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Aids und Recht | APuZ 48/1988 | bpb.de

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APuZ 48/1988 Die medizinischen und virologischen Grundlagen des Erworbenen Immunmangelsyndroms Aids Aids-Prävention und Gesundheitspolitik Aids und Recht Aids: Herausforderung an unser Menschsein

Aids und Recht

Gerd Pfeiffer

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Immunschwäche AIDS breitet sich epidemisch aus. Sie bedroht viele Menschen. Diese tückische Seuche ist medizinisch noch nicht beherrschbar. Wichtige naturwissenschaftliche, soziale und ethische Fragen sind zu klären. Das bedeutet eine große Herausforderung. Der HIV-infizierte bedarf der Hilfe des Staates und der Gesellschaft. Er darf grundsätzlich nicht ausgegrenzt oder diskriminiert werden. Der einzelne steht heute bereits vor wichtigen Problemen, die rechtlich zu lösen sind. Viele Fragen können als beantwortet gelten. Aber noch viele Rechtsfolgen von AIDS harren der endgültigen Klärung.

Noch vor einigen Jahren war die Immunschwäche-krankheit AIDS unbekannt. Sie bedroht nun weltweit das Leben vieler Menschen. Bisher konnten gegen diese Krankheit keine ursächlich wirksamen Gegenmittel entwickelt werden. Der Krankheitsverlauf kann allenfalls um Monate hinausgezögert werden

Die Bedeutung dieser Krankheit veranlaßte den Deutschen Bundestag auf Anträge aller vier Fraktionen, im Mai 1987 die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Mittel zu ihrer Eindämmung“ zu beschließen. Ein Zwischenbericht ist am 16. Juni 1988 erstellt worden

I. Zur medizinischen Problematik

AIDS trat nicht als eine neue eigenständige Krankheit auf, sondern unter dem Bild bisher schon bekannter Krankheitszustände. Daher ist sie den Medizinern nicht unmittelbar aufgefallen. So ist es nicht zu verwundern, daß sich viele Gelehrte gravierend über diese neue Krankheit irrten Grund dafür ist auch die lange Inkubationszeit (Latenzzeit) von circa zehn Jahren und mehr.

Wenige Jahre nachdem die ersten AIDS-Fälle klinisch als neue Krankheit erkannt waren, gelang es 1983 Forschern vom Institut Pasteur in Paris, den Virus, heute „human immundeficiency virus“ (menschliches Immundefekt-Virus). HIV genannt, als den Erreger zu identifizieren HIV hat vor allem zwei Besonderheiten, die es so gefährlich machen: Es kann sein Genom fest in das Erbgut menschlicher Zellen einbauen, so daß es einerseits vom Immunsystem nicht mehr zu erreichen ist und andererseits von einer Zelle auf deren Tochterzellen weitergegeben wird. Vor allem infiziert HIV jene Zellen, deren Aufgabe es eigentlich ist, Krankheitserreger abzufangen und unschädlich zu machen. Alsbald nach der Infektion werden Antikörpergebildet. Die AIDS-Testmethoden basieren auf dem Nachweis dieser Antikörper im Blut, die im Zuge einer Immunreaktion gegen Komponenten des HIV-Virus gebildet werden. Allerdings können zwei oder mehrere Monate vergehen, bis nach einer Infektion solche Antikörper entstehen. Während dieser Latenzzeit sind infizierte Personen bzw. von ihnen gewonnene Blutkonserven im Antikörpertest nicht als HIV-positiv zu erkennen. Einen verbesserten AIDS-Test, der den Nachweis von HIV unmittelbar nach der Infektion ermöglicht, stellten die Mikrobiologen Loche und Mach von der Universität Genf vor. Mit dem neuen Verfahren soll das virale Erbmaterial (Genom) in befallenen Blutzellen jetzt direkt identifiziert werden können.

Die ersten Krankheitssymptome im Rahmen der HIV-Infektion können diskret sein. Oft kommt es zum Auftreten einer generalisierten Schwellung der Lymphknoten. Schwerere klinische Symptome treten erst später, oft Jahre nach der Infizierung im Stadium des ARC (AIDS-related complex) auf. Die Patienten zeigen dann meist einen erheblichen Gewichtsverlust, andauerndes Fieber und lang anhaltende Durchfälle. Häufig bestehen allgemeine Schwäche und Müdigkeit. Das Vollbild AIDS wird meist erst einige Jahre später erreicht. Das klinische Syndrom AIDS ist das schwerste Krankheitsbild, das im Gefolge einer HIV-Infektion auftritt. Es ist gekennzeichnet durch opportunistische Infektionen, d. h. Infektionen mit Mikroben, die auch beim immunologisch Gesunden — allerdings in geringer Zahl — nachweisbar sind. Diese Erreger können sich aber im Organismus, dessen Immunfunktion infolge einer HIV-Infektion gestört ist, viel stärker vermehren und dadurch Krankheitssymptome auslösen. Daneben können sich zusätzlich oder auch als einziges Krankheitssymptom maligne (bösartige) Tumore entwickeln. Die AIDS-Erkrankung verläuft meist innerhalb weniger Jahre tödlich. HIV stören nicht nur die körpereigene Abwehr, sondern sind in der Lage, das Gehirn, das Rückenmark und das Zentralnervensystem zu schädigen. Bei vielen HIV-infizierten treten Symptome einer Enzephalopathie (organische Erkrankungen des Gehirns) auf.die mit himorganisch bedingten Psychosen und unterschiedlichen neurologischen Symptomen einhergehen können Übertragungswege für HIV sind nach heutigen Erkenntnisse: die Übertragung durch Blut, Sperma-und Vaginalflüssigkeit, die gemeinsame Benutzung kontaminierter (durch schädigende Stoffe verunreinigte) Spritzbestecke bei intravenösem Drogengebrauch und die Übertragung von der infizierten Mutter auf ihr Kind. Oder mit anderen Worten: AIDS-Viren werden durch Sexualkontakt, durch Blut und perinatal von der infizierten Mutter auf das Kind übertragen. Epidemiologisch (durch die Wissenschaft von der Entstehung und Verbreitung übertragbarer Krankheiten) gesicherte Fälle von Virusübertragung durch Insekten, durch Speichel, Schweiß oder Darminhalt sind nicht bekannt -Homosexuelle Sexualpraktiken begünstigen offensichtlich die Infektionsübertragung, die aber auch durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr möglich ist Bei richtigem Gebrauch bieten Kondome eine hohe Sicherheit. Bisher ist nicht nachgewiesen worden, daß sich jemand trotz sachgemäßer Anwendung eines intakten Kondoms mit HIV infiziert hat

Die HIV-Übertragung durch Transfusionen von Blut und Blutprodukten ist belegt. Als Gegenmaßnahmen werden in der Bundesrepublik Deutschland seit 1985 alle Blutspenden getestet, HIV-positives Blut wird nicht verwendet. Ein minimales Risiko resultiert aus den sehr wenigen falschen negativen Testergebnissen und aus Blut von Spendern, die bereits HIV-infiziert sind, ohne daß sich die Infektion — nach dem bisherigen AIDS-Test — nachweisen läßt. Hoch ist das Infektionsrisiko für Besucher von Entwicklungsländern mit nur unzureichender medizinischer Infrastruktur, wenn sie dort eine Bluttransfusion erhalten

Die Zahl der Infizierten kann nur grob geschätzt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rechnet weltweit mit fünf bis zehn Millionen Virus-trägem. Ihr sind bis zum 2. September 1987 aus 123 Ländern 58 880 Erkrankungsfälle bekannt geworden (im September 1988: 111 854). Für die Bundesrepublik werden 100 000 Virusträger angenommen. Bis zum 30. September 1987 wurden vom Bundesgesundheitsamt 1 400 Erkrankte registriert (im September 1988: 2 210). Man rechnet mit einer Dunkelziffer von 100 Prozent

II. Zur verfassungsrechtlichen Situation

Auch in der Bundesrepublik hat sich die Immunschwäche AIDS — wie die Zahlen zeigen — zu einer Krankheit entwickelt, die das Leben vieler Menschen bedroht. Nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes (GG) hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Diese Vorschrift wird nicht nur als rein negatives, sich in der Abwehr staatlicher Eingriffe erschöpfendes Grundrecht verstanden. Vielmehr wird ihr eine Verpflichtung des Staates zum Schutze der hier genannten Rechtsgüter entnommen Es wird heute nicht mehr in Zweifel gezogen, daß der Staat kraft der grundrechtlichen Gewährleistung von Leib und Leben der Bürger in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG von Verfassungs wegen verpflichtet ist.der Gesundheit seiner Bürger den erforderlichen Schutz angedeihen zu lassen Welche Maßnahmen zu treffen sind, obliegt den staatlichen Organen und vor allem dem Gesetzgeber. Prüfungskriterien sind insbesondere Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit wird eine Abwägung gegen die häufig aufeinander prallenden anderweitigen grundrechtlich geschützten Interessen stattzufinden haben. Bei der Bekämpfung der HIV-Infektion geht es vor allem um die Grundrechtskollision zwischen dem Persönlichkeitsschutz des Infizierten und dem Schutz von Leben und Gesundheit des Infektionsgefährdeten. Aber auch das Recht auf Leben und Gesundheit des HIV-infizierten ist bei der Wertung zu berücksichtigen. Wird z. B. bei einer Person durch staatliche Maßnahmen die HIV-Infektion publik, so kann dieser Umstand zu schweren gesundheitlichen Schäden und sogar zum Selbstmord führen Bei jeder Abwägung sollte auch beachtet werden, daß der HIV-infizierte oder Aidskranke der Fürsorge des Staates und der Gesellschaft bedarf. Er soll grundsätzlich nicht diskriminiert oder ausgegrenzt werden. Das „Wie“ der Erfüllung der grundsätzlichen Verpflichtung des Staates zu Schutzmaßnahmen ist vor allem dem Gesetzgeber überlassen. In Anbetracht der bereits ergriffenen Informations-und Aufklärungsmaßnahmen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 28. Juli 1987 entschieden, es sei nicht erkennbar, „daß der Gesetzgeber oder Bundesregierung etwaige aus den Grundrechten zu entnehmende Schutzgebote verletzt hätten, wenn sie nach dem derzeitigen — auch internationalen — Stand der Diskussion vorrangig die Aufklärung der Bevölkerung über die Möglichkeit betreiben wollen, die Ansteckung mit AIDS zu vermeiden“.

Mit den verfassungsrechtlichen und polizeirechtlichen Problemen von Aids hat sich unter anderem Schenke beschäftigt. Ihm ist beizupflichten, wenn er ausführt: Bei AIDS handelt es sich um eine übertragbare Krankheit im Sinne des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG). Daher finden die Vorschriften der §§ 31 ff. BSeuchG Anwendung, die den Rückgriff auf die Polizeigesetze der Länder ausschließen. Allgemeine polizeirechtliche Grundsätze sind jedoch auch im Rahmen der §§ 31 ff. BSeuchG zu beachten. Bei der Entscheidung, ob eine'Person als anstekkungsverdächtig im Sinne der §§ 31 ff., 2 BSeuchG anzusehen ist, müssen die verfassungsrechtlichen Wertgehalte berücksichtigt werden. Die Gefährdung von Leib und Leben bei einer HIV-Infizierung spricht hier dafür, keine zu hohen Anforderungen an einen entsprechenden Verdacht zu stellen. Zu berücksichtigen ist aber auch, daß auf Seiten eines möglichen HIV-infizierten ebenfalls grundrechtlich geschützte Rechtspositionen durch Ermittlungsmaßnahmen tangiert werden. Von einem Ansteckungsverdacht kann bei intravenös Drogensüchtigen sowie bei männlichen und weiblichen Prostituierten ausgegangen werden. § 31 Abs. 1 BSeuchG bildet die Basis für Ermittlungsmaßnahmen gegenüber HIV-Infektionsverdächtigen. § 32 Abs. 2 S. 1 BSeuchG ist die Grundlage für entsprechende Untersuchungen. Schutzmaßnahmen sind in den §§ 34 ff. BSeuchG vorgesehen. Dabei enthält § 34 Abs. 1 S. 1 BSeuchG insoweit eine seuchenrechtliche Generalklausel. Die folgenden Vorschriften bestimmen eine Reihe von Spezialbefugnissen. Als Schutzmaßnahmen gemäß der Generalklausel kommen unter anderem ein Gebot, nur „safer sex“ anzuwenden, in Betracht, ferner Aufklärungspflichten gegenüber dem Sexual-partner. Gegenüber Dritten wird eine Aufklärungspflicht nur in Ausnahmefällen in Frage kommen. Ein Verbot des Geschlechtsverkehrs, wie es ausdrücklich in § 6 Geschlechtskrankheitengesetz vorgesehen ist, läßt sich wegen des verfassungsrechtli-chen Grundsatzes des Übermaßverbots nicht auf § 34 Abs. 1 S. 1 BSeuchG stützen. Hiermit kann ein Schulverbot für HIV-infizierte Schüler sowie eine Aufklärung von Mitschülern und deren Eltern über das Vorliegen einer HIV-Infektion ebenfalls nicht gerechtfertigt werden.

Eine Absonderung gemäß § 37 Abs. 1 S. 2 BSeuchG kommt nur dort, wo Personen sich weigern, gesundheitsbehördlichen Anordnungen zu folgen, als ultima ratio in Betracht. Sie wird im übrigen nach Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG einer richterlichen Anordnung bedürfen. Berufsverbote nach § 38 BSeuchG werden grundsätzlich nur gegenüber uneinsichtigen HIV-infizierten Prostituierten erwogen werden können.

Es gibt noch eine Reihe von Fragen, die endgültig zu klären sind. Aber es wird verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein, wenn HIV-infizierte nicht als Beamte auf Lebenszeit eingestellt werden. Es ist auch zulässig, wenn für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung an Ausländer ein HIV-Test verlangt wird. Eine körperliche Kennzeichnung HIVinfizierter verletzt die menschliche Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ist nicht zulässig.

Die bisherige Strategie zur Eindämmung von AIDS zielt vornehmlich auf Information und Aufklärung. Immer wieder wird auf den AIDS-Test hingewiesen, der grundsätzlich Gewißheit über einen negativen oder positiven Befund erbringt. Hierzu ist eine Blutentnahme erforderlich. Diese bedarf als Eingriff in die körperliche Integrität (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) der Einwilligung. Das Einverständnis des zu Untersuchenden zu einer Venenpunktion ermächtigt den Arzt aber nicht zu jeder beliebigen Blutdiagnose. Das grundsätzlich gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht enthält die Freiheit des Patienten, darüber zu bestimmen, welche Untersuchungen der Arzt mit dem entnommenen Blut durchführen darf Das durch grundrechtliche Wertung geprägte Selbstbestimmungsrecht auf die personale Würde des Patienten und dessen Recht auf informationeile Selbstbestimmung verbieten es dem Arzt, eigenmächtige Befunde zu erheben

Erbittet der Patient eine umfassende gesundheitliche Untersuchung zum Zwecke der Vorsorge, so wird er den Arzt damit regelmäßig schlüssig auch dazu berechtigen und verpflichten, den AIDS-Test vorzunehmen. Dasselbe gilt, wenn sich der Patient mit dem Wunsch nach Therapie von solchen Krankheitssymptomen zum Arzt begibt, die auch eine Untersuchung auf AIDS gebieten Es wird allerdings auch die Meinung vertreten, daß wegen der Besonderheiten des AIDS-Tests stets eine ausdrückliche vorherige Einwilligung erforderlich ist Wenn der Arzt Vorbehalte gegen den Test erkennt oder erwarten muß, trifft ihn die Frage-pflicht. Im Zweifel empfiehlt sich für den Arzt, ein klärendes Gespräch mit dem Patienten zu führen. Unzulässig ist die Ausforschungsdiagnostik. Sie liegt vor, wenn jeglicher Hinweis auf eine HIV-Infektion fehlt.

Die auf AIDS getestete Person hat Anspruch auf Auskunft durch den Arzt. Dieser wird einen individuell geeigneten Zugang zum Untersuchten finden müssen; denn der positive Befund löst regelmäßig einen Schock aus. Der Arzt wird den AIDS-Patienten auf seine Verantwortung hinweisen. Dabei spielen auch die Gefahren eine Rolle, die von einem unaufgeklärten Infizierten auf Dritte ausgehen können. Der Arzt unterliegt der Schweigepflicht (§ 203 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch [StGB], § 2 Berufsordnung [BerufsO]) -Der Patient kann den Arzt von der Schweigepflicht entbinden, damit dieser z. B. Angehörige informiert. In den engen Grenzen des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB kann der Arzt unter besonderen Umständen berechtigt sein, besonders gefährdete Personen zu warnen, mit denen der Infizierte entsprechenden Umgang hat Er darf gegebenenfalls auch die angesteckte uneinsichtige Prostituierte der Behörde melden. Eine Rechtspflicht trifft den Arzt allerdings nicht d. h. eine allgemeine Pflicht des Arztes, über die AIDS-Infektion zu berichten, besteht nach dem geltenden Recht nicht. Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und auch das Bundesseuchengesetz führen AIDS oder eine HIV-Infektion nicht als meldepflichtig auf. Für Amtsärzte u. a. kann es dienstrechtlich eine Offenbarungspflicht geben

III. Zur zivilrechtlichen Situation

Zivilrechtliche Schadenersatzansprüche wegen HIV-Infizierung sind bisher nicht geltend gemacht worden. Dies ist erstaunlich; denn das erworbene Immundefektsyndrom AIDS mit dem Endstadium einer jahrelangen Krankheit mit regelmäßig tödlichem Verlauf bringt nicht nur Leid, sondern auch hohe Schäden. Üblicherweise wird zwischen der vertraglichen Haftung und gesetzlicher Haftung wegen unerlaubter Handlung unterschieden. Da der Geschädigte ein Schmerzensgeld zum Ausgleich immaterieller Schäden nur verlangen kann, wenn eine unerlaubte Handlung vorliegt, wird hier die sogenannte deliktische Haftung im Vordergrund stehen. Grundlage dieser Haftung ist § 823 Abs. 1 BGB, der wie folgt lautet: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit . . . eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ Der deliktisch Verletzte kann also Schadensersatz für seinen gesamten Vermögensschaden, soweit er sich aus einer Körper-oderGesundheitsverletzung ergibt, sowie Schmerzensgeld verlangen. Der Anspruch ist der Höhe nach nicht begrenzt

Die HIV-Infizierung bedeutet eine Verletzung der Gesundheit; ein verletztes Rechtsgut als Voraussetzung eines Schadensersatzanspruches liegt damit vor. Die Infektion als Gesundheitsbeschädigung muß rechtswidrig sein. Als Rechtfertigungsgrund kommt beim Geschlechtsverkehr nur die Einwilligung des Infizierten in Betracht. Diese wird allenfalls dann vorliegen, wenn er weiß, daß der Sexual-partner Virusträger ist und er ferner in Sexualpraktiken ohne Schutzmittel einwilligt. Weitere Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch ist sodann, daß der Virusträger die Infektion vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hat. Da § 823 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) Fahrlässigkeit genügen läßt, können die Probleme um den Vorsatz vernachlässigt werden. Nach dem BGB handelt fahrlässig, wer die objektiv erforderliche Sorgfalt außer acht läßt. Einem Virusträger, dem seine Infektion bekannt ist, wird eine fahrlässige Gesundheitsbeschädigung vorgeworfen werden können, wenn es infolge eines ungeschützten Geschlechtsverkehrs zu einer Infektion des Partners bzw.der Partnerin kommt. Fahrlässigkeit kann bereits gegeben sein, wenn der Virusträger zwar seine Infektion nicht positiv kennt, aber doch objektive Anhalts-punkte dafür sprechen. Angehörige der bekannten Risikogruppen (Fixer, Prostituierte usw.) werden im allgemeinen eher damit zu rechnen haben, daß sie Virusträger sind.

Zu beachten ist § 254 BGB. Liegt ein Mitverschulden des Geschädigten vor, so kann sich im Einzelfall der Schadensersatzanspruch entsprechend dieser Vorschrift ermäßigen bzw. ganz entfallen. Weiter ist die ungünstige Beweissituation für den Geschädigten zu berücksichtigen. Wer einen Anspruch einklagt, muß grundsätzlich die anspruchs-begründeten Voraussetzungen beweisen. Das Opfer einer Infektion muß demnach nachweisen, daß es von dem in Anspruch genommenen Beklagten angesteckt worden ist und nicht von einem Dritten.

Wegen der bekannten langen Inkubationszeit Hegen die Schwierigkeiten auf der Hand.

Eine Haftung kommt auch nach dem Arzneimittelgesetz in Betracht. Es ist oben dargelegt, daß die HIV-Übertragung durch Transfusion von Blut und Blutprodukten belegt ist. Nach deutschem Arzneimittelrecht ist eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung des pharmazeutischen Unternehmens für solche Schäden denkbar, die durch aus Humanblut hergestellte Virus-kontaminierte Arzneimittel verursacht werden. Eine Haftung kann selbst dann gegeben sein, wenn die Gefahr einer Infektion weder erkennbar noch vermeidbar war Wegen der inzwischen ergriffenen Maßnahmen ist dieser Infektionsweg weitgehend ausgeschlossen worden.

IV. Zur familienrechtlichen Situation

Die Ehe bezweckt eine Lebensgemeinschaft und in der Regel auch eine sexuelle Dauerbeziehung. Fest steht nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, daß die HIV-Infektion vor allem durch Geschlechtsverkehr übertragen wird. Daher werden Ehe und Familie durch die Problematik um AIDS am unmittelbarsten betroffen. Ausführlich hat sich I. K. Tiedemann mit den familienrechtlichen Aspekten dieser heimtückischen Krankheit befaßt Diesen und seinen weiteren Ausführungen ist im wesentlichen zuzustimmen.

Die HIV-Infizierung eines Verlobten stellt für den anderen einen wichtigen Grund dar, die Verlobung zu lösen. Eine Schadensersatzpflicht kann sich aus § 1299 BGB ergeben. Die Ehe, die mit einem zum Zeitpunkt der Eheschließung mit HIV Infizierten geschlossen wurde, ist nach § 32 EheG aufhebbar. Ein Ehepartner, der sich ehegemäß verhält, kann von dem Immundefektsyndrom AIDS bedroht sein, wenn der andere sich nicht an das eheliche Treuegebot hält oder zumindest gegen eine HIV-Infektion nicht entsprechende Vorsorge trifft. Auch in einem Beruf, der eine erhöhte Infektionsgefahr mit sich bringt, muß der Ehepartner die entsprechenden Hygienevorschriften sorgfältig einhalten. Während der Ehe sind die Eheleute nach § 1353 BGB vor allem verpflichtet, bei Kenntnis von einer eigenen HIV-Infektion den Ehepartner unverzüglich zu informieren und bei allen Betätigungen, die eine Gefahr der Infektion im Sexualleben oder bei der beruflichen Betätigung mit sich bringen, die üblichen vorbeugenden Schutzmaßnahmen anzuwenden. Auch während einer bestehenden Ehe sind für den Fall der Infizierung eines Ehegatten durch den anderen Schadensersatzansprüche (§ 823 Abs. 1 BGB) gegeben

Die HIV-Infektion eines Ehepartners berührt auch das Kindeswohl. Die drei Übertragungswege für HIV sind oben dargelegt. Bei entsprechender Sorgfalt besteht keine Ansteckungsgefahr für das Kind innerhalb der Familie. Daher ist ein Eingreifen des Vormundschaftsgerichts nach § 1666 BGB (Trennung des Kindes von der elterlichen Familie) unzulässig.

Die elterliche Sorge (§§ 1626ff. BGB) verpflichtet die Eltern, die Kinder allgemein über Art und Umstände einer HI V-Infizierung und die daraus folgenden gesundheitlichen Gefahren aufzuklären und ihnen Möglichkeiten der Vermeidung eines Anstekkungsrisikos nahezubringen. Ist ein Kind bereits Virusträger, muß es seinem Alter angemessen darüber informiert werden, welche gesundheitlichen Gefahren Dritten drohen können. Der Jugendliche muß gegebenenfalls auf die Strafbarkeit ungeschützten Geschlechtsverkehrs hingewiesen und dazu angehalten werden, vor intimen Beziehungen den Partner über seine HIV-Infizierung aufzuklären. Es gibt aber keine generelle Pflicht der Eltern, Schulen oder sonstige Institutionen sowie Dritte über eine HIV-Trägerschaft ihres Kindes zu informieren. Eine solche Verpflichtung besteht nur, soweit Dritte durch Kontakte mit dem Kind ohne Kenntnis seiner HIV-Infizierung konkret gefährdet wären (z. B. Zahnarzt) Eltern schulpflichtiger Kinder sind auch nicht berechtigt zu fordern, daß an AIDS erkrankte Mitschüler oder Lehrer vom Unterricht ferngehalten werden.

Auch bei Beendigung der Ehe kann eine HIV-Infektion eine Rolle spielen. Die Mindesttrennungsdauer nach § 1565 Abs. 2 BGB kann entfallen, wenn der Ehepartner sich die HIV-Infektion z. B. aufgrund eines ehewidrigen Verhaltens zugezogen hat. Der Unterhaltsanspruch kann versagt, herabgesetzt oder zeitlich begrenzt werden, wenn der unterhaltsbedürftige Ehegatte den unterhaltspflichtigen Ehegatten (bedingt) vorsätzlich infiziert hat (§ 1579 Nr. 2 BGB) oder sich infiziert hat, weil er bei außerehelichem Geschlechtsverkehr trotz naheliegender Infektionsgefahr Schutzmaßnahmen unterlassen hat. Allein wegen einer HIV-Infektion kann der Elternteil grundsätzlich nicht von der Personensorge ausgeschlossen werden weil ein normaler sozialer Kontakt nicht zu einer Ansteckung führt.

V. Zur arbeitsrechtlichen Situation

Die Vertragsfreiheit ist als Teil des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) verfassungsrechtlich gewährleistet unterliegt aber den Schranken verfassungsmäßiger Ordnung Dieser Grundsatz der Vertragsfreiheit erlaubt es dem Arbeitgeber an sich, die Einstellung eines Bewerbers davon abhängig zu machen, daß dieser sich einer Untersuchung und z. B. auch einem AIDS-Test unterzieht Hiergegen bestehen sicher keine Bedenken, wo es um Bewerber geht, die für eine mit Infektionsgefahren verbundene Tätigkeit vorgesehen sind Geht es aber um normale Arbeitstätigkeiten, ist das Verlangen, sich einer Untersuchung auf Vorliegen einer HIV-Infektion zu unterziehen, nicht gerechtfertigt. Da es nach herrschender Meinung keinen Einstellungsanspruch gibt wird der Bewerber aber keinen Erfolg haben, wenn er bei Verweigerung der Untersuchung und Vornahme des AIDS-Tests seine Einstellung durchsetzen will

In der Entscheidung des Arbeitgebers — vor allem großer Unternehmen —. von Bewerbern allgemein einen AIDS-Test zu verlangen, liegt die Aufstellung einer Auswahlrichtlinie über die persönlichen Voraussetzungen für die Einstellung. Diese bedarf nach § 95 Abs. 1 u. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) der Zustimmung des Betriebsrats

Die Frage nach einer HIV-Infektion braucht nach der herrschenden Meinung bei Einstellungen für normale Arbeitstätigkeit nicht wahrheitsgemäß beantwortet zu werden. Eine Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123

BGB soll deswegen nicht in Betracht kommen Anders ist der Sachverhalt in bezug auf eine Arbeitstätigkeit im Bereich des Gesundheitsdienstes und vergleichbarer Bereiche. Bei derartigen Tätigkeiten kann eine Ansteckungsgefahr gegenüber den zukünftigen Kollegen und Dritten (Patienten) bestehen. Angesichts des mit einer HIV-Infektion verbundenen tödlichen Risikos muß ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an der zutreffenden Beantwortung der Frage nach der AIDS-Infektion anerkannt werden. Der Arbeitgeber muß in einem solchen Falle entscheiden können, ob er die in der Unfallverhütungsvorschrift „Gesundheitsdienst“ vorgesehenen Schutzmaßnahmen als geeignet ansieht, um der Gefahr einer Ansteckung zu begegnen, oder ob erjegliches Risiko dadurch vermeidet, daß er auf die Einstellung überhaupt verzichtet. Die Einstellung kann auch von einem AIDS-Test abhängig gemacht werden

Die Frage, ob der Bewerber akut an einer AIDS-Erkrankung leidet, ist bei jeder Art von Tätigkeit zulässig. Denn die Folgen von AIDS sind in ihrem Verlaufso schwerwiegend, daß die Arbeitsfähigkeit von vornherein oder alsbald eingeschränkt oder aufgehoben ist. Es bedarf der Zustimmung des Betriebsrats nach § 94 Abs. 1 S. 1 BetrVG, wenn im Personalfragebogen formularmäßig die Fragen nach dem Vorliegen einer HIV-Infektion oder AIDS gestellt werden

Die Kündigung wegen HIV-Infektion bei Arbeitnehmern, deren Tätigkeit die Gefahr der Infizierung anderer, mit denen sie in Berührung kommen, nicht mit sich bringt, ist nicht begründet (vgl. § 626 BGB. § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz [KSchG]). Denn die bloße HIV-Infektion setzt, solange die Krankheit nicht ausgebrochen ist, die Arbeitsfähigkeit grundsätzlich nicht herab; von der Arbeitstätigkeit geht grundsätzlich auch keine Infektionsgefahr aus Dieser Grundsatz sollte strikt beachtet werden, denn die Kündigung wegen bloßer HIV-Infektion würden den Virus-Träger ausgrenzen und in die Isolierung treiben. Ausnahmen sind allerdings nicht auszuschließen. So hat das Arbeitsgericht Düsseldorf — bestätigt durch das Landesarbeitsgericht Düsseldorf — entschieden, daß die Kündigung eines AIDS-infizierten Floristen nicht sittenwidrig oder treuwidrig sei Für die Kündigung eines Arbeitnehmers, der wegen einer AIDS-Erkrankung arbeitsunfähig ist, gelten die Grundsätze, die allgemein für die krankheitsbedingte Kündigung entwickelt worden sind

VI. Zur versicherungsrechtlichen Situation

Eine weitere Ausbreitung von AIDS, mit der gerechnet wird, muß Auswirkungen auf die Versicherungswirtschaft haben. Bei der Lebensversicherung soll zur Abdeckung des Risikos bei AIDS-Kranken eine — verglichen mit anderen Versicherten — 30fache Prämie nötig sein Denn nach bisherigen medizinischen Erfahrungen stirbt der am Vollbild AIDS Erkrankte innerhalb eines Zeitraums von zwei bis drei Jahren. In anderen Staaten wird daher vor Abschluß einer Lebensversicherung ab einer bestimmten Summe ein AIDS-Test verlangt.

Auch bei den privaten und gesetzlichen Kranken-versicherern kann es in Zukunft erhebliche finanzielle Mehrbelastungen geben. In den USA sollen die privaten Krankenversicherer neue Policen nur nach Durchführung eines AIDS-Tests ausstellen. Die EG-Kommission rechnet in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft mit Kosten von durchschnittlich 150 000 bis 300 000 DM pro AIDS-Infizierten. Auch wenn diese Schätzung sehr hoch gegriffen ist, so liegt es auf der Hand, daß die weitere AIDS-Verbreitung für das System der öffentlichen Sozialversicherungen mit erheblichen Problemen verbunden sein kann

Für die Haftpflichtversicherung stellen sich ebenfalls wichtige Fragen. Nach § 152 Versicherungsvertragsgesetz haftet der Versicherer nicht, wenn der Versicherungsnehmer (bedingt) vorsätzlich den Eintritt der Tatsache, für die er einem Dritten verantwortlich ist, widerrechtlich herbeigeführt hat.

Danach genießt der HIV-infizierte keinen Versicherungsschutz, wenn er seine Infektion kannte oder für möglich hielt und die Ansteckung eines anderen zumindest billigend in Kauf genommen hat. Die Einstandspflicht des Versicherers bleibt allerdings bei (grober) Fahrlässigkeit unberührt. Ungeklärte Fragen gibt es auch aus der Ausschlußbestimmung des § 4 Abs. 2 Nr. 4 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Derartige haftungsrechtliche Probleme stellen sich in der Regel erst dann, wenn es zur HIV-Infektion und irreparablen gesundheitlichen Folgeschäden gekommen ist. Auch hier — wie oben bei der zivilrechtlichen Situation — werden die schwierigen Beweisfragen eine entscheidende Rolle spielen.

VII. Zur strafrechtlichen Situation

Das Schrifttum zu den strafrechtlichen Folgen bei einer HIV-Infektion ist vielfältig Besonders ausführlich mit dieser Problematik haben sich unter anderem Bottke und Schünemann befaßt Die Auffassungen sind noch divergent. Eine Klä-rung der schwierigen Fragen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung steht noch aus.

Auszugehen ist von der Tatsache, daß AIDS eine ansteckende und lebensgefährliche Krankheit ist. Bereits die bloße Infektion verletzt das Rechtsgut Gesundheit und wegen des wahrscheinlich in allen Fällen tödlichen Ausgangs auch das Leben Dem Vorliegen der Gesundheitsbeschädigung steht nicht entgegen, daß der Infizierte während der Inkubationszeit und der Latenzphase beschwerdefrei ist und nicht feststeht, ob und wann die Krankheit bei ihm ausbricht -Die Infizierung eines anderen mit HIV ist geeignet, insbesondere die Straftatbestände der vorsätzlichen wie der fahrlässigen Körperverletzung (§§ 223ff., 230 StGB) zu erfüllen. Dabei Stehen bei vorsätzlicher Begehungsweise die Verbrechen der schweren Körperverletzung (§ 224 StGB)

und der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB) im Vordergrund. Denn mit dem Vollbild AIDS ist durch das Siechtum der Unrechtserfolg einer schweren Körperverletzung bewirkt. Auch die Todesfolge ist in diesen Fällen alsbald gegeben; daher kommt — je nach subjektivem Tatbestand — eine Bestrafung nach § 226 StGB in Betracht Die Beibringung von Krankheitserregern wird als Vergiftung nach § 229 StGB qualifiziert. Daher kommt auch eine Strafverfolgung nach diesem Straftatbestand in Betracht

Bedingt die zurechenbare Weitergabe des Virus den Tod, sind je nach Schuldform die tötungsdeliktischen Vorwürfe der §§ 211 ff. (Mord, Totschlag), § 222 StGB (fahrlässige Tötung) und — wie schon erwähnt — § 226 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) denkbar Es wird aber auch die Auffassung vertreten, § 229 StGB (Vergiftung) stelle für HIV-Infizierung die lex specialis dar. „Wer über seine HIV-Infektion Bescheid weiß und sich mit einem nicht darüber orientierten Partner auf einen Verkehr mit Blut-oder Sekretaustausch einläßt, ist wegen vorsätzlicher Vergiftung gemäß § 229 StGB strafbar, nicht aber wegen versuchter Tötung; ob der Partner selbst leichtsinnig handelt, spielt hierfür keine Rolle. Vorsatz ist dagegen zu verneinen, wenn Safer-Sex-Praktiken angewendet werden oder dem Infizierten noch keine medizinisch sichere Diagnose gestellt worden ist.“ Diese strafrechtliche Würdigung scheint einfach zu sein, denn für die Anwendbarkeit der §§ 211 StGB ist der Tod des Infizierten Voraussetzung. Die Strafverfolgung kann aber bis dahin nicht aufgeschoben werden.

Für die Rechtspraxis wird es vor allem darauf ankommen, ob ein strafbarer Versuch vorliegt. Da Versuchsstrafbarkeit den Tatentschluß des Täters voraussetzt, muß der HIV-infizierte, wenn auch laienhaft, alle objektiven Zurechnungsvoraussetzungen in sein Vorstellungsbild von der zukünftigen Tat aufgenommen haben (§ 22 StGB). Infolgedessen muß z. B. ein HIV-infizierter, der mit einem anderen Geschlechtsverkehr ausübt, wissen oder zumindest irrtümlich annehmen, sein Verhalten setze seinen Partner dem unstatthaften Risiko einer „lebensgefährdenden Behandlung“ (§§ 223 a Abs. 1 und 2, 22, 12 StGB), des „Siechtums“ (§§ 224 Abs. 1 und 2, 22, 12 StGB), langer qualvoller „Gesundheitszerstörung“ (§§ 229, 22, 12 StGB) oder der Tötung (§§ 211 ff., 22, 12 StGB) aus. An diesem erforderlichen Vorsatz fehlt es, wenn der HIV-infizierte ein tatbestandsrelevantes Risiko verneint, sei es, daß er keinerlei Umstände kennt, die ein Infektionsrisiko begründen, sei es, daß er zwar gefahrstiftende Umstände — etwa die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe — kennt, gleichwohl aber sachliche Momente erkennt oder annimmt, die durch oder bei ihrem Gegebensein dem etwaig vorhandenen Infektionsrisiko seine strafrechtliche tatbestandsspezifische Erheblichkeit rauben

Bei der strafrechtlichen Ahndung der Infizierung eines Partners mit HIV gibt es noch eine Reihe von Fragen, die vor allem von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu klären sind, so z. B.: Kann man einen einverständlichen Sexualkontakt wirklich als Tötungs-oder Verletzungshandlung qualifizieren? Entfällt nicht zumindest der Zurechnungszusammenhang zwischen Handlung und Erfolg unter dem Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr? Spielt es hierfür eine Rolle, ob der Infizierte über die HIV-Positivität des Infizierenden Bescheid weiß? Handelt der Infizierende überhaupt mit Verletzungsvorsatz, oder hängt das von der Sicherheit der angewandten Praktiken ab? Wie ist die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ bei Sexualkontakten im AIDS-Zeitalter zu bestimmen? Diese und auch andere Fragen zeigen auf. daß es Aspekte gibt, die für eine Einschränkung der strafrechtlichen Haftung wegen Herbeiführung einer HIV-Infektion sprechen könnten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. G. Pfeiffer, in: B. Schünemann/G. Pfeiffer, Die Rechts-folgen von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 8; M. Steinbach, in: ebda., S. 63.

  2. Bundestags (BT) -Dfucksache 11/2495.

  3. L’Age-Stehr, Spektrum der Wissenschaft, 1987, S. 38f.; P. Gauweiler in: B. Schünemann/G. Pfeiffer, Die Rechts-probleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 40 f.

  4. Bundestags (BT) -Drucksache 11/2495, S. 61; R. Laufs/A. Laufs, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW). 1987. S. 2257.

  5. G. Maass, in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 3). S. 16f.; BT-Drucksache 11/2495. S. 75ff.

  6. BT-Drucksache 11/2495. S. 108.

  7. G. Maass (Anm. 5). S. 25.

  8. BT-Drucksache 11/2495, S. 110; M. Bruns, in: NJW. 1987. S. 693.

  9. BT-Drucksache 11/2495. S. Ulf.

  10. Vgl. P. Gauweiler (Anm. 3). S. 42.

  11. BVerfGE 46. 160. 164; 53. 30. 58: 56. 54. 73; W. R. Schenke, in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 3). S. 108.

  12. B. Schünemann. in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 3). S. 379. mit Hinweisen auf die Entscheidungen des BVerfGs.

  13. W. R. Schenke (Anm. 11). S. 109; B. Schünemann (Anm. 3). S. 379 f.

  14. NJW. 1987. S. 2287.

  15. W. R. Schenke (Anm. 11), S. 103 ff. und 517 ff.

  16. Ebda., S. 519.

  17. R. Laufs/A. Laufs (Anm. 4). S. 2263.

  18. BGHZ 85, 327, in: NJW, 1983, S. 328; BVerfGE 65. 1. in: NJW, 1984, S. 419.

  19. R. Laufs/A. Laufs (Anm. 4). S. 2263; A. Laufs, in: NJW, 1988, S. 1503; W. Eberbach, in: NJW. 1987. S. 1470.

  20. M. Perels/J. Teyssen, in: Münchner Medizinischen Wochenschrift, 1987, S. 376ff.; M. Bruns, in: Labor-Medizin. 1987. S. 9f.

  21. R. Laufs/A. Laufs (Anm. 4). S. 2263.

  22. Vgl. BGH, in: NJW. 1968, S. 2288; W. Loschelder. in: NJW, 1987. S. 1468.

  23. R. Laufs/A. Laufs (Anm. 4), S. 2265.

  24. H. Narr. Ärztliches Berufsrecht. Köln-Levenich 19872. S. 460. 4, Rdnr. 748 f.; R. Laufs/A. Laufs (Anm. 4). S. 2265.

  25. E. Deutsch, in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 3). S. 275.

  26. M. Strucksberg, in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 1). S. 293ff.. S. 527.

  27. I. K. Tiedemann, in: NJW. 1988, S. 729 ff.

  28. Ders., in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 1), S. 333 ff.

  29. Ebda., S. 344.

  30. Ebda., S. 363.

  31. Ebda.. S. 364; OLG Stuttgart. 17 UF 17/88 -4 F 3/86.

  32. BVerfGE 8. 328.

  33. BVerfGE 12. 347.

  34. G. Wiese, in: Recht der Arbeit. 1986. S. 120. S. 123ff.

  35. M. Löwisch, in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 3). S. 321.

  36. G. Wiese (Anm. 34). S. 124.

  37. M. Löwisch (Anm. 35). S. 322.

  38. G. Wiese (Anm. 34), S. 124; M. Löwisch (Anm. 35). S. 322.

  39. M. Löwisch (Anm. 35). S. 319.

  40. Ebda.. S. 320. S. 528.

  41. Ebda.. S. 321.

  42. ArbG Berlin, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 1987, S. 637; A. Lepke, in: Der Betrieb, 1987, S. 1299; M. Lö'wisch (Anm. 35), S. 324.

  43. NJW, 1988. S. 1548.

  44. M. Löwisch (Anm. 35), S. 325.

  45. G. Pfeiffer (Anm. 1). S. 12.

  46. Ebda., S. 13.

  47. E. Dreher/H. Tröndle, StGB, München 198844, § 223 Rdnr. 6 a, mit vielen Hinweisen.

  48. W. Bottke, in: B. Schünemann/G. Pfeiffer (Anm. 1).

  49. B. Schünemann (Anm. 12), S. 373 ff.

  50. W. Eberbach, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), 1987, S. 142; E. Dreher/H. Tröndle (Anm. 47), § 223 Rdnr. 6 b; R. D. Herzberg, in: AIDS-Forschung, 1987, S. 52 ff.; W. Bottke (Anm. 48), S. 179; M. Bruns, in: NJW, 1987, S. 693; R. Helgerth, in: NStZ, 1988, S. 261.

  51. E. Dreher/H. Tröndle (Anm. 47), § 223 Rdnr. 60.

  52. W. Eberbach (Anm. 50). S. 142; Arbeitsgericht München, in: NStZ, 1987, S. 407; M. Bruns, in: NJW. 1988, S. 2281.

  53. W. Bottke (Anm. 48), S. 179; B. Schünemann (Anm. 12), S. 470ff.

  54. W. Bottke. ebda.. S. 179.

  55. B. Schünemann (Anm. 12). S. 535, S. 486ff.

  56. W. Bottke (Anm. 48), S. 181.

  57. B. Schünemann (Anm. 12). S. 471.

Weitere Inhalte

Gerd Pfeiffer, Dr. jur., geb. 1919 in Striegau/Schlesien; Professor; Richter am Bundesgerichtshof un von 1977— 1987 dessen Präsident. Veröffentlichungen: Zahlreiche Monographien und wissenschaftliche Beiträge in juristischen Fachzei Schriften; zuletzt: (zus. mit B. Schünemann) Die Rechtsprobleme von Aids, Baden-Baden 1988.