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Das Land, in dem die Widersprüche blühen. Betrachtungen zu Politik und Gesellschaft in Italien | APuZ 39/1988 | bpb.de

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APuZ 39/1988 Das Land, in dem die Widersprüche blühen. Betrachtungen zu Politik und Gesellschaft in Italien Italien nach dem Faschismus. Eine Gesellschaft zwischen postnationaler Identität und europäischer Integration Kultur und Politik in den deutsch-italienischen Beziehungen

Das Land, in dem die Widersprüche blühen. Betrachtungen zu Politik und Gesellschaft in Italien

Angelo Bolaffi

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Zusammenfassung

Italien ist ein Land, in dem die Widersprüche blühen. Wirtschaftlichen Erfolgen steht eine Fülle gesellschaftlicher und politischer Probleme gegenüber. So haben es die großen Gewerkschaftsbünde nicht vermocht. sich auf die sozialen und politischen Erfordernisse der achtziger Jahre einzustellen. Immer noch bestehen z. B. enorme Unterschiede in der Entlohnung der italienischen Arbeitnehmer. Das Vertrauen in die großen Gewerkschaftsbünde schwindet, neue Gewerkschaften und gewerkschaftliche Basiskomitees entstehen, die Zuständigkeit der Gewerkschaften in Tariffragen wird häufig von den Arbeitnehmern selbst angezweifelt. Der Linksterrorismus ist heute kein Phänomen mit „Massencharakter“ mehr, wie er es noch in den siebziger Jahren war. Die politischen Schwerpunkte liegen heute auf der Diskussion über die Reform des politischen Systems, das sich als unfähig erwiesen hat. die drängendsten Probleme zu lösen und neue politische Strömungen und Gruppen aufzunehmen. Die Notwendigkeit einer Verfassungsreform, insbesondere einer Reform des Wahlrechts wird allgemein bejaht. Die Kraft zur Reform müssen Italien und die italienischen Parteien aus der eigenen Krise hervorbringen, und hier liegt vielleicht ein weiterer Widerspruch Italiens: Denn ist ein System, das die Kraft hat. sich selbst zu reformieren, überhaupt grundsätzlich reformbedürftig?

Sicher blühen in Italien nach wie vor — wie zu Goethes Zeiten — auch Zitronen, glühen Goldorangen weiterhin in dunklen Hainen. Doch vor allem blühen die Widersprüche, die dieses Land von außen oft so schwer verständlich machen und vieles fremd und „ungereimt“ erscheinen lassen. Das moderne, wirtschaftlich dynamische Italien ist schwer zusammenzubringen mit alledem, was Italien weiterhin als scheinbar oder tatsächlich rückständiges Land ausweist: Routinemeldungen über Regierungskrisen und Neuwahlen, bei denen dann alles beim alten bleibt, Streiks, Unruhen, Attentate. Sollte vielleicht Hegel doch recht haben, wenn er behauptet. daß Widerspruch Bewegung ist. Veränderung, Transformation?

Italien bleibt zuerst einmal trotz aller Modernisierungsprozesse und der — nicht zuletzt durch die zahlreichen privaten und öffentlichen Fernsehkanälen geförderten — Angleichungstendenzen in Denkweisen und Konsumformen ein Land extremer Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten. Modernste Produktions-und Organisationsverfahren — vor allem im Design, aber beileibe nicht nur bei Mode und Möbeln — stehen neben einer weitverbreiteten Schattenwirtschaft. Starre staatliche Normen und Reglementierungen scheinen in erster Linie dazu geeignet, die allerflexibelsten und phantasievollsten Wege zu ihrer Umgehung hervorzubringen. Konsistente Einkommensquellen finden keinen Niederschlag bei den Finanzämtern, auch wenn die Statistiker dank modernster Methoden inzwischen haben nachweisen können, daß das italienische Sozialprodukt um mindestens 20 Prozent höher veranschlagt werden muß als offiziell ausgewiesen. ohne daß dabei die Einkünfte aus dem organisierten Verbrechen, das in einigen Landesteilen das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellt, berücksichtigt wären.

Italien hat starke Gewerkschaften, die — so scheint es — viele entscheidende Räder zum Stillstand bringen können, aber gleichzeitig können illegale Arbeitsverleiher fast unbehindert Arbeitskräfte zu Bedingungen rekrutieren, die den von Wallraff beschriebenen „Ganz-unten“ -Erfahrungen in nichts nachstehen. Zehntausende von Betrieben verdanken ihr Überleben auf dem Markt der Hinterziehung von Sozialabgaben. Hunderttausende meist farbiger Einwanderer strömen in ein Land mit offenen Grenzen, in dem selbst Millionen Bürger aus wirtschaftlichen Gründen zur Auswanderung gezwungen waren. Anderthalb Millionen Jugendliche finden keine feste sozialversicherungspflichtige Arbeit, aber es wäre unangemessen, daraus auf Massenverelendung schließen zu wollen.

Die folgenden Ausführungen sollen einige Aspekte der widersprüchlichen Entwicklung Italiens beleuchten. wobei nicht mehr beansprucht wird, als ein Schlaglicht auf wichtige Phänomene zu werfen, ein paar Steine eines Kaleidoskops für einen Augenblick im Stillstand zu betrachten, wohl wissend, daß dies kein Gesamtbild und noch weniger eine umfassende Interpretation bieten kann.

I. Gewerkschaften und Arbeitsmarkt

Die Gewerkschaften haben über die italienischen Landesgrenzen hinaus erst Beachtung gefunden nach der scheinbaren Zäsur (scheinbar, weil Geschichte kaum je in klaren Brüchen und Zäsuren abläuft) von 1969. d. h.der Welle militanter gewerkschaftlicher Kämpfe, die als „Heißer Herbst“ bekannt wurde. Nur am Rande sei hier vermerkt, daß diese Ereignisse kurz nach dem Höhepunkt der Studentenbewegung von 1968 stattfanden, deren zwanzigjähriges Jubiläum gerade in Festschriften, Konferenzen und nostalgischen oder kritischen Rückblicken begangen wird.

Als Modell und neuer Hoffnungsträger der einen und als Horrorvision eines aufgrund unkalkulierbarer Dauerstreiks ständig am Rande des Chaos lebenden Landes der anderen haben der „Heiße Herbst“ und die folgenden Jahre der Machtentfal-B tung der italienischen Gewerkschaften einige Jahre lang viel Interesse erfahren und die Meinungen extrem polarisiert. Inzwischen ist Italien zur fünft-größten Industriemacht der westlichen Welt aufgestiegen, und kürzlich hat sogar das englische Wirtschaftsmagazin „Economist“ diesem Land, das vor noch nicht langer Zeit für Spaghetti, Mafia und „Florence“ stand, eine Titelgeschichte gewidmet. Die Gewerkschaften hingegen machen kaum noch Schlagzeilen, und es sind inzwischen vornehmlich die Experten der „industrial-relations“ -Forschung, die sich überhaupt noch für sie interessieren und denen sie in erster Linie zur Veranschaulichung eines „Gegenmodells" zu den stark institutionalisierten Gewerkschaften etwa Schwedens und Österreichs dienen.

Die ersten Jahrzehnte des Nachkriegsitalien waren gekennzeichnet durch die Konkurrenz der Richtungsgewerkschaften CGIL. CISL und UIL ). die sich ab 1970 einander stark angenähert hatten und in denen es für einige wenige Jahre die Hoffnung auf eine definitive Überwindung der im Zuge des Kalten Krieges entstandenen Spaltung und auf eine Wiedervereinigung in einer großen Einheitsgewerkschaft gab. Diese Hoffnung ist jedoch mit den scharfen zwischengewerkschaftlichen Konflikten in den frühen achtziger Jahren und dem daraus resultierenden Bruch von 1984, in dessen Folge die bis dahin bestehenden einheitlichen Strukturen aufgelöst wurden, gescheitert. Dennoch ist es nicht zu einer Neuauflage des extrem feindseligen Konkurrenzverhältnisses gekommen, das in den ersten 15 Jahren des Nebeneinanders der Gewerkschaftsbünde die gewerkschaftliche Kraft geschwächt hatte. Heute wird in vielen Bereichen gemeinsame Politik gemacht, werden gemeinsame, wenn auch nicht immer einheitliche Positionen am Verhandlungstisch vertreten und gemeinsame Tarifabschlüsse vereinbart.

Doch ist unverkennbar, daß die weitverbreiteten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften die einzelnen Organisationen dazu zwingen, ihr jeweiliges Selbstverständnis stärker auszudifferenzieren und in der Außen-wie in der Binnendarstellung deutlicher erkennbar zu machen. Bei diesem Versuch dienen sowohl die eigenen historischen Traditionen und Parteibindungen als auch die damit verbundenen Deutungsmuster gesellschaftlicher Machtstrukturen und Interessenlagen als Unterscheidungskriterien, wobei im Vordergrund der jeweiligen Bemühungen das gemeinsame Interesse steht, die eigene Mitgliederstruktur stärker der so-zialen Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung anzugleichen.

Interessant ist hierbei, daß — genau besehen — die ideologischen Trennungslinien, die zwischen den drei italienischen Gewerkschaftsbünden verlaufen, sicherlich nicht tiefer, nicht unversöhnlicher sind als die Differenzen, die die verschiedenen Einzelgewerkschaften des DGB häufig an einer überzeugen-deren Solidarität hindern.

Nach den letzten verfügbaren Daten von 1986 haben: — die CGIL. die traditionell stärkste der Richtungsgewerkschaften. die sich etwa im Verhältnis 2: 1 aus Kommunisten und Sozialisten rekrutiert, einen Mitgliederstand von 4 647 038, davon 38. 4 Prozent Rentner; — die CISL. eine Gewerkschaft mit links-katholischer Tradition, die in der Vergangenheit eine starke, in jüngster Zeit wieder wachsende Bindung an die christdemokratische Partei aufweist. 2 975 482 Mitglieder, davon 28, 2 Prozent Rentner; — die UIL, die der sozialistischen, der sozialdemokratischen und der republikanischen Partei nahe-steht. 1 305 682 Mitglieder, davon 12. 3 Prozent Rentner.

Alle drei großen Gewerkschaftsbünde zusammen hatten also 1986 8 928 202 Mitglieder; der gewerkschaftliche Organisationsgrad unter den abhängig Erwerbstätigen betrug 39. 5 Prozent.

Allein seit 1980 haben CGIL. CISL und UIL 1 270 000. d. h. 17. 2 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Am stärksten hiervon betroffen war die CGIL (minus 21. 5 Prozent). Die CISL verlor 14, 7 Prozent. Nur die UIL konnte einen Zuwachs verbuchen (plus 2. 4 Prozent). Nach wie vor bleibt die CGIL jedoch mit 52 Prozent aller gewerkschaftlich Organisierten die stärkste der drei Gewerkschaften. gefolgt von der CISL mit 31. 3 Prozent und der UIL mit 14. 6.

Starke Verschiebungen haben im letzten Jahrzehnt auch in der Verteilung der Gewerkschaftsmitglieder auf die verschiedenen Wirtschaftsbereiche stattgefunden. wobei diese Verschiebungen Ausdruck der allgemeinen Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur sind: In der Industrie nahm die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder um 24, 6 Prozent ab. in der Landwirtschaft gar um 36, 2 Prozent, während es im privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich einen starken Zuwachs gab. CISL und UIL haben heute die Mehrheit ihrer Mitglieder im Dienstleistungssektor, nur die CGIL hat ihr Schwergewicht weiterhin unter den Beschäftigten der Industrie (49. 8 Prozent), vor allem unter denen des Nordens.

Schwerwiegender noch als der Mitgliederverlust wiegt die Einbuße an gesellschaftlichem Prestige, die die Gewerkschaften in den letzten Jahren erfahren haben. Ihr Anspruch, allgemeine gesellschaftliche Interessen zu vertreten, ist dem weitverbreiteten Eindruck gewichen, sie verträten im wesentlichen die Sonderinteressen der stärkeren Gruppen des Arbeitsmarkts und traditionelle Arbeiterinteressen, kaum aber die Interessen der neuen Berufsgruppen und der Höherqualifizierten. Gleichzeitig fühlen sich mehr und mehr einzelne Berufsgruppen vor allem des öffentlichen Dienstes, die bisher zu den Gewerkschaften standen, von diesen nicht mehr ausreichend vertreten und gründen — neben den ohnehin schon bestehenden zahlreichen „autonomen“ Gewerkschaften — eigene Basiskomitees (COBAS). In den letzten Monaten kamen diese COBAS gar nicht mehr aus den Schlagzeilen heraus. weil die von ihnen organisierten Streiks Unruhe in die Schulen, die Krankenhäuser, die Flughäfen und Eisenbahnen trugen und diese zum Teil lahm legten.

Man kann also mit Fug und Recht davon sprechen, daß die Gewerkschaften schwer angeschlagen sind, auch wenn sie sich inzwischen ihrer Krise bewußt sind und Überlegungen anstellen, wie sie verlorenes Terrain wiedergewinnen können.

Um noch einmal die Ausgangssituation in den Jahren nach 1969 ins Gedächtnis zu rufen: Damals wurden die Gewerkschaften auch außerhalb der Betriebe zur stärksten Massenbewegung im Kampf für soziale Reformen. Sie wurden Adressaten unerfüllter Ansprüche und Forderungen auch von Gesellschaftsschichten. die nicht unmittelbar zu den Lohnabhängigen gehörten. Man sprach damals von „pansyndikalistischen“ Bestrebungen der Gewerkschaften, von einem unzulässigen Versuch, in den Zuständigkeitsbereich der politischen Parteien und des Parlaments einzudringen. Diese starke Mobilisierungswelle hat die Wahlerfolge der KPI von 1975 und 1976 ermöglicht, die diese in den Bereich der Regierungsverantwortung brachten und die Phase der „nationalen Einheit“ (1976— 1979) einleiteten, während der die KPI die Regierungen von außen stützte.

Die neuesten Daten über den italienischen Arbeitsmarkt können leicht dazu verführen, die Situation als dramatisch einzuschätzen. Ende Oktober 1987 betrug die Zahl der Arbeitslosen 2 930 000. die Arbeitslosenrate hatte 12. 3 Prozent erreicht. Wenn man genauer hinschaut, vor allem auch die in Italien angewandten Erhebungsmethoden beachtet (nach denen Hausfrauen. Studenten und Rentner mitgezählt werden, wenn sie erklären, zu bestimmten Bedingungen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen), so reduziert sich die Zahl der „Arbeitslosen im engen Sinn“, d. h.derjenigen, die zuvor ein festes Arbeitsverhältnis hatten, auf wenig mehr als eine halbe Million. Allerdings gibt es anderthalb Millionen jugendliche Berufsanfänger, die als arbeitslos registriert sind (was in Italien möglich ist, auch wenn man nicht tatsächlich „arbeitslos“ ist), weil sie oft nur eine ungeregelte, ungesicherte und ausbildungsfremde Beschäftigung haben und eine andere Arbeit suchen.

Die Statistik erlaubt es ferner, sechs Millionen „Arbeitspositionen“, d. h. arbeitsrechtlich nicht abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse („jobs“) auszumachen, die potentiell zur Schaffung von circa zwei Millionen fester Arbeitsplätze genutzt werden könnten. Ist die Klage der Gewerkschaften über die hohe Arbeitslosigkeit also ohne Grund? Ist die Arbeitslosigkeit in Italien nur ein Paradox — wie die bekannten Sozialwissenschaftler Aris Accornero und Fabrizio Carmignani in einer Studie über die „Paradoxa der italienischen Arbeitslosigkeit“ nachzuweisen versucht haben?

Wie die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse einer vom Arbeitsministerium eingesetzten Kommission unter dem Vorsitz von Pierre Carniti, dem früheren Generalsekretär der CISL, gezeigt haben, haben die gewerkschaftlichen Bemühungen der letzten 15 Jahre nicht ausgereicht, die Lohn-und Gehalts-struktur Italiens gerechter, transparenter und ratio 4 naler zu gestalten. Die Gewerkschaften sind auf ihrem ureigensten Feld, d. h. bei der Formulierung und Durchsetzung gesellschaftlich akzeptabler Kriterien der „gerechten“ Entlohnung verschiedener Formen von Arbeit gescheitert. War es. ausgehend von 1969. vorrangiges Ziel der Gewerkschaften, die großen Lohn-und Gehaltsunterschiede abzubauen, willkürliche Leistungsbewertungen zu überwinden und vor allem auch niedrig qualifizierte Arbeit unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit aufzuwerten, so ist heute klar, daß dieses Ziel unerreicht geblieben ist.

Aber auch das seit den späten siebziger Jahren verfolgte Ziel, nicht nur Unterschiede in der Entlohnung einzuebnen, sondern auch Kriterien zur Bewertung von Qualifikationen zu finden und in der Entlohnungsstruktur in Rechnung zu stellen, wurde nicht erreicht. Nach den Ergebnissen der Carniti-Kommission scheinen für die Unterschiede in der Entlohnung weder die jeweilige Produktivität noch die Berufsqualifikation besonders ins Gewicht zu fallen. Die Unterschiede liegen vielmehr eher darin begründet, ob man im privaten oder im öffentlichen Sektor arbeitet und ob der jeweilige Arbeitsbereich der internationalen Konkurrenz ausgesetzt ist oder nicht. Feststeht, daß die Löhne eines großen Teils der Industriearbeiter gerade jener Großunternehmen.deren Produktivität aufgrund der Modernisierungsinvestitionen der letzten Jahre erheblich gestiegen ist. auf dem Niveau des Existenzminimums liegen, während im Bereich der privaten (Banken) und der öffentlichen Dienstleistungen (hier mit extremen Unterschieden zwischen Angestellten verschiedener Ministerialbereiche) weitaus höhere Entlohnungen üblich sind. Die gewerkschaftlichen Bemühungen um Vereinheitlichung haben wenig Einfluß auf den Lohndschungel gehabt. Häufig wird sogar von Arbeitnehmern die Zuständigkeit der Gewerkschaften in Tariffragen in Frage gestellt, weil sich einseitige Zugeständnisse von Firmenleitumngen auf dem Lohnkonto mehr auszahlen als die geringen Erhöhungen, die ingewerkschaftlichen Tarifverhandlungen durchgesetzt werden können. Was für Löhne und Gehälter gilt, gilt ebenso für den Bereich der Renten und Pensionen: Ein ehemaliger Bankangestellter hat etwa das Dreifache von dem. was ein ehemaliger Industriearbeiter im Ruhestand erwarten kann. Zudem haben Mitarbeiter bestimmter Bereiche des öffentlichen Dienstes das Privileg, schon in recht jungen Jahren (nach knapp 15 Jahren für Frauen, nach knapp 20 Jahren für Männer) auf weitere geregelte Erwerbsarbeit verzichten zu können, weil sie bereits ihre Pensionen beziehen können. Auch wenn derart augenfällige Privilegien gewiß von den Gewerkschaften verurteilt werden, so ist es doch ungeheuer schwierig, gewachsene Besitzansprüche zu beseitigen, zumal die Gewerkschaften dies auch gegen Teile ihrer eigenen Mitglieder durchzusetzen hätten.

In diesem Rahmen konnte lediglich ein Schlaglicht auf die Situation der italienischen Gewerkschaften geworfen werden. Was zusammenfassend gesagt werden kann, ist, daß die Gewerkschaften — und hierin liegt ihre heutige Krise — nicht rechtzeitig alte Konzeptionen und Zielsetzungen überdacht und revidiert haben, neue Interessenlagen und Bedürfnisse nur unzureichend in politische Forderungen umsetzen konnten und somit, auch an ihren eigenen Zielsetzungen gemessen, letztendlich gescheitert sind: — Sie haben kaum mehr Gleichheit in den Lohn-und Arbeitsbedingungen geschaffen. — Sie haben keine Linie gefunden, die den extrem zersplitterten Arbeitsmarkt hätte stärker vereinheitlichen können. — Sie haben keine Avantgarderolle bei der Durchsetzung gesellschaftlich anerkannter Wertevorstellungen mehr (einen authentischen Wert der Arbeiterbewegung wie den der „Solidarität“ vertreten heute etwa katholische Basisgruppen glaubwürdiger).

— Sie sprechen immer weniger die Jugendlichen an, die sie als „Arbeitslose“ zu verteidigen vorgeben. Zudem tun sich neue — für die Gewerkschaften schwer zu bewältigende — Widersprüche auf: Die Einsicht, daß die chaotische Industrialisierung. Motorisierung und Urbanisierung die Natur-und Kulturschätze Italiens zerstört, breitet sich spät, jetzt aber mit der Schnelligkeit eines Flächenbrandes aus. Die grüne Bewegung wächst. Auch hierauf sind die Gewerkschaften nicht ausreichend vorbereitet.

II. Der italienische Linksterrorismus in den siebziger Jahren

Im europäischen Panorama stellt der italienische Terrorismus wahrscheinlich einen Sonderfall dar. Dies vor allem aus zwei Gründen: — Erstens war der Entstehung des „roten“ oder „linken“ Terrorismus zu Anfang der siebziger Jahre ein Zyklus politischer und gewerkschaftlicher Kämpfe vorausgegangen — es genügt, an den „Heißen Herbst“ zu erinnern —.der weder im Nachkriegsitalien noch irgendwo sonst in Europa seinesgleichen hatte. Vergleichbar damit sind lediglich die sozialen und politischen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre. Der Terrorismus wurde nicht durch eine Blockierung der Demokratie ausgelöst, durch eine Verengung oder Gefährdung demokratischer Spielräume, sondern eher durch die allgemeine „Unregierbarkeit“ des Systems. Die Entstehung und das Erstarken des Terrorismus fielen zusammen mit der Annäherung der KPI an die Regierung. die durch deren Wahlerfolge und die von Berlinguer betriebene Strategie des „historischen Kompromisses“ ermöglicht wurde und die die Aussicht bot.den 1947 erfolgten Bruch zwischen den antifaschistischen Parteien zu überwinden. — Zweitens hatte das Phänomen des Terrorismus im Unterschied zu anderen Ländern und vor allem zur Bundesrepublik in Italien zwischen 1977 und 1980 einen Massencharakter. In bezug auf den Terrorismus wurde von einer „bewaffneten Partei“ gesprochen. Die Zahl der Verhafteten ging in die Tausende. Einer der bedeutendsten Politiker der ersten italienischen Republik, Aldo Moro, wurde entführt und ermordet. Es wurden Ausnahmegesetze erlassen, die systematisch das Prinzip der Legalität des Rechtstaats verletzten und bis hin zur gesetzlichen Einführung der „Kronzeugenregelung“ gingen. Aber Italien ist auch das Land, in dem es dank der Parteien und religiösen Vereinigungen, insbesondere der katholischen Kirche gelang, in relativ kurzer Zeit zu Formen der Aussöhnung zu gelangen, das Strafmaß der Verurteilten zu reduzieren, ihre Haftbedingungen zu verbessern und viele von ihnen aus den Gefängnissen zu entlassen.

Der folgende Versuch, verschiedene Strategien und Gruppen des italienischen Terrorismus zu analysieren, bezieht sich ausdrücklich nur auf das Phänomen des Linksterrorismus. Allerdings muß daran erinnert werden, daß es in den siebziger Jahren und auch schon zuvor einen starken Rechtsterrorismus gab, der im Verbund mit den außer Kontrolle geratenen Geheimdiensten viele blutige Attentate verübt hat (z. B. Bombenanschläge auf die Mailänder Landwirtschaftsbank 1969, auf eine Gewerkschaftskundgebung in Brescia 1974, auf den Schnellzug Italicus 1974 und auf den Bahnhof von Bologna 1980). Diesen Attentaten fielen insgesamt nicht weniger als 150 Menschen zum Opfer, die Zahl der Verletzten ging in die hunderte.

Doch beschränken wir uns auf den Linksterrorismus. Dessen stärkste und entschiedenste Gruppe war zweifellos die der Roten Brigaden. Die ersten spektakulären öffentlichen Auftritte dieser Organisation waren die Entführung, „Aburteilung“ und spätere Freilassung des Genueser Richters Mario Sossi im Jahre 1974 und die Ermordung des Genueser Generalstaatsanwalts Francesco Coco im Juni 1976. Dieser Mord wurde wenige Tage vor den Parlamentswahlen verübt, in denen die KPI das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte erzielte. Das erklärt. warum die KPI anfangs große Schwierigkeiten hatte, das Phänomen des Linksterrorismus wirklich zur Kenntnis zu nehmen und darin etwas anderes zu sehen als ein Komplott der Rechten, das den Vormarsch der Linken diskreditieren sollte.

Die Wurzeln des bewaffneten Kampfes und der großstädtischen Guerilla liegen in den Studenten-und Arbeiterkämpfen Ende der sechziger Jahre. Die historisch-ideologischen Bezugspunkte waren zum einen ein den Mythen Stalin und Mao verhafteter Marxismus-Leninismus und zum anderen eine radikale, auf die Dritte Welt verweisende Theologie. die ihre Rechtfertigung aus einer ins Extreme gewendeten „Theologie der Befreiung“ gewann.

Die Geschichte der Roten Brigaden begann in den Hörsälen der Freien Universität von Trient, von wo Mitte der sechziger Jahre die Studentenbewegung ihren Ausgang genommen hatte und bald auf fast alle anderen italienischen Universitäten übergesprungen war. 1969 vertraten Renato Curcio und andere Mitglieder des 1967 gegründeten Kollektivs „Negative Universität“ offen die Notwendigkeit einer „Reaktion gegen den Staat und sein System“, wobei der bewaffnete Kampf für notwendig erachtet wurde. In offenkundiger Polemik gegen den Reformismus der offiziellen Arbeiterbewegung lautete die Parole: „Den bürgerlichen Staat reformiert man nicht, er muß besiegt werden.“

Es entstanden die Aktionsgruppen der Partisanen (GAP), denen — bis zu seinem gewaltsamen Tod im Jahre 1972 — auch der Verleger Giangiacomo Feltrinelli angehörte. Anfangs beschränkten sich die Aktivitäten noch auf demonstrative Akte, aber wenige Jahre später kamen andere autonome Gruppen hinzu und bildeten im industriellen Dreieck des italienischen Kapitalismus (Genua-Mailand-Turin) quasi als Pendant ein „terroristisches Dreieck“. Aus diesen Gruppierungen entstanden später die Roten Brigaden. Insbesondere sei an das „Collettivo politico metropolitano“ erinnert, dem nicht nur Studenten, sondern auch autonome Arbeitergruppen angehörten, die in vielen Großbetrieben (SIT-Siemens, IBM, Pirelli, Alfa Romeo) während des „Heißen Herbstes“ entstanden waren. Man hatte sich für die Stadtguerilla und den bewaffneten Kampf entschieden.

Ein weiteres wichtiges Datum war der Februar 1971 mit der Gründung der Zeitschrift „Nuova Resistenza“, in der der baldige Zusammenbruch des — durch unversöhnbare Widersprüche morsch gewordenen — „Systems“ prophezeit und der bewaffnete Kampf der revolutionären Avantgarden angekündigt wurden. Dieser Kampf werde „von der Krise des Regimes zum Kommunismus“ führen: „Eine Blume ist aufgeblüht, die Blume des bewaffneten Kampfs.“

Damit war definitiv die Entscheidung für den „bewaffneten Kampf“ gefallen, und — anfangs noch auf den industriellen Norden begrenzt — begann sich der Terrorismus nun langsam in Richtung Süden und nach Rom hin auszubreiten. Auch in verschiedenen Städten des Veneto faßte er Fuß. wo die traditionellen Hochburgen der Gruppe „Potere operaio“ lagen. Diese standen allerdings der antiimperialistischen Dritte-Welt-Ideologie marxistisch-leninistischer Prägung, wie sie die Roten Brigaden vertraten, ablehnend gegenüber.

Ein weiterer Faktor hat damals maßgeblich zum Erstarken des „bewaffneten Kampfs“ beigetragen, nämlich die im gesamten Lager der extremen Linken verbreitete Befürchtung, ein Staatsstreich von rechts stehe unmittelbar bevor. Um die „Faschisti7 sierung des Staats“ abzuwehren, schien der bewaffnete Kampf legitim. Die offizielle Linke und vor allem die KPI mobilisierten ebenfalls gegen diese — auch von ihnen als real eingeschätzte — Gefahr für eine radikale Verteidigung der Demokratie, teilten aber keinesfalls die von den Roten Brigaden vertretene Auffassung, daß es notwendig sei, in den Untergrund zu gehen und den bewaffneten Abwehrkampf zu organisieren. Die ideologische Mischung aus marxistisch-leninistischer Orthodoxie und radikalen Positionen, die aus der italienischen Widerstandsbewegung gegen den Nazi-Faschismus entlehnt waren, bildete auch in den folgenden Jahren den Kern der Ideologie der Roten Brigaden.

Die terroristische Praxis der Roten Brigaden wies — darin der RAF nicht unähnlich — Variationen auf, je nachdem, was für das jeweilige symbolische Opfer als angemessenen erachtet wurde: Entführung und „proletarischer Prozeß“, gezielte Verletzung der Beine, „proletarische Enteignung“ und Mord.

Eine weitere Organisation, die teilweise in Konkurrenz zu den Roten Brigaden stand, war die der „Nuclei armati proletari" (NAP). Diese versuchten, Bezugs-und Anziehungspunkt für alle Kräfte und Gruppen zu sein, die im bewaffneten Kampf „eine siegreiche Methode“ sahen, und wollten „die noch unentschlossenen proletarischen Avantgarden“ aufrütteln, „die noch im Bann des legalen politischen Kampfes gefangen sind“. Aber während die Roten Brigaden in der Tat eine bewaffnete Avantgarde (von Studenten und Arbeiterführern) darstellten, die gegen das „System“ kämpfte, dessen Produkt sie auch gleichzeitig waren, gaben die NAP vor. eine Avantgarde zu sein, die im Namen marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen handelte (im besonderen innerhalb der Gefängnisse und in den süditalienischen Städten). Sie blieben sowohl organisatorisch als auch faktisch weit schwächer als die Roten Brigaden und fanden mit dem Tod eines ihrer führenden Mitglieder im Jahre 1975 ihr Ende.

Der Massencharakter des terroristischen Phänomens. also der Übergang von der spektakulären Aktion kleiner bewaffneter Gruppen zur Führung und Einbeziehung einer relativ breiten Bewegung, erfolgte mit der Jugend-und Studentenbewegung von 1977. Im Unterschied zu der Studentenbewegung von 1968 bildeten für diese die Universitäten lediglich einen räumlichen Bezugspunkt; das Subjekt der Bewegung waren nicht in erster Linie Studenten. sondern die großstädtischen Jugendlichen schlechthin. In diesem Milieu wurde die organisierte „Autonomie“ (Negri. Scalzone, Piperno) zum hegemonialen Bezugspunkt. Die „Autonomie“ knüpfte an die „ouvrieristischen" Strömungen der sechziger Jahre an. Es ging um den Versuch, den Roten Brigaden die politische Führung zu entreißen, und dies nicht, weil deren Entscheidung für den „bewaffneten Kampf“ kritisiert worden wäre, sondern allenfalls wegen deren Ideologie und sektiererischen und geheimbundmäßigen Organisationsformen. Die „Autonomie“ bezog sich nicht auf das Elend der Dritten Welt, sondern auf die Realität amerikanischer Großstädte, nicht auf die Arbeiter, sondern auf die Arbeitslosen aus freiwilliger Entscheidung, nicht auf die Ideologie der Arbeit, sondern auf die der Verweigerung fremdbestimmter Arbeit.

Während des gesamten Jahres 1977 und bis zur Entführung Aldo Moros im April 1978 versuchte die „Autonomie“ ein politisches Primat zu erringen, indem sie Illegalität, gewaltsame Aktionen kleiner Gruppen und die klandestinen Teile der terroristischen Bewegung mit den offenen Massendemonstrationen miteinander zu verbinden suchte. Dabei bewegte sie sich strategisch geschickt an der Grenze zwischen Legalität und Illegalität, schuf sich eine starke Resonanz in den Massenmedien und in akademischen Kreisen sowie internationale Kontakte, wobei die Führer der „Autonomie“ ganz klar und entschieden den Übergang zu einer zweiten italienischen Republik als Ziel verfolgten. Diese Strategie wurde vereitelt durch die Entscheidung der Roten Brigaden, mit verstärktem Einsatz zu spielen und „direkt ins Herz des Staates zu stoßen“, was mit der Entführung Moros erfolgte und das Land für Monate an die Schwelle des permanenten Ausnahmezustands führte. Die militärische Logik der Roten Brigaden gewann die Oberhand über die politische der „Autonomie“, und der christdemokratische Politiker Moro wurde auf dem Altar des „Primats der Waffen“ geopfert.

Diese dramatische Wende bezeichnete gleichzeitig den Höhepunkt des italienischen Terrorismus und den Beginn seines Niedergangs, der von einer zugespitzten inneren politischen Krise ausging und in den beiden folgenden Jahren auch in organisatorischer Hinsicht zum Ende des Terrorismus führte. Das Phänomen des Linksterrorismus als tendenzieller Massenbewegung fand damit seinen Abschluß, auch wenn es bis heute immer wieder noch zu vereinzelten Attentaten kommt.

III. Das politische System

Ist das politische System Italiens heute noch in der Lage, für alte und neue Probleme durchsetzbare Lösungen zu finden? Oft hat es den Anschein, daß Italien sich von einer Regierungskrise zur nächsten „durchwurstelt“. Von außen ist schwer verständlich, wem damit gedient sein kann, da ja doch nur ganz ähnliche Kräfteverhältnisse neu bestätigt aus den Wahlen hervorgehen und wieder dieselben Parteien die nächste Regierung stellen. In Italien selbst hat seit einiger Zeit eine heftige Debatte über die Notwendigkeit eingesetzt, eine institutionelle Reform vorzunehmen, das Wahlsystem zu ändern und Mechanismen zu finden, die geeignet sind, die bestehenden Blockierungen zu überwinden. Ein Grund hierfür ist auch, daß die Ungeduld der Wähler spürbar wächst und die Wahlbeteiligung zurückgeht. Die Politiker, gleich welcher Partei, erscheinen einer wachsenden Zahl von Italienern immer mehr als eine undurchdringliche Nomenklatura, als eine Kaste, die nach ihren eigenen Gesetzen funktioniert und ihre eigenen Interessen stärker befriedigt als die der Wähler und des Landes. Der „palazzo", wie Pasolini die politische Führung Italiens genannt hat, scheint immer weiter entfernt von der realen Gesellschaft.

Italien wirkt wie ein politischer Zwerg, während seine großen Wirtschaftskapitäne in aller Welt umherschweifen. intelligent und informiert den Aufbau des „Europa der Unternehmer“ betreiben (de Benedettis Holding „Europa 1992“) und sich die Agnelli-Stiftung — wie kürzlich auf einer großen Tagung in Washington — bestätigen läßt, daß „alles zum Besten“ stehe und das politische System Italiens im Grunde keiner grundsätzlichen Reform bedürfe. Die italienische Wirtschaft erobert neue Märkte, italienische Kultur und Mode machen international Furore. Doch das politische System ist nicht mehr in der Lage, regierungsfähige Mehrheiten zu bilden.

Die 1948 entstandene, von allen antifaschistischen Parteien gemeinsam erarbeitete Verfassung wollte vor allem eines nicht mehr zulassen: die Entstehung charismatischer Führerpersönlichkeiten. Das reine Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel und das Zweikammersystem wurden eingeführt. Heute führt dies zu einer negativen balance of power. zu einer ständigen wechselseitigen Lähmung von Regierung und Opposition. Auch die damals noch nicht absehbare Sonderstellung der kommunistischen Partei (die eine der tragenden Kräfte dieser Verfassung war) als permanenter Oppositionspartei führt heute dazu, daß diese Partei ein paradoxes Oppositionsmonopol besitzt. Die KPI darf zwar mitregieren, ohne sie könnte auch gar nicht regiert werden, aber sie wird nicht direkt in die Regierung miteinbezogen, sondern nur indirekt durch ständige Absprachen.

Heute sind sich alle politischen Parteien einig darüber, daß nur neue politische Spielregeln, die der Gründung einer zweiten italienischen Republik gleichkommen, das Land wieder regierbar machen können. Uneinigkeit herrscht allerdings über die Art und Weise der Reform und deren einzelne Ziele. Natürlich gibt es Kräfte, die einfach auf mehr Ordnung, mehr Autorität setzen, andere-dagegen wollen neue Spielregeln, um notwendige Reformen und einen sozial verträglichen Modernisierungsprozeß politisch gestaltbar zu machen.

Im Unterschied zur Vergangenheit, in der Verfassungsreformen eher ein Anliegen der rechten und konservativen Kräfte waren, ist die lebhafte Debatte, die heute in Italien darüber geführt wird, mit welchen institutionellen Mechanismen das politische System sinnvoll verändert werden kann, hauptsächlich von den intellektuellen Kräften der Linken getragen. Die Ausgangsüberlegungen sind dabei — schematisch dargestellt — folgende: Wenn die Linke nicht nur zum Garanten des Status quo werden, das Bestehende verwalten und die einmal eroberten Besitzstände des Sozialstaats verteidigen will, so muß es ihr gelingen, institutioneile Innovationen durchzusetzen, die die reale Repräsentativität des politischen Systems erhöhen. Mag dies auch angesichts des in Italien bestehenden reinen Verhältniswahlrechts fast als ein Paradox erscheinen. so ist doch in Wahrheit dieses System nicht mehr in der Lage, neue politische Bewegungen und neue Forderungen wirklich aufzunehmen. Gerade die scheinbare „Hyper-Repräsentativität“ führt dazu, daß der traditionelle politische „Markt“ alle neuen Forderungen absorbiert, ohne je wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden.

Die Erfahrungen mit den großen Massenbewegungen der sechziger und siebziger Jahre haben auch deshalb eine starke Desillusionierung bewirkt, weil sich erwiesen hat, wie wenig das politische System in der Lage ist, neue Ziele und Forderungen wirklich aufzunehmen und innovative Reformen hervorzubringen. In der Regel sind die sozialen Gruppen und Bewegungen gezwungen, sich in den traditionellen Parteien Fürsprecher zu suchen, und diesen gelingt es aufgrund ihres Vertretungsmonopols leicht deren Forderungen die Spitze abzubrechen.

Eine weitere Überlegung resultiert aus der Beobachtung. daß bis heute jede auch noch so geringe reformerische Absicht in Italien eine enorme Verschwendung politischer und sozialer Energien verursacht. Inzwischen besteht ein breiter Konsensus darüber, daß bessere Ergebnisse möglich wären, wenn gleichzeitig die Entscheidungsgewalt der Exekutive und die Kontrollfunktion des Parlaments gestärkt würden. Im Gegensatz zu der Auffassung, die die Linke in Italien und anderswo vertritt, kann eine höhere Regierbarkeit des politischen Systems auch Ausdruck und Voraussetzung für eine bessere Vertretung der Interessen der Bürger sein und neuen Bewegungen mehr Partizipationsmöglichkeiten einräumen. Es geht also darum, die korporatistischen Tendenzen des Systems aufzubrechen.

Mit großer Aufmerksamkeit werden verschiedene Verfassungsmodelle anderer europäischer Länder analysiert, wie etwa die Mechanismen der Sperrklausel.des konstruktiven Mißtrauensvotums und der Doppelstimme in der Verfassung der Bundesrepublik oder das französische Wahlsystem mit seinen zwei Wahlgängen und der Stichwahl. Dabei versucht man nicht, anderswo Modelle zu finden, die ohne kritische Hinterfragung importiert werden könnten, sondern bemüht sich unter Berücksichtigung der historischen und kulturellen Besonderheiten Italiens um eine genaue Abwägung der Ergebnisse bestimmter Normen.

Man darf in der Tat nicht vergessen, was der katholische Verfassungsrechtler Roberto Ruffilli in einem seiner letzten Aufsätze vor seiner Ermordung durch die Roten Brigaden geschrieben hat: „Die Übereinkunft über das Verhältniswahlrecht war der Minimalkonsensus zwischen Kräften, die zur Koexistenz gezwungen waren, aber nicht bereit waren, ihre Differenzen über das Modell von Demokratie und Partei sowie auch über die Regierungsformen und die Freiheitsgarantien vollständig zu überwinden. In Wirklichkeit beruhte die Übereinkunft auf dem Versuch, die Auseinandersetzung um die Vormachtstellung in die Zukunft zu verschieben, was dem Sieger dann erlaubt hätte, aus seiner Machtstellung heraus, seine eigenen Regeln zu diktieren.“ Dieser „Waffenstillstand“ hat u. a. auch ernste Folgen für das Funktionieren der Staatsmaschinerie gehabt, da das Prinzip einer legalen Rationalität durch das der Parteienwirtschaft ersetzt wurde. Die Parteien — so die klarsichtige Analyse Ruffillis — „haben die Methode der Legalität aufgegeben zugunsten der wechselseitigen Anerkennung ihrer Machtpositionen in Staat und Gesellschaft und haben darauf verzichtet, gemeinsam eine Beziehung zu den Institutionen und zu den Bürgern aufzubauen. die die Autonomie der ersteren und die Selbstbestimmung der letzteren hätte stärken können“. Sie haben „damit ihre eigene Führungsrolle gekräftigt, was ihnen die weitgehend regelfreien Eingriffe in die direkte Verwaltung der öffentlichen Macht ermöglichte“.

Die Diskussion über eine inzwischen allseits als notwendig erachtete Verfassungsreform darf den Blick auf ein damit verbundenes Dilemma nicht verstellen: Dieses liegt im Zustand der politischen Parteien Italiens selbst. Die christdemokratische Partei ist weitgehend verbraucht und ist nicht mehr in der Lage, sich selbst und damit die politischen Strukturen des Landes zu erneuern. Die sozialistische Partei mit ihrem hochentwickelten Machtbewußtsein zielt darauf ab. als Zünglein an der Waage für alle möglichen Mehrheiten unverzichtbar zu sein (entsprechend der FDP in der Bundesrepublik). Die kleinen Parteien befinden sich zunehmend in einer grundsätzlichen Identitätskrise.

Wer also soll die Zweite Italienische Republik begründen? Die Gründungsväter der ersten Republik waren historisch eindeutig legitimiert, die der zweiten müßten die Kraft aufbringen, das Neue aus ihrer eigenen Krise zu schaffen. Ist dies nicht vielleicht ein Widerspruch in sich? Diese Frage hatte bereits Ernst Fraenkel in den Krisenjahren der Weimarer Republik gestellt: ist ein politisches System. das die Kraft hat. sich selbst zu reformieren. vielleicht gar nicht grundsätzlich reformbedürftig?

IV. Schlußbetrachtungen

Wie Deutschland zu Zeiten von Karl Marx scheint Italien heute gleichzeitig an den Übeln der Vergangenheit wie an denen der Gegenwart zu leiden. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ verursacht in einer komplexen Industriegesellschaft wie der italienischen instabile Verhältnisse. Eine „blockierte“ Demokratie, der die Möglichkeit zu einem wirklichen Wechsel der sie regierenden Kräfte fehlt, erlebt zugleich auch alle Probleme anderer moderner Gesellschaften, die aufgrund des konfliktorischen Pluralismus, der sich in ihnen entfaltet, tendenziell unregierbar werden.

Hier liegen die Schwierigkeiten und wahrscheinlich die Unauflösbarkeit dessen, was als der „Fall Italien“ bezeichnet worden ist. Die „Lesarten“ dieses Falls unterstellen manchmal, das Problem liege lediglich in der Rückständigkeit Italiens im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Andere Interpretationen vermuten dagegen, daß Italien in Wirklichkeit als „Laboratorium“ zu betrachten sei. in dem es möglich sei. zu erkennen, was auch das Schicksal anderer Länder sein wird. Auf Italien lastet demzufolge das besondere Gewicht seiner spezifischen historischen Entwicklung ebenso wie seine Eingebundenheit in die allgemeine Krise des Spätkapitalismus. Die negativen Aspekte des über dreißig Jahre dauernden politischen Monopols der christdemokratischen Partei treffen in Italien mit der Tatsache zusammen. daß es wie jede andere pluralistisch-korporative Demokratie von einer „schwachen“ Regierung geführt wird, und dies auf der Grundlage einer Verfassung, die ganz offensichtlich obsolet geworden ist und die keinen wirklichen „Souverän“ kennt. Wenn diese Analyse stimmt, so folgt daraus, daß die beiden Positionen, die sich in den letzten Jahren in der politologischen Debatte wechselseitig verschränkt haben, beide einseitig, allerdings auch komplementär zueinander sind. d. h. zusammengenommen und sich gegenseitig ergänzend ein recht realistisches Bild ergeben.

Die erste Position, die sich als nationalhistorizistisch bezeichnen läßt, geht von der Besonderheit des „Falls Italien“ aus und folgert das Nicht-Funktionieren des politischen Systems aus dieser Besonderheit. Dieser Analyse liegt die Philosophie des „Historischen Kompromisses“ zugrunde. Das Ziel müßte hiernach darin liegen, auf politischem Weg die Hindernisse zu überwinden, die die Ablösung der Regierung bisher unmöglich gemacht haben. Das Problem läge also nicht darin, eine Verfassungsreform durchzuführen, sondern vielmehr darin, den Geist der bestehenden Verfassung zu verwirklichen, und zwar durch ein großes Bündnis der drei politisch-kulturellen Kräfte (der katholischen, kommunistischen und liberal-sozialistischen) und durch die Neubelebung des Geistes, der die Widerstandsbewegung und die Gründung der Republik getragen hat.

Die zweite Position ist scheinbar radikaler und moderner. Sie versucht, den „Fall Italien“ vollständig in der Krise des europäischen Kapitalismus aufgehen zu lassen und ignoriert die spezifischen verfassungsmäßigen und institutionellen Mängel dieses Landes. Sie übersieht, daß die allgemeine Krise der „Unregierbarkeit“ der europäischen Industriegesellschaften in Italien besondere pathologische Formen angenommen hat, die durch sein politisch-institutionelles System bedingt sind.

Ausgewählte Literatur

Alf, S. G.: Leitfaden Italien. Vom antifaschistischen Kampf zum Historischen Kompromiß, Berlin 1977.

Amato, G.: Una repubblica da riformare. Bologna 1980.

Bolaffi, A.: L’itinerario verso una riforma „debole". in: Democrazia e diritto, (1984) 3. Candeloro, G.: Storia dell'Italia moderna, vol. X (1939-1945), vol. XI (1945-50), Milano 1984/1986.

Farneti, P.: II sistema dei partiti in Italia 1946— 1979, Bologna 1983.

Fritsche, P.: Die politische Kultur Italiens, Frankfurt a. M. -New York 1987.

Galasso, G.: L'Italia democratica, Firenze 1986. Hess, H., Italien: Die ambivalente Revolte, in: ders. (Hrsg.), Angriff auf das Herz des Staates. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1988.

Kreile, M.: Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in Italien (1968— 1982), Frankfurt a. M. 1985.

Mammarella, G.: L’Italia contemporanea 1943 — 1985. Bologna 1985.

Palma, D. di: Sopravvivere senza governare. I partiti nel Parlamento italiano. Bologna 1978.

Pasquino, G.: Partiti. societä civile, istituzioni e il caso italiano. in: Stato e mercato. (1983) 8.

Ruffilli, R.: I contrasti e le mediazioni all’origine della Repubblica. in: II Mulino, (1988) 315.

Salvati, M.: Strutture politiche ed esiti economici, in: Stato e mercato, (1982) 4.

Schoch, B.: Die internationale Politik der italienischen Kommunisten, Frankfurt a. M. 1988.

Fussnoten

Fußnoten

  1. CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro); CISL (Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori); UIL (Unione Italiana del Lavoro).

Weitere Inhalte

Angelo Bolaffi, Dr. phil.. geb. 1946; Mitarbeiter und Mitherausgeber verschiedener italienischer Zeitschriften und Magazine (u. a. Espresso. Rinascita, Democrazia e Diritto); seit 1975 Assistenzprofessor für Politische Philosophie an der Universität Rom. Veröffentlichungen u. a.: Souveränitätsverfall und Pluralismus. Ein Beitrag zu Otto Kirchheimer (erscheint 1988); Verfassungskrise und Sozialdemokratie. Hermann Heller und die Kritiker der Weimarer Verfassung am Vorabend der Krise der Weimarer Republik, in: Christoph Müller/Ilse Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat. Baden-Baden 1984; Liberale und sozialistische Elemente im „Eurokommunismus“, in: Thomas Meyer (Hrsg.). Liberalismus und Sozialdemokratie. Marburg 1987.