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Mexiko: Die Wahlen vom 6. Juli 1988 -ein Ende der Einparteienherrschaft? | APuZ 4/1989 | bpb.de

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APuZ 4/1989 Redemokratisierung in Südamerika Probleme und Aussichten der Demokratisierung: Chile und Nicaragua in vergleichender Perspektive Mexiko: Die Wahlen vom 6. Juli 1988 -ein Ende der Einparteienherrschaft?

Mexiko: Die Wahlen vom 6. Juli 1988 -ein Ende der Einparteienherrschaft?

Michael Ehrke

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Zusammenfassung

Allgemeine Wahlen als Form der Auswahl der Regierenden hatten in Mexiko in der Vergangenheit eine untergeordnete Bedeutung — und doch werden die Bruchstellen der politischen Entwicklung Mexikos durch Wahlen bzw. die Auseinandersetzung um Wahlen und ihre Ergebnisse bestimmt. Dies gilt für die Präsidentenwahlen 1910, die zum Auslöser der ersten großen Revolution des 20. Jahrhunderts wurden, ebenso wie für die Präsidentenwahlen 1940, in denen über die Grundlagen des politischen Systems Mexikos entschieden wurde. Die Präsidenten-und Parlamentswahlen vom Juli 1988 markieren eine weitere Bruchstelle der politischen Entwicklung: Der Präsidentschaftskandidat der Staatspartei PRI. Carlos Salinas de Gortari, konnte mit 50 Prozent der abgegebenen Stimmen — ein Ergebnis, das von der Opposition angefochten wird — die Mehrheit für den PRI gerade noch halten, aber er erzielte das niedrigste Wahlergebnis eines Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes. Die Bedeutung dieses Einschnitts wird sichtbar, wenn die Struktur des politischen Systems — gekennzeichnet durch die enge Verklammerung von Staatspartei und parastaatlichen gewerkschaftlichen Massenorganisationen, die im Rahmen einer sozial legitimierten korporativen Politikbildung auch Mehrheiten bei allgemeinen Wahlen zu garantieren schien — in die Betrachtung einbezogen wird. Der Einbruch oppositioneller Kräfte war nur möglich, weil sich schleichende Erosionstendenzen des politischen Systems in den sechs Regierungsjahren des Präsidenten Miguel De la Madrid (1982— 1988) dramatisch beschleunigt hatten. Hierzu gehören der Kontrollverlust des Staates über die von einer schweren Krise getroffene Wirtschaft, die zunehmende Technokratisierung der Politik, der relative Bedeutungsverlust der parastaatlichen Gewerkschaften und die Aushöhlung des Präsidentenamtes. Die Unzufriedenheit, die sich in den letzten sechs Jahren akkumuliert hatte, wurde jedoch nicht von der konservativen Opposition ausgenutzt, sondern von einem erst in jüngster Zeit geschlossenen Linksbündnis. Dieses Bündnis erhielt offiziell 31 Prozent der Stimmen — gegenüber 17 Prozent der konservativen Oppositionspartei PAN. Carlos Salinas de Gortari ist der erste Präsident Mexikos, der mit einer starken Opposition und damit auch der Möglichkeit konfrontiert ist. daß die Staatspartei ihr Monopol auf die Regierungs-und Staatsgewalt verlieren könnte. Wichtigste Felder der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition werden in den nächsten Jahren das Parlament sein, die staatlichen und kommunalen Wahlen sowie die gewerkschaftlichen Massenorganisationen, die nun in das Spannungsfeld zwischen Regierungspartei und Opposition geraten sind.

Die politische Entwicklung Mexikos weist ein Paradox auf: Unter in-und ausländischen Beobachtern besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß trotz der präsidialdemokratischen Verfassung des Landes allgemeine Wahlen bei der Festlegung, wer mit welchem Programm regieren soll, eine marginale Rolle spielen Und doch sind die wesentlichen Weichenstellungen der mexikanischen Geschichte durch Wahlen bzw. die Auseinandersetzungen um Wahlen und ihre Ergebnisse bestimmt. Viel spricht dafür, daß auch die Präsidentschafts-und Parlamentswahlen vom 6. Juli 1988 eine neue Phase der politischen Entwicklung einleiten. Welche Richtung diese auch nehmen wird: Die Rückkehr zu den alten Strukturen scheint ausgeschlossen. Die folgenden Ausführungen sollen dies belegen.

I. Die Wahlen von 1910: „Respektierung des Wahlrechts, keine Wiederwahl!“

Im Wahljahr 1910 stand die routinemäßige sechste Wiederwahl des Diktators Porfirio Diaz an, der das Land (mit einer vierjährigen Unterbrechung) seit 34 Jahren regiert hatte. Maximal fünf Prozent der mexikanischen Bevölkerung beteiligten sich an dem Urnengang, dessen Ausgang von vornherein feststand. Es verunsicherte die herrschende Elite nicht, daß 1910 ein liberaler Großgrundbesitzer, Francisco I. Madero, gegen den institutionalisierten Wahlbetrug anzukämpfen versuchte und sich von einer kleinen Gruppe oppositioneller Liberaler zum Gegenkandidaten gegen Diaz aufstellen ließ. Erwartungsgemäß gewann Diaz mit überwältigender Mehrheit, und Madero mußte vor der drohenden Inhaftierung in die USA fliehen. An der Grenze rief er mit der Parole „Respektierung des Wahlrechts, keine Wiederwahl!“ die Mexikaner auf, das offizielle Wahlergebnis mit der Waffe in der Hand anzufechten. Seine Chancen waren denkbar schlecht: Seine Partei hatte keine Massenbasis, eine Mehrheit der Mexikaner nahm von den Präsidentschaftswahlen traditionell keine Notiz, und der Diktator verfügte übet-alle militärischen und polizeilichen Machtmittel. Und doch löste Madero mit seinem Aufruf die erste große Revolution des 20. Jahrhunderts aus, deren bewaffnete Phase zehn Jahre dauern sollte.

Die Forderung nach freien Wahlen stand in keinem direkten Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen den indianischen Gemeinden des Staates Morelos und den Besitzern der Zucker-Plantagen, die die Kleinbauern von ihrem Boden verdrängten, oder zwischen den Landarbeitern und den Großgrundbesitzern im Norden Mexikos. Aber der Aufruf Maderos wirkte als Katalysator für den lokal und regional begrenzten Widerstand gegen die sozialen und politischen Verhältnisse, die national durch die Diktatur des Porfirio Dfaz repräsentiert wurden. Eine erste Welle der Revolution — laut Di'az der „Tiger“, den Madero nicht würde bändigen können — hob Madero ins Präsidenten-amt; doch dies war, anders als der unfreiwillige Revolutionär selbst meinte, nicht ihr Ende, sondern ihr Anfang.

Der Verlauf der Revolution kann an dieser Stelle nicht dargestellt werden Ihr Ergebnis allerdings war trotz einer neuen, demokratischen Verfassung alles andere als eine Demokratie: Eine kleine Gruppe siegreicher Militärführer bestimmte nach 1920 die Geschicke des Landes; aber die Revolution hatte die sozialen und politischen Strukturen derart durcheinandergebracht, daß nicht mehr nach dem oligarchischen Muster der vorrevolutionären Diktatur regiert werden konnte. Die Revolutionsgeneräle nach 1920 konnten nicht mehr ohne organisierte Massenunterstützung regieren: Gewerkschaften und Bauemvereinigungen wurden von oben gegründet, gefördert, manipuliert, für verschiedene Zwecke eingesetzt und bei Bedarf wieder aufgelöst. Kirchliche Organisationen, politische Parteien, konkurrierende Gewerkschaften, rebellische Generäle und Gouverneure wurden gegeneinander ausgespielt; fortschrittliche Agrarreform-und Arbeitsgesetze sicherten dem nachrevolutionären Regime die Loyalität der Massen — und wurden, wenn es geboten schien, außer Kraft gesetzt oder unterlaufen. Die Revolution führte nicht zur Demokratie, aber zu einer Neugestaltung der Politik, zur selektiven und manipulativen Einbeziehung der Massen in den politischen Prozeß

Maderos Forderung nach Respektierung des Wahlrechts wurde durch das nachrevolutionäre Regime nicht eingelöst; um so rigoroser wurde seine zweite Forderung — „Keine Wiederwahl“ eines Präsidenten — erfüllt. Nach 1920 hat nur ein Präsident versucht, sich ein zweites Mal zur Wahl zu stellen — er wurde kurz vor dem Wahlgang ermordet Ein weiterer Präsident versuchte, über seine Amtszeit hinaus als Drahtzieher schwacher Präsidenten die Politik des Landes zu bestimmen. Er wurde 1935 entmachtet und des Landes verwiesen 5). Das strikte Verbot der Wiederwahl bzw.der politischen Einflußnahme eines Präsidenten über seine sechsjährige Amtszeit hinaus wurde zu einem Prinzip, das die Machtkämpfe einer kleinen Elite nachrevolutionärer Generäle regulierte; und die Regulierung war notwendig, weil bis in die dreißiger Jahre hinein Fraktionierungen der Elite das Land regelmäßig an den Rand eines zweiten Bürgerkriegs zu treiben drohten. Zum Koordinationsorgan der sich zivilisierenden Machtelite, der „revolutionären Familie“ 6). wurde die Nationale Revolutionspartei (Partido Nacional Revolucionario. PNR). eine „Partei der Parteien“, der Gefolgschaften revolutionärer Caudillos, die unter dem Namen PRI (Partido Revolucionario Institucional) bis heute die mexikanische Politik bestimmt.

II. Die Wahlen von 1940: Weichenstellung für 48 Jahre politischer Stabilität

Im Wahljahr 1940 ging es nicht nur um die Bestimmung des nächsten Präsidenten, sondern auch um den politischen Kurs, den das Land nach sechs Jahren drastischer Umbrüche nehmen sollte. 1934 hatte Präsident Lzaro Cärdenas sein Amt angetreten. Es war ihm gelungen, die manipulativen Ansätze der Massenpolitik auf die stabile Grundlage festgefügter Organisationen zu stellen und diese im politischen System institutionell zu integrieren. Eine arbeiterfreundliche Sozialpolitik ermöglichte es, einen vom Staat abhängigen Gewerkschaftsverband (die CTM, die Konföderation der Mexikanischen Arbeiter) aufzubauen, der von der Mehrheit der organisierten Arbeiter als Interessenvertretung anerkannt wurde; die Ausweitung der Agrarreform sicherte dem Staat die Loyalität der Campesinos, die von einem parastaatlichen Bauernverband (CNC, Nationale Bauernkonföderation) organisiert wurden. Beide Dachverbände wurden der Staatspartei (die in PRM — „Partei der Mexikanischen Revolution — umbenannt wurde) als „Sektoren“ integriert; weitere Sektoren waren die Organisationen der Mittelschichten, in erster Linie der Staatsbediensteten, und bis 1946 der Militärs

Die ersten vier Regierungsjahre Cardenas’ waren Jahre des Aufbruchs, in denen es schien, als würde nicht nur den formell-demokratischen Forderungen Maderos Geltung verschafft werden, sondern als würde Mexiko auch in neue Bereiche „sozialer Demokratie“ vordringen: Die organisierten Massen bestimmten, so schien es, über die Partei, in der sie die Mehrheit stellten, die Politik; das Programm Cärdenas’ sah zwar nicht den Klassenkampf vor. wohl aber die Organisation der Klassen zum Zwecke der sozialen Kompromißbildung im Rahmen einer korporativen Staatspartei.

Das Modell der korporativen Massenintegration und Politik konnte sich theoretisch in zwei Richtungen weiterentwickeln: Bei einer Radikalisierung der Reformen hätte der Cardenismus in eine lateinamerikanische Version des Sozialismus einmünden müssen; eine Verschärfung der von den Reformen ausgelösten sozialen und politischen Polarisierung hätte auch die Überschreitung des von der mexikanischen Revolutionselite akzeptierten markt-und privatwirtschaftlichen Ordnungsrahmens eingeschlossen. Diese linke Option wurde aber schon vor den Wahlen von 1940 in der regierenden PRM selbst ausgeschaltet; ihr Repräsentant. Francisco Mügica, scheiterte schon in der Auseinandersetzung um die Präsidentschaftskandidatur an den gemäßigten und konservativen Kräften der PRM. Die von einer Mehrheit befürwortete „Mäßigung“ erfolgte nach der Nationalisierung der ausländischen Erdölgesellschaften im Jahre 1938, die den Höhe-, aber auch den Endpunkt des Reformkurses markierte. Die innenpolitischen Spannungen wurden nun zusätzlich durch einen handfesten Konflikt mit England über die Nationalisierungspolitik im Erdölsektor verschärft; der Abbau der Polarisierung und die Bildung der „Nationalen Einheit“ zur Sicherung des Erreichten schienen nun wichtiger als weitere Sozialreformen.

Der Repräsentant der gemäßigten Mehrheit in der PRM. Manuel Avila Camacho, konnte die Partei hinter sich vereinigen und gewann die offizielle Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 1940. Der Stopp der Reformen unter Beibehaltung der neugeschaffenen politischen Strukturen, für den Camacho eintrat, enthielt eine bedrohliche Komponente: Es bedurfte nur eines kleinen Schrittes, um aus den Organisationen der Massenintegration Organe der korporativen Kontrolle und Manipulation zu machen, derer sich eine nach wie vor mächtige Elite bedienen konnte, um ihren Entscheidungsspielraum nach unten abzusichern und ihr Monopol auf die Staats-und Regierungsgewalt zu zementieren. Ebendies war die zweite Alternative und der politische Weg Mexikos nach 1940.

Die Präsidentschaftswahl von 1940 war die bis 1988 letzte, in der wirklich über die künftige Entwicklung des Landes entschieden wurde. In ihr trat die Staatspartei gegen eine heterogene Koalition all der Kräfte an, die ihre Interessen durch die cardenistischen Reformen verletzt sahen: von faschistischen Splittergruppen über die Kirche, die Unternehmerschaft und die Mittelschichten bis hin zu Gruppen der Linken, die anders als die Kommunistische Partei in der korporativen Organisation der Massen durch den Staat auch eine Gefahr für eine unabhängige Interessenvertretung sahen. Die Koalition gegen die PRM, die den ehemaligen Revolutionsgeneral Juan Andrew Almazän zu ihrem Präsidentschaftskandidaten machte, erschien als rechtes Bündnis gegen eine „linke“ Staatspartei, die sich der Unterstützung der größten Gewerkschaften und Bauernverbände und nicht zuletzt der Kommunisten erfreute. Im nachhinein betrachtet sieht die Frontstellung etwas anders aus: Almazän und die ihn stützenden Kräfte forderten die Rücknahme der cardenistischen Sozialreformen — aber auch den Abbau parastaatlicher Massenorganisationen und die Respektierung allgemeiner Wahlen. Die konservative Koalition Almazäns trat gegen eine politische Elite an, die ihr Monopol auf die Regierungsgewalt sozial und nicht durch Wahlen legitimierte; mit der Betonung der Wahlen enthielt das Programm der Opposition zumindest die Möglichkeit der Revision des eingeschlagenen Weges.

In der Präsidentschaftswahl von 1940 zeigte sich die Effizienz des neuen Instrumentariums der Staatspartei und ihrer Massenorganisationen. Auf dem Lande war die Vorherrschaft der PRM unbestreitbar: Im Klima der Agrarreform und Landverteilungen und mit Hilfe einer Agrarbürokratie, die sich zu etablieren begann, waren die Mehrheiten der PRM überwältigend. In den Städten und insbesondere in der Hauptstadt wurde das Wahlergebnis in erster Linie von der physischen Kontrolle der Wahllokale bestimmt. Die Massenorganisationen der PRM machten aus dem Wahlgang eine Kraftprobe auf der Straße. Wie viele Stimmen Almazän auf sich vereinigen konnte, wird nie in Erfahrung zu bringen sein; die offizielle Wahlstatistik billigt ihm nicht mehr als fünf Prozent der Stimmen zu

III. 1940— 1988: Konsolidierung eines korporativen Systems

Mit den Wahlen von 1940 waren die grundlegenden Entscheidungen über das politische System Mexikos gefallen: Sein Zentrum war die enge Verflechtung zwischen dem Staatsapparat und einer Staatspartei, die sich auf starke und repräsentative Massenorganisationen stützen konnte. Formell sind nicht die Bürger als Individuen, sondern die Korporationen Subjekte der Politik, die ihrerseits soziale Klassen repräsentieren. Die Politik der PRM 2 — 1946 umbenannt in PRI — ist formell der Kompromiß, den die in der Partei vertretenen Korporationen schließen; sie entspricht per definitionem den Interessen der Bevölkerungsmehrheit, da sich die mexikanische Bevölkerung mehrheitlich aus Arbeitern, Bauern und Mittelständlem zusammensetzt. Allgemeine Wahlen konnten der Staatspartei den Anspruch auf die Regierungsgewalt nicht streitig machen, da diese über die von ihr organisierten Massen per se die Mehrheit repräsentierte. Opposition war zulässig, aber nur, solange sie eindeutig eine Minderheit blieb. In der Realität waren die Massenorganisationen seit Anfang der vierziger Jahre ein Instrument der „revolutionären Familie“, die ihre Macht immer mehr auf den zivilen Staats-und Parteiapparat gründete. Die „Sektoren“ der Staatspartei bestätigten lediglich die Entscheidungen, die die regierende Elite intern oder in Verhandlungen mit anderen Machtgruppen getroffen hatte.

Die innere Disziplin der „politischen Klasse“ wurde durch die herausragende und kaum eingeschränkte Macht des Präsidenten garantiert, des obersten Schiedsrichters aller internen Streitigkeiten. Anders als in den zwanziger Jahren mußte sich der Präsident nicht mehr auf fragile Bündnisse mit wechselnden militärischen Machtgruppen stützen, sondern stand nun an der Spitze einer Pyramide festgefügter Institutionen. Die einzige Einschränkung seiner Macht blieb seine Amtszeit: Das Prinzip „Keine Wiederwahl!“ hat kein Präsident mehr zu mißachten gewagt. Ein zentrales Machtmittel des Präsidenten war sein informelles Recht, den Präsidentschaftskandidaten der Staatspartei und damit seinen eigenen Nachfolger auszuwählen. Im Grunde kennt das mexikanische Wahlsystem nur einen Wähler: den amtierenden Präsidenten. Sein Votum wird von der Staatspartei abgesegnet und durch allgemeine Wahlen bestätigt.

Nach 1940 stellte die PRI alle Präsidenten, Gouverneure und Senatoren, über 95 Prozent der Bürgermeister und über 85 Prozent der Abgeordneten des Landes. Die Staatspartei hatte nach 1940 noch zwei Wahlschlachten zu bestehen: 1952 mußte sich der PRI-Kandidat Miguel Alemän gegen den konservativen Anwärter Ezequiel Padilla durchsetzen, und 1958 forderte der linkspopulistische General Miguel Henriquez die Staatspartei und deren Kandidaten Adolfo Ruiz Cortines ein letztes Mal heraus. Nach 1958 war die Opposition befriedet, begrenzt auf die konservative PAN (Partido Accin Nacional. gegründet 1939), die bei Präsidentschaftskandidaten meist zwischen sieben und zwölf Prozent der Stimmen auf sich ziehen konnte, und auf eine Reihe systemtreuer Kleinstparteien, die ihre Sitze im Abgeordnetenhaus weniger ihren Stimmengewinnen als Sitz-Zuteilungen seitens der immer siegreichen PRI verdankten. Über die Jahrzehnte nahm der Stimmenanteil der PRI in Präsidentenwahlen leicht ab, aber noch Präsident Miguel De la Madrid, der 1982 das schwächste Ergebnis eines PRI-Kandidaten seit 1940 erzielte, konnte sich auf eine sichere Mehrheit von über 70 Prozent der abgegebenen Stimmen stützen.

Die Bedeutungslosigkeit von Wahlen stand in augenfälligem Kontrast zu ihrer Häufigkeit und zur öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie auf sich zogen: Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Bundes-parlament und zu den Staatsparlamenten, Wahlen der Senatoren. Gouverneure und Bürgermeister fanden permanent statt. Sie galten der Inszenierung eines allgemeinen Konsenses, dienten der Mobilisierung der lokalen PRI-Basis und funktionierten als Frühwarnsystem für lokale und regionale Konflikte. Wie aber konnte die PRI bis Juli 1988 in allen Wahlen bequeme Mehrheiten erringen?

Eine Antwort kann ausgeschlossen werden: Die PRI gewann die Wahlen nicht, weil ihre Politik den materiellen Interessen der Bevölkerungsmehrheit entsprochen hätte. Die Daten belegen das Gegenteil: Zwischen 1940 und 1954 gingen die Reallöhne — bei durchschnittlich 6. 5 Prozent Wirtschaftswachstum — um die Hälfte zurück; danach begannen sie langsam zu steigen, um erst 1969 wieder den Stand von 1939 zu erreichen. Damit vollzog sich die Industrialisierung in Mexiko in größerem Maße auf Kosten der Lohneinkommen als in den südamerikanischen Militärdiktaturen. Auf dem Lande war die Situation noch gravierender. Die Agrarreform wurde 1940 eingestellt und wich einer landwirtschaftlichen Gegenreform, die zwar nicht die Land-verteilungen rückgängig machte, aber den reformierten Teil der Landwirtschaft gegenüber dem verbliebenen privaten Grundbesitz systematisch benachteiligte und auf dem Niveau der Subsistenz bzw. sogar darunter hielt. Nutznießer der PRI-Politik waren vor allem die Mittelschichten, deren wachsender Lebensstandard von der Wirtschaftspolitik des Regimes garantiert wurde.

Auch eine andere These kann ausgeschlossen werden: Die PRI gewann Wahlen nicht in erster Linie durch die Einschüchterung der Wähler und die Manipulation der Wahlergebnisse — obwohl beide Mittel häufig und massiv eingesetzt wurden. Wichtiger war ein selektiver und auf allen Ebenen des Systems wirksamer Klientelismus: Die wirtschaftliehe Benachteiligung der Bevölkerungsmehrheit schloß gezielte Konzessionen nie aus; so konnten bestimmte Arbeitergruppen Löhne und Sozialleistungen weit über dem Durchschnitt erringen. Einzelne Gewerkschaften oder Agrargemeinden konnten im lokalen Rahmen Vergünstigungen erreichen. die sie mit politischer Loyalität honorierten. Wahlgeschenke, von Schuhen über kostenlose Schulbücher bis hin zum lokalen Wasser-oder Stromanschluß, wurden gegen Stimmen „getauscht“; hierbei war der lokale oder gewerkschaftliche „Kazike“ der Mittelsmann zwischen der lokalen oder gewerkschaftlichen Einheit und den übergeordneten Ebenen des politischen Systems, die Schlüsselfigur, die Privilegien aller Art verteilte, im Gegenzug persönliche Loyalität erwarten durfte und diese für das Regime mobilisierte — u. a. bei Wahlen. Zu den bereits verteilten Vergünstigungen kamen die, deren Verteilung noch ausstand: Die Hoffnung auf ein Stück Land band die Bauern an die lokalen Vertreter des Regimes, von denen abhing, wer in den Genuß künftiger Landverteilungen kommen würde, und ohne die Zustimmung des zuständigen Gewerkschaftssekretärs konnte kein Arbeiter auf einen Arbeitsplatz in der staatlichen oder privaten Industrie rechnen. Die Stärke des PRI-Regimes basierte auf dem engmaschigen Netz an Kontroll-und Interventionsinstanzen, mit dem es die gesamte mexikanische Gesellschaft bis in das abgelegenste Dorf, das ärmste städtische Elendsviertel und den unbedeutendsten Betrieb hinein überzogen hatte.

Die Verklammerung von Staatspartei, Staatsapparat (einschließlich staatlichem Wirtschaftsapparat) und Massenorganisationen ließ jede politische Alternativkraft für lange Zeit bedeutungslos erscheinen: Die oppositionellen Parteien konnten um Stimmen werben, aber sie hatten keine materiellen Angebote zu machen, waren im sozialen Leben der Bevölkerungsmehrheit nicht präsent, konnten niemandem einen festen Arbeitsplatz, ein Stück Land, eine Behördenstelle oder einen Stromanschluß versprechen. Zwar gab es aufgrund der Modernisierung des Landes immer mehr Wähler, die weder korporativ organisiert noch in klientelistischen Netzen eingefangen werden konnten; das wachsende Gewicht der „modernen“ Mittelschichten führte auch dazu, daß die aktive Unterstützung für die PRI langsam zurückging — ein Trend, der sich eher in einer sinkenden Wahlbeteiligung als in Gewinnen der Oppositionsparteien ausdrückte. Die PRI und das von ihr getragene Regime mußten auf lange Sicht damit rechnen, daß die Modernisierung auch zur Unterminierung der eigenen Basis führen würde. Aber auf absehbare Zeit schien das Monopol auf die Regierungsgewalt nicht in Gefahr, und sei es nur, weil keine realistische Alternative zur PRI in Sicht war.

IV. Die Wahlen von 1988: der Anfang vom Ende der Einparteienherrschaft?

Der Regierung De la Madrid und der Führung der PRI muß klar gewesen sein, daß die Präsidentschaftswahlen vom 6. Juli 1988 schwerer zu bestehensein würden als vorausgegangene Wahlen. Die Wirtschaftskrise, ein unpopulärer offizieller Kandidat. Spannungen innerhalb der PRI, Warnsignale bei lokalen Wahlen in den vorhergehenden Jahren und die Formierung einer neuen oppositionellen Kraft, des linksgerichteten Frente Democrätico Nacional (FDN) mit seinem Kandidaten Cuauhtemoc Cardenas, dem Sohn des Reformpräsidenten Lazaro Cärdenas — all dies machte es wahrscheinlich, daß der PRI-Kandidat Carlos Salinas de Gortari noch weniger Stimmen auf sich vereinigen würde als sein Vorgänger Miguel De la Madrid. Die am Wahlabend eintreffenden Ergebnisse übertrafen dann die schlimmsten Befürchtungen: Die ersten Wahlbezirke, deren Ergebnisse in den zentralen Wahlcomputer eingespeist wurden, kamen aus dem ••Bundesdistrikt“ (Mexiko-Stadt) und seiner unmittelbaren Umgebung — und hier hatte der Kandidat der Opposition offensichtlich die Mehrheit der Stimmen gewonnen. Ein Provinzpolitiker, der ein heterogenes Bündnis bislang systemtreuer Miniparteien anführte, drohte das seit Jahrzehnten stabile PRI-Regime zum Zusammenbruch zu bringen. Der Wahlcomputer reagierte mit wundersamer politischer Sensibilität und fiel aus; die technische Panne verschaffte der PRI-Führung eine Atempause, um die seit Jahrzehnten geübte Wahl-Alchemiezum Einsatz zu bringen, d. h. ein für die Staatspartei akzeptables Ergebnis zu produzieren. Aber auch das offizielle Endergebnis brachte die knappste Mehrheit eines Präsidenten seit der Unabhängigkeit: 50, 4 Prozent konnte Salinas de Gortari auf sich vereinigen. Diese knappe absolute Mehrheit ging nicht nur auf Manipulationen zurück, sondern auch auf die nach wie vor starke Verankerung der PRI in den rückständigeren Agrarregionen des Landes, in denen die klientelistischen Netze„aber auch Einschüchterung und Manipulation eher funktionierten als in den städtischen Zentren. 31 Prozent der Stimmen wurden dem Herausforderer Cuauhtemoc Cärdenas zugesprochen, und die konservative Oppositionspartei PAN erhielt 17 Prozent. Das Resultat wurde von beiden Oppositionsparteien angefochten: Der Sieg des PRI-Kandidaten war, so Cärdenas, ein „technischer Staatsstreich“.

Die PRI gestand den Verlust ihrer absoluten Mehrheit in vier Staaten und im Bundesdistrikt ein. Zum ersten Mal sind damit vier Oppositionspolitiker im Senat vertreten. Bei den gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahlen schmolz die vorher überwältigende Mehrheit der PRI im Abgeordnetenhaus auf einen Vorsprung von 20 Sitzen zusammen. Aus dem Parlament, zuvor ein willfähriges Instrument der Exekutive, wurde eine Plattform der Opposition. Heftige parlamentarische Auseinandersetzungen, bis dahin in der mexikanischen Politik unbekannt, leiteten die neue Legislaturperiode ein.

Was erklärt dieses unerwartet positive Abschneiden der FDN, einer politischen Kraft, die es ein Jahr zuvor noch nicht gegeben hatte? Wie konnte sich der schleichende, aber kaum bedrohliche Niedergang der PRI so beschleunigen, daß das Wahlergebnis trotz der verteidigten absoluten Mehrheit der Staatspartei als Bruch, als Endpunkt eines jahrzehntelang funktionierenden politischen Modells interpretiert werden muß

V. Ursachen eines Umbruchs: die Erosion der PRI-Basis

Präsident De la Madrid war 1982 mit über 70 Prozent der Stimmen gewählt worden. Dieses Ergebnis war alles andere als überragend, hielt sich aber im Rahmen der PRI-Tradition. Die Frage nach den Ursachen des Umbruchs muß sich daher auf die sechs Regierungsjahre De la Madrids konzentrieren. Was hat die Disposition einer Mehrheit der (aktiven) mexikanischen Wähler so verändert, daß sie in kaum vorhersehbarem Ausmaß für die Opposition votierten?

1. An erster Stelle ist die Wirtschaftskrise zu nennen, das Ergebnis eines überzogenen Booms auf der Grundlage des Erdölexports in den Jahren 1978— 1981 und einer nicht mehr kontrollierten Auslandsverschuldung, die man in Erwartung künftig steigender Erdölgewinne einging

1981, mit dem Rückgang der internationalen Erdöl-preise, zeigte sich, daß die Exporterlöse die Bedienung der in den Vorjahren angehäuften Auslandsschulden nicht deckten. Im Herbst 1982 mußte Mexiko seine Zahlungsunfähigkeit erklären und löste damit die Verschuldungskrise der Dritten Welt aus. Die Finanzierung des Schuldendienstes konnte ab 1983 nur mit einer Anpassung der Binnennachfrage an die verschlechterten externen Bedingungen gewährleistet werden. Dies war das Wirtschaftsprogramm De la Madrids, der seit seinem Amtsantritt Ende 1982 ohne populistische Beschönigungen strikte Austerität verordnete. Mit einer wirtschaftspolitischen Schocktherapie erzielte er in seinem ersten Amtsjahr 1983 einen Exportüberschuß in der Rekordhöhe von 13 Mrd. US-Dollar, eine Halbierung des Haushaltsdefizits und eine Senkung der Inflationsrate um 20 Prozentpunkte — um den Preis einer schweren Rezession und eines drastischen Rückgangs der Reallöhne.

Die Anpassung war hart, aber unter den gegebenen Bedingungen politisch verkraftbar. De la Madrids Vorgänger Echeverria (1970— 1976) und Löpez Portillo (1976— 1982) hatten ihre Regierungsperiode ebenfalls mit einem restriktiven Wirtschaftsprogramm eröffnet, das dann die Grundlage für die folgende Expansion war. Auch die Rezession von 1982/83 konnte noch als Wellental einer insgesamt aufstrebenden Wirtschaftsentwicklung angesehen werden, und 1984 folgte erwartungsgemäß ein Aufschwung, der die negativen Ergebnisse des Schocks zu korrigieren begann. Ein Novum war dann allerdings der „zweite Schock“ vom Sommer 1985, ein zweites Restriktionsprogramm inmitten einer auf den ersten Blick günstigen Konjunktur, Mit diesem „zweiten Schock“ reagierte die Regierung auf erste Anzeichen monetärer und außenwirtschaftlicher Instabilität. Noch bevor sich die Wirtschaft von diesem zweiten Schock erholen konnte, wurde sie von einem „dritten Schock“ getroffen: dem Fall der internationalen Erdölpreise Anfang 1986, der die mexikanische Wirtschaft zum zweiten Mal seit 1982 an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs trieb. Der Zusammenbruch wurde durch ein großangelegtes finanzielles Hilfsprogramm der US-Regierung, des Internationalen Währungsfonds und der Gläubigerbanken vermieden; doch bevor eine neue Reaktivierung einsetzen konnte, bereitete der internationale Börsen-Crash vom September 1987.der schnell auch die mexikanische Wirtschaft erfaßte, überzogenen Hoffnungen ein Ende.

In der Wirtschaftspolitik der Regierung De la Madrid lösten mehrere Programme einander ab. ohne daß es zu mehr als kurzfristigen Stabilisierungsoder Wachstumserfolgen gekommen wäre Die statistischen Ergebnisse der Wirtschaftsführung sind katastrophal: Pro Kopf liegt das Einkommen der Mexikaner Ende 1988 um cirka 15 Prozent und die Industrieproduktion um 25 Prozent unter dem Niveau von 1982; die Reallöhne liegen auf der Hälfte ihres Standes von 1982. Diese Ergebnisse zeigen, daß die Wirtschaftsentwicklung durch die üblichen wirtschaftspolitischen Instrumente kaum noch steuerbar ist — aufgrund der Verschuldungssituation und einer nachhaltigen Zerstörung wirtschaftlicher Strukturen durch die Turbulenzen des Ölbooms und der Krise. Obwohl die Regierung De la Madrid im Sinne einer orthodoxen Sparkonzeption ungewöhnlich konsequent vorgegangen war, hat sie im Grunde nur ein Ziel erreicht: die Aufrechterhaltung der internationalen Zahlungsfähigkeit des Landes — und auch dies nur mit massiver ausländischer Hilfe. Es zeichnet sich gegenwärtig nicht ab, wie die ordnungsgemäße Bedienung der Auslandsschulden, monetäre Stabilität und Wirtschaftswachstum miteinander in Einklang zu bringen sind. Als nun Carlos Salinas de Gortari, der Autor des Wirtschaftsprogramms der Regierung De la Madrid, zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten ernannt wurde, war klar, daß der (erfolglose) Kurs der letzten sechs Jahre fortgesetzt werden würde — eine nach den bereits vorgenommenen Einschränkungen wenig hoffnungsvolle Perspektive.

2. Die wirtschaftliche Krise hatte auch eine im engeren Sinne politische Dimension. Der Erdölboom hatte die nahezu märchenhafte Bereicherung derjenigen ermöglicht, die die mit dem Erdölexport und der Auslandsverschuldung verbundenen finanziellen Ströme kontrollierten, d. h.der staatlichen Funktionäre und der Politiker. Die Bereicherung durch Korruption und der Transfer der Reichtümer ins sichere Ausland nahmen eine neue Dimension an, die umso exzessiver erscheinen mußte, als die Bevölkerungsmehrheit eine massive Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen hinnehmen mußte -während allein der Wert des Immobilienbesitzes mexikanischer Bürger in den USA auf 30 Mrd. US-Dollar anwuchs.

Korruption war nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung des Booms und der Krise, aber die Über-zeugung, der wirtschaftliche Einbruch sei von korrupten Politikern und Funktionären mit herbeigeführt worden, fand weite Verbreitung. Dazu trug nicht zuletzt die Propaganda De la Madrids bei, der ein Tabu der politischen Klasse Mexikos brach und die Verantwortung seiner beiden Vorgänger im Präsidentenamt für die wirtschaftliche Misere herausstellte. Sein Projekt der „moralischen Erneue-rung" war einer der wenigen populären Punkte seines Programms, aber weder die Einrichtung neuer Kontrollinstanzen noch bloße Appelle konnten ahrzehntealte Strukturen und Verhaltensweisen aufbrechen. Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Verwaltung und der Politik kehrte sich auch Begen die Regierung De la Madrid, als das Erdbeben vom September 1985 ein Schlaglicht auf die mexikanische Wirklichkeit warf und ein ganzes Spektrum von Mißständen grell erleuchtete, von der Folter Gefangener in der Generalstaatsanwaltschaft über die Korruption im Bauwesen bis zur Bereicherung an ausländischen Hilfsgütern, die ihre Adressaten nicht erreichten. Vor allem aber war der Staat nach der Naturkatastrophe in der schwer getroffenen Stadt Mexiko nicht präsent. Die dringlichsten Bergungs-, Hilfs-und Räumaktionen wurden von der Bevölkerung in spontaner, unerwartet effizienter Selbstorganisation vorgenommen. Die Inkompetenz der Behörden und die unvermutete Fähigkeit der Bürger von Mexiko-Stadt schufen ein politisch-psychologisch neues Klima: Das Regime verlor — wie die späteren Wahlergebnisse zeigten — die Unterstützung der Bevölkerung seiner Hauptstadt. 3. Eine dritte Ursache des Umbruchs war der schleichende Bedeutuhgsverlust der parastaatlichen Massenorganisationen und der PRI selbst gegenüber der technokratischen Exekutive. Die zunehmend technokratische Ausrichtung der Politik unterbrach die Kommunikation zwischen den Apparaten der Massenintegration und -kontrolle und dem politischen Entscheidungszentrum, das seinerseits an Sensibilität für Stimmungsveränderungen an der Basis verlor. Nicht mehr altgediente PRI-Politiker mit Erfahrungen in den Gewerkschaften oder Kommunen, sondern hochqualifizierte Harvard-Absolventen mit schwachen Beziehungen zum politischen Apparat monopolisierten den politischen Entscheidungsprozeß.

Ein Opfer dieser Entwicklung waren insbesondere die Gewerkschaften, die sich unter De la Madrid als unfähig erwiesen, der Regierungspolitik entgegenzuwirken.

Sie ließen zu. daß die Reallöhne auf 50 Prozent ihres Niveaus von 1982 sanken; ihr Stillhalten ließen sie sich durch politische und parlamentarische Posten für Spitzenfunktionäre honorieren, unter anderem, um sich eine günstige Ausgangsposition für die Auseinandersetzungen um die Nachfolge De la Madrids zu verschaffen. Es wurde ihnen nicht gelohnt. Nicht der von den Gewerkschaften favorisierte Minister für Energie und Parastaatliche Industrie, Alfredo del Mazo, von dem man einen Kompromißkurs zwischen der orthodoxen Politik De la Madrids und einer an den Gewerkschaftsforderungen orientierten Strategie erwartete, wurde offizieller Kandidat, sondern der konsequenteste Verfechter der Orthodoxie und ausgewiesene Gegner der Gewerkschaften, Carlos Salinas de Gortari. Seine Ernennung löste bei den Gewerkschaftsbürokraten Gesten des Protests aus, die jedoch schnell der reflexartigen Unterordnung unter die Parteidisziplin wichen. Die Gewerkschafts57 führung verspielte damit den letzten Rest an Kredit, den sie als Kraft einer möglichen Kurskorrektur noch hatte. Für sie waren die Wahlen 1988 ein noch größeres Desaster als für die PRI insgesamt: Ihre Kandidaten für das Parlament mußten höhere Verluste einstecken als die Gesamtpartei. 4. Viertens ist auf den Bedeutungsverlust des Präsidentenamtes und des Präsidentenwechsels zu verweisen. Der Präsident als absoluter Monarch auf Zeit bezog seine Macht auch aus der Möglichkeit, Privilegien zu verteilen. Die Position des Präsidenten war an einen gewissen verteilungspolitischen Spielraum gebunden — der aber unter dem Druck der Krise drastisch zusammenschmolz. Nicht zuletzt trug auch De la Madrids Kritik des „Populismus“ seiner Vorgänger dazu bei, daß die Grundlage seines eigenen Amtes unterminiert wurde. Darüber hinaus gehörten zum Amt des Präsidenten ein „persönlicher Stil“ und eine gewisse Unkalkulierbarkeit des Amtsinhabers. Der Wechsel des Präsidenten war die einzige Form (inszenierten) politischen Wandels, den das PRI-System zuließ. Die vom Präsidentenwechsel ausgehende, eher scheinhafte als reale Beweglichkeit des Systems ermöglichte, daß sich politische Hoffnungen auf den (mythisch überhöhten) Augenblick des Übergangs konzentrierten und Protest zurückgestaut wurde, da die Chancen ohnehin alle sechs Jahre neu verteilt würden. Unter De la Madrid ist die Position des Präsidenten ihrer persönlichen Komponente beraubt worden: Kaum ein Träger des höchsten Staatsamtes war so sehr auf die Rolle eines technokratischen Vollziehers ökonomischer Sachzwänge beschränkt wie De la Madrid. Und mit der Auswahl Salinas’ zum Nachfolger wurde das Moment des Wandels via Wechsel im Präsidentenamt stillgestellt — Sahnas wird keine Abweichung vom Kurs der letzten sechs Jahre, sondern allenfalls dessen Verschärfung zugetraut. Zum ersten Mal seit 1940 besteht die Möglichkeit, daß das wirtschaftspolitische Projekt eines Präsidenten über den Zeitraum seiner sechsjährigen Regierung hinaus durchgehalten wird — ein wirtschaftlich positives, politisch aber um so kostspieligeres Novum.

VI. Warnsignale: Wahlniederlagen auf der lokalen und einzelstaatlichen Ebene

Mit der Krise, dem Verlust der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft, der Technokratisierung der Politik, dem Bedeutungsverlust der PRI und der Massenorganisationen und der Aushöhlung des Präsidentenamtes waren die systemimmanenten Potentiale des Wandels ausgeschaltet. Angesichts einer ausweglosen wirtschaftlichen Misere war absehbar, daß die massive Unzufriedenheit auch Akteure außerhalb des herrschenden Blocks begünstigen würde: Die Wahlen erfuhren einen Bedeutungswandel. National behielt die PRI bis 1988 die Kontrolle über die Wahlvorgänge und -ergebnisse. Auf lokaler Ebene dagegen drohten die Wahlen dem Regime zu entgleiten. 1983 konnte die PAN wichtige Bürgermeisterposten, insbesondere im Norden des Landes, für sich gewinnen. Die Erfolge gingen zum Teil auf ein genuin konservatives Wählerpotential unter den städtischen Mittelschichten zurück; zum Teil konnte die PAN auch antizentralistische Sentiments, die im Norden Mexikos Tradition haben, für sich kapitalisieren. In vielen Fällen waren PRIinterne Auseinandersetzungen die Ursache, bei denen die unterlegene Fraktion gegen die Parteiführung antrat und sich der Initialen einer oppositionellen Partei bediente — und die PAN war oft die einzig präsente Oppositionspartei. PRI und Regierung ließen eine partielle Öffnung auf der lokalen Ebene zunächst zu, nahmen sie aber in dem Augenblick zurück, in dem die Gouverneursposten wichtiger Staaten auf dem Spiel standen. Wahlmanipulationen der Staatspartei riefen insbesondere nach den Gouverneurswahlen von Sonora 1986 massive Protestaktionen hervor, die sich zu lokalen Aufständen steigerten — nahe an der US-Grenze und im Blickfeld der amerikanischen Massenmedien

Aus lokalen und regionalen Wahlen, die vorherein Mittel zur Legitimierung des Systems gewesen waren, wurden Verfahren zur regelmäßigen Entlegitimierung des Regimes. Doch die Warnzeichen wurden mißachtet — konnten mißachtet werden, weil die Opposition lokal begrenzt blieb und die einzige Kraft, die von den lokalen und regionalen Konflikten profitierte, kaum die Chance haben würde, sich auf nationaler Ebene als regierungsfähige Alternative zur PRI zu profilieren. Die PAN konnte zwar bei spezifischen Konflikten Massenprotest mobilisieren; sie verfügte aber nicht über dauerhafte organisatorische Beziehungen zur Arbeiterschaft, zu den Campesinos und zu der in Armut lebenden Bevölkerung. Zudem trat sie nicht nur für die Ab-Schaffung des Einparteiensystems ein, sondern auch für die Überwindung der staatlichen Wirtschafts-und Sozialintervention durch eine individualistisch-liberale Politik, die unter anderem die Auflösung des kommunalen Grundbesitzes und die Liquidierung einer Vielzahl staatlicher Institutionen und Unternehmen einschloß. Ihr Programm war -von der Forderung der Demokratisierung abgesehen — für die ärmere Bevölkerungsmehrheit wenig attraktiv, und ihr organisatorisches wie ideologisches Instrumentarium befähigte sie nicht, über kurzfristigen Protest hinaus als Träger sozialer Opposition zu agieren. Im Juli 1988 gehörte auch die PAN zu den Verlierern. Ihr Stimmenanteil von 17 Prozent lag weit unter den Erwartungen. Ihre bisherige Position als stärkste oppositionelle Partei mußte sie an die FDN abtreten.

VII. Eine neue oppositionelle Kraft: die FDN

Die FDN ist ein Bündnis unterschiedlicher Kräfte. Als Katalysator eines politischen Bündnisses links von der PRI wirkte die „Corriente Democrätica“, eine oppositionelle Fraktion in der PRI, die 1985/86 zum ersten Mal aufgetreten war. Die Forderungen der „Corriente“ bezogen sich zunächst auf die Auswahl des PRI-Präsidentschaftskandidaten. An die Stelle der Ernennung durch den amtierenden Präsidenten sollten innerparteiliche Vorwahlen treten, in denen mehrere Anwärter ihre Programme vorstellen und dann nach dem Mehrheitsprinzip gewählt werden sollten. Die Gruppe konnte sich erwartungsgemäß nicht durchsetzen — das einzige Novum bei der Nachfolgeregelung 1987/88 war, daß De la Madrid sechs Kandidaten benannte, sich aber die endgültige Auswahl vorbehielt. Die Anhänger der „Corriente“ mußten die PRI verlassen.

Die zweite Gruppe der FDN sind drei kleinere Oppositionsparteien, die sich in der Vergangenheit immer als „loyale Opposition“ verstanden und dem Regime den Anstrich eines eingeschränkten Pluralismus verliehen hatten. Diese Parteien waren zum Teil direkt vom PRI-kontrollierten Innenministerium finanziert und gefördert worden. Die PARM (Partido Autentico de la Revoluciön Mexicana) ist eine Gründung des Jahres 1956 und galt vornehmlich als Organ ausgedienter Militärs und Revolutionsveteranen. Die PPS (Partido Populär Socialista) profilierte sich mit antiimperialistischer Rhetorik, stellte sich bei innenpolitischen Konflikten aber meist auf die Seite der Staatspartei. Die PFCRN (Partido Frente Cardenista de la Reconstrucciön Nacional) war eine Gründung „von oben“, die Präsident Echeverria während seiner Amtszeit vomeh-men ließ, um der Bildung einer unabhängigen Linkspartei zuvorzukommen.

Keine dieser Parteien war eine glaubwürdige Alternative zur PRI. Keine war besonders populär: Ihre Stimmenanteile bei allgemeinen Wahlen schwankten zwischen zwei und fünf Prozent. Als sich Cr-denas Ende 1987 ausgerechnet von der PARM zum Präsidentschaftskandidaten ernennen ließ, wurden seine Möglichkeiten für die künftigen Wahlen eher gering eingestuft. Es schien, als habe er mit seiner Bindung an eine diskreditierte Oppositionspartei auch die ursprünglichen Chancen der „Corriente Democrätica“ verspielt.

Die dritte Kraft der FDN ist die unabhängige Linke, ihrerseits ein Bündnis verschiedener Kleinstparteien unter der informellen Führung der Kommunistischen Partei. Die unabhängige Linke hatte bei Wahlen in Mexiko nie besondere Chancen gehabt; die fast ununterbrochene Folge von Spaltungen und Neubildungen von Organisationen und Bündnissen spiegelte die reale Einflußlosigkeit der Linken wider. Neu war 1987/88, daß sich zum ersten Mal die beiden wichtigsten linken Parteien — die Kommunisten und die PMT (Partido Mexicano de Trabajadores) in einer gemeinsamen Organisation (der PMS — Partido Mexicano Socialista) vereinigten und den populären Politiker Heberto Castillo zu ihrem gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten machten. Kurz vor den Wahlen zog Castillo seine Kandidatur zugunsten von Cärdenas zurück.

Was machte aus dieser auf den ersten Blick schwachen Konstellation eine politische Kraft, die in den Wahlen auf Anhieb 31 Prozent der Stimmen (in Wirklichkeit aber noch mehr Prozent) gewann? Ein erster Faktor, der der Opposition Auftrieb gab, war die Ernennung von Carlos Salinas de Gortari zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten, die auch viele Mitglieder oder Anhänger der PRI veranlaßte, ihre politische Loyalität aufzukündigen. Sechs Jahre Salinas de Gortari würden sechs Jahre orthodoxer Wirtschaftspolitik, eine weitere Technokratisierung der Politik sowie die endgültige Marginalisierung der „PRI-Linken“ bedeuten, d. h.der Vertreter eines nationalistisch-populistischen Programms.

Ein zweiter, wichtigerer Faktor war, daß die FDN nicht nur von einer Reihe weiterer Kleinstparteien ohne offizielle Registrierung unterstützt wurde, sondern auch und vor allem von sozialen Organisationen wie unabhängigen Gewerkschaften, Bauern-vereinigungen und Stadtteilorganisationen. Die in Mexiko schwache Tradition parteipolitischer Opposition steht in gewissem Kontrast zur lebendigeren Tradition der Opposition gegen das herrschende Regime parastaatlicher Interessenvertretung Seit 1940 war eine Vielzahl unabhängiger sozialer Organisationen entstanden, von denen einige repressiv ausgeschaltet, andere über die Kooptation ihre Führungsgruppen in den herrschenden Block reintegriert wurden ohne daß die Tradition unabhängiger Interessenvertretung hätte gebrochen werden können. Eine besondere Vitalität entfalteten in den letzten Jahren vor allem die auch von der PRI vernachlässigten Bevölkerungsgruppen: die Bewohner der städtischen Elendsviertel, ein ebenso großes wie explosives Protestpotential

Ein dritter Faktor waren die Person und das Programm Cärdenas’ selbst. Das Programm, niedergelegt unter anderem in den „Zwölf Punkten“, die zwischen Cärdenas und Heberto Castillo als Wahl-plattform ausgehandelt wurden, ist ein Kompromiß unterschiedlicher Kräfte und daher oft sehr vage. Es handelt sich allerdings nicht um eine Neuauflage der PRI-Ideologie: Den korporativen Elementen des mexikanischen politischen Systems wird ebenso eine explizite Absage erteilt wie dem Konzept einer sozialpolitisch legitimierten Einheitspartei. Hauptziele der geforderten politischen Strukturreform sind ein Mehrparteiensystem, eine stärkere Stellung des Parlaments sowie mehr Unabhängigkeit für die Staaten und die Kommunen. Auch das Wirtschaftsprogramm — die Forderung einer gerechteren Verteilung der Einkommen und verbesserter Lebensbedingungen für die in Armut lebende Bevölkerung — kann unter den gegebenen Bedingungen extremer Ungleichheit kaum als „populistisch“ denunziert werden. Das Programm läßt allerdings offen, wie die mexikanische Wirtschaft aus ihrer schweren Krise herausgeführt werden soll; so wird etwa die Suspendierung des Schuldendienstes gefordert, ohne daß deutlich gemacht würde, wie die sich hieraus ergebenden internen und internationalen Probleme gelöst werden sollen. Es ist diese Unbestimmtheit, die dem Programm der FDN einen populistischen Zug verleiht — ebenso wie die Berufung auf die Ziele der mexikanischen Revolution, die offen läßt, welche dieser teils diskreditierten, teils unbestimmten, teils widersprüchlichen Zielsetzungen auf welche Weise erreicht werden sollen.

Auch der Name und die persönliche Geschichte Cuauhtemoc Cärdenas’ verbanden sich für viele Wähler mit einem — wenn auch unausgesprochenen — Programm: Sein Vater, Läzaro Cärdenas.der große Sozialreformer, der Präsident, der die ausländischen Erdölgesellschaften nationalisieren und die Hälfte des bebaubaren Landes an Klein-bauern verteilen ließ, erfreut sich als eine der wenigen unangefochtenen historischen Größen Mexikos nach wie vor einer immensen Popularität. Cuauhtemoc Cärdenas eigene politische Biographie bestätigte den großen Namen. Er war in seiner Jugend ein Anhänger des „Henriquismo“ gewesen, der Bewegung gegen die konservativen und korrumpierenden Tendenzen in der Staatspartei. Cuauhtemoc Cärdenas folgte in den sechziger Jahren dem Movimiento de Liberaciön Nacional, einer offiziell geduldeten Reformbewegung. Er repräsentiert mit seiner eigenen und mit der Geschichte seiner Familie die sozialreformerische Seite der nachrevolutionären Geschichte Mexikos. Der „Cardenismo“ ist — anders als die Ideologie der PAN — das spezifische Produkt einer immer noch lebendigen, auf die Revolution von 1910 und die Reformjahre 1934— 1940 bezogenen politischen Kultur. Bezeichnend ist nicht zuletzt der Name der jüngst aus der FDN heraus gegründeten Oppositionspartei: PRD. Partido Revolucionario Democrätico, der gegenüber dem regierenden Partido Revolucionario Institucional nicht nur den Bruch, sondern auch die Kontinuität hervorhebt. Als Kraft, die sich in die Kontinuität der mexikanischen Revolution stellte, hatte die FDN eine Chance, Mehrheiten auf ihre Seite zu ziehen.

VIII. Perspektiven

Am 1. Dezember 1988 hat Carlos Salinas de Gortari sein Amt als Präsident der mexikanischen Republik angetreten — gegen den Protest auf der Straße, im Parlament und in den Wahlkommissionen. Er ist der erste Präsident, der mit einer starken politischen Opposition konfrontiert ist und unter dem Damoklesschwert einer möglichen Vertreibung der PRI von der Macht in der nächsten Präsidentschaftswahl (1994) regieren muß. Dabei unterliegen die PRI und die oppositionelle PRD einer ähnlichen Problematik: einem ungeklärten Spannungsverhältnis zwischen den populistischen und den modernisierenden Komponenten ihrer Politik und Ideologie.

In der PRI ist eine Gruppe von Technokraten um Carlos Salinas de Gortari entschlossen, den Wirtschaftskurs der letzten sechs Jahre fortzusetzen und das Land weiterhin einem schmerzhaften wirtschaftlichen Modernisierungsprozeß zu unterziehen. Ihr steht die nach wie vor mächtige Gruppe der „Dinosaurier“ gegenüber, der traditionalistischen PRI-Politiker an der lokalen Basis und in den Massenorganisationen. Deren Vorstellungen — etwa das Wirtschaftsprogramm der Gewerkschaft CTM — sind inhaltlich nicht allzu weit entfernt von den „cardenistischen“ Konzeptionen; aber trotz inhaltlicher Übereinstimmungen im wirtschaftlich-sozialer Bereich werden gerade die Traditionalisten der PRI am ehesten bereit sein, die Regierungsmacht auch mit illegalen Mitteln, mit Stimmenkauf, Wahlbetrug und Gewalt gegen die Herausforderung der Opposition zu verteidigen. Sie sind am stärksten mit den korporativen Komponenten des mexikanischen Systems verbunden und haben bei einer Demokratisierung am meisten zu verlieren.

Die technokratische Spitzengruppe der PRI dagegenwird u. U. bereit sein, der Oppositionpolitische Reformen zuzugestehen, um ihre wirtschaftlich-soziale Handlungsfreiheit zu erhalten. Sie muß befürchten, daß die „Dinosaurier“ der eigenen Partei die wirtschaftliche Modernisierung zu hintertreiben suchen. Die Regierung Salinas wird eine starke Opposition brauchen, um sich gegen die traditionalistischen Kräfte der PRI durchzusetzen, um innerund außerparteiliche Opposition gegeneinander ausspielen zu können.

In der PRD kann ein ähnliches Spannungsverhältnis -wenn auch mit anderen Akzenten — ausgemacht werden: Der „modernisierende“ Akzent Hegt im politischen Bereich und ist verbunden mit der Einführung „moderner“ parlamentarisch-demokratischer Politikformen. Aber in den noch unlängst systemtreuen Oppositionsparteien wie unter den ehemaligen PRI-Politikern der „Corriente Democrätica“ wird die Versuchung groß sein, den unerwarteten Wahlerfolg zu nutzen, um einen möglichst komfortablen Platz innerhalb des bestehenden Regimes zu besetzen. Das Zwölf-Punkte-Programm der FDN enthält den Zusatz, kein oppositioneller Parteiführer solle im Falle einer Wahlniederlage einen Posten mit politischer Verantwortung übernehmen — aber die PRI verfügt in der Auszehrung oppositioneller Potentiale durch die Kooptation ihrer Führungsgruppen über eine lange Erfahrung. Gegen eine solche, kaum hoffnungsfroh stimmende Perspektive spricht allerdings, daß die Auseinandersetzungen bereits zu weit eskaliert sind und daß der Wahlerfolg zu groß war, als daß sich Oppositionspolitiker nun mit Konzessionen der Staatspartei abfänden; auch ist der Spielraum der Staatspartei zu eng geworden, um allzu weitreichende Zugeständnisse machen zu können. Gleichwohl wird es schwierig sein, das heterogene Bündnis der FDN zu einer „modernen“ Programmpartei der linken Mitte umzuformen — wie auch auf der Gegenseite die Modernisierung der PRI auf Kosten ihrer traditionalistischen Kräfte gefährliche Risiken enthält. Die Konkurrenz zwischen Regierungspartei und Opposition wird in den nächsten sechs Jahren vornehmlich auf folgenden Feldern ausgetragen werden: 1. Die Wahlen haben bereits einen grundlegenden Bedeutungswandel des Parlaments gebracht. Es funktioniert nicht mehr als Maschinerie zur Absegnung von Regierungsentscheidungen, sondern ist zu einem machtpolitischen Kampfplatz geworden. Die Mehrheit der PRI ist zu schwach, als daß nicht bei jeder Abstimmung PRI-Abgeordnete durch Überlaufen zur Opposition die Mehrheitsverhältnisse verändern könnten. Die Abgeordneten (auch der PRI) verfügen damit über eine nie gekannte Vetomacht. Im Konfliktfall kann der Präsident zwar auch gegen das Parlament regieren, aber angesichts seiner ohnehin schwachen innerparteilichen Position und politischen Legitimität wird Salinas diesen Konfliktfall so lange wie möglich zu vermeiden suchen. Präsident und PRI werden mit den eigenen Abgeordneten wie mit der Opposition kooperieren und in Streitfragen nach Kompromißlösungen suchen müssen. 2. Die Wahlen in den einzelnen Staaten und Kommunen werden der Opposition in den kommenden Jahren Gelegenheit bieten, ihre Popularität und Effizienz zu testen. Die beiden seit dem Juli 1988 abgehaltenen Wahlen in den Staaten Veracruz und Tabasco, in denen die PRI nach alter Manier die überwältigende Mehrheit der Stimmen gewann, lassen nur begrenzte Rückschlüsse auf künftige Auseinandersetzungen zu. Bei beiden Staaten handelt es sich um vorwiegend agrarische und politisch rückständige Einheiten, in denen die Staatspartei ihr Instrumentarium der Manipulation und Kontrolle relativ problemlos zur Anwendung bringen konnte. Wirkliche Testwahlen werden in den Staaten stattfinden, in denen die FDN im Juli 1988 die Mehrheit errang. Der Bundesdistrikt mit seinen 18 Millionen Bewohnern, der bislang über keine echte parlamentarische Vertretung verfügt, wird zentraler Gegenstand der Konkurrenz zwischen Regierungspartei und Opposition sein.

3. Das wohl wichtigste Feld der Auseinandersetzung werden die Organisationen sozialer Interessenvertretung sein. Das bestehende Modell parastaatlicher Interessenvertretung wird nicht über weitere sechs Jahre aufrechterhalten werden können. Die Diadochenkämpfe, die zu erwarten sind, wenn sich die Schlüsselfigur des parastaatlichen Gewerkschaftswesens, der hochbetagte CTM-Führer Fidel Veläzquez, von der politischen Bühne zurückzieht, werden im Spannungsfeld zwischen PRI und Opposition stattfinden. Salinas de Gortari könnte die Symbiose zwischen PRI und Massenorganisationen zur Disposition stellen — um seine innerparteilichen Gegner auszuschalten und um sein Modemisierungsprojekt von den archaischen Elementen des mexikanischen Korporatismus zu befreien. Unabhängige Organisationen sozialer Interessenvertretung aber wären ein natürlicher Bündnispartner der Opposition.

Ob die Wahlen vom 6. Juli 1988 wirklich ein Wendepunkt der Demokratisierung des politischen Systems waren, kann gegenwärtig nur spekulativ beantwortet werden. Die beiden größten Gefahren für die Demokratisierung sind derzeit wohl das mögliche Zusammenschmelzen der Opposition unter den attraktiven Kooptationsangeboten der Regierung und die Aktivitäten schwer zu kontrollierender Repressionskräfte, die jederzeit eine Eskalation der Auseinandersetzungen herbeiführen können. Die Ermordung des Wahlkampfleiters der FDN kurz vor den Wahlen zeigt, welche Bedrohung von den im Auftrag unbekannter Hintermänner handelnden paramilitärischen und parapolizeilichen Kräften ausgeht. Doch trotz dieser Gefahren geben die Ergebnisse der Wahlen Anlaß zur Hoffnung: Ein erstarrtes politisches Regime ist in Bewegung geraten; nichts wird mehr so sein wie vor dem 6. Juli 1988.

Fussnoten

Fußnoten

  1. vgl. etwa die Arbeiten von Roger D. Hansen. La poh'tica del desarrollo mexicano. Mexico 1976; Pablo Gonzäles Casanova. La democracia en Mexico. Mexico 1972; Frank Bran1972 urg The Making of Modem Mexico. Englewood Cliffs

  2. Vgl. vor allem Hans Werner Tobler. Die mexikanische Revolution. Frankfurt 1984.

  3. Zur „Massenpolitik“ der nachrevolutionären Regierungen vgl. vor allem Arnaldo Cördova. La ideologi'a de la revoluciön mexicana, Mexico 1976.

  4. Alvaro Obregön, Präsident von 1920 bis 1924. versuchte, sich 1927 ein zweites Mal in das höchste Staatsamt wählen zu lassen.

  5. Vgl. Arnaldo Cördova. La poh'tica de masas del carde nismo. Mexico 1974.

  6. Zu den Auseinandersetzungen des Jahres 1940 siehe Ariel Contreras, Mxico 1940: Industnalizacion y crisis poh'tica, Mexico 1977.

  7. Siehe auch Michael Ehrke. Die Präsidentschaftswahlen in Mexiko — Ursachen und Perspektiven eines Umbruchs, in: Lateinamerika. Analysen — Daten — Dokumentation. Bei-heft Nr. 5, Institut für Iberoamerika-Kunde. Hamburg 1988, S. Iff.

  8. Zu den Ursachen und zum Verlauf der Wirtschaftskrise siehe auch Rainer Godau. Wirtschaftlicher Kollaps in Mexiko, in: Jahrbuch Dritte Welt 1. Daten — Übersichten — Analysen, München 1983, S. 170 ff.

  9. Dieses Urteil ist zu differenzieren: Das Antiinflations Programm 1988, der „Pakt Wirtschaftlicher Solidarität. brachte durchaus eindrucksvolle Erfolge, über deren Dauerhaftigkeit aber noch nicht geurteilt werden kann.

  10. Vgl.den Sammelband von Pablo Gonzälez Casanova (Hrsg.), Las elecciones en Mxico. Evoluciön y perspectivas. Mexico 1985.

  11. Beispiele sind der Eisenbahnerstreik von 1959, die Studentenbewegung 1968. die „Demokratische Tendenz“ in der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft, die Gründung der unabhängigen Gewerkschaftszentrale GUI, aber auch eine Vielzahl lokaler und regionaler Bewegungen.

  12. Beispiele für „kooptierte" oppositionelle Gruppen sind der Gewerkschaftsverband CROC (Confederaciön Revolucionaria de Obreres y Campesinos) und der Bauernverband CCI (Central Campesina Independiente). die in den fünfziger Jahren in Opposition zu den herrschenden Organisationen entstanden und später in den PRI-Apparat integriert wurden.

  13. Eine besondere Dramatik gewannen die Stadtteilorganisationen nach dem Erdbeben von 1985, indem sie die Forderungen der Erdbebenopfer nach neuem Wohnraum aufnahmen.

Weitere Inhalte

Michael Ehrke, Dr. phil., geb. 1950; Studium der Politik-und Sozialwissenschaften an der Universität Hannover; 1977— 1981 Studienaufenthalt in Mexiko; 1982— 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg; seit 1987 Mitarbeiter am Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Der staatliche Sektor der mexikanischen Wirtschaft, Gösch 1986; zahlreiche Artikel zu Wirtschaft und Politik Zentral-und Südamerikas sowie Spaniens.