amerikaner wie Deutsche beendeten den Krieg in großer Unkenntnis derjeweils anderen Kultur. Fast alle Amerikaner, angefangen mit Präsident Roosevelt, verwechselten den NS-Staat und seine Ideologie mit deutschem Nationalismus und preußischem Militarismus; sie weigerten sich, zu erkennen, daß es einen deutschen Widerstand gab, der hauptsächlich aus preußischen Offizieren, Gewerkschaftsführern und Geistlichen bestand. Als amerikanische Truppen das Konzentrationslager Dachau befreiten, schien der Anblick der Greuel, der sich dort bot, die schlimmstmögliche Meinung über die Deutschen zu bestätigen. Die amerikanische Besatzungspolitik ging zunächst davon aus, daß die Deutschen ein besiegtes und kein befreites Volk waren, daß sie für ihre Verbrechen der Aggression und des Völkermordes bestraft werden mußten und die Amerikaner nur den notwendigsten Kontakt mit ihnen halten sollten, daß man schließlich ihnen die Leitung ihrer eigenen Angelegenheiten nicht anvertrauen könne, bevor man sie nicht einer weitreichenden, sorgfältigen Umerziehung unterworfen habe

Diese Voraussetzungen änderten sich jedoch schnell Im September 1946 erklärte der amerikanische Außenminister James F. Byrnes in Stuttgart, daß der Wiederaufbau Deutschlands auch im amerikanischen Interesse läge und für den Frieden in Europa unerläßlich sei. Die Deutschen wurden nicht mehr als das „besiegte Feindvolk“ angesehen, das es zu erniedrigen galt. Vielmehr versprach Byrnes: „Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Völkern der Welt wiederzugewinnen.“ Die Amerikaner — Besatzungsbehörden wie Politiker in den USA — begannen in ihrer Besatzungszone, demokratische Kräfte zu ermutigen und zu unterstützen. Diese amerikanische Richtungsänderung bewirkte auch einen Umschwung der öffentlichen Meinung in Deutschland — aus Geringschätzung und Entfremdung wurde zunehmend Übereinstimmung.

Die Mehrzahl der Deutschen sah die Kapitulation vom Mai 1945 und die Zerstörung des deutschen Staates als eine Niederlage an. aber wenige reagierten mit dem Ruf nach Rache, der die Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg so nachhaltig geprägt hatte Es vollzog sich sogar eine psychologische Veränderung bei denjenigen Deutschen, die aktiv für das Nazi-Regime gearbeitet hatten Für alle galt nun: Keiner konnte die Tatsache der totalen Niederlage des Deutschen Reiches leugnen, und die Mehrheit der Deutschen empfand Schmach gegenüber den Nazi-Greueln. Die soziale und kulturelle Gleichschaltung, die während des Krieges perfektioniert worden war, wirkte auch noch nach Kriegsende fort Viele alte gesellschaftliche Unterscheidungen spielten keine Rolle mehr, und auch die traditionellen politischen Eliten, die von den Nazis schon 1933 in den Untergrund gedrängt worden waren, besaßen keine Machtbasis mehr.

Die wichtigste Entwicklung nach 1945 war jedoch ein Erstarken des demokratischen Denkens und die Zurückweisung der Behauptung. Demokratie sei unvollkommen und daher durch irgendeine andere überlegene Regierungsform zu ersetzen Diese Einsicht machte die meisten Westdeutschen zu „Skeptikern“, mißtrauisch gegenüber politischen Ideologien und radikalen Plänen zur totalen gesellschaftlichen und politischen Umgestaltung, so wie der Soziologe Helmut Schelsky sie beschrieben hat Aber die Deutschen waren von 1945 bis mindestens Mitte der fünfziger Jahre weit weniger mit politischen Diskussionen als in erster Linie mit den praktischen Notwendigkeiten physischen Überlebens in einem zerstörten Land befaßt, mit dem Wiederaufbau der Produktionsmittel, der sozialen und kulturellen Einrichtungen. „Nie wieder!“ — dieser Ausruf faßt die Grundstimmung der Jahre 1945 bis 1949 zusammen; und er war der wichtigste Impuls für die Annäherung an die Amerikaner

Der Umschwung setzte im Sommer 1945 ein. als die US-Behörden begannen, einige kulturelle und publizistische Aktivitäten zu gestatten Die Byrnes-Rede verlieh ihm zusätzliche Kraft, und in den Jahren 1947/48 beschleunigte sich dieser Trend noch. 1947, nach einem für den größten Teil Europas katastrophalen Winter, schlugen die Vereinigten Staaten das „Europäische Wiederaufbauprogramm“ vor, besser bekannt unter der Bezeichnung „Marshall-Plan“ Im Verlaufe dieses Jahres gestanden die Vereinigten Staaten den deutschen Länderregierungen innerhalb ihrer Zone ein wachsendes Maß an Befugnissen zu und errichteten zusammen mit den Briten den bizonalen Wirtschaftsrat. Die Sowjets hingegen wollten kein vereinigtes demokratisches Deutschland angesichts ihrer Unnachgiebigkeit entschlossen sich Anfang 1948 die westlichen Alliierten nach Konsultationen mit anderen westeuropäischen Regierungen, die Entwicklung eines halbsouveränen westdeutschen Staates einzuleiten. Im Juni 1948 wurde eine Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen durchgeführt, die Voraussetzung für die Aufhebung der Bewirtschaftung und die Einführung der sozialen Marktwirtschaft nach den Entwürfen Ludwig Erhards war. Diese Maßnahmen fanden bei den westdeutschen Liberalen und Konservativen große Zustimmung, weniger jedoch bei den Sozialdemokraten. die nicht zu Unrecht um den Lebensstandard der Arbeiter fürchteten Die Sowjets reagierten mit der Blockade West-Berlins. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hielten aber im Winter 1948/49 an den westlichen Sektoren von Berlin fest und versorgten sie aus der Luft. Diese Luftbrücke als ein Akt der Solidarität in einer für die Deutschen schwierigen Zeit wurde zu einem bedeutenden Fundament für die deutsch-amerikanischen Beziehungen wie auch für die Einstellung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Amerika.

Die Bundesrepublik wurde am 23. Mai 1949 gegründet. Am 21. September übergaben die alliierten Besatzungsbehörden der Alliierten Hohen Kommission die höchste Befehlsgewalt in den westlichen Zonen. Von 1949 bis 1955 erreichte Bundeskanzler Konrad Adenauer für seine Regierung ein zunehmendes Maß an Souveränität — teils durch Übereinkünfte, teils durch geschickte Ausnutzung seiner zuerst bescheidenen Befugnisse. Der KoreaKrieg markierte eine wichtige Stufe in diesem Machtzuwachs: Der kommunistische Angriffin Korea erweckte Befürchtungen, daß Stalin jetzt auch Europa angreifen könnte. Amerika und Großbritannien begannen ein Blitzprogramm zur Wieder-bewaffnung, und der deutsche Kanzler ergriff die Gelegenheit, einen westdeutschen Beitrag zum Schutze des freien Europas anzubieten, ein Angebot, das die Westalliierten jedoch erst 1955 annahmen Auch die westdeutsche Wirtschaft profitierte stark vom Korea-Krieg, der in den Augen der Öffentlichkeit Amerika und die neue Bundesrepublik Deutschland noch enger zusammenbrachte als vorher

Zwei gesellschaftliche Gruppen teilten diese allgemeine Übereinstimmung mit den Vereinigten Staaten in den frühen fünfziger Jahren jedoch nicht: Die SPD-Führung und führende Vertreter der evangelischen Kirche. Von 1952 bis 1954 bekämpften sie vehement die Errichtung der Bundeswehr. Sie argumentierten. daß die Deutschen nie wieder, gleich zu welchem Zweck, zu Waffen greifen sollten und daß ein westdeutscher Verteidigungsbeitrag die Spaltung Deutschlands vertiefen und die Wiedervereinigung unmöglich machen würde.

Stalin versuchte den bundesdeutschen Verteidigungsbeitrag durch sein Angebot vom 10. März 1952 zu verhindern, indem er international überwachte freie Wahlen in allen vier Besatzungszonen zulassen wollte und vorschlug, daß eine aus solchen Wahlen hervorgehende gesamtdeutsche Regierung bei immerwährender Neutralität eine eigene Armee haben dürfe. Zu diesem Zeitpunkt nahmen nur wenige außerhalb der genannten Gruppen dieses Angebot ernst; andere betrachteten es als einen offenen Versuch, die Westintegration der Bundesrepublik aufzuhalten und vor allem die damals allgemein erwartete Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu verhindern. Die Diskussion um die Stalin-Note, darum, ob das Angebot ernsthaft gemeint und in der Tat die letzte Hoffnung auf Wiedervereinigung gewesen sei, ist bis heute nicht abgeschlossen Der Aufstand vom 17. Juni 1953 überschattete dann bald die Erinnerung an Stalins Angebot. Die Niederschlagung dieses Aufstandes durch die Sowjets schadete deren Glaubwürdigkeit wie auch der Möglichkeit einer neutralistischen Position der Bundesrepublik; die Mehrheit innerhalb der EKD, dem linken Flügel der FDP und der SPD schloß sich dem allgemeinen Trend einer stärkeren Ausrichtung auf die USA an, der nach der Erlangung praktisch vollständiger, auch militärischer Souveränität der Bundesrepublik im Mai 1955 einen Höhepunkt erreichte.

III. Vom Zustand der vollkommenen Harmonie zur teilweisen Entfremdung: die Jahre 1955 bis 1965

In der Zeit zwischen 1955 und 1960 herrschte im allgemeinen Harmonie zwischen den einzelnen sozialen. politischen und kulturellen Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Zufriedenheit bestimmte auch das deutsch-amerikanische Verhältnis. Ein Anzeichen zukünftigen Zwists war 1958 der Disput über die Bewaffnung der Bundeswehr mit Kurzstreckenatomwaffen, der sich bis 1963 ohne klares Ergebnis hinzog. aber noch vor Ende 1958 durch die zweite Berlin-Krise überlagert wurde. Die Atombewaffnungs-Debatte verursachte unter dem Slogan „Kampf dem Atomtod!“ ein Wiederaufleben NATO-feindlicher und pazifistischer Argumente in Hochschulkreisen, im evangelischen Klerus und im Kulturprotestantismus, als dessen Sprecher der Physiker Carl Friedrich von Weizsäkker galt. Ähnliche Tendenzen fanden sich in der SPD; der junge Helmut Schmidt hat sie wortkräftig vertreten, doch kann man die Stimmung insgesamt in der SPD keineswegs als anti-amerikanisch bezeichnen. Schmidt plädierte im Bundestag gegen die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen u. a. mit dem Argument, daß der Abschreckungsund Verteidigungswert besonders von Mittelstrekkenraketen auch in der amerikanischen Regierung umstritten sei.

Ende 1957 wurde selbst in den USA von einigen einflußreichen Kritikern die geplante Dislozierung von Mittelstreckenraketen in Europa als gefährlich für den Westen beurteilt, weil solche Raketen verlockende Ziele für einen sowjetischen Erstschlag darstellten Sie befürworteten eher den Aufbau einer amerikanischen interkontinentalen Raketenstreitmacht mit gleichzeitiger Verstärkung der konventionellen Streitkräfte der NATO, was aber von Präsident Eisenhower abgelehnt wurde. Von 1958 bis 1963 stationierten die Amerikaner Mittelstrekkenraketen in Europa, die sie 1963 aus globalpolitischen Gründen und ohne Rücksicht auf die europäische Sicherheitslage wieder entfernten, ein Vorgang.der an die späteren INF-Krisen 1979 bis 1983 und 1986/87 erinnert.

Die Gegner einer Atombewaffnung der Bundeswehr hatten mit ihrem aus der amerikanischen Diskussion aufgenommenen Argument insoweit recht, als es bei der unsicheren amerikanischen Lage mindestens z. T. einer Provokation der Vereinigten Staaten gleichgekommen wäre, wenn die Bundesrepublik solche Systeme angeschafft hätte. Helmut Schmidt schloß sich mit diesem Argument den soge-nannten Atiantikern in der SPD an.deren Repräsentant Willy Brandt war.der Regierende Bürgermeister von West-Berlin. Brandt und seine Gefolgsleute sahen sich selber in enger Übereinstimmung mit progressiven Strömungen innerhalb der Vereinigten Staaten und in dieser Hinsicht als pro-amerikanischer als die konservativen Christdemokraten unter Adenauer.

Im November 1958. während die Anti-Atomtod-Kampagne noch andauerte, entfesselte Nikita Chruschtschow die zweite Berlin-Krise mit seiner Drohung, sowohl den sowjetischen Sektor Berlins als auch die Kontrolle der Transitwege zwischen dem Bundesgebiet und Berlin den DDR-Behörden zu übergeben, wenn der Westen nicht innerhalb von sechs Monaten einem deutschen Friedensvertrag zustimmte. Solch ein Vertrag würde beiden deutschen Staaten den Besitz von Atomwaffen untersagen. und es wurde klar, daß die Furcht davor, die Bundesrepublik könnte tatsächlich Atomwaffen erwerben, ein wichtiges Motiv für Chruschtschows Ultimatum war; im übrigen stellte der Vorgang ein klassisches Beispiel sowjetischer Außenpolitik dar — nämlich ein Problem zu schaffen, das es vorher gar nicht gab. um danach verschiedene Lösungen anzubieten, die alle für die Sowjetunion günstig waren.

Diese Drohung wurde dadurch unterstrichen, daß die Sowjets ein Jahr zuvor erfolgreich den Sputnik in den Weltraum gestartet hatten. Konrad Adenauer. zusammen mit vielen anderen in Europa wie in Amerika, sah in diesen Entwicklungen klare Zeichen, daß die Sowjets auf eine viel offensivere Globalstrategie umschalteten, um ihren Einflußbereich auszuweiten und die Glaubwürdigkeit und geostrategische Position der Vereinigten Staaten zu untergraben. Es war nicht einfach für die USA. auf diese neue sowjetische Generalstrategie entsprechend zu reagieren, weil die Regierung Eisenhower sich nicht einigen konnte, wie das sowjetische Verhalten einzuschätzen sei; zudem war der Hauptvertreter der harten Linie in der Regierung, Außenminister John Foster Dulles, todkrank

In dieser Zeit vollzog sich innerhalb der SPD ein Stimmungsumschwung: Die jüngeren Vertreter der Partei stimmten in vielen Punkten mit den USA überein und verwarfen die Neutralitätshoffnungen der alten Parteigarde. Adenauer und andere führende Christdemokraten gingen dagegen etwas auf Distanz zu den USA. nicht weil sie eine anti-amerikanische Haltung einnahmen, sondern weil sie die amerikanische Antwort auf den sowjetischen Generalplan als zu schwach und ungenügend erachteten. Die Wahl John F. Kennedys und dessen neuer Regierungsstil verschärfte diese Spaltung noch: Die SPD-Atlantiker sahen in ihm „ihren“ Präsidenten, der das Verhältnis zur Sowjetunion und das Problem der europäischen Spaltung mit aller Entschiedenheit unter dem Aspekt der Entspannung angehen würde; Adenauer sah ihn als zu kurzatmig und unzuverlässig an. Im allgemeinen blieb die sowjetische Bedrohung Berlins jedoch nach wie vor ein starkes Argument für den Atlantismus und gegen Distanz.

Der Kalte Krieg in Europa erreichte seinen Höhepunkt am 13. August 1961, als die DDR West-Berlin abriegelte und mit dem Mauerbau begann. Das Ausbleiben einer tatkräftigen amerikanischen Reaktion zerstörte Willy Brandts Hoffnung, daß die USA helfen könnten oder wollten. Deutschland wiederzuvereinigen und bestätigte Adenauers Ansicht. daß Kennedy ein Präsident war.der auf Druck nachgab. Die Entfremdung auf dem rechten, katholischen Flügel der Union wurde jedoch durch die grundlegende Auffassung aller Christdemokraten gemildert, daß es keine wirkliche Alternative zur engen Ausrichtung der Bundesrepublik auf die US-Außenpolitik und auf das amerikanische strategische Konzept gab. Die Konturen dieses Konzepts waren Anfang der sechziger Jahre noch (oder schon wieder) unklar. Der US-Verteidigungsminister Robert McNamara trat für eine Politik der „flexible response" ein. die vom Bündnis 1967 zusammen mit den Empfehlungen des Harmel-Berichts. Abschreckung und Entspannung als zwei Seiten dersel-ben Sache zu betrachten und sie gleichzeitig zu verfolgen, angenommen wurde.

Auch wenn die CDU/CSU mit den amerikanischen Richtlinien und Aktionen unzufrieden war, konnte sie doch öffentlich nicht gut dagegen Stellung beziehen, weil sie stärker auf ein gutes Einvernehmen mit den USA angewiesen war als umgekehrt. Der USA-kritische — oft als „Gaullisten“ bezeichnete — Flügel der Union konnte daher schwerlich eine Abkehr von den USA vorschlagen oder gar wünschen. Bei de Gaulles Frankreich war damals keine wirkliche Sicherheitsgarantie für die Bundesrepublik zu finden.

1963 verlangten Kennedy und die britische Regierung, daß die Bundesrepublik das Teststopp-Abkommen zusammen mit der DDR unterzeichnen sollte. Adenauer sah diesen Akt, vielleicht zu Recht, als den ersten Schritt zu einer de-facto-Anerkennung der DDR an. Er lenkte trotzdem ein. Als die beiden Supermächte 1965 über den Vertrag gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen (in der Bundesrepublik charakteristischerweise als Atomsperrvertrag bekannt) zu verhandeln begannen, verschärfte sich das deutsch-amerikanische Verhältnis. Die Bundesregierung hatte inzwischen auf eigene Atomwaffen verzichtet, wollte aber diesen Zustand und den implizierten Souveränitätsunterschied zwischen den Atommächten und anderen Staaten vertragsmäßig nicht festschreiben. Der deutsch-amerikanische und der innenpolitische Streit in der Bundesrepublik über den Atomsperrvertrag war die unmittelbare Fortsetzung der mit der Berlin-Krise verbundenen Auseinandersetzung über die Entspannungspolitik. Die SPD und der linke Flügel der CDU unterstützten die US-Regierung und setzten die Bündnistreue über das Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik, der rechte Flügel der CDU/CSU kämpfte dagegen. Altbundeskanzler Adenauer sprach 1967 sogar von einem „zweiten Jalta“, und erst die sozialliberale Regierung fand sich 1969 bereit, den Atomsperrvertrag zu unterzeichnen

Schon die Berlin-Krise hatte gezeigt, daß die Sicherheit der Bundesrepublik völlig vom (guten oder bösen) Willen der Supermächte abhing. Den Anspruch auf West-Berlin aufrechtzuerhalten bedeutete für sie nicht nur, die Stadt als ein Pfand dem Druck der Sowjets auszusetzen, sondern auch, sich viel stärker auf alliierte Hilfsbereitschaft zu verlassen, als das der Fall gewesen wäre, wenn die Bundesregierung Berlin aufgegeben hätte. Diese alliierte Hilfsbereitschaft hing seit dem Mauerbau und erst recht seit dem Streit über die amerikanische

Rüstungskontrollpolitik davon ab, daß die Bundesrepublik auf die neue amerikanische Entspannungspolitik einschwenkte. Mit anderen Worten: In den fünfziger Jahren bedeutete die Ausrichtung der Westdeutschen auf die USA. daß Bonn einem harten antisowjetischen Kurs folgte; fortan sollte diese Ausrichtung Entspannungsfreudigkeit bedeuten. Es ist kein Wunder, daß diese im tatsächlichen Verhalten der UdSSR unbegründete, vielmehr aus den frühen Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen der späten sechziger Jahre in den USA erklärbare Umkehr der amerikanischen Weltpolitik in Deutschland einige Verblüffung verursachte. Sie führte nur deswegen nicht zum Bruch in der Allianz. weil die Entspannungswelle wie die Ideen der 68er Bewegung in der Bundesrepublik ihre Wirkungen zeitigten.

Willy Brandt spürte früh die veränderte bündnisinterne ideologische Großwetterlage und sah die Notwendigkeit. die Ostpolitik der SPD und a fortiori die der Bundesrepublik zu überdenken. Im Herbst 1962, zu Beginn der Kubakrise, hielt Brandt an der Harvard-Universität eine Rede zum Thema „Koexistenz — Zwang zum Wagnis“ Da der Westen nicht die Absicht habe, die Demokratie mit Gewalt nach Ostmitteleuropa zu tragen, so argumentierte er, müsse er den Status quo akzeptieren und die bestehenden Diktaturen als zumindest legale, wenn auch nicht legitime Regierungen anerkennen. Im selben Sinne argumentierte Brandts enger Vertrauter Egon Bahr in seiner „Tutzinger Rede“ vom Juli 1963: Nur durch Anerkennung der von der UdSSR 1944 bis 1948 gewaltsam geschaffenen Tatsachen könne der Westen sich aus der Zwangslage befreien. in die er sich selber dadurch gebracht habe, daß er nationale Selbstbestimmung in Mitteleuropa als Bedingung jeder Entspannungspolitik fordere, sich aber gleichzeitig weigere — wie die Ungam-Krise 1956 offenbarte —, den notwendigen Preis eines Krieges oder mindestens einer bewaffneten Konfrontation mit der Sowjetunion zu zahlen, um Freiheit für die unter kommunistischer Herrschaft leidenden Ostmitteleuropäer durchzusetzen. Die Lösung der Berlin-Krise hatte gezeigt, so konnte man Brandts und Bahrs Ausführungen ergänzen, daß der einzige Weg zu echter Entspannung mit dem Osten darin lag. mit den gegebenen Wirklichkeiten zu arbeiten und nicht unrealistische, in den Augen der östlichen Machthaber lächerliche Forderungen nach Veränderung aufzustellen. Diese Argumente waren auch die der Kennedy-Regierung, und indem er sie wiederholte, zeigte sich Brandt ein weiteres Mal in engerer Übereinstimmung mit dem amerikanischen Denken hinsichtlich der Ost-West-Beziehungen als Adenauer.

Die Tatsache, daß die Politik der Stärke versagt hatte, stand aber für viele in keinem logischen Zusammenhang mit dem moralischen oder rechtlichen Status der kommunistischen Machtstellung in der DDR und Ostmitteleuropa im allgemeinen — von daher blieben diese Länder eine Bedrohung der westlichen Sicherheit, und die Strategie der Nichtanerkennung behielt mithin ihre Bedeutung. Noch 1966 nannte Herbert Wehner diejenigen „Strolche“, die auf ein Recht verzichten wollten, bloß weil sie es nicht durchsetzen konnten; ganz ähnlich argumentierte die Union später gegen die Ostverträge Die meisten Politiker aber gaben praktisch die bisher axiomatische Ansicht auf. daß die Teilung Deutschlands ein Gefahrenherd und eine mögliche Kriegsursache sei. In der Zeit zwischen dem Mauerbau und der Kuba-Krise schienen viele Westdeutsche und Amerikaner in ihrem Denken eine Kehrtwendung vollzogen zu haben und zur Ansicht gelangt zu sein, daß die Spaltung Europas, weit davon entfernt, die Ursache der Spannungen zu sein, im Gegenteil die notwendige Voraussetzung für Stabilität, Entspannung und friedliche Koexistenz darstelle.

Die Berliner Mauer zerstörte, so gesehen, bei vielen die Hoffnungen auf eine drastische Änderung im Zustand des geteilten Europas. Die mehr oder weniger resignierte Erkenntnis setzte sich durch, daß der Weg zu friedlicheren Beziehungen mit dem Osten über die Anerkennung der kommunistischen Diktaturen führe, nicht über die Verweigerung dieser Anerkennung. Sie bewirkte in der Bundesrepublik auch, daß viele sich nunmehr mit kritischeren Augen den Fehlern der westdeutschen Gesellschaft zuwandten. Aus der Perspektive der politischen Psychologie war es kein Zufall, daß die Aufgabe der Hoffnungen auf nationale Wiedervereinigung und großraumpolitische Veränderungen in Europa ein entsprechendes Verlangen nach innenpolitisch-moralischen Veränderungen bewirkte — ein Interesse, das seinen Höhepunkt, aber nicht sein Ende, im Radikalismus der späteren sechziger Jahre fand.

IV. Der Wandel in der politischen Kultur und die neue Ostpolitik: die Jahre 1962 bis 1974

Die mit der Studentenbewegung der sechziger Jahre einhergehenden kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen begannen zunächst in einem Klima der Übereinstimmung und nicht der Entfremdung. In den frühen sechziger Jahren wurde die letzte und weitreichendste Stufe der Amerikanisierung der westdeutschen Kultur und Gesellschaft erreicht. Hüben wie drüben schockierte eine weitverbreitete Lockerung der herkömmlichen Moral und Verhaltensnormen die Öffentlichkeit In Amerika wie auch in der Bundesrepublik schlug ein politischer Reformwille, dessen Befürworter ursprünglich wohl beabsichtigten, die Gesellschaft verbessern und vervollkommnen zu wollen, in Protest gegen die angebliche Bösartigkeit und Repressivität des „herrschenden Systems“ um. Der wichtigste äußere Anlaß für diesen Wandel war der Vietnamkrieg. In der Bundesrepublik schien der Krieg die Analyse der Neuen Linken zu bestätigen, wonach globale wie nationale Gesellschaften vom amerikanischen kapitalistischen Imperialismus beherrscht würden. Daraus ergab sich für sie die Anerkennung und Unterstützung des gewaltsamen „Befreiungskampfes“.

Die Amerikanisierung der Bundesrepublik, der Widerhall amerikanischer politischer und kultureller Strömungen in der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre kann auch in den drei Ereignissen gesehen werden, die am Anfang der Protestbewegung standen und deren Wirkung noch darauf abzielte, die Übereinstimmung zu fördern und nicht zu untergraben. Das erste dieser symbolischen und symptomatischen Ereignisse war die „Spiegel-Affäre“, die den Sieg von Journalisten über staatliche Behörden bedeutete. Die Medien hatten damit beträchtliche politische Macht gewonnen und gezeigt, daß sie die Gunst des Publikums genossen, genau wie in den Vereinigten Staaten. Aber wohl noch wichtiger war die gesellschaftliche Auswirkung der Affäre — die Unterstützung, die der „Spiegel“ von zwei Gruppierungen erhielt, deren Macht zunehmend größer wurde, nämlich vom politisch gebildeten Publikum und von akademischen Kreisen. Ein Hauptanliegen dieser linksliberalen Öffentlichkeit sowohl in den USA wie auch in der Bundesrepublik Deutschland ist es seitdem gewesen, die Motive und das Verhalten der Regierung kritisch zu überprüfen. Die alte deutsche Grundannahme, die Regie-B rung habe immer das legitime Recht, zu tun, was sie für richtig halte — vor allem im Interesse der nationalen Sicherheit —. war ein für allemal widerlegt.

Das zweite Ereignis war der Auschwitz-Prozeß von 1963 bis 1965, in dem mehrere Angeklagte wegen Verbrechen im KZ Auschwitz vor einem deutschen Gericht in Frankfurt standen. Die Bundesrepublik hatte nur wenige Kriegsverbrecherprozesse geführt, da die meisten der Hauptverdächtigen, die 1945 gefangengenommen wurden, schon von den Alliierten oder von den Ländern, auf deren Gebiet sie Verbrechen begangen hatten, abgeurteilt worden waren. Durch den Auschwitz-Prozeß wurden große Teile der westdeutschen Bevölkerung zum ersten Mal mit dem Holocaust konfrontiert, und er leitete die große Welle der „Vergangenheitsbewältigung“ ein. Dieser Prozeß nährte die Ansicht der Neuen Linken, daß der Nationalsozialismus — oder der „deutsche Faschismus“, wie die Neue Linke ihn nannte — nicht eine einmalige Verirrung. sondern vielmehr eine Folge des Kapitalismus und somit eine weiterhin bestehende Bedrohung sei. Für die Neue Linke war die einzige Antwort auf diese Bedrohung in der Bundesrepublik eine sozia/listische Umwandlung der Gesellschaft. Dieses Argument tauchte einige Jahre später auf und unterstützte die Entfremdung von den USA, die die Neue Linke als Schutzmacht des Kapitalismus und damit indirekt der üblen Saat des Nazismus ansahen.

Das dritte Element der Eröffnungsphase der Studentenunruhen war zugleich sehr deutsch wie auch ein Ausdruck der Amerikanisierung. Es war Karl Jaspers’ kritische Sicht der Bundesrepublik, wie er sie in seinem Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ Anfang 1966 veröffentlichte. Jaspers, der das Dritte Reich überlebt hatte, ohne der Zusammenarbeit oder Sympathien mit den Nazis verdächtigt zu werden, genoß hohes Ansehen. Daher hatte seine scharfe Kritik an dem, was er als autoritäre Strömungen und als fehlendes Schuldbewußtsein in der bundesdeutschen Politik und politischen Kultur ansah, sensationelle Wirkung. Durch das Erscheinen des Buches kurz nach der „Spiegel“ -Affäre (in der sich die Regierung genau in der von Jaspers kritisierten Weise verhalten hatte) und nach dem Auschwitz-Prozeß (der die Notwendigkeit von Schuldgefühl, Bescheidenheit und moralischer Vergangenheitsbewältigung zu bestätigen schien) ging von Jaspers’ Kritik eine sich in der Bundesrepublik rasch ausbreitende Denkrichtung und Argumentationsweise aus. Jaspers’ Argumentationsstil war von der liberalen amerikanischen Tradition der ständigen Kritik an Regierung und traditionellen Autoritäten beeinflußt und stellte damit durchaus einen weiteren Ausdruck der Amerikanisierung der Bundesrepublik dar. Innerhalb eines Jahres nach der Veröffentlichung des Buches begann diese neue kritische Stimmung jedoch immer größere intellektuelle Kreise von der bisherigen Übereinstimmung zu einer zunehmenden Entfremdung gegenüber den USA zu führen.

Diese Wirkung war am stärksten im Bildungsbereich, in den Medien, unter den Intellektuellen und in der protestantischen Kirche. An der Politisierung der deutschen Hochschulen wurde diese Entwicklung besonders deutlich. In den zwanzig Jahren seit dem Kriegsende bildeten die westdeutschen Professoren eine der getreuesten pro-amerikanischen Gruppen. Um 1966 begannen vermehrt Studenten aus sozialen Schichten, denen es bisher nicht möglich war. zur Universität zu drängen; zusammen mit liberalen oder radikalen jungen Dozenten schufen sie ein neues Klima an den Universitäten. Die daraus hervorgehende Neue Linke huldigte marxistischen oder neo-marxistischen Theorien und übte grundsätzliche Kritik an der als repressiv diffamierten freiheitlich-demokratischen Grundordnung, an der Westintegration und ganz besonders am Bündnis mit den Vereinigten Staaten, die sie der Unterstützung repressiver und reaktionärer Regime weltweit bezichtigte.

Dieser Prozeß der Kritik und Entfremdung schuf besonders für die SPD Probleme, die mit der Wahl Willy Brandts zum Kanzler im Oktober 1969 zur dominierenden Regierungspartei aufrückte. Die SPD. die von neutralistischer Entfremdung in den fünfziger Jahren zu atlantischer Übereinstimmung unter der Führung Brandts und seiner jüngeren Gefolgsleute wie Helmut Schmidt gefunden hatte, sah sich nun einer Spaltung in den eigenen Reihen gegenüber. Die Jugendorganisation der Partei, die Jusos, aus der die Partei traditionsgemäß ihre Führerpersönlichkeiten rekrutierte, war vom Wandel in der politischen Kultur während der Studentenbewegung stark betroffen. Die SPD war außerdem die Partei der linksliberalen Öffentlichkeit, die schon bei der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten im April 1969 den Wandel im ideologischen Bereich wie in der politischen Kultur artikulierte. Als Brandt Kanzler wurde, sahen viele Wortführer der linken Öffentlichkeit dies als die Chance, ihre Hoffnungen auf eine „Fundamentaldemokratisierung“ der westdeutschen Gesellschaft zu verwirklichen. Die Jusos gingen, vor allem in ihren Vorstellungen zur Außenpolitik, weiter. Über ihre Kritik an den USA hinaus forderten sie eine sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik, was diese notwendig von Westeuropa und den Vereinigten Staaten distanziert hätte. Brandt jedoch hielt an den engen transatlantischen Beziehungen fest; sie waren zugleich ein Fundament für eine Politik der Akzeptanz des Status quo, der Aussöhnung mit den kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa und der Entspannung mit der Sowjetunion.

Diese Unterstützung durch die USA war für den Erfolg von Brandts Ostpolitik unerläßlich. Das letzte, was Brandt und seine Berater beabsichtigten, war, den kommunistischen Regierungen den Eindruck zu vermitteln, die Bundesrepublik sei bereit. von der NATO-Linie abzurücken, und die SPD wolle zu ihrer neutralistischen Distanzierung der fünfziger Jahre zurückkehren. Die Nixon-Regierung, vor allem ihr Sicherheitsberater Henry Kissinger, unterstützte Brandts Ostpolitik, da sie weitgehend mit ihrer eigenen Entspannungspolitik übereinstimmte, die im SALT-I-Vertrag vom Juni 1972 gipfelte. Das gemeinsame Vorgehen setzte sich also auf höchster politischer Ebene fort, aber in den Ansichten Egon Bahrs, Brandts Chefberater in der Durchführung der Ostpolitik, gab es Hinweise auf zukünftige Probleme. Aus ganz anderen Motiven als denjenigen, die den Moralismus und den Radikalismus der Jusos beflügelten, entfernte sich Bahr in den siebziger Jahren von der engen atlantischen Übereinstimmung hin zu einer Position, die er selber als „deutschnational“ bezeichnete. Schon in seiner Tutzinger Rede 1963 hatte er sich seine eigenen Gedanken zur Berliner Mauer und den veränderten Grundsätzen der SPD-Außenpolitik gemacht. Bahr meinte damals, die beiden Staaten in Deutschland könnten nicht aufgrund westlicher Stärke und westlichen Drucks, sondern nur im Gefolge eines Entspannungsprozesses allmählich wieder zusammenwachsen. Dieses „Rapprochement“, wie er diese Politik nannte, würde letztendlich zu einer Annäherung der beiden deutschen Staaten — trotz ihrer unterschiedlichen politischen Systeme — führen. Die logische Schlußfolgerung daraus war, daß die Führungsschichten und die Bevölkerungen in beiden Staaten sich allmählich von den zwei Supermächten entfernen würden. Der Glaube an die Möglichkeit zunehmender Harmonie zwischen den beiden Staaten, sowohl zwischen den Regierungen wie der Bevölkerung, ferner die Über-zeugung. daß sich die Vormachtstellung der USA im Westen und der Sowjetunion im Osten verringern würde, wurde zur Grundlage des Äquidistanzgedankens.der bis in die jüngste Gegenwart hinein große Beachtung in weiten Kreisen der westdeutschen Bevölkerung gefunden hatte.

1973 war Bahrs allmähliche Distanzierung von den USA jedoch ein viel geringeres Problem als die massive Ablehnung, die bei den Jusos und der Neuen Linken, im Bildungswesen, den Medien, den Kirchen und der linken Öffentlichkeit vorherrschte. Im gleichen Jahr führte ferner der Nahostkrieg und das daraus resultierende Ölembargo mit Preiserhöhungen durch die OPEC zu einer Minikrise im Verhältnis zwischen den USA und der Bundesrepublik, die aufzeigte, daß sogar die führenden politischen Kreise nicht ganz so übereinstimmten. wie sie vielleicht selber dachten oder andere glauben machen wollten. Während des Krieges begann Amerika. Israel mit Nachschub — zum Teil aus Vorräten in der Bundesrepublik — zu versorgen. Brandt beharrte darauf, daß die USA keine Nachschubgüter aus der Bundesrepublik nach Israel transportierten, da die Verwendung der für die auf dem Bundesgebiet stationierten US-Truppen bestimmten Nachschubvorräte die Bundesrepublik in den Nahostkonflikt einbeziehe und damit ihre Sicherheit gefährde. Kissinger, inzwischen Außenminister geworden, reagierte scharf, indem er argumentierte, daß die Bundesrepublik ein ebensogroßes Interesse am Überleben Israels haben sollte wie die USA, daß sie den Vereinigten Staaten Solidarität schulde und daß Brandts Weigerung den Eindruck erwecke, die Bundesrepublik beuge sich der Erpressung durch die OPEC. Die Krise wurde bald von den noch größeren wirtschaftlichen und finanziellen Problemen überschattet, die die Ölpreiserhöhungen verursachten, aber vergessen wurde sie nicht.

Helmut Schmidt, der Brandt im Mai 1974 als Bundeskanzler ablöste, entschloß sich, zu einem engerem Zusammengehen mit den USA zurückzukehren, jedoch unter Betonung der engen Beziehungen zu Frankreich sowie der westeuropäischen Wirtschafts-und Währungskoordination und politischen Zusammenarbeit. Damit war klar, daß sogar für die überzeugtesten Atlantiker in den Führungskadern und Ausschüssen der Parteien die Zeit einer undifferenzierten Ausrichtung auf die USA vorüber war.

V. Gestörte transatlantische Beziehungen: 1975 bis heute

Die Regierung Schmidt verband die Ausrichtung auf die USA mit der Verfolgung einer deutschen Friedenspolitik zusammen mit der DDR und anderen kommunistischen Regierungen. Diese Politik hatte solange Erfolg, wie die USA selber der Entspannung verpflichtet waren. Das begann sich in den letzten beiden Jahren der Regierung Carter zu ändern. Die Kooperation zwischen Schmidt und Carter gelang nur unter Schwierigkeiten. 1978 war es Schmidt auf Begehren der USA hin gelungen, seine Regierung zur Unterstützung einer Stationierung von taktischen Atomwaffen auf dem Bundesgebiet zu bewegen. Obwohl Schmidt dafür einen hohen politischen Preis zahlen mußte, ließ Carter den ganzen Plan einfach fallen.

Als die amerikanische Regierung begann, sich von der Entspannungspolitik ab-und der erneuten Erkenntnis zuzuwenden. daß der sowjetische Imperialismus sich nicht verändert hatte und nach wie vor in Schach gehalten werden mußte, folgten die meisten Bundesbürger dieser Wendung nicht. Schmidt war der Hauptarchitekt des NATO-Doppelbeschlusses vom Dezember 1979.der vorsah. die Modernisierung der Mittelstreckenraketen voranzutreiben und gleichzeitig mit der Sowjetunion über die Kontrolle dieser Waffen Verhandlungen zu führen Die damit zusammenhängende Problematik löste eine andere Art von Entfremdung aus als diejenige der Studenten. Journalisten und anderen Anhängern der Neue Linken in den siebziger Jahren. Schmidts Skepsis erwuchs aus der Sorge, daß die Vereinigten Staaten ihre Fähigkeit verloren haben könnten. Weltpolitik zu betreiben, wie aus der Einsicht, daß die Sicherheitsinteressen des Westens eine kombinierte Zielsetzung von Stabilität und Rüstungsmodernisierung verlangten. Der Doppelbeschluß war selber nur Teil eines umfassenderen Planes zur Modernisierung und Verstärkung sowohl der konventionellen wie der atomaren NATO-Streitkräfte. Schmidt unterstützte diesen Plan, bestand aber darauf. daß die westdeutsche Sicherheit auf den beiden Säulen der militärischen Stärke und der politischen Verpflichtung zur Entspannung und Zusammenarbeit mit dem Osten beruhte.

In Schmidts letztem Jahr als Kanzler prägte Egon Bahr zusammen mit anderen SPD-Linken den Begriff der „Sicherheitspartnerschaft“, um das Ziel der westlichen Außenpolitik zu beschreiben. Dieser Begriff besagt, Sicherheit lasse sich im Atomzeitalter nur mit und nicht gegen den potentiellen Gegner erhalten. „Ich bin nur so sicher wie der andere auch“, so formulierte es Erhard Eppler 1986 im Gespräch mit Vertretern der DDR Es ist aber nicht einfach zu erklären, wozu man überhaupt Streitkräfte und eine Verteidigungspolitik braucht, wenn der Gegner kein Gegner mehr ist, sondern ein Partner. Ein Partner stellt, ungeachtet seiner militärischen Macht, per defmitionem keine Bedrohung dar. Derjenige, gegen den man Verteidigungs-

Vorkehrungen trifft, kann eben kein Partner sein. Der Glaube an eine Sicherheitspartnerschaft mit der UdSSR und den übrigen kommunistischen Staaten ist ein wichtiges Argument für die Theorie der Äquidistanz. Schmidt vermied, solange er im Amt war. diesen Begriff der Sicherheitspartnerschaft. Die dazugehörige Überzeugung gründete sich jedoch direkt auf seine Ansichten mit der zusätzlichen Annahme, daß die Sowjetunion und die kommunistischen Staaten Partner in einem gemeinsamen Unternehmen und als solche genauso der Stabilität in Europa verpflichtet wären wie die Bundesrepublik und die anderen westlichen Staaten.

Die Popularität des Äquidistanzgedankens in den achtziger Jahren war auch ein Ausdruck der weit-verbreiteten Unsicherheit und Sorge in weiten Teilen der Öffentlichkeit bezüglich der Sicherheit der Bundesrepbulik und der Zukunftsaussichten Europas sowie der Einschätzung von Richtung und Qualität der amerikanischen Außenpolitik. Diese Sorge, die zu der Verbreitung des Äquidistanzgedankens führte, war aber auch Teil eines allgemeinen Wandlungsprozesses in der westdeutschen politischen Kultur — ein Vorgang, in dessen Verlauf überkommene Grundsätze der Außen-und Sicherheitspolitik sich als untereinander unvereinbar erwiesen aus Gründen, die sowohl mit wirklichen Veränderungen im militärischen, diplomatischen und strategischen Umfeld der Bundesrepublik wie mit dem Wandel des kulturellen, intellektuellen und psychologischen Klimas zu tun hatten.

Die wichtigsten dieser Grundsätze waren die Glaubwürdigkeit der NATO-Doktrin und die enge Ausrichtung auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Das Konzept der flexible response ist nur dann glaubwürdig, wenn die amerikanische atomare Garantie in sich glaubwürdig ist. und dies ist wiederum nur dann der Fall, solange die USA überzeugend die Vernichtung der Sowjetunion mit ihrer interkontinentalen Zweitschlags-Atomstreitmacht anzudrohen vermögen. Als die Sowjetunion aber die atomare Parität oder sogar Überlegenheit erreicht hatte — eine Lage, die trotz (oder dank) dem SALT-und dem ABM-Vertrag Mitte der siebziger Jahre eintrat —. wurde die Drohung der USA. mit ihren strategischen Waffen zurückzuschlagen, falls die Sowjets Westeuropa angreifen sollten, zum unglaubwürdigen Versprechen, da die Vereinigten Staaten nunmehr in einer Art Automatik atomaren Selbstmord verüben würden. Daß dieses Versprechen tatsächlich unglaubwürdig war.deckte Henry Kissinger 1979 in Brüssel auf, als er den Europäern klarmachte, daß sie sich nicht länger allein auf die Garantie der USA verlassen könnten und daß der amerikanische atomare Schutzschild über Westeuropa durchlässig geworden sei

In dem Augenblick, als die Unsicherheit der amerikanischen Garantie offenbar wurde, fiel auch der zweite Grundsatz, der Wert einer engen Ausrichtung auf die USA.derselben Logik zum Opfer: Wenn die Schlagkraft der Sowjetunionjetzt nämlich groß genug war, ihr sowohl eine Erst-wie eine Zweitschlagskapazität gegen den nordamerikanischen Kontinent und gegen Europa zu verschaffen, dann konnte sich die Politik einer zu engen Ausrichtung auf die USA längerfristig sogar als gefährlich für die Bundesrepublik erweisen. Dies war dann auch der Schluß, der von Teilen der SPD wie vor allem von der Friedensbewegung gezogen worden ist. Sie folgerten, daß Äquidistanz eine diplomatische und strategische Möglichkeit für die Bundesrepublik darstelle, die es ihren Bürgern erlauben würde, weiterhin ihre politischen Freiheiten in Frieden auszuüben und gleichzeitig einer zunehmend gefährlicheren Konfrontation der Supermächte zu entgehen. Sie folgerten weiter, daß eine solche Politik die größte Hoffnung bieten könnte, die Auswirkungen der europäischen und besonders der deutschen Teilung zu mildern. Ihr Ziel war das. was Willy Brandt schon 1968 als „europäische Friedensordnung“ bezeichnet hatte, in der der Antagonismus zwischen Ost und West sich abschwächen und schließlich ganz einer friedlichen Koexistenz weichen würde. Diese Denkrichtung und ihre Motive bewirkten in den Parteien — nicht nur in der SPD — eine gewisse Distanz gegenüber den USA. die durch die offensichtliche Unfähigkeit der Reagan-Regierung. eine konsequente Strategie gegenüber der Sowjetunion zu entwickeln und durchzuhalten. noch weiter vergrößert wurde. Hinzu kamen die unterschiedlichen Auffassungen über die strategische Verteidigungsinitiative (SDI) und die Ungewißheiten über den Prozeß der Rüstungskontrolle

Nicht einmal die CDU/CSU stand 1987 geschlossen hinter der Politik der USA. Die Stellung der größeren der beiden Koalitionsparteien bot in den späteren achtziger Jahren praktisch ein Spiegelbild der SPD. Die Mehrheit, angeführt vom Bundeskanzler, war für fortgesetzte Ausrichtung auf die USA, während sich eine Minderheit Sorgen um die Richtung der amerikanischen Rüstungskontrollpolitik machte und einen Verrat an den deutschen Interessen befürchtete. Der offensichtliche Unterschied zur SPD besteht darin, daß es in der SPD Kräfte gibt, die die Bundesrepublik von den USA loslösen und eine eigenständigere Politik gegenüber der Sowjetunion und der DDR verfolgen möchten. In Teilen der CDU/CSU löste das Versprechen (oder die Drohung) der doppelten Nullösung, alle landgestützten Mittelstreckenraketen aus Mitteleuropa abzuziehen, die Befürchtung aus, daß dies die Bundesrepublik ungeschützt der erdrückenden Überlegenheit der Sowjetunion im Bereich der konventionellen und chemischen Waffen aussetzen würde. Der konservative Flügel der CDU/CSU begann Anfang 1987, die doppelte Nullösung zu kritisieren. Man betrachtete hier die doppelte Nullösung als eines der vielen Symptome des Verlusts des Willens zur Weltmachtstellung der USA. Man vermutete hier, daß die Amerikaner den Europäern unter allen Umständen Rüstungskontrollabkommen, die nicht im europäischen Interesse waren, aufzwingen wollten. Letztlich befürchtete man. daß die Amerikaner ihr Interesse an Westeuropa allmählich verloren haben könnten und einen Truppenabzug vorbereiteten.

Der Bundeskanzler teilte einige dieser Befürchtungen. und es zeigte sich deutlich, daß er sich Sorgen darüber machte, was der Gipfel in Reykjavik 1986 über das Verhandlungsgeschick auf der amerikanischen Seite aussagte. Er äußerte seine Bedenken bezüglich der doppelten Nullösung öffentlich, obschon dies die CDU/CSU in den Wahlen vom Januar 1987 Stimmen kostete. Als klar wurde, daß sowohl die Amerikaner wie die Sowjets und Kohls Außenminister Genscher die Nullösung wollten, gab Kohl nach, ging dann aber noch weiter und bot an, auch die 72 Pershing 1A-Abschußgeräte der Bundeswehr, die in dem vorgeschlagenen Übereinkommen nicht eingeschlossen waren, zur Verschrottung freizugeben.

Helmut Schmidt äußerte in diesem Zusammenhang in einigen Artikeln, daß er von Präsident Carters allzu blindem Vertrauen in die Entspannung während der ersten drei Jahre seiner Regierung und dem ebenso blinden Umschwenken zu einem Antisowjetismus nach der sowjetischen Invasion Afghanistans 1979 nicht beeindruckt gewesen sei. Schmidt bezichtigte im nachhinein Carter der Unstetigkeit und Unberechenbarkeit und schlug den Westeuropäern eine Schwerpunktverlagerung des Bündnisses auf französische Führung vor Bonn und Paris sollten näher zusammenrücken, um die westeuropäische Sicherheit und Zusammenarbeit zu gewährleisten. Die Vertreter des konservativen Flü-gels der CDU/CSU folgerten, daß Bonn mit Moskau den bestmöglichen Handel abschließen sollte, bevor der erwartete Rückzug der USA Westeuropa geopolitisch den Sowjets ausliefere. Die politische Mitte, geführt von Hans-Dietrich Genscher, bestand auf der Einschätzung, daß Gorbatschow ein Freund des Friedens und einer zumindest teilweise freiheitlichen Weltordnung sei. und setzte ihr Vertrauen weiterhin auf internationales Recht und Übereinkünfte. Die SPD-Linke intensivierte ihre Beziehungen zur DDR und ging dabei so weit, im September 1987 eine gemeinsame Stellungnahme zur europäischen Sicherheit herauszugeben. Keine dieser Gruppen glaubte mehr daran, daß das Gesetz des Handelns in der gesamteuropäischen Politik und Diplomatie noch bei den USA lag. Die Frage war, welche Konsequenzen die Bundesrepublik aus diesem Rückzug Washingtons von Macht und Einflußnahme ziehen sollte.

Im September 1987 besuchte Erich Honecker die Bundesrepublik. Die wenigen, die in den USA dieses Ereignis überhaupt zur Kenntnis nahmen, reagierten höflich. Niemand schien zu bemerken, daß der Respekt und die Anerkennung seiner Legitimität. die Honecker gezollt wurden, in offenem Gegensatz zu der von den USA festgesetzten Position stand, wie sie beispielsweise von Außenminister Shultz anläßlich der Eröffnung der Konferenz über Abrüstung in Europa in Stockholm im Januar 1984 formuliert worden war. daß nämlich die Teilung Europas unannehmbar und die kommunistische Herrschaft im Osten grundsätzlich unrechtmäßig sei, sie das Recht der europäischen Völker auf Selbstbestimmung verletze.

Die Perspektive einer erneuten ausschließlichen Ausrichtung der bundesdeutschen Politik auf die USA ist weder realistisch noch erwünscht. Was die USA können und auch anstreben sollten, ist, bei ihrem wichtigsten europäischen Verbündeten möglichst ein offenes Ohr zu finden. Zu diesem Zweck muß die nächste amerikanische Regierung eine konsistentere Europapolitik entwickeln. Die Europapolitik Gorbatschows, die erheblich zu seiner Popularität beiträgt, stellt dabei eine entscheidende Herausforderung dar. Washington hat sich nie in der Lage gesehen, eine schlüssige Europapolitik zu betreiben, und weder die gegenwärtige noch die künftige Generation amerikanischer Politiker haben ein starkes Interesse an oder Kenntnisse von Europa. In der Bundesrepublik wird befürchtet (oder von einigen gehofft), daß die USA ihr Engagement in Europa vermindern und ihre Truppen, die im Grunde nichts anderes sind als amerikanische Geiseln, bald abziehen werden. Dies könnte in der Tat eines Tages geschehen. Es ist die Aufgabe der Politiker sowohl in Bonn als auch in Washington, sicherzustellen, daß es nicht zur Katastrophe kommt, wenn es einmal soweit sein sollte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Übersetzung: Hans Rindisbacher Die Zeit der Studentenunruhen haben Forscher je nach Standpunkt und eigener Überzeugung als (endgültigen und überfälligen) „Durchbruch zur Moderne“ oder als „liberale Ära" bezeichnet. Vgl. Andreas Hillgruber. Deutsche Geschichte 1945 — 1982. Stuttgart 1983. S. 151 ff., und Hans-Peter Schwarz. Die Ära Adenauer 1957— 1963. Stuttgart 1983. S. 297— 306. 319— 322. Sehr kluge Bemerkungen zum Hintergrund bereits in Friedrich H. Tenbruck. Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.). Die zweite Republik. Stuttgart 1974. S. 300ff.

  2. Vgl. die rückblickenden Beiträge einiger Teilnehmer an der amerikanischen Besatzungspolitik in Robert Wolfe (Ed.). Americans as Proconsuls. Carbondale (III.) 1981. insb. die von Earl F. Ziemke und Elmer Plischke. Ziemke behauptet (S. 61). daß der amerikanische Oberbefehlshaber Eisenhower schon im August 1945 die Deutschen „nicht als siegreicher Feldherr, sondern als besorgter und verantwortlicher Verwalter“ anredete. Vgl. aber Wolfgang Benz. Potsdam 1945. München 1986.

  3. Dieser Abschnitt beruht im allgemeinen auf den Standard-darstellungen der Nachkriegsgeschichte, vor allem Alfred Grosser. Les occidentaux. Paris 1980. und Andreas Hillgruber. Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945— 1963. München 19873.

  4. Zit. bei Rolf Steininger. Deutsche Geschichte 1945— 1961. Frankfurt 1983. S. 216.

  5. Die Amerikaner bemerkten durchaus selbst die Verachtung seitens vieler Deutschen. Lucius D. Clay, der Militär-gouverneur der US-Zone, hatte keine deutschen Freunde, „weil ich fürchtete, ich könnte sie belasten. Ich hätte ihnen jede Wirkungsmöglichkeit geraubt.“ Vgl. R. Wolfe (Anm. 2). S. 108.

  6. Erst seit den späten sechziger Jahren setzte sich zunehmend die Ansicht durch. 1945 als Befreiung zu sehen. Vgl. die Erklärung des neugewählten Bundeskanzlers Willy Brandt im Oktober 1969. er verstehe sich „als Kanzler nicht eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschland“, zit. bei Karl Dietrich Bracher u. a.. Republik im Wandel 1969— 1974. Stuttgart 1986. S. 24. Am 8. Mai 1985 verkündete Bundespräsident von Weizsäcker in seiner vielbeachteten Rede: „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.“

  7. Vgl. Hans-Ulrich Thamer. Verführung und Gewalt. Berlin 1986. S. 769— 770; Hans-Peter Schwarz (Anm. I). S. 344-347. 351 -356.

  8. Die Nazis hatten die Volksgemeinschaft propagiert, und der Krieg führte sie auch herbei, nur nicht in der Art. wie das Regime es beabsichtigt hatte. Vgl. H. -U. Thamer (Anm. 7). S. 721-726.

  9. Zur überraschenden demokratischen Erneuerung seit 1945 vgl. Karl Dietrich Bracher. Zeit der Ideologien. Stuttgart 1982.

  10. Helmut Schelsky. Die Generationen der Bundesrepublik. in: Walter Scheel (Hrsg.). Die andere deutsche Frage. Stuttgart 1981.

  11. Zu „Nie wieder!" als „Grundemotion und oberstem Nachkriegsimperativ in Deutschland" vgl. Ernst Nolte. Deutschland und der Kalte Krieg. Stuttgart 19852. S. 142— 149.

  12. Vgl. hierzu Hermann Glaser. Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. München 1985; aus amerikanischer Sicht Harold Hurwitz. Comparing American Reform Efforts in Germany, in R. Wolfe (Anm. 2).

  13. Zum europäischen wirtschaftlichen Hintergrund vgl. Alan Milward. The Reconstruction of Western Europe 1945 — 51. London 1984; zum amerikanischen politischen Hintergrund John Gimbel. The Origins of the Marshall Plan. Stanford 1976; zur Wirkung in Deutschland Werner Abelshauser. Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980. Frankfurt 1983. S. 54-63.

  14. Zur sowjetischen Deutschlandpolitik 1945— 1949 vgl. Hans-Peter Schwarz. Vom Reich zur Bundesrepublik. Stuttgart 19802; E. Nolte (Anm. 11). S. 137ff. Norman Naimark vom Russian Research Center an der Harvard-Universität arbeitet z. Zt. an einem Buch über diese Frage.

  15. Vgl. Wolfgang Benz. Die Gründung der Bundesrepublik. München 1984. S. 81— 98.

  16. Norbert Wiggershaus. Die Entscheidung für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag, in: Roland Förster u. a.. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. Bd. I. München 1982; Hans-Peter Schwarz. Die Ära Adenauer 1949— 1957. Stuttgart 1981. S. 104-118. 135-141. 287 -299.

  17. Wilfried Loth. Der Koreakrieg und die Staatswerdung der Bundesrepublik, in: Josef Foschepoth (Hrsg.). Kalter Krieg und Deutsche Frage. Göttingen 1985.

  18. Die Literatur zur Stalin-Note ist im Laufe der Zeit angeschwollen. Zur Einführung vgl. Hermann Graml. Die Legende von der verpaßten Gelegenheit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 29 (1981). $. 307— 341. Zur Frage der Echtheit des Angebots vgl. Rolf Steininger. Eine vertane Chance. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung. Bonn 1985.

  19. Fred Kaplan. The Wizards of Armageddon. New York 1983. S. 144— 146. Vgl. Lawrence Freedman. The Evolution of Nuclear Strategy. London 1981. S. 166— 170.

  20. Adam Ulam beschreibt die sowjetische Globalstrategie in den Jahren 1958— 1962 als Ausdruck eines „Meisterplanes", vgl. The Rivals. New York 1971. S. 294.

  21. Vgl. Klaus Hildebrand. Von Erhard zur Großen Koalition 1963-1969. Stuttgart 1984. S. 310-314.

  22. Selbständig veröffentlicht Stuttgart 1963. Vgl. E. Nolte (Anm. II). S. 452— 458; A. Hillgruber (Anm. 1). S. 82— 84.

  23. Vgl. das Wehner-Zitat bei E. Nolte (Anm. 11). S. 464.

  24. Eine einfühlsame Darstellung Amerikas in den sechziger Jahren gibt Allen J. Matusow. The Unraveling of America. New York 1984. Die beste, weil am wenigsten selbstgerechte Darstellung der Geschichte der amerikanischen Neuen Linken ist die von Todd Gitlin. The Sixties: Yearsof Hope. Days of Rage. New York 1987. Für den transatlantischen Zusammenhang vgl. E. Nolte (Anm. 11). S. 495— 510.

  25. Vgl. Helga Haftendorn. Sicherheit und Stabilität. München 1986.

  26. „Wandel durch Wettbewerb?", in: Die Zeit vom 14. März 1986.

  27. Lawrence Freedman. The Fading Myth of Flexible Response, in: The Price of Peace, London 1986.

  28. Für die Vorgeschichte der SDI in den USA und ihr politisches Schicksal bis heute vgl. jetzt Angelo Codevilla. While Others Build. New York 1987. Codevilla arbeitet seit 1979 über strategische, rüstungskontrollpolitische und technische Fragen der Raketenabwehr.

  29. Vgl. Schmidts Aufsatzreihe in: Die Zeit vom 28. November 1986 und 15.. 22. und 29. Mai 1987.

Weitere Inhalte

David R. Gress. Ph. D., geb. 1953 in Kopenhagen; Mitarbeiter der Weekendavisen Berlingske Aften. 1984 Auswanderung in die USA; seit 1985 Resident Fellow an der Hoover Institution. Stanford University. Veröffentlichungen u. a.: (Ed.) Report of European Congress on Freedom and the Future. Stege (Dänemark) 1981; What the West Needs to Know About German Neutralism. in: Commentary. Januar 1983; Peace and Survival: West Germany, the Peace Movement. and European Security. Stanford 1985; Neutralism and World Order, in: William Kintner (Ed.), Arms Control: The American Dilemma, Washington 1987; The Nordic Countries, in: Gerald Dorfman (Ed.), The Politics of Europe, Stanford 1988.